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LUIZ RUFFATO Luiz Ruffato wurde 1961 in Cataguases im brasilianischen Bundesstaat Minais Gerais geboren und wuchs in einer armen Migrantenfamilie auf. Er arbeitete nach einer Ausbildung zum Dreher zunächst u.a. als Verkäufer und Industriearbeiter, studierte dann Journalismus und war schließlich Redakteur einer Tageszeitung. 1998 veröffentlichte er seinen ersten Band mit Kurzgeschichten. Seit seinem ersten Roman »Es waren viele Pferde« (Eles eram muitos cavalos, 2003), der inzwischen als Klassiker der brasilianischen Literatur gilt, ist er ausschließlich als Schriftsteller tätig. Zwischen 2005 und 2011 schrieb Luiz Ruffato den fünfbändigen Zyklus »Vorläufige Hölle« (Inferno próvisorio): Bd. 1: »Mama, es geht mir gut«; Bd. 2: »Feindliche Welt«, Bd. 3 »Teilansicht der Nacht«, Bd. 4 »Das Buch der Unmöglichkeiten«, Bd. 5 »Sonntage ohne Gott«. Seine Migrantengeschichte »Ich war in Lissabon und dachte an dich« erschien 2015 auf Deutsch.

Luiz Ruffato war Eröffnungsredner der Frankfurter Buchmesse 2013 und erhielt gemeinsam mit seinem Übersetzer Michael Kegler 2016 den Internationalen Hermann-Hesse-Preis.

LUIZ RUFFATO

SONNTAGE OHNE GOTT

VORLÄUFIGE HÖLLE
BAND 5

Aus dem Portugiesischen
von Michael Kegler

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Titel der Originalausgabe:

Domingos sem Deus (Editora Record)

Die Übersetzung aus dem Portugiesischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amtes unterstützt durch litprom e.V. – Literaturen der Welt.

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© Luiz Ruffato, 2011

© der deutschsprachigen Ausgabe: Berlin, Hamburg 2021

Assoziation A, Gneisenaustaße 2a, 10961 Berlin

www.assoziation-a.de, hamburg@assoziation-a.de, berlin@assoziation-a.de

Foto Einband: Yvonnes Photos / Photocase

Gestaltung: Andreas Homann

ISBN 978-3-86241-481-9

eISBN 978-3-86241-636-3

GESCHICHTEN

Mirim

Nichts zu machen

Züge

Sandra, die hatte Glück

Wunder

Noch eine Fabel

Für Geni und Sebastião
Für Helena und Filipe

Da sagte Daniel: Gott, du hast also an mich gedacht; du lässt die nicht im Stich, die dich lieben.

DANIEL 14,38

Sterben, so endgültig sterben,

Dass, wenn eines Tages dein Name

auf einem Papier steht,

Gefragt wird: »Wer war das?« …

Sterben, endgültiger sterben noch

– dass nicht einmal mehr der Name bleibt.

MANUEL BANDEIRA

MIRIM

Fragte man – und man fragte – Herrn Valdomiro beim Tanz in der Altentagesstätte, beim Spaziergang im Jardim Inamar, beim »Lang nicht geseh’n«-Plaudern in der Innenstadt von Diadema, was wohl der größte Triumphbogenmoment seines Lebens gewesen sei, würde er eifrig, vor Begeisterung überbordend, antworten: Als ich fotografiert worden bin nach dem Abschluss der vierten Klasse, und ein breites Lächeln würde sein graues Kraushaar viel jünger erscheinen lassen. Und seine Augen würden weit in der Tiefe seiner Siebensachen kramen, hellbraune Umschläge, vollgestopft, Arbeitsbücher, Versicherungsnachweise, Rezepte, Atteste, Röntgenbilder und die Ergebnisse von Urinuntersuchungen, Blutuntersuchungen, Heiligenbildchen und uralte Ausgaben der Zeitschrift »Placar«, das Schreiben, das seine Rentenansprüche besiegelte, das vergilbte Foto: aufrecht, die Hände auf der Tischplatte, links eine Tafel Grundschule Padre Lourenço Massachio, rechts ein Globus, im Hintergrund, halb eingerollt, die brasilianische Fahne und die von Minas Gerais. Auf die Rückseite hatte er damals mit Bleistift in winziger Schrift hingekritzelt:

Lehrerin: Dona Sílvia de Azevedo Novaes
Direktorin: Dona Inês Letícia de Assis Malta
Rodeiro, 19. Dezember 1958

Namen und ein Datum, die er nur noch nach seiner Erinnerung tastend erkennen konnte, so sehr waren sie schon verblichen. Und der Duft feuchter Erde würde den Morgen hochwirbeln: Juventina, die Ältere, wie sie ihn zur Schule scheucht, das Nesthäkchen Irineu auf den Treppenstufen, Schulranzen auf dem Rücken, Margarete gleich hinterher, Tigre, der freche Straßenköter, flitzt zwischen den Beinen herum, unbändig vor Lebensfreude. Da war die Mutter schon tot, bei der letzten Geburt gestorben, Vater zog sie groß von dem bisschen Geld, das er in der Reismühle verdiente, nicht viel, doch von März bis Mai konnte der Gürtel ein bisschen weniger eng geschnallt werden, das übrige Jahr aber war weniger lustig, er musste zusätzlich hier und da mal ein Pferd beschlagen, dort eine Weide von Sträuchern befreien, Rinder hüten, Ferkel kastrieren, Schweine und Kälber schlachten. Und jedes Kind hatte auch was zu tun: Essen machen und Wäsche waschen die Große; aufräumen und auf das Kleine aufpassen die Mittlere; sich um den Garten kümmern und Vater den Topf mit dem Essen bringen, Mirim, Valdomiro die flitzende Mücke, die wruuum durch die Stadt zischte!, langsam gehen kann der Junge nicht, was?, hieß es, wenn man ihn kommen sah, immer nur rennen!, wruuum! Sie wohnten in einem windschiefen Häuschen, Fußboden aus gestampftem Lehm, gebohnert mit Kuhscheiße, die Mädchen in einem Raum, Vater und er in dem anderen, in der Küche räucherte ein Holzherd Emailleteller und -tassen, Herz Jesu wachte über die kleine Diele, in der es nicht einmal Stühle gab. Nicht richtig Land, das fing erst hinter dem Grundstück von Maneco Linhares an, aber auch nicht Stadt, Ödland, wo aber Mutters Schreien schon nicht mehr bis zum nächsten Nachbarn drang eines Abends in irgendwann früher versunken.

Erinnerungen, die Herr Valdomiro aufblättert auf seinem Weg durch die Gassen von Diadema, wo er mit einem Pappkoffer mal gelandet ist und der vagen Hoffnung, ein bisschen Geld zu verdienen und die Träume von einem besseren Leben all seiner Geschwister neu zu entfachen: ein Backsteinhaus mit festem Betondach und genug zu essen, ein Sonntagsanzug, ein erhobenes Haupt. Seine schorfigen Hände kaum achtzehn Jahre alt, vom Militärdienst befreit, »Reservist dritter Ordnung«, die Arme gestählt von der Arbeit für einen Milréis Tagelohn auf den Tabak- und Maisfeldern italienischer Siedler. Sein Vater schuftete damals in einem Sägebetrieb, ein, zwei Stämme pro Tag, Juventina erwartete, schon lang verheiratet, ihr zweites Kind. Margarete in festen Händen drängte den Burschen, mit ihr fortzugehen, große Augen auf Rio de Janeiro, Wer das geschafft hat, bereut es nie; als ob sie das wüsste. Irineu angelte. Ging zu Fuß meilenweit, über der Schulter die Rute, kaum blitzte ein kleiner Bach auf, Sumpf irgendwo, ein Wasserloch. Kannte sich aus mit Katzenfisch, Salmler, Wels, Cará, Piaba, Traíra. Tigre, der alte Hund, hechelte missmutig an der Leine durch abgelegene Grotten und Hohlwege, bewachte sein Herrchen. Und Irineu jagte. Erst lebende Schmuckpfäffchen und Kanarienvögel mit einfachen Fallen, Curiós und Grünschwingen, Sabiás, Zaunkönige, Ultramarinbischöfe und Webervögel, Amseln und Blautangaren; später am Ufer des Flusses im Schlamm Frösche und Meerschweinchen, verirrte sich Eidechsen und Gürteltieren nachspürend im Wald, lauerte in Gebüsch auf Rallen, Turteltauben, Ringeltauben, Wildenten. Ach, der Junge, mein Gott, brummte der Vater voll Sorge.

Ja, schon, aber früher mehr, Senhor Valdomiro legte den Dominostein mit der drei und der vier hinten an. Als ich neunzehnhundertsiebenundsechzig hier angekommen bin mit nichts als dem, was ich am Leib trug, nicht einmal einer richtigen Jacke, fing einen die Kälte ein, nagte an allen Knochen, so war das! Keine Ahnung, von Mund zu Mund was gehört, irgendwann hatte er vor der Tür von Conforja gestanden, »größte Eisenschmelze Lateinamerikas« in Jardim Pitangueiras, Fabrikgelände, so weit das Auge reicht, Was kannst du Junge?, Nichts, aber ich lerne schnell, wenn Sie wollen. Aus Minas bist du? Jawohl, aus Minas, Senhor. Stell dich hinten an. Ein bisschen stolz geschwellt war er schon, mit dem Arbeitsbuch in der Hosentasche, Vater würde es ihm nicht glauben, wenn er wieder zurück in Rodeiro wäre, alle Welt sich um ihn scharen würde in seinen Kleidern aus der großen Stadt, Das ist doch der Kleine?! Ein Teufelskerl dieser Junge! Er würde Geschenke für seine Geschwister mitbringen, für seine Neffen, lächerlich würden sich Vaters Augen mit Tränen füllen, Nur ein Staubkorn, Verdammt!, würde er sich herausreden, sich abwenden, mit dem Handrücken das Feuchte aus dem Gesicht wischen, Junge! Und einen Schnaps ausgeben den einen, den anderen Bier, Hände voll Bonbons, Weihnachtsmann für die barfüßigen Kinder, den Äffchen in den Licania-Bäumen Popcorn abgeben auf dem Platz vor der Kirche, ein wahrer Hofstaat auf den Fersen, Der Kleine ist das … der Mirim von Tatão Ribeiro? Genau der! Ach Gott, nein, der Kleine von Tatão Ribeiro … Wer hätte das mal gedacht? … Nicht wahr … in São Paulo hat er sich niedergelassen … Wenn man ihn jetzt so sieht, reich geworden, denkt man gar nicht … Nicht wahr? Auf Knien vor dem Bild des von Pfeilen getroffenen Heiligen Sebastian würde er in der Hauptkirche beten, mit schlechtem Gewissen, in Gedanken bei seiner Mutter, die sich so früh zu den Erwählten gesellt hatte, Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Kreuzzeichen aus Öl auf der Stirn, im Pferdekarren würden sie ihn mitnehmen, die Freunde außerhalb treffen, He!, war ich auch mal: Schwarze Anis balancieren halsbrecherisch auf dem Stacheldraht, ein Jacu gockelt durch das ausgewaschene Bett des Kieswegs, ein Schlangenstorch hält die Landschaft in Ordnung, vergraben im Schlamm Cururu-Kröten, He, weite Welt!, über die Grundstücksgrenze von Rubens Justi, von Chiesas, Orlando Spinelli, den Bicios und von Herrn Beppo Finetto, den Michelettos, die Italiener!, Das ist der Mirim, Leute, Mirim!, Da hinten kommt er! Mirim, steig ab, komm was essen mit uns! He, Mirim, steig mal runter, lass uns einen Hahnenkampf machen, Kanarienvögel aufeinanderhetzen, ein Fußballspiel, Junggesellen gegen Verheiratete, jeder gegen jeden, Knochenbrecher und Grasfresser. He, Mirim, weißt du noch, Gina? Die hat sich gemacht, ist nicht dumm, nicht mehr lang, und dann ist sie verheiratet, hier, es wimmelt nur so von Anwärtern!, du wärst ihr Fall, klar, schließlich kennen sie dich, seit du ein kleiner Stöpsel warst, flitzende Mücke, immer nur durch Rodeiro gezischt bist, Mirim, komm, lass uns feiern, Mirim, feiner Kerl!, Teufelskerl!, Große Klasse!

Aber er war nie mehr da.

Jugend, murmelte er, wenn er die Dominosteine mischte, Die Jugend, seufzte er und teilte an die Mitspieler aus. Kaufte er eine Postkarte mit Motiven aus São Paulo, dem Vale do Anangabaú drauf oder dem Viaduto do Chá, war kein Postamt zu finden. Wenn er sich entschloss, einen Brief hinzukrakeln, war kein Papier zur Hand oder kein Stift, oder es fehlte der Umschlag oder etwas zum Schreiben. Wenn er sich überlegte, zu reisen, verwickelte er sich in Hinderungsgründe. Mal fehlte Geld, mal der Mut; an dem einen Weihnachten neue Freunde, das nächste Mal die Familie der Freundin; einmal an Neujahr lieber nach Santos, dann wieder Bereitschaftsdienst; mal lieber Karneval in Rio de Janeiro, dann wieder Dienst; Überstunden am verlängerten Wochenende, das nächste dann keine Lust; mal lieber den Urlaub in Geld auszahlen lassen, dann wieder wurde er gebraucht, um das Haus hochzuziehen, die Decke zu gießen und was noch alles fürs Haus … Und die Jahre verflogen, pffft! Als er dann endlich mal zum Arzt ging, sagte der mit der Spitze des Zeigefingers die graue Landkarte seines Knochenbaus auf dem durchsichtigen Röntgenbild entlangfahrend ernst, Skoliose Herr Valdomiro, wir werden Sie erst einmal arbeitsunfähig schreiben.

Am Fenster von Zimmer zwölf im Hotel Coqueiral kommt in den Nachmittag langsam Leben. Die Sonne streckt sich noch einmal träg über den kahlen Schädel des Hügels, aber die Dämmerung verlangt schon nach Scheinwerfern gegenüber dem Brummen der Lastwagen und Autos, die sich am Abzweig der Überlandstraße Ubá–Leopoldina begegnen. Valdomiro schnarcht, an der Decke ist Schimmel, sein Körper schmerzt von der unbequemen Fahrt, elf Stunden in den Sitz gezwängt, fünfzig Minuten dann an der Bushaltestelle gebibbert, Wolken, die sich an kaum zu erkennende Landschaften schmiegen. Dann schnell nur die Tasche an der Rezeption abgestellt (der Junge war hinter einem Vorhang hervorgekommen, hatte die Hände an der kurzen Hose abgewischt, aber erst, nachdem er mehrmals die Klingel gedrückt hatte) und voller Ungeduld den schmerzenden Körper in Bewegung gesetzt. War an Lagerhallen entlanggestolpert, an Wagen mit Möbeln beladen, Ist also größer geworden, das Sägewerk … Auf dem Platz vor der Hauptkirche hing nun Stille in den Licaniabäumen. Parkende Autos im Karree, die Bar von Pivatto aufgegeben. Auf dem Weg raus aufs Land wuschen farbige Gummischläuche kreuz und quer über den Gehweg den Staub von den Pflastersteinen. Wo war der Geruch nach Pferdepisse und Dung geblieben, der morgens früh in der Luft lag? Wo war der Laden? Das Geschäft des Türken? Die Reismühle? Ausdruckslose Gesichter. Die flitzende Mücke wruuum!, einfach nur gehen kann der Junge nicht, wruuum! Langsam schnaufend stieg er den Weg hoch zum Friedhof, ein Durcheinander, verfallen, überall auf der Böschung verstreut Gräber, Grabsteine aus Marmor, geschmückte Holzkreuze im harten Boden, Grabkammern, Gruften, Lämmer, letzte Ruhe, nur das Grab der Mutter nicht. Auf dem Rückweg, verschwitzt in seinem dunklen Anzug, stieß er auf den Totengräber, der mit Kalkdose und Quast Grabstätten für den kommenden Totensonntag fein machte, der bot ihm Hilfe beim Suchen an, aber ohne Erfolg. Kann schon sein, sagte er, ist nicht selten, versuchte zu trösten. Seine krampfaderüberzogenen Beine schleppten ihn weiter. Kartierte desorientiert das Flussufer, ja, ganz bestimmt, diese Biegung, der Bambushain, da, die Grube, der Seidenbaum … nichts, gar nichts, Gestrüpp nur … Es muss sich doch jemand erinnern … Tatão Ribeiro … Juventina … Margarete … Irineu … Hä? Ein großer Schwarzer, kräftig, gut aussehend, hä? Tatão Ribeiro … Reismühle … Hä?

Fragte man – und man fragte – Herrn Valdomiro nach dem wohl größten Triumphbogenmoment seines Lebens, dann würde er, kurz innehaltend, die Hand in dem Säckchen mit Bingokugeln, den Blick auf die gelb angestrichenen Wände der Altentagesstätte, eifrig antworten, Als ich fotografiert worden bin nach dem Abschluss der vierten Klasse, ein breites Lächeln, und seine grauen krausen Haare würden nun jünger erscheinen, der einzige Beleg dafür, dass es ihn jemals gegeben hat.

NICHTS ZU MACHEN

Dann hatte sie sich verlaufen.

Das feine Band wickelt sich fest um die Finger, hält die dünne Papiertüte, die bei jedem Pfeifen der U-Bahn, die Luft durch den Tunnel schiebt, zittert.

Die Tasche aus braunem Kunstleder krallt sich militärisch um die linke Schulter.

Die schwarzen flachen Sandalen verharren panisch, unfähig, sich zu entscheiden.

Die winzigen Blumen auf ihrem Kleid flattern im Windstoß, starr an der Bahnsteigkante, das Stoßen, das Rempeln, Stolpern, Straucheln, Schimpfen, erregte Stimmen Hallo, hören Sie!

Augen sehen, erkennen nicht. Und was die Ohren aufschnappen, ist biblisches Babel der Nachtgottesdienste in der Universalkirche des Königreichs Gottes, Satan will unsere Seelen, Brüder! Kämpfen wir mit all unseren

Starr.

Lange Striche schaben sich durch ihren müden Blick, Farben blähen sich auf und verlaufen, Geräusche fegen über den schwarzen Boden Ist alles

Warm rinnt der Urin Schenkel und Knöchel entlang, über die schmutzigen Füße, um Zehen, lackierte Fußnägel Pfütze Lachsfarbener Nagellack alles in Ordnung mit ihnen?

Nein …

Hat da hingepisst Ist wohl irre Da drüben die