ISBN: 978-3-96045-102-0
1. Auflage 2021
© 2011 Verlag Atelier im Bauernhaus, 28870 Fischerhude
Lektorat und Gestaltung: Mareike Kaden
Umschlagfoto: Willi Rolfes
Alle Rechte vorbehalten.
Der Weg führt durch Irrtum zur Wahrheit Gestad’, so wie man durch Fragen der Antwort sich naht.
Rumi, Übersetzung Friedrich Rückert
Große, schneebedeckte Eisschollen trieben die Elbe hinunter, das graue Wasser trug sie mit Leichtigkeit. Wenn sie zu nah ans Ufer gerieten, war ihre Reise zu Ende. Ein heller Saum aus Eisschollen hatte sich gebildet. Ihre scharfen Kanten ragten nach oben und zu den Seiten.
Gesche schlang das schwarze Dreieckstuch aus Wolle fester um Kopf und Schultern. Sie war auf den Deich gestiegen, um nach dem Wasserstand zu sehen. Seit der Sturmflut vor drei Jahren tat sie das jeden Tag. Auf keinen Fall wollte sie wieder unvorbereitet sein, wenn das Wasser kam.
„Nee auch doch, was das friert!“ Gesche schüttelte sich.
„Wenn die Elbe nu zufriert, was denn wohl ist? Hat das Wasser denn immer noch genug Platz unter dem Eis, wenn das wieder aufläuft oder läuft das über dem Eis auf?“
Wasser über dem Eis hatte sie noch nie gesehen, also musste darunter wohl genug Platz sein.
Sie sah sich um, hinter ihr der Himmel war grau, aber über der Elbe hingen flache weiße Wolken, die aussahen wie zerfranste Bettlaken. Dazwischen schimmerte ein eisiges Hellblau. Eine große dunkelgraue Wolke bauschte sich mitten im Weiß und Blau, die sah fast aus wie eine Rauchwolke.
Die Apfel- und Pflaumenbäume am Außendeich hatte der Winter in einen Zauberwald verwandelt, gefrorener Raureif und Schnee bedeckten ihre Äste und Zweige.
Auf der Elbe segelte ein Schiff mit drei Masten Richtung Hamburg. Das musste ein Handelsschiff sein. Die fuhren sogar zwischen Eisschollen, obwohl das Eis leicht den hölzernen Rumpf beschädigen konnte. Aber die Händler wagten immer viel, um Gewinne zu machen. Wenn mal ein Schiff mit Mann und Maus im Sturm oder Eisgang unterging und alle Matrosen ertranken, weil sie nicht schwimmen konnten, jammerten die Handelsherren eine Zeit lang, steckten dann die Versicherungssumme ein und ließen ein neues Schiff bauen.
Neuerdings hörte man auch von Dampfschiffen, die von Hamburg aus über das große Meer fuhren. Aber Gesche hatte noch nie gesehen, wie aus einem Schiff Rauch kam. Das würde sicherlich sehr lustig aussehen.
Schwimmen konnten die wenigsten Menschen, die an der Küste aufwuchsen. Seeleute dachten, es wäre besser, gleich zu ertrinken bei einem Schiffsunglück als erst noch lange im Wasser zu schwimmen und dann doch unterzugehen. Auch bei Sturmfluten wollte man lieber, dass es schnell vorbei war, das Leben war ja doch nichts mehr wert, wenn man alles verloren hatte.
Gesche konnte schwimmen, sie hatte es sich selbst beigebracht. Im Sommer, wenn die Elbe warm genug war zum Baden, hatte sie immer wieder die Bewegungen gemacht, die sie einmal bei einem Schwimmer gesehen hatte. Und nach langer Zeit schaffte sie es, sich über Wasser zu halten anstatt unterzugluckern. Da war sie stolz.
Ein Stück von Gesche entfernt rutschten Kinder den Deich hinunter, manche auf einem Brett, andere auf dem Hosenboden. Der Wind trug ihr Lachen und ihre lauten Worte herüber, die hellen Stimmen klangen fröhlich. Ein kleiner Junge rief: „Mudder, kuck mal!“
Gesche fragte sich, welche Mutter Zeit hatte, mit ihren Kindern auf den Deich zum Rodeln zu gehen. Zwar fiel im Winter weniger Arbeit an, weil draußen auf den Feldern und im Garten kaum etwas zu tun war, aber die Arbeiten im Haus mussten sommers wie winters erledigt werden: Brot backen, buttern, Kartoffeln schälen, sauber machen, Flachs und Wolle spinnen und der ganze Rest.
„Mudder, kuck mal, wie schnell ich bin!“ Die Stimme des Jungen überschlug sich vor Begeisterung.
Gesche schaute noch einmal hinüber. Da sah sie, dass auch ein Mann bei den Kindern und Frauen auf dem Deich stand. Er war groß und kräftig. Gerade formte er einen Schneeball und lachte. Gesche stockte der Atem. Der Mann war Claas Butendiek. Der tote Claas! Allerdings trug er eine Wollmütze auf dem Kopf, die sie an Claas nie gesehen hatte. Schnell schaute sie wieder weg.
Seitdem Claas geköpft worden war, hatte sie sich manchmal eingebildet, ihn zu sehen an den Stellen im Außendeich, wo sie zusammen gewesen waren. Das war einer der Gründe, warum sie aus Huttfleth weggewollt hatte. Und nun tauchte sein Geist auch hier drei Meilen weiter in Twielenfleth auf!
Mutter seiner Kinder zu werden, wie sie es sich immer gewünscht hatte, das ging nun nicht mehr. Nie würde sie mit ihrem gemeinsamen Kind auf den Deich zum Rodeln gehen. Und nie würde sie wohl noch einmal einen Mann finden, den sie lieben konnte.
Gesche schaute zur Straße, von wo ein leises Bimmeln zu hören war. Ein Pferdeschlitten fuhr unten auf der Deichstraße vorbei. Der Kutscher auf dem Bock hatte sich mit Wollschal, Wollmütze und dicker Wolljoppe gegen die Kälte geschützt. Von seinem Gesicht sah Gesche kaum etwas, sie konnte nicht erkennen, wer es war. Aber das Pferd kannte sie natürlich, es gehörte Gendarm Krischan Lührs. Der Kutscher winkte Gesche zu, sie winkte zurück, deutlich konnte sie die kleinen Glöckchen am Pferdegeschirr sehen.
„Brrrr!“, rief der Kutscher und zog die Zügel an. Gesche fragte sich, ob er wohl mit ihr klönen wollte. Aber dazu war sie nicht aufgelegt. Sie lief den Deich an der Außendeichseite hinunter, um zur Elbe zu kommen. Aus Spaß versuchte sie, auf ihren Holzschuhen zu rutschen, aber das gelang ihr nicht. Bald lag sie im Schnee.
Na, ist ja nicht so ein großes Malheur, dachte sie, blieb liegen und kugelte sich den Deich hinunter. Als sie unten ankam, sah sie sich um. Aber niemand schien bemerkt zu haben, dass eine erwachsene Frau sich wie ein Kind benahm und nun wie ein Schneemann aussah, der durch den Außendeich zur Elbe lief.
Eigentlich ja wie eine Schneefrau, dachte Gesche. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen.
Sie schüttelte einige Äste, nun fiel noch mehr Schnee auf sie herab. Als sie schließlich auf einer Eisscholle am Elbufer stand, spürte sie, dass ihre Kleidung inzwischen vom Schnee durchnässt war bis auf die Haut.
Aber sie konnte sich nicht so schnell losreißen von dem Anblick vor ihr. Es kam ihr so vor, als habe sie das Wasser noch nie so gesehen. Zwischen den treibenden Eisschollen war es von Nahem betrachtet nicht mehr grau, sondern weiß und blassblau. Die Wellen sahen gar nicht aus wie Wellen, sondern eher wie Linien oder Schnüre, in denen die verschiedenen Farben des Himmels immer wieder auseinandergerissen wurden und ständig neue Muster bildeten.
„So was aber auch, nee! Immer fällt dir was Neues ein“, sagte Gesche zu Gott.
Wo zwei Eisschollen aneinanderstießen, gab es ein leises knackendes Geräusch. Und manchmal hörte sie etwas anderes, das so klang, als rutschte Schnee von einem Dach. Ansonsten war alles still. Gesche lauschte. Sie spürte die nasse Kleidung auf der Haut gar nicht mehr.
Nur an wenigen Stellen konnte man direkt ans Ufer gelangen, dort wo der dichte Schilfgürtel unterbrochen war. Bald würde das hellbraune Schilf gemäht werden, um dann zu lagern, zu trocknen und später zum Decken der Reetdächer benutzt zu werden.
Die Kälte kniff sie in die Wangen.
„Nee, nu wird mir das aber doch zu doll kalt!“, rief Gesche. Zitternd lief sie so schnell sie konnte wieder zum Deich. Die rodelnden Kinder mit ihren Müttern waren verschwunden, auch der Geist von Claas Butendiek. Den Deich hinauf musste sie auf allen Vieren kriechen, weil sie immer wieder zurückrutschte.
In ihrem Haus eilte sie durch die Diele, nahm in der Kofferkammer rasch ein paar trockene Kleidungsstücke aus dem Schrank und kletterte in ihren Alkoven. Dort riss sie sich den nassen Leinenrock und die feuchten selbstgestrickten Wollunterröcke vom Leib, von denen sie im Winter immer mindestens zwei übereinander trug, zog das selbstgewebte Oberhemd und das Unterhemd aus Leinen aus, dann die dreiviertellange Leinenunterhose. Nun trug sie nur noch die nassen Wollstrümpfe, die bis zu den Knien reichten, sie band die Strumpfbänder auf, zog die Strümpfe aus und kroch zitternd unter ihr Federbett.
Nach einer Weile fing ihre Haut an zu prickeln, Gesche zog unter der Decke die trockenen Sachen an.
Gern wäre sie noch eine Weile liegen geblieben, doch es gab Arbeit zu tun wie immer. Rasch stand sie auf und band die gestreifte Schürze um, die sie im Haus stets trug. Dann nahm sie die nasse Kleidung und hängte sie an Haken in der Kofferkammer.
Sie hörte Trine im Küchenfach rumoren. „Trine! Es wird Zeit zum Kartoffelschälen.“
„Bin schon dabei, Bäuerin!“, kam Trines Stimme klar und deutlich aus dem Küchenfach. „Und was soll das heute dazu geben? Steckrüben? Schwarzsauer? Grünkohl wäre man schlecht, da hätten wir früher mit anfangen müssen, der wird nu nicht mehr gar.“
Gesche überlegte kurz. „Steckrüben mit Speck!“
Sie lief durch die Tür zur Diele und griff nach dem großen Messer, mit dem sie immer das grobe Gemüse und die Rüben zerschnitt. Sie mochte die Farbe der Rüben unter der Schale gern, so ein Gelb oder Braun, das weder das eine noch das andere war, und eigentlich aber doch beides.
„Da spielen Kinder am Deich“, berichtete Gesche.
„Das glaub ich woll“, meinte Trine, „haben wir ja früher als Kinder auch gemacht, wenn Schnee lag.“
„Krischan Lührs fuhr mit seinem Pferdeschlitten am Deich lang!“
„Och! Bestimmt keine Spazierfahrt“, meinte Trine. „Du, Bäuerin, du glaubst nicht, wer auf Besuch kommt ins Alte Land, schon Ostern oder Pfingsten.“
„Wer denn?“
„Hinnerk Stechmann aus Borstel! Der handelt mit Kaffee und tut in Aguadilja leben, das liegt in einem Reich mit zwei Namen.“
„Agu-a-dil-ja?“
„Jo. Das schreibt sich mit zwei l.“
„Zwei l und j dahinter?“, staunte Gesche. Ihr war nun wunderbar warm. Sie füllte die klein geschnittene Steckrübe in den großen Topf, in dem schon der durchwachsene Speck kochte.
„Nee, nur zwei l, und man spricht das mit j. Das Reich heißt Puerto Rico. Es ist in Amerika-Süd.“
„Was das für Namen gibt!“
„Ich weiß das von Stechmann ihre Köksch“, strahlte Trine. Sie freute sich immer, wenn sie eine Neuigkeit zu erzählen hatte. Seitdem sie auf Gesches neuem Hof in Twielenfleth arbeitete und mit Tönjes verheiratet war, hatte sie sich sehr verändert. Fleißig und tüchtig war sie schon immer gewesen, aber nun lachte sie oft, freute sich über Kleinigkeiten und ging regelmäßig zur Kirche, wo sie inbrünstig betete und die Kirchenlieder laut mitsang. Sie konnte gut singen, das hörten alle nun.
„Hinnerk Stechmann schreibt jeden Monat einmal an seinen Vater, nicht nur wegen geschäftlichem Kram, er fragt auch nach jedem Einzelnen in der Familie, wie denen das geht, auch nach der Verwandtschaft und Nachbarschaft, sogar nach dem Gesinde“, berichtete Trine. „Manchmal ist so ein Brief fünf oder sogar acht Monate unterwegs, das kommt daher, dass das Schiff, mit dem Hinnerk Stechmann den Brief schickt, oft nicht gleich nach Hamburg fährt, erst noch woanders hin, und dann wieder woanders. Und es kommt natürlich auch drauf an, wie der Wind steht, wenn das Schiff über das große Meer fährt.“
„So lange unterwegs! Nee! Das kann doch gar nicht angehen!“ Gesche stach mit einer Gabel in ein Steckrübenstückchen.
„Wir können jetzt die Kartoffeln aufsetzen.“ Der Topf mit den geschälten hellgelben Kartoffeln stand schon bereit, Gesche hängte ihn über das Feuer. „Ist doch schon Salz drin?“
Trine nickte. „Hinnerk Stechmann hofft immer, er verdient mal so viel, dass er wieder in Borstel leben kann. Aber bis jetzt reicht das nur für einen Besuch. Kannst du dir das vorstellen, Bäuerin, Monate auf See, nur um die Heimat mal wiederzusehen? Er kommt über England, denn die Nordsee und die Elbe rauf, und schwupps ist er in Hamburg.“
„Warum bleibt er nicht gleich da? In Hamburg kann man doch auch gute Geschäfte machen?“
„Tja. Es muss einer da sein, wo der Kaffee wächst, und einer, wo man ihn mit Gewinn verkaufen kann, sagt Stechmann ihre Köksch. Man gut, dass das Wetter in Aguadilla fast immer schön warm ist, das ist wenigstens was. Früher war er in Bahia, das liegt in dem Reich Brasilien. Ich hol mal das Butterfass. Bis die Kartoffeln gar sind, kann ich noch ein bisschen was tun. Passt ganz gut, ich habe den Rahm schon abgeschöpft von der Milch, der war genau richtig, denn geht das schneller.“
„Mach man.“ Gesche verließ sich völlig auf Trine, die die meisten Sachen besser konnte als sie.
Vom offenen Küchenfach aus sah Gesche Tönjes mit dem Hund Lütje durch die Großtür in die Diele kommen.
„Bringst du das Abendessen, Tönjes?“, rief sie.
„Wenn ich ein Gewehr hätte! Da könnten wir einen Rehbraten oder Kaninchenbraten essen! In den Reusen war kein Fisch, jetzt ist nicht die Zeit.“
„Macht nichts“, meinte Gesche. „Denn essen wir eben Schwarzbrot mit Mettwurst, schmeckt doch auch gut.“
„Jo.“ Tönjes lächelte, als er seine Frau Trine mit dem Butterfass kommen sah. Natürlich würde er ihr niemals in Gesches Anwesenheit einen Kuss geben, aber er streichelte ihr zärtlich über die Wange. „Na du“, sagte er leise.
Gesche schaute weg. Seit ihrer unglücklichen Liebe zu Claas Butendiek kannte sie sich gar nicht mehr aus in Liebesdingen. Vor allem seit Claas wegen Mordes an Krischans Schwester zum Tode verurteilt und geköpft worden war, hatte sie sich ganz in sich selbst zurückgezogen und traute sich nicht mehr, an eine neue Liebe zu denken.
Allerdings war sie vor zwei Jahren mal mit Krischan Lührs in Hamburg gewesen und mit ihm auf dem Jungfernstieg spazieren gegangen, direkt an der Alster. Sie hatte die schönen Kutschen und die flanierenden vornehmen Hamburger Damen in ihren engen Miedern gesehen, die bewegten sich so, als ob sie Schmerzen hätten. Die Kleider mit den weiten gerafften Röcken, an denen viele Rüschen waren, sahen zwar schön aus, aber wegen der eng geschnürten Mieder konnten die Frauen oft nicht richtig Luft holen. Zwei waren sogar in Ohnmacht gefallen und mussten mit Riechfläschchen wieder ins Leben zurückgeholt werden.
Man hatte Gesche schon im Alten Land davon erzählt, aber sie glaubte es erst, als sie es selbst sah. Nun war sie froh über ihre bequeme Kleidung, das ging ja auch gar nicht anders, bei der Arbeit musste man sich doch bewegen können in der Kleidung. Gesche taten die armen vornehm gekleideten Damen leid, sie stellte sich vor, dass die zu Hause stundenlang bewegungslos auf einem Stuhl sitzen mussten.
Gesche in ihrer Altländer Tracht fiel auf dem Jungfernstieg kaum auf, denn es waren auch recht viele junge Mädchen in den Trachten des Hamburger Umlands unterwegs, die meisten aus den Vierlanden, die trugen Körbe mit Gemüse. Gesche hatte eigentlich gedacht, dass sie sich auch mal ein Kleid, wie man es in der Stadt trug, schneidern lassen wollte, denn sie konnte es sich neuerdings leisten, für so was Geld auszugeben. Aber nun war sie froh über ihre Kleidung, die sie nicht einengte, bei der Arbeit und beim Spazierengehen.
„Krischan, man gut, dass ich mal hier war“, sagte sie damals. „Nu weiß ich, dass ich hier nicht so gern sein mag.“
„Musst du ja auch nicht, Gesche“, meinte Krischan. „Wir gehen einfach wieder zur Anlegestelle, das Boot von Tante Mettas Vetter legt sowieso bald wieder ab.“
Gesche hatte gar nicht richtig zugehört. Sie hakte sich bei Krischan ein und ging, wohin er ging. Es wurde ihr klar, dass dieser Ausflug nach Hamburg, den sie sich so sehr gewünscht hatte, ein Fehler gewesen war. Tante Metta hatte sie gefragt, ob es die richtige Zeit dafür war, die ahnte das wohl.
Erst vor vier Wochen war Claas Butendiek geköpft worden. Im Alten Land sprach man seitdem kaum von etwas anderem, denn solch ein Ereignis hatte es lange nicht mehr gegeben. Gesche hatte mit sich gerungen, ob sie zu der Enthauptung gehen sollte, dann war sie lieber zu Hause geblieben. Aber es gab kein Entrinnen, jeder sprach von dem Blut, das aus seinem Hals gespritzt war und dass Gott sei Dank der Henkersknecht mit einem Hieb den Kopf abgetrennt hatte, das war ja nicht immer so, es gab auch in der Vergangenheit Fälle, wo mehrmals zugehauen werden musste. Und dass der Sarg direkt neben der Richtstätte stand, da legten sie den Toten hinein, den Kopf so, dass es fast so aussah, als ob er nie vom Körper getrennt gewesen wäre. Dass Claas Butendiek in Weiß gekleidet war, und dann war fast das ganze Hemd rot danach.
Natürlich konnte er nicht auf dem Friedhof in geweihter Erde begraben werden. Außerhalb der Kirchhofsmauer wurde er verscharrt, ohne Grabstein.
Gesche kannte aber die Stelle, und manchmal ging sie dorthin in der Dunkelheit, obwohl sie sich gruselte, und legte ein paar Blumen ab. Dann weinte sie auch ein bisschen, aber nicht zu viel, weil sie daran dachte, dass Claas Krischan Lührs’ Schwester das Leben genommen hatte. Und wie Claas Butendiek Gesche selbst behandelt hatte, das war auch nicht recht gewesen. Aber was sollte sie machen, sie hatte ihn nun mal so doll geliebt, das konnte sie nicht einfach vergessen.
Es tröstete sie, dass der Pastor mit Claas seinen letzten Gang zusammen ging, damit Claas nicht ganz allein war. Und dass Claas aufrecht und ohne Tränen vor dem Richtblock stand, wie die Leute sagten. Aber dann waren seine letzten Worte komisch, die er laut rief: „Vadder, ich hab das für dich und den Hof getan!“ Der Pastor senkte den Kopf. Wie alle anderen auch hatte er gedacht, dass Claas Gott um Vergebung seiner schweren Sünden bitten würde, wie das die Sünder so machten. Als der Pastor den Richtplatz verließ, strauchelte er und jemand fing ihn auf, damit er nicht hinfiel.
In seiner Predigt am nächsten Sonntag tat der Pastor dann alles, um die Kirchengemeinde davon zu überzeugen, dass er seine Aufgabe gut gemacht hatte, dass seine Worte über Sühne und Reue und Gottes Vergebung, über Erlösung und das ewige Leben bei Claas etwas bewirkt hatten. Voller Eifer hatte er doch mit Claas alle Gebete aufgesagt, die für Sünder vorgeschrieben waren und ihm die richtigen Worte in den Mund gelegt, mit denen Claas seine Reue ausdrücken sollte.
Gesche glaubte aber nicht an Claas’ Reue und meinte, dass der Pastor wohl mehr noch als der Kirchengemeinde sich selbst das einreden wollte, wie sehr seine Gebete Claas gebessert hatten. Fast schwor der Pastor, dass Claas durch den geistlichen Beistand auf Gottes Vergebung und Gnade hoffen konnte und so nach einer gewissen Zeit im Fegefeuer, da kam Claas nicht drum herum, doch noch das ewige Leben haben würde, kurz, dass Claas im rechten Glauben und mit den richtigen Gedanken gestorben war.
Der Pastor sagte sogar, Claas hatte wohl seinen Vater im Himmel gemeint, Gott selbst also, mit seinen letzten Worten, und der Hof bedeutete das Paradies. Gesche dachte, der Pastor konnte wohl nicht vertragen und wollte nicht wahr haben, dass seine Gebete Claas nicht gebessert und nichts genützt hatten.
Claas mit abgehacktem Kopf, das war so schrecklich, das konnte Gesche nicht verknusen. Sogar auf dem Jungfernstieg in Hamburg, untergehakt bei Krischan Lührs dachte sie daran. Nee, von dem Ausflug mit Krischan hatte sie nichts gehabt. Sie wusste, dass es ungerecht war Krischan Lührs gegenüber, aber seitdem wollte sie nichts mehr mit ihm zu tun haben. Gott, was war das Leben schwierig manchmal.
Wenn Krischan danach zu Besuch zu ihr kam, entwischte sie schnell durch die Seitentür. Sie wusste nicht, wie sie ihm begegnen sollte, und beschäftigte sich lieber damit, wie sie ihr Leben nach Claas’ Tod auf die Reihe kriegen konnte.
Dann hatte sie eine Idee, die alle ihre Probleme zu lösen schien. Sie nahm die Übertragungsurkunde vom Butendiekschen Hof und ließ ihn auf ihren Namen eintragen. Nun hatte sie zwei Höfe, ihren eigenen kleinen und den großen Butendiekschen, aber den hatte sie nur genommen, um einen Schlussstrich unter all die Ereignisse ziehen zu können, die mit der Sturmflut zusammen hingen. Sie wollte nicht mehr dort leben, wo sie alles an die Toten erinnerte, an den Tod von Claas’ Vater, den Tod von Krischans Schwester, den Tod von ihrem eigenen Bruder Garleff, den Tod von Claas.
Sie beschloss, aus Huttfleth wegzuziehen, und so verkaufte sie ihre beiden Höfe und erwarb einen 22 Morgen großen Hof in Twielenfleth.
Ihr Knecht Tönjes und seine Frau Trine zogen mit um dorthin. Gesche konnte mit den beiden zusammen den Hof bewirtschaften. Zum Pflügen, zur Aussaat und zur Ernte beschäftigte sie Tagelöhner.
Aber Gesches Hoffnungen erfüllten sich nicht. Auch in der neuen Umgebung dachte sie weiterhin an Garleff und Claas, ja sie fing erst jetzt richtig an zu trauern, um Garleff, um Claas und um all ihre anderen Toten gleich mit. Was war das bloß traurig, das Leben, wenn der Tod kam zu denen, die zu einem gehörten, und man selbst blieb übrig. Immer wieder drehten sich ihre Gedanken darum, auch um ihren eigenen Tod, später dann, aber man wusste ja nie. Hatte man doch gesehen, wie schnell das gehen konnte. Regelrecht dunkel wurde ihr Gemüt von den schweren Gedanken. Manchmal überlegte sie so lange, wie sie selbst wohl sterben würde, dass sie sich schon gelegentlich einbildete, ihr Tod stehe kurz bevor. Dann fühlte sie sich krank und blieb in ihrem Alkoven liegen, anstatt aufzustehen, um die Kuh zu melken. Trine tat das dann. Trine fragte nicht, was los war, aber Gesche sah an ihren Augen, dass sie sich Sorgen machte.
Gesche versuchte, sich abzulenken, um auf andere Gedanken zu kommen. Sie merkte, dass Arbeit ihr guttat und arbeitete, so viel sie konnte. Wenn nichts zu tun war, lief sie draußen spazieren, so schnell die Holzschuhe sie trugen, lief zu ihren Feldern, durch ihre Höfe und immer wieder zum Deich und an die Elbe.
Manchmal war sie auch nachts unterwegs, weil sie schlecht schlafen konnte und es nicht aushielt, wach im Dunkeln im Alkoven zu liegen und zu grübeln. Trotzdem konnte sie nicht aufhören, immerzu an Garleff zu denken und an Claas. Die Gedanken drehten sich in ihrem Kopf herum, sie konnte ihnen nicht entfliehen. Manchmal dachte sie sogar, es wäre besser gar keinen Kopf mehr zu haben, so wie Claas, dann hätten wenigstens diese quälenden Gedanken ein Ende. Sprechen konnte sie nicht darüber, das wusste sie. Da musste sie allein durch. Was wohl mit Gott los war, dass der so komische Sachen machte, sie leben ließ und ihren Bruder und ihren Liebsten nicht? Wie ein Rätsel, das man nicht lösen konnte.
Ein Jahr lang ging das so, bis sie ruhiger wurde. Sie sammelte sich und es gelang ihr, vernünftiger zu denken. Nun nahm sie sich vor, ihre Aufgabe zu erfüllen, weil die Eltern und Garleff das nicht mehr konnten: Der Hof musste erhalten und an die nächste Generation schuldenfrei weiter gegeben werden. Für den Nachwuchs würde sie irgendwann sorgen müssen, das würde wohl klappen, sie war ja noch jung, obwohl sie mit dreiundzwanzig Jahren natürlich eigentlich schon aus dem besten Heiratsalter heraus war. Sie hatte keine Eile. Krischan Lührs konnte sie nun wirklich nicht heiraten.
Hinnerk Stechmann fühlte sich als Glückspilz. Der Wind stand so günstig, dass schon nach 35 Tagen auf dem Atlantik Europa nah war. Er hatte sogar Gesellschaft, die Witwe eines deutschen Geschäftsmanns, der gerade an Malaria gestorben war, und ihre Dienerin reisten ebenfalls von Puerto Rico nach England. Mit ihren zwei kleinen Kindern musste Madam Smitt nun zurück nach Hamburg, wo die Familie ihres Mannes für sie sorgen würde.
Madam Smitts Dienerin briet jeden Tag dünne kleine Pfannkuchen, von denen ihm immer einige angeboten wurden. Er langte kräftig zu und manchmal verteilte er nach einer Mahlzeit das größte Lob, das er zu vergeben hatte: „Die schmecken fast genauso wie die von meiner Mutter.“
Die Verpflegung auf dem Schiff war ansonsten dürftig wie üblich an Bord von Frachtseglern auf dem langen Weg über den Atlantik. Es konnten einfach nicht genügend frische Vorräte mitgenommen werden, weil die verdarben.
Oft stand Labskaus auf dem Speiseplan, Kartoffelbrei mit untergerührten Zutaten wie Pökelfleisch und Zwiebeln, die vorher durch den Fleischwolf gedreht wurden. Eigentlich gehörten als Beilage dazu ein Rollmops, rote Beete, Gewürzgurke und ein Spiegelei, aber das fehlte alles auf dem Teller.
Selbst am sogenannten Seemannssonntag, dem Donnerstag, hatte es nur Klöße mit gekochten Trockenpflaumen gegeben. Auf Plattdeutsch, der Sprache, die an Bord überwiegend gesprochen wurde, hieß das Gericht Plum und Klüten. Freitag stand Linsensuppe mit Pökelfleisch auf dem Tisch.
An Bord waren fünf Hühner, so dass der Kapitän und die Offiziere in der Kajütsmesse manchmal ein Ei zum Frühstück essen konnten und die Passagiere Zutaten hatten für die Pfannkuchen.
Die Mannschaft kam niemals in die Kajütmesse. Sie hatten ihr eigenes Logis, wo sie auf ihren Schiffskisten saßen, in denen sich ihr spärliches Gepäck befand.
Der Kapitän hatte Hinnerk Stechmann einmal stolz die Verpflegungslisten pro Mann und Tag gezeigt, die Bestandteil des Heuervertrags waren. Hinnerk Stechmann sah, dass pro Mann und Tag 0,14 Ei aufgeführt waren. Trotzdem meinte der Kapitän, dass sich die Verpflegung für die Mannschaft sehr verbessert hatte, er wies besonders auf die 79 g Zucker hin und die 21 g Sauerkohl.
Der Sauerkohl und Zitronensirup waren dem Kapitän besonders wichtig, weil sie als Vorbeugung gegen die gefürchtete Krankheit Skorbut galten. Zwar wusste man nicht, wie es zusammenhing, aber schon Captain Cook, der berühmte Seefahrer und Entdecker im vorigen Jahrhundert, hatte festgestellt, dass sich Skorbut durch Zitronensaft verhindern ließ. Am wichtigsten war natürlich das Trinkwasser an Bord, es wurde streng rationiert. Leider war es oft faulig und stank. Aber auf dieser Reise hatte es unterwegs mehrfach geregnet, so dass die Tanks mit Regenwasser aufgefüllt werden konnten. Hinnerk Stechmann und die beiden Frauen saßen in der winzigen Kajütmesse auf der schmalen Bank. Er sah aus dem Fenster. Es grieselte, dünne Regenbindfäden kamen aus dem dunkelgrau bewölkten Himmel, dieser Regen würde schnell jeden durchnässen, der sich ohne Ölzeug, wie es die Seeleute trugen, aufs Deck hinauswagte.
Hinnerk schaute kurz auf die Zeitung vor ihm auf dem Tisch, die er schon mehrmals gelesen hatte. Sie war acht Wochen alt.
„Das ist endlich mal wieder Wetter, das seinen Namen verdient“, wandte er sich an seine Reisebegleiterinnen. „Nicht wie das, was wir in Puerto Rico haben, jeden Tag Sonne, immer warm, blaues Meer und Palmenstrand, wie langweilig ist das denn? Gar keine Abwechslung da.“
Die Frauen schauten ihn nur kurz an. Wie immer ließen sie die beiden zwei und vier Jahre alten Kinder kaum aus den Augen, sie waren in ständiger Sorge, dass die in einem unbeobachteten Moment über die Reling kletterten. Im Augenblick spielten der Junge und das Mädchen aber ganz versunken mit ihren Bauklötzen.
„Im Alten Land liegt jetzt wahrscheinlich Schnee. Mudder wird wohl öfter mal Grünkohl kochen, mit Mettwurst drin. Sie weiß, dass ich den gern mag. Ich freue mich auch auf das Schwarzbrot, eigentlich auf alles.“
Die Frauen lächelten. Hinnerk hatte während der gesamten Überfahrt vom Alten Land geschwärmt.
„Man sollte denken, dass Ihr geradewegs ins Paradies fahrt, Herr Stechmann!“, meinte Madam Smitt. „Dabei haben wir das doch gerade hinter uns gelassen. Ihr wart sicherlich auch einmal im Regenwald im Nordosten der Insel und habt die prächtigen Orchideen gesehen, die riesigen Farne, die bunten Vögel?“
„Ja, klar. Und die Bäume, wie man sie bei uns überhaupt nicht kennt! Jemand hat die Sorten mal gezählt, das sollen über zweihundert sein. Natürlich war ich hin und weg. Sogar in der Wüste hat es mir gefallen, wo das so trocken ist.“
„Gibt das in Hamburg auch solche Tiere wie zu Hause?“, fragte der kleine Junge.
„Mein Junge, Hamburg wird nun unser zu Hause, und natürlich gibt es dort Tiere, aber keine wilden. Höchstens im Käfig.“
„Darf ich den Papagei streicheln?“, fragte der Junge und deutete auf den Vogel im Käfig auf dem Fußboden.
„Nein, er könnte zuschnappen. Es ist übrigens ein Hellroter Ara“, sagte Hinnerk Stechmann. „Eigentlich wäre es vernünftiger gewesen, wenn ich meiner Familie einen Graupapagei mitbringen würde, die sind kleiner. Aber dieser Ara hatte es mir angetan, er war der schönste.“
In der Tat sah der Ara prächtig aus, der Kopf und der obere Teil des Körpers waren mit hellroten Federn bedeckt, dann folgten gelbe und schließlich dunkelblaue. Die langen Schwanzfedern waren hellrot, hellblau und dunkelblau.
„Der Käfig mit dem Arakanga, so heißt er, ist sperrig und schwer, ich werde froh sein, wenn ich ihn endlich im Alten Land abliefern kann.“
„Können wir ihm sprechen beibringen?“, fragte der Junge.
„Ich habe versucht, ihm einige deutsche Sätze beizubringen. Aber bis jetzt scheint er nichts gelernt zu haben. Asa, sag: Tschüs, mein Junge.“
Der Papagei kreischte.
Der Junge und Hinnerk lachten. „Das hörte sich eher an wie: Hau ab, du Spinner“, meinte Hinnerk.
„Vielleicht spricht er spanisch oder englisch?“, vermutete der Junge.
Die Insel Puerto Rico war eine spanische Kolonie. Fünf ihrer Städte waren im Jahre 1810 zu Freihandelshäfen erklärt worden. Seitdem fand ein reger Handel mit Kaffee, Tabak und Zucker statt. Im Innern der Insel gab es riesige Zuckerrohr- , Kaffee- und Tabakplantagen. Die Händler und Plantagenbesitzer waren meistens Spanier, Engländer oder Deutsche, die Landarbeiter Farbige, Mulatten oder Mestizen.
„Mama, was ist die richtige Sprache?“, fragte der Junge. Die Mutter strich ihm über das Haar. „Es gibt keine richtige Sprache und keine falsche. Wie gesprochen wird, das richtet sich nach dem Land, in dem man ist.“
„Tja, wenn man in mehreren Ländern gelebt und gearbeitet hat wie ich, muss man immer wieder eine neue Sprache lernen. Ich kann nun Plattdeutsch, Hochdeutsch, Englisch und Spanisch“, berichtete Hinnerk Stechmann.
„Und ich Deutsch und Spanisch. Ich wollte da gar nicht weg aus Puerto Rico. Es war doch alles gut, bis Papa gestorben ist. Nicht, Mama? “, meinte der Junge.
„Natürlich. Ja, aber es gibt dort eben solche schlimmen Krankheiten.“ Sie seufzte. „Wir haben da ja noch unser Haus, aber ich habe nun nach Papas Tod riesig große Angst um euch Kinder. In Hamburg ist das Leben sicherer.“