Gesches Glück

Historischer Kriminalroman aus dem Alten Land

Annelie Schlobohm


ISBN: 978-3-96045-110-5
1. Auflage 2021
© 2012 Verlag Atelier im Bauernhaus, 28870 Fischerhude

Lektorat und Gestaltung: Mareike Kaden
Umschlag: Carl Gustav Carus, Kahnfahrt auf der Elbe, 1827
Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Du bist verwirrt? Ganz plötzlich

wird die Liebe kommen und sagen:

,In diesem Augenblick werde ich

Dich von dir selbst erlösen.‘

 

Rumi

 

1. Kapitel

 

Gesche stand in ihrem Außendeichstück an der Elbe. Das Schilf ging ihr bis zur Taille, dichte Rabatten von Sumpfdotterblumen blühten im Elbschlick zwischen den Reetpflanzen.

Es duftete nach Elbwasser, das mochte Gesche gern riechen. Doch die frische Mailuft konnte sie nicht von ihrem schweren Kummer ablenken. Nach dem Tod ihrer Magd und Freundin Trine vor drei Jahren waren endlich wieder ein wenig Friede und Freude in ihr Leben eingekehrt, und nun schien das schon wieder vorbei zu sein.

Sie war erbost. Wie konnte jemand so gemein sein wie dieser Hans und einer Mutter ihr Kind wegnehmen? Und dann war er auch noch entkommen nach seiner Tat, ohne dass ihn jemand aufgehalten hatte!

Die Elbe natürlich, die machte so was möglich. Jeder konnte an Bord eines Schiffes gehen und wegfahren, der Fluss und der Wind suchten sich das ja nicht aus, wen sie auf einem Schiff woanders hinbrachten. Eigentlich hatte die Elbe noch was wiedergutzumachen nach der großen Sturmflut vor sechs Jahren, als alles kaputt gegangen war. Aber so ging das eben nicht immer im Leben. Die Elbe hatte wieder etwas genommen, statt etwas zu geben.

„Böser Fluss!“, schimpfte Gesche.

Blinkende Lichtpunkte auf der Wasseroberfläche, wo die kleinen Wellen sie hin- und hertanzen ließen, erinnerten Gesche daran, dass sie früher in diesen Lichtern an sie gerichtete Briefe von Gott gesehen hatte.

Das war vorbei. Gesche schickte die Briefe ungeöffnet an Gott zurück. Sie verließ sich jetzt erst mal nur noch auf sich selber.

Das gegenüberliegende Ufer der Elbe war deutlich sichtbar, trotz der Entfernung von zwei Meilen. Frachtsegler fuhren vorbei. Gesche wusste, dass an Bord Lotsen waren, die kannten alle Sandbänke und Untiefen. Einige von ihnen wohnten in Twielenfleth, sie waren hoch angesehen im Alten Land. Wenn man einen sah und grüßte, und er grüßte zurück, war man stolz.

Gesche hatte gehört, dass es neumodische Schiffe gab, die nicht nur Masten und Segel hatten, sondern auch Dampfmaschinen. Wenn es wie heute fast windstill war, wurden angeblich Öfen angeheizt, dann dampfte es irgendwo, und so kamen die Schiffe auch bei Flaute voran. Aber Gesche glaubte das nicht, sie hatte noch keinen Dampf oder Rauch aus einem Schiff aufsteigen sehen. Manchmal erzählten die Leute eben Sachen, die gar nicht stimmten.

Auf den Wind konnte man sich zwar nicht immer verlassen, aber man war trotzdem völlig auf ihn angewiesen. So war das nun mal. Da konnten keine Dampfmaschinen was dran machen.

Gesche lebte richtig gern im Alten Land. Doch wenn sie die Schiffe auf der Elbe sah, stellte sie sich manchmal vor, wohin das Wasser die wohl trug und wie es dort aussah, ob da andere Bäume und Blumen wuchsen und anderes Getreide. Vielleicht gab es woanders sogar andere Vögel. Sie hielt es allerdings für wahrscheinlicher, dass dort dieselben Störche und Sprehen lebten, die aus dem Alten Land in andere Länder flogen und wiederkamen. Dann hatten sie mal Abwechslung, und nach ein paar Monaten flogen sie in ihre alte Heimat zurück. Im Storchennest auf Gesches Dach kamen jeden Frühling die Störche an, da freute sie sich jedes Mal drüber. Die Sprehen konnten allerdings ruhig wegbleiben, die fraßen nur die Kirschen auf. Hinnerk Stechmann hatte ja einen Ara aus Puerto Rico mitgebracht, das sprach dafür, dass es doch auch noch andere Vögel gab in anderen Ländern.

Am liebsten würde sie die fremden Länder selbst mal sehen, anstatt nur den Erzählungen der Seeleute zu lauschen. Das wusste man ja, dass da viel Seemannsgarn bei war.

Aber eine Schiffsreise war unmöglich, Frauen wurden an Bord von Schiffen nur als Passagiere und nur in Begleitung geduldet. Zornig stampfte sie mit dem Fuß auf, der in einem Holzschuh steckte. Als Frau ohne Begleitung musste sie an Land bleiben und konnte nicht selbst entdecken, was es in fremden Ländern alles zu sehen gab.

Hier im Alten Land aber musste sie so viel aushalten! Gott nahm ihr alle Menschen weg, die ihr nahestanden. Gesche verstand nicht, warum ihr Liebster Claas, ihr Bruder Garleff und ihre Magd und Freundin Trine starben und sie selbst dableiben musste.

In den letzten Jahren hatte sie ihren Bauernhof allein bewirtschaftet, mit der Hilfe von Tagelöhnern. Ohne Magd ging das natürlich nicht, und in der neuen Magd Else stand ihr eine fleißige und tüchtige Frau zur Seite. Um Elses Tochter Lütt-Trine, die nun drei Jahre alt war, kümmerten sie sich gemeinsam. Lütt-Trines Vater hatte auf dem Hof als Knecht gearbeitet, aber er war eigentlich Seemann, und schließlich packte ihn wieder das Fernweh. Er heuerte auf einem Frachtsegler an, der zwischen Hamburg und verschiedenen Häfen am Mittelmeer verkehrte.

Zunächst kam er noch alle paar Monate nach Hause, dann blieb er weg. Else weinte viel, sie verstand das nicht.

Gesche hatte versucht, sie zu trösten: „Das hat bestimmt nichts mit dir zu tun. Er kann eben nicht so gut in der Landwirtschaft arbeiten mit seinem steifen Bein. Da kann er doch nichts für, dass er das zurückbehalten hat, als er damals aus dem Mast gestürzt ist.“

„Aber wenn er nu für immer weg ist, was wird denn mit mir und Lütt-Trine?“

Else war untröstlich.

„Ihr bleibt hier auf dem Hof! Lütt-Trine kriegen wir schon groß. Sie ist ja auch so niedlich, und ich hab doch keine Kinder.“

„Deswegen, weil du nicht heiraten tust, Bäuerin. Du bist nu über zwanzig. Nimm doch einfach Wachtmeister Krischan Lührs, der freit schon seit Jahrenden um dich. Denn wirst du auch Mutter.“

„Mutter werden möchte ich wohl. Aber nee. Ich hab Krischan nicht genug lieb.“

Gesche fand, sie konnte nicht jemanden heiraten, für den sie nur ganz schwache Gefühle hatte, wenn sie ihn sah.

„Denn bleib ich lieber ledig.“

„Und der Hof? An wen willst du den vererben? Wenn du dreißig bist, denn kriegst du doch keine Kinder mehr, denn bist du doch schon fast alt.“ Else schlug sich mit der Faust aufs Knie. „Ist doch so!“

„Trotzdem!“ Gesche lächelte. „Denn kriegt eben Lütt-Trine den Hof.“

„Das uneheliche Kind von einer Magd! Das wär noch mal was! Seit die Bauern im Alten Land ackern, hat es das bestimmt noch nie gegeben!“

Else traute sich nicht, den Gedanken zu fassen, dass sie vielleicht mal die Mutter einer Bäuerin sein würde. Sich so über ihren Stand zu erheben, und sei es nur in Gedanken, das musste Gott ja bestrafen.

„Ich kann das bestimmen!“

Gesche hatte ihr Kinn in die Höhe gereckt.

Aber nun war wieder alles anders. „Bloß weil es dich gibt, böse Elbe, hat Lütt-Trines Vadder mit ihr weg gekonnt“, grollte Gesche. „Bloß weil es Schiffe gibt. Wenn er hier geblieben wäre, wäre Lütt-Trine auch noch hier.“

Diesen neuen Schlag würde sie schwer verkraften, so viel stand fest.

Zornig zog sie einen Holzschuh aus und warf ihn weit hinaus ins Wasser. Dort schwamm er mit dem ablaufenden Wasser in Richtung Meer. Eigentlich hieß es zwar die See, sonst gäbe es ja keine Seeleute und Seefahrt, aber die See hatte mehrere Meere, soweit Gesche wusste. Das erste Meer von hier aus gesehen war die Nordsee. Dann kam der Ärmelkanal und danach der Atlantische Ozean, bevor das Schiff endlich ins Mittelmeer einbog. Außer den Namen wusste Gesche nicht viel von der See, aber sie hatte Vorstellungen von ganz viel Wasser, noch mehr als in der Elbe war, so viel, dass man das andere Ufer nicht sehen konnte. Nicht wegen Nebel, wie hier manchmal, sondern bei jedem Wetter. Das musste komisch sein, nur Wasser sehen zu können, und das Schiffsdeck, die Reling, die Masten, die Segel natürlich.

Gesche sah erschrocken ihren Schuh davon treiben. Ihre Holzschuhe waren ihr einziges Paar Schuhe, die trug sie jeden Tag. Zwar konnte sie sich einen neuen Holzschuh schnitzen lassen, aber es dauerte Jahre, bis der Fuß und der Schuh sich so aneinander gewöhnt hatten, dass man keine Blasen mehr an den Füßen hatte. Wie hatte sie sich so hinreißen lassen können!

Sie brach eine lange Weidenrute von einer Krüppelweide ab und ging in den Fluss, um den Schuh zurückzuholen. Das Wasser war kalt; sie schrie leise auf, als die Kälte ihr in die Beine schnitt.

„Dammi noch mal!“, fluchte sie. Sie ärgerte sich über sich selbst.

Ihr Schuh trieb gemächlich davon. Gesche hoffte, dass sie nicht schwimmen musste, um ihn zu erreichen. Mit nasser Kleidung nach Hause laufen, da würde sie sich bestimmt erkälten.

Sie versuchte, mit dem Schuh auf gleicher Höhe zu bleiben und mit dem Stock nach ihm zu angeln.

„Hoffentlich muss ich dir nicht bis zum Meer folgen, Schuh“, murmelte sie.

Schließlich erwischte sie ihn mit der Weidenrute und konnte ihn zu sich heranziehen.

Als sie wieder am Ufer war, stellt sie fest, dass ihr Rock und die Unterröcke sich mit Wasser vollgesogen hatte. Nun waren sie schwer, Gesche konnte nur mit Mühe gehen. Den Versuch, die Röcke und Unterröcke auszuwringen, gab sie bald auf, es war unmöglich.

Sie spülte den Schlick aus dem anderen Holzschuh aus. Nun musste sie so schnell wie möglich nach Hause. Aber dort hielt sich Krischan Lührs auf, vor dem Gesche an die Elbe geflohen war, weil sie das nicht mehr aushalten konnte, was er redete und Ermittlungen in Sachen einer Kindesentführung nannte.

„Nützt nichts. Ich muss zu Hause trockene Sachen anziehen“, sagte Gesche zu ihren Holzschuhen.

Am liebsten hätte sie den Rock und die Unterröcke ausgezogen, um schneller laufen zu können, das ging jedoch nicht. Wenn sie jemand so sah!

Den Deich hinauf wäre sie am liebsten gekrochen, so sehr zogen die schweren Röcke sie nach unten. Aber sie schaffte es hinauf. Dann musste sie noch ein Stück auf dem Deich gehen, bevor sie ihre Hofgebäude sah. Die Maisonne wärmte überhaupt nicht, ein kühler Wind wirbelte die kleinen weißen Blütenblätter der Kirschblüten herum, die wie winzige Flaumfedern durch die Luft flogen.

Der Weg, der sich auf der Landseite an den Deich anschloss, war leer. Gesche überquerte ihn rasch und lief über ihren Hofplatz. Lütje, ihr Hund, kam aus der Großtür heraus, die einen Spalt offen stand. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit begrüßte er sie nicht stürmisch, er schaute sie nicht einmal an.

„Du bist wohl beleidigt, weil ich dich nicht mitgenommen hab“, vermutete Gesche. „Hast ja recht, ich hätte an dich denken sollen. Oder bist du böse mit mir, weil du denkst, ich habe Schuld, dass die Entführung passiert ist? Das lass man, da kann ich nichts für.“

Aber heimlich dachte sie manchmal, dass sie es hätte verhindern müssen. Wenn sie dies und das getan oder nicht getan oder gesagt oder nicht gesagt hätte, denn wäre es anders gekommen. Und alles wäre immer noch wie früher, als das noch gut war.

Als sie durch die Großtür auf die Diele trat, hörte sie Krischans Stimme.

Die Tiere in den Ställen waren unruhig, aber Krischans tiefe Stimme tönte lauter als die Geräusche.

Es roch nach Kohl, offensichtlich war Else am Kochen. Erleichtert stellte Gesche fest, dass sie sich nicht selbst um das Essen kümmern musste. Else konnte trotz des Schicksalsschlages noch arbeiten.

„Else, das ist nu wichtig, dass du dich an alles erinnerst“, dröhnte Krischans Stimme.

Warum spricht er nur so laut?, dachte Gesche, als sie sich der Kochstelle näherte, wo die beiden auf Hockern saßen.

Else schluchzte. „Ich zerbrech mir doch schon die ganze Zeit den Kopf! Aber mehr weiß ich beim besten Willen nicht, als was ich schon gesagt hab. Er hat nur den Zettel dagelassen.“

Mit ungeduldig erhobener Amtsstimme fragte der Wachtmeister weiter: „Aus welchen Häfen am Mittelmeer hat er dir mal geschrieben? Auf welchen Schiffen ist er gefahren? Was meint er damit, wenn er schreibt: Ich will, dass meine Tochter eine bessere Zukunft hat als hier, wo sie nur das Kind der Schande ist?“

„Na, das ist doch wohl klar, Krischan“, mischte sich Gesche ein. „Nu ist Lütt-Trine ja noch bannig klein und kriegt das nicht mit, wenn die Leute schlecht über sie schnacken, aber wenn sie größer wird, denn merkt sie das, und das tut ihr immer weh und sie muss andauernd weinen. Und das will man als Vater nicht.“

„Auch nicht als Mutter“, schluchzte Else. „Aber warum hat er mich nicht einfach geheiratet? Denn wäre doch alles gut.“

„Auf jeden Fall ist das eine Entführung eines minderjährigen Kindes, weil ihr nicht verheiratet seid“, klärte Krischan Lührs über die Rechtslage auf. „Sonst kann natürlich ein Vater mit seinem Kind machen, was er will. Wenn er meint, seine Tochter soll lieber am Mittelmeer leben, geht das klar.“

„Hans hat mich nicht genug lieb gehabt, immerzu wollte er weg. Das ist Fernweh, das hat man oder man hat das nicht, sagt er. So wie Heimweh, bloß anders.“ Else trocknete ihre Tränen.

„Da dachte ich, wenn er weg ist, kriegt er vielleicht Heimweh, und denn bleibt er für immer hier. Er hatte zwar Heimweh, aber hier hatte er denn wieder Fernweh. Als wenn ihn etwas getrieben oder vertrieben hat. Vielleicht der Klabautermann. Oder ein Dämon, den er sich irgendwo eingefangen hat. Er sagt, in Türkien gibt es Leute, die haben den bösen Blick, und die können einem einen Dämon anhexen. Aber da gibt es auch Leute, die den Dämon wieder austreiben können.“

Krischan Lührs strich sich mit einer Hand über die Wangen.

„Da haben wir doch schon mal was! Türkien! Ob er da hin ist?“

„Da hat er jedenfalls viel von erzählt, wenn er mal hier war, mehr als von den anderen Ländern. Von Konstantinopel, wo die Frauen mit ihren Kindern in einem Harem leben, damit ihnen niemand was tun kann. Außer sie stellen was an, dann kriegen sie ihre Strafe.“ Else zog die Schultern zusammen.

„Da bringt er Lütt-Trine doch wohl nicht hin, in den Harem!“

„Nee. Bestimmt nicht!“, rief Gesche. „Ich komme gleich wieder, ich muss mir nur schnell was anderes anziehen.“

Krischan Lührs fragte: „Gesche, was hast du wieder angestellt? Warum sind deine Röcke so nass?“

„Mein Schuh ist weggeschwommen, ich musste da hinterher, ins Wasser.“

Gesche ging in die Kofferkammer zu ihrem Kleiderschrank und nahm zwei Unterröcke und ihren guten Rock heraus. Hinter der offenen Schranktür zog sie sich um. Die nassen Röcke hängte sie an einen der Kleiderhaken, die an den Türrahmen angebracht waren.

„Ich bringe dich wieder her, Lütte, und wenn ich dich aus Türkien holen muss. Über alle Meere schipper ich. Und ich frage niemanden, ob ich das darf“, sagte sie leise.

„Hast du was gesagt, Gesche?“, rief Krischan Lührs.

„Hast du was gehört, Krischan?“, rief sie zurück.

Sie hatte noch Geld übrig vom Verkauf ihrer beiden Höfe, das wollte sie verwenden, um Lütt-Trine zurückzuholen. Und dafür musste sie über die See segeln, die Spuren von Lütt-Trines Vater Hans verfolgen.

Die Hände in die Hüften gestemmt, baute sich Gesche vor Krischan Lührs auf: „Ermittel du man hier weiter, ich fahre über die Meere nach Türkien. Denselben Weg wie Hans und Lütt-Trine mit dem Schiff. Ich war vorhin schon richtig böse auf die Elbe, weil die jeden auf sich wegschippern lässt. Sogar Lütt-Trine, die lieber hier bleiben sollte. Das bringt doch nichts, hier sitzen und warten, dass die lütte Deern wiederkommt. Ich will da hinterher.“

„Gesche, da kann doch die Elbe nichts für!“, rief Krischan Lührs. „Das ist doch nicht dein Ernst!“

„Ich mein ja bloß“, sagte Gesche.

Else starrte Gesche mit offenem Mund an. „Bäuerin muss ich auch mit?“

„Nee, du bleibst hier und kümmerst dich um den Hof. Die Ernte muss eingefahren werden, du weißt ja.“

Krischan Lührs war aufgesprungen. „Das erlaube ich auf gar keinen Fall! Du bleibst schön hier!“

„Du hast mir gar nichts zu sagen!“, rief Gesche. „Ich wollte sowieso schon immer mal übers Meer in fremde Länder fahren, nu geht das los. Und ich komme wieder mit Lütt-Trine!“

Die Kuh muhte mehrmals laut.

„Was hat sie denn?“, meinte Else. „Ich habe sie gemolken, ich habe sie gefüttert. Besser ist das, wenn ich mal kucke.“

Vor ihr auf den Steinen stand ein rußgeschwärzter Topf, in dem Kartoffeln im Wasser lagen, und ein Eimer mit Kartoffelschalen. Über dem Feuer hing ein Topf, aus dem der Geruch von Kohl und Speck aufstieg. Nun stand Else auf, wischte sich die Hände an der Schürze ab und lief über die Diele zum Kuhstall auf der rechten Seite vor der Großtür. Sie hörten, wie sie beruhigend auf das Tier einsprach.

„Gesche, das kannst du nicht. Allein nach Türkien fahren auf einem Schiff, das geht nicht.“

„Doch!“

„Die sprechen da eine ganz andere Sprache!“, rief er.

„Weiß ich!“ Gesche machte ihren Rücken gerade. „Da hab ich mir schon was zu überlegt.“

„Gesche, du bleibst hier!“

„Nee. Ich schreibe einen Brief an Friedrich Rückert, der kann alle diese Sprachen, die sie im Morgenland sprechen, Arabisch, Persisch, Türkisch. Der kommt mit zum Übersetzen.“

Nun dachte Krischan Lührs, dass er sich keine Sorgen mehr machen musste. Friedrich Rückert, der vor drei Jahren für einige Wochen Gesches Sommerfrischler gewesen war, würde sie natürlich nicht begleiten. Der hatte viel zu tun mit Gedichte schreiben und so was, und seine Frau und die kleinen Kinder würde er auch nicht so lange allein lassen wollen.

„Und denn“, sagte Gesche, „ist ja auch noch Hinnerk Stechmann da. Der hat seine Stellung auf Puerto Rico gekündigt, weil er da genug Geld verdient hat, dass er nu als selbständiger Händler Geschäfte machen kann. Er ist noch in England und kommt nächste Woche, das hat er mir geschrieben.“

Krischan Lührs lachte. „Mag sein, dass er seine Familie im Alten Land mal wieder besucht. Aber mit dir nach Türkien fahren und da Handelsgeschäfte machen, da kommt nichts nach.“

„Das weißt du doch nicht! Er hat da schon früher von gesprochen, dass man im Morgenland viel Geld verdienen kann als Händler. Ich fahre mit den beiden los! Da hält mich keiner von ab. Schon gar nicht du!“

Else kam zurück zu ihnen. „Sie hatte sich festgeklemmt und konnte sich nicht bewegen. Nu ist wieder alles gut.“

„Ich bring die Kuh heute Nachmittag auf die Weide“, meinte Gesche. „Draußen geht ihr das besser, da ist sie frei.“

„Ja, aber ich muss morgens im Dunkeln zum Melken laufen. Mache ich denn eben.“

Gesche wusste, dass sie sich auf Else verlassen konnte. Die würde hier alles in Ordnung halten.

Schon dachte sie wieder an ihre Reise. „Mal sehen, das wird ja eine Zeitlang dauern. Erst muss ich drei Plätze auf einem Frachtsegler bestellen, der nach Türkien fährt. Denn an die beiden Herren einen Brief schreiben, wann das los geht. Am liebsten möchte ich schon nächste Woche an Bord gehen, aber ich glaub, drei Wochen dauert das wohl.“

Krischan Lührs lachte: „Drei Monate eher. Und denn fahren die beiden doch nicht mit, und du musst alleine los und hast da zu viel Angst vor und fährst denn doch gar nicht weg! So kommt das.“

„Da wart man drauf! Bloß, wo in Türkien ich suchen soll, das muss ich erst noch rausfinden. Else, zeig mir doch noch mal den Zettel, den Hans hiergelassen hat!“

„Ich hab den, ist ja ein Beweisstück“, meinte Krischan Lührs und zog ihn aus der Tasche.

„Und ich hatte mich so gefreut, als Hans vor drei Tagen auf einmal vor der Tür stand“, seufzte Else. „Ich dachte, er bleibt nu für immer hier, aber am nächsten Morgen wach ich auf, da ist nicht nur er weg, sondern er hat auch das Liebste mitgenommen, was ich auf der Welt habe. Ich mache mir solche Sorgen um Lütt-Trine! Er weiß doch gar nicht, was so ein kleines Mädchen braucht. Wenn ich an sie denke, wird mir ganz flau im Magen.“

Wieder standen Else Tränen in den Augen.

„Er hat das wohl gut vorbereitet, seine Flucht mit Lütt-Trine“, meinte Gesche. „Bestimmt sind sie schon unterwegs, vielleicht sogar auf der Nordsee. Na klar hat er was zu essen für Trinchen mitgenommen“, versuchte sie zu trösten.

„Auf der Elbfähre hat jemand Hans und Lütt-Trine zusammen gesehen, sogar mit Hans gesprochen. Der hat behauptet, dass er seine Tochter ins Krankenhaus nach Altona bringt. Aber in Altona war er nicht“, berichtete Krischan Lührs. „Ich habe das natürlich ermittelt. Eigentlich wollte ich euch das gar nicht sagen, weil das geheime Ermittlungsergebnisse sind, behaltet das auf jeden Fall für euch! Er ist von Hamburg aus mit einem Schiff weg.“

„Woher weißt du das denn?“, fragte Gesche.

„Weil er an Bord von seinem neuen Schiff gegangen ist, allein. Das sind gesicherte Erkenntnisse.“

„Da warst du diesmal aber bannig schnell mit deinen Ermittlungen“, meinte Gesche anerkennend.

Krischan Lührs lächelte stolz. „Na klar kann er Schmu gemacht haben, zum Beispiel jemand anders mit seinem Heuerbuch losgeschickt haben. Aber ich glaube, er war das selber, und später hat er Lütt-Trine an Bord geschmuggelt, im Dunkeln vielleicht.“

Gesche überlegte.„Und wo war Lütt-Trine in der Zwischenzeit?“

„Weiß ich doch nicht! Aber ich finde das noch raus!“ Gesche meinte: „Man müsste Hans doch leicht im ersten Hafen verhaften können, den das Schiff anläuft.“

„Na klar wissen wir, wo der Frachtsegler seine Ladung löschen will, in Konstantinopel. Aber das ist Ausland, nicht nur nicht Königreich Hannover, richtiges Ausland. Wahrscheinlich kommt das Schiff in Konstantinopel schneller an als ein Amtsersuchen. Und wo der Dampfer von da hinfährt, ist unbekannt. Das kriegt der Kapitän erst im Hafen zu wissen. Aber Hans hat da bestimmt Angst vor, dass er in Konstantinopel in Arrest genommen wird. Darum denke ich, er geht in Konstantinopel sofort von Bord. Kann sein, er bleibt in der Stadt, oder er fährt über Land weiter. Wohin, weiß keiner.“

„Er kann Lütt-Trine nicht die ganze Zeit verstecken. Wir wissen doch, wie sie immer rumtobt und juchzt und ruft. Da müssen die anderen Seeleute was von merken.“

Gesche wollte nicht daran denken, dass Hans Lütt-Trine vielleicht gefesselt und geknebelt hatte, damit sie nicht bemerkt wurde.

„Mal sehen“, sagte sie schnell, nahm den Zettel und las die letzten Worte. „,Es hat keinen Sinn, nach uns zu suchen. Entweder hat Trine ein gutes Leben, oder sie ruht auf dem Grund des Meeres.‘“

Das klang komisch, fast als würde er das Kind über Bord werfen, wenn irgendetwas schiefging. Aber natürlich verschwieg Gesche Else ihre Befürchtungen.

Was er denn wohl meint, wo Lütt-Trine ein gutes Leben hat?, fragte sich Gesche. „Sag doch mal, Else, wenn Hans früher so erzählt hat von seinen Reisen nach Türkien, wo hat er denn am meisten von gesprochen, hat er von einem Ort besonders geschwärmt?“

Else dachte nach. „Von einer Stadt, die Konya heißt. Die ist aber nicht am Mittelmeer, sondern weg von der Küste. Hans hat gesagt, ihm hat jemand erzählt, dass da die wirbelnden Derwische wohnen. Das sollen die weisesten Menschen der Welt sein.“

„Tja. Mit denen würde sich natürlich jeder gern mal unterhalten“, meinte Gesche. „Wie ist es denn da sonst so in Konya?“

„Die Leute gastfreundlich, die Gegend schön, mit Felsen aus so einem weichen Stein, dass komische Formen rausgekommen und viele Höhlen drin sind, und denn gibt es in Konya ein Grabmal von einem gewissen Rumi, das war ein ganz besonderer Mensch, der hat Gedichte geschrieben. Da pilgern die Leute hin, und denn wird in ihrem Leben alles gut.“

Gesche breitete die Arme aus. „Das hört sich doch allerbest an. Ich glaube, da könnte er Lütt-Trine hingebracht haben. Den Namen Rumi kenne ich. Herr Rückert hatte mit dem zu tun, der hat seine Gedichte ins Deutsche übersetzt. ,Komm, der Liebe Sklave sei, denn die Lieb’ ist Sklaverei.‘ Aber er meinte das nicht wörtlich.“

„Sklaverei hat das im Alten Land noch nie gegeben“, bemerkte Krischan Lührs. „Nicht mal Leibeigene. Alle waren frei. Solche Gedichte brauchen wir hier nicht.“

„Das ist ein Sinnbild, sagt Herr Rückert, Sklave der Liebe darf man nicht wörtlich nehmen. Aber Herr Rückert kann ja Hans das damals nicht vorgeschnackt haben“, überlegte Gesche. „Die haben sich doch gar nicht getroffen.“

„Na ja, ich hab Hans das alles erzählt, was wir hier von Herrn Rückert gehört haben“, sagte Else kleinlaut. „Was ich leiden mochte, meine ich. ,Die Rose ist das höchste Liebeszeichen, dem Herzensfreund will ich die Rose reichen.‘ Das fand ich zu und zu schön.“

„Was gibt das denn bei dir heute zu Mittag, Krischan?“, fragte Gesche, um das Thema zu wechseln.

Aber ihre Gedanken waren mit etwas anderem beschäftigt – sie würde eine Pilgerfahrt nach Konya machen und dort Lütt-Trine finden und das Kind wieder mit nach Hause nehmen. Damit alles gut wurde. Auch in Gesches eigenem Leben, das war denn ja ein Abwasch, da konnte sie gleich die weisesten Menschen der Erde drum bitten.

„Zum Kochen komme ich ja meistens nicht“, meinte Krischan. „Wie das eben so ist in einem Haus ohne Frau, die sich um solche Sachen kümmert. Meistens koche ich mir einen ordentlichen Pott voll Kartoffeln für zwei Tage, und denn brate ich mir Bratkartoffeln morgens, mittags und abends, manchmal mit Speck.“

„Herr Wachtmeister, das ist doch ungesund, immer dasselbe!“, rief Else. „Bleib man hier zum Essen, es ist genug da.“

Gesche ärgerte sich. Die Einladung hatte Krischan Lührs ihnen abgeluchst.

Er sah Gesche an. „Wenn das der Bäuerin recht ist.“

Da konnte Gesche schlecht Nein sagen. Sie tröstete sich damit, dass das Essen ja nur zehn Minuten dauerte, dann würde er wohl gehen.

„Das Meer“, sagte sie, „wenn man da drauf ist, da gibt es denn nichts anderes als das Meer. Da springen weiße Fische raus, die sind so groß wie Robben. Und was da sonst noch alles für Fische drin sind, das glaubt man gar nicht. Das Meer hat immer andere Farben, je nachdem, wie der Himmel aussieht, der spiegelt sich da drin. Weil eigentlich hat das Wasser ja keine Farbe, das sieht man doch, wenn man Wasser im Topf hat wie in diesem hier, das ist ja nicht blau.“

„Woher weißt du denn so was?“, staunte Krischan Lührs.

„Hinnerk Stechmann hat das erzählt von der See, und Herr Rückert hat das erklärt mit dem Himmel. Sonst weiß man ja so was nicht, wenn einem das niemand sagt. Das Meer möchte ich zu und zu gerne mal sehen. Ich fahre nach Konya zu den wirbelnden Derwischen. Über das Meer.“

Gesche lächelte.

„Bestimmt findest du Lütt-Trine da!“, hoffte Else. „Wenn ihr beide wieder da seid, Bäuerin, denn weißt du viel mehr als vorher. Wie das in Konya ist. Was die Leute da essen und so.“

„Jo.“

„Ich glaube nicht, dass du da wirklich hinkommst“, meinte Krischan Lührs. „Aber wenn – ob du Lütt-Trine da findest, Gesche?“

Gesche sah ihn an. „Denn finde ich was anderes, vielleicht sogar mein Glück.“

„Das kannst du bestimmt bloß hier finden.“

2. Kapitel

 

Krischan Lührs hatte ziemlich lange überlegt, ob sich die Mühe lohnen würde, doch dann entschloss er sich, nach Hamburg zu fahren. Schließlich konnte es sein, dass Lütt-Trine noch in der Nähe war. Der Entführer Hans wusste, dass er seine dreijährige Tochter auf einer so langen Seereise nicht die ganze Zeit verstecken und versorgen konnte. Er musste sie irgendwo unterbringen, bis seine Verfolger die Hoffnung aufgaben, Lütt-Trine wiederzufinden. Wenn nicht mehr jeder seiner Schritte beobachtet wurde, konnte er das Kind bringen, wohin er wollte, dorthin, wo er mit seinem wirren Kopf das kleine Mädchen am besten aufgehoben meinte.

Wenn Krischan Lührs Hans’ Gedankengänge richtig gedeutet hatte, stellte sich die Frage, wohin der seine Tochter nach der Entführung erst mal bringen würde. Hans’ Verwandte schieden aus, das wäre zu verdächtig. Also blieben Fremde, vielleicht Häuser, wo Kinder ohne Eltern aufgenommen wurden, ein Waisenhaus, eine Anstalt, ein Haus für Findelkinder. Es mochte sogar sein, Hans hatte Lütt-Trine nach Stade ins Armenhaus gebracht, wo Waisenkinder und andere Arme Unterkunft fanden. Aber dagegen sprach, dass Hans und das Kind auf der Fähre nach Hamburg gesehen worden waren. Krischan Lührs wollte diese Spur verfolgen, daher saß er nun auf der Fähre nach Hamburg und schaute auf das ruhige Wasser der Elbe.

Er versuchte wieder, sich in den Täter hineinzuversetzen. Vielleicht war dem das Waisenhaus zu amtlich. Eine andere Möglichkeit lag darin, Lütt-Trine gegen Kost und Logis bei einer Familie unterzubringen, die nicht viele Fragen stellte. In der Hamburger Vorstadt St. Georg gab es viele bitterarme Mütter, die für ein bisschen Geld so etwas zu tun bereit wären, wusste Krischan Lührs. Dass das Ziehkind dann häufig verprügelt wurde und wenig oder gar nichts zu essen bekam, war allgemein bekannt. Aber vielleicht wusste Hans das nicht oder es war ihm wichtiger, dass in St. Georg niemand den Gendarmen etwas erzählte.

Krischan Lührs trug seine Uniform heute nicht, weil ihm die in St. Georg nur misstrauische Blicke und Schweigen einbringen würde. Statt dessen hatte er Hose, Hemd und Joppe an, die gerade gut genug waren für die Arbeit in seinem Garten und auf dem kleinen Feld, das zu seiner Dienstkate gehörte. Ohne sein eigenes Gemüse, Getreide und Früchte würde sein Gehalt niemals zum Leben reichen.

Als er die Fähre in Blankenese verließ, staunte er über die vielen Menschen. Er fragte sich, wo die alle hinwollten, die feinen Herrschaften in ihren Droschken auf der Straße, die einfach gekleideten Frauen, Männer und Kinder auf dem Bürgersteig. Die meisten Frauen trugen Einkaufskörbe, die gingen wohl zum Markt. Die Kinder liefen, hüpften, spielten, einige von ihnen, die in Lumpen gekleidet waren, bettelten heimlich, das sah er mit einem Blick. Bettelei und Landstreicherei waren verboten, und alle, die dabei erwischt wurden, kamen in Arrest, das wusste jeder. Die Kinder sahen sich nach allen Seiten um, ob ein Uniformierter in der Nähe war, bevor sie die Hand ausstreckten und jammernd um eine milde Gabe baten. Der Vater zu krank zum Arbeiten, die Geschwister in einer feuchten kalten Wohnung husteten, genau wie die Mutter. Vielleicht stimmte das, vielleicht nicht. Krischan Lührs drückte heute ein Auge zu. Wenn er der Obrigkeit im Herzogtum Holstein, zu dem Blankenese gehörte, alle Bettler melden würde, hätte er viel zu tun. Sollten die Armen sich doch an die Armenfürsorge halten, wenn sie nicht genug zum Leben hatten. Aber davor scheuten die armen Familien zurück, weil sie dann eingesperrt wurden ins Armenhaus, nur sonntags zum Gottesdienst hatten sie Ausgang.

Es gab eine Droschkenlinie nach Hamburg, vor dem Fährkrug hielt schon die große Droschke, in der nur noch wenige Plätze frei waren. Krischan Lührs kaufte sich im Fährkrug ein Billet und stieg ein.

Bald waren sie auf der Elbchaussee, wo die Pferde in einen gemütlichen Trab fielen. Das Elbufer war hier recht hoch, man konnte auf die Elbe hinuntersehen mit den Segelschiffen auf dem Wasser. Die meisten Fahrgäste in der Droschke waren Seeleute, die sich auf Plattdeutsch über die Schiffe unterhielten. Man konnte zwar aus dieser Entfernung nicht die Namen lesen, aber die Seeleute erkannten die Schiffe an der Takelage und am Rumpf. Fachmännisch merkten sie auch, welche Schiffe Kanonen hinter den Geschützpforten an Bord hatten und auf welchen Seglern die Geschützpforten zur Abschreckung nur aufgemalt waren ohne Kanonen dahinter. Krischan Lührs musste sehr genau hinschauen, um den Unterschied zu entdecken. Zum Glück verstand er ihr Plattdeutsch gut, obwohl es sich anders anhörte als das Altländer Platt. Sie erklärten ihm, dass die Kanonen gegen Piraten eingesetzt wurden und die Segler in Kriegszeiten auch als Kriegsschiffe dienen konnten.

Die Fahrt dauerte lang, aber sie kamen ohne Aufenthalt durch das Stadttor und waren schließlich an der Endstation, der Alstermündung.

Krischan fragte den Droschkenkutscher nach einer Droschke, die nach St. Georg fuhr, aber es gab keine solche Linie. Eine Droschke zu mieten, kam nicht in Frage, das konnte er sich keinesfalls leisten. Spesen gab es nicht von seinem Dienstherrn, und von seinem Lohn war beim besten Willen nichts abzuzweigen. Also musste er zu Fuß gehen.

In dem Gewimmel sah Krischan Lührs einen kleinen barfüßigen Jungen, der ein ziemlich sauberes Gesicht unter den blonden Haaren hatte, den sprach er an und fragte, ob er ihn nach St. Georg bringen konnte.

„Klar, da komm ich doch her!“, rief der. „Ich heiße Hein, und los geht das! Wer seid Ihr denn?“

„Krischan Lührs aus Huttfleth im Alten Land.“

Es war ungewohnt für Krischan, seinen Namen zu sagen ohne das „Wachtmeister“ davor. So als ob er gar nichts war.

„Wie alt bist du denn? Kennst du wirklich den Weg?“

„Ungefähr neun“, meinte Hein. „Ich gehe den Weg jeden Tag, da werde ich ihn wohl kennen. Was springt denn für mich dabei raus?“

„Was nimmst du denn?“, fragte Krischan Lührs.

„Ein Schwarzbrot von Bäcker Lange soll wohl drin sein. Da freut sich Mudder.“

„Gut. Wie weit ist es bis St. Georg?“