In den Weiten
der Highlands
Lena Detlefsson
edition oberkassel
Lena Detlefsson
Eleonore saß auf dem Baumstamm und schaute Elroy zu, wie er Steine in den durch den Sonnenschein silbern glitzernden See warf, um sie auf der Oberfläche des Wassers auftitschen und über die Fläche gleiten zu lassen. Dabei zählte sie jedes Mal die Berührungen des Steins mit dem Wasser, bevor er schließlich unterging.
»Sechsmal war das gerade«, rief sie und klatschte dabei in die Hände wie ein flatterndes Vöglein. Ihre Augen glänzten und das Gesicht strahlte ebenso wie der glitzernde See.
»Hier am Ufer gibt es schon gar keine flachen Steine mehr«, erwiderte Elroy und schritt auf Eleonore zu. Stattlich sah der Bursche in seinem Kilt aus, obwohl er noch jung an Jahren war. Er war ein Mann geworden, vorbei waren die Zeiten, in denen er mit Eleonore noch Verstecken spielte, ohne sich dabei etwas zu denken. Denn sie war ihrerseits zu einer jungen Frau erblüht, die ähnlich einer Knospe kurz vor dem Aufspringen stand. Viele Male hatten sie sich schon berührt, ohne dass etwas passiert war.
Doch dann hatte vor einem halben Jahr ein Blitz in ihre Freundschaft eingeschlagen und der Funke zwischen ihnen war übergesprungen.
Sie wussten, dass sie beide keine Kinder mehr waren und dass sie trotzdem nie mehr voneinander lassen wollten. Sie hatten ihre Herzen dem jeweils anderen verschrieben und wollten bis an ihr Lebensende zusammenbleiben, viele Kinder haben und ein glückliches Leben führen.
»Lass uns bis zum nächsten Mal Lebewohl sagen, Eleonore McLaren«, sagte Elroy Dougal und umarmte das Mädchen mit dem langen, dunklen Haar.
»Ist es schon wieder so weit? Ich möchte dich nicht mehr gehen lassen.« Sie schürzte dabei die Lippen und machte einen Schmollmund.
»Du weißt doch, dass wir nicht zusammen sein können, solange du deinem Vater nichts von unseren Heiratswünschen erzählst.«
Er zog sie fester an sich und wollte ihr einen Kuss auf den Mund geben, doch sie entwand sich ihm wieder.
»Das gibt es dann auch noch nicht.«
»Aber wie soll ich denn die Tage ohne dich aushalten, ohne den süßen Geschmack deiner Lippen auf meinen zu spüren?«
»Fang mich doch«, rief sie nur noch, als sie sich umdrehte und in den Wald lief.
Elroy lief hinterher und für einen Moment war es so, als wären sie wieder Kinder, die nur Fangen spielten. Als er sie erneut zu fassen bekam, gab sie sich der Umarmung hin und erwiderte seinen innigen Kuss. Plötzlich vernahmen sie laute Männerstimmen und Pferdegetrappel in der Nähe. Es wurde nach ihr gerufen. Schnell lösten sich beide voneinander.
»Du musst gehen«, flüsterte Eleonore, »bevor sie dich sehen und es meinem Vater petzen.«
»Eleonore, du musst es ihm sagen.«
»Ja, ja. Mach schon.« Sie schob ihn weiter in den Wald, dorthin, wo ihre beiden Pferde standen. Selbst schritt sie wieder auf das Ufer des Sees zu und als sie es erreichte, meldete sie sich: »Hier bin ich, unten am Wasser.«
Wenig später brachen drei Männer hoch zu Pferde durch das Geäst. Voran Oswald, der Stallmeister ihres Vaters.
»Lady Eleonore, Euer Vater sorgt sich um Euch und schickte mich aus, Euch zu suchen.«
»Aber du weißt doch, Oswald, ich habe bisher immer alleine nach Hause gefunden. Das wäre heute nicht anders.«
»Das mag vielleicht sein, Mylady, aber ich glaube, Euer Vater möchte Euch heute noch etwas Wichtiges mitteilen.«
»Etwas Wichtiges mitteilen? So wichtig, dass er nicht warten kann, bis ich wieder auf Donnahew Castle bin?«
»Es ist vorhin Besuch auf dem Schloss eingetroffen, Mylady, der vielleicht und vor allem auch Euch gilt.«
Das Gesicht von Eleonore erhellte sich.
»Sind Belltriste und ihr Mann Peter zu Besuch gekommen?«
»Nein, Mylady, Eure Schwester und deren Gemahl sind es nicht, die Euch beehren.«
»Nun mach es doch nicht so spannend, Oswald. Wer ist es dann?«
»Rupert McGregor ist es, mit seinem Sohn und einigen Männern.«
»McGregor? Das kann doch nichts Gutes bedeuten.«
»Kommt Ihr also?«
»Einen Moment, ich gehe nur noch Beauty Camilla holen. Sie steht dort hinten irgendwo.« Eleonore deutete hinter sich das Ufer entlang in den Wald.
Elroy Dougal hatte sich unterdessen auf den langen Heimweg begeben. Nachdem ihn Eleonore fortgeschickt hatte, hatte er sein Pferd zunächst am Halfter viele Schritte durch den Wald geführt, um nicht so viel Lärm zu machen. Beinahe war er mit seinem Fuß im Geäst hängen geblieben, als er sich schließlich mit Schwung in den Sattel gesetzt hatte. Er wollte so schnell wie möglich raus aus dem Wald in die freien Ebenen, denn unter den Bäumen begann es bereits stark zu dunkeln. Das Blätterdach ließ keine Strahlen der ohnehin bereits sehr tief stehenden Sonne mehr hindurchdringen. Elroy mochte dieses Versteckspiel nicht mehr, zu welchem ihn Eleonore drängte. Ihr Vater, Ian McLaren, hatte eines Tages gesagt, er wünsche nicht mehr, dass Eleonore und Elroy weiterhin ihre Zeit miteinander verbrachten. Vielleicht war ihm aufgefallen, dass sich beide nicht mehr mit Kinderaugen ansahen?
Elroy wusste nur zu gut, dass seine Eltern nicht gleichen Standes wie die McLarens waren. Zwar gehörten die Dougals zu deren Clan, aber besonders, seitdem Eleonores Schwester Belltriste einen Stuart geheiratet hatte, war der Abstand zwischen den Dougals und den McLarens noch größer geworden.
Deshalb war es umso wichtiger, dass Eleonore ihrem Vater ihrer beider Liebe gestand und den Weg für einen Hochzeitsantrag von Elroy ebnete. Vor allem musste Eleonore ihre Mutter Bellana auf ihre Seite bekommen. Dann hätte er zwei große Fürsprecher bei Ian McLaren und der würde ihn nicht mit einem einfachen Handstreich beiseite drängen.
Doch der Weg dahin schien noch weit. Mindestens ebenso weit wie nach Pynchon Moor, wo seine Familie lebte und er jetzt noch hin musste.
Außerhalb des Waldes hielt er einen Moment inne und schaute in Richtung Westen, wo sich in der Ferne der Schatten von Donnahew Castle vor der untergehenden Sonne abhob.
Obwohl Oswald die Tochter seines Herrn sofort zu ihrem Vater bringen wollte, entzog sie sich ihm mit der Bemerkung: »Ich kann doch so nicht vor die McGregors treten. Das siehst du doch ein, oder?«
»Mylady, beeilt Euch aber.«
»Ich werde es versuchen«, antwortete sie schnippisch, drehte sich abrupt um und enteilte in ihr Gemach.
Oswald stand im Burghof und schaute ihr kopfschüttelnd hinterher. Sie benimmt sich immer noch wie als Kind, als sie fortwährend in den Stall kam, um mit seinen Kindern zu spielen, dachte er. Eleonore hingegen dachte keinen Moment lang daran, ihr Versprechen in die Tat umzusetzen. Sollten die McGregors doch ruhig warten. Sie konnten ihr gestohlen bleiben.
»Ich weiß sowieso nicht, was sich mein Vater dabei gedacht hat, diese Rüpel auf unsern Hof zu lassen«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihrem Dienstmädchen, das ihr aus den Hosen half, die sie viel lieber trug als die weiten Kleider, wie es der Vater wünschte. Aber besonders, wenn sie zu Pferde unterwegs war, trug sie die ledernen Hosen mit der ledernen Weste und den Stiefeln, die bis hoch zu den Knien reichten. Darin konnte sie sich viel ungezwungener bewegen, sowohl im Wald als auch auf dem Rücken von Beauty Camilla. Vielleicht mied sie wegen dieser Bewegungsfreiheit den Hof, so oft es nur ging? Besonders seit Belltristes Heirat, ihrer älteren Schwester, achtete der Vater darauf, dass viel Wert auf Etikette gelegt wurde.
»Und wenn es für uns auch nur eine Übung ist«, war das stets wiederkehrende Argument des Vaters. Aber schließlich war sein Herz doch am rechten Fleck, als die Mutter ihn überredete zuzustimmen, dass Eleonore ein Lederwams für den Ausritt bekam. Nach dem Tod seines Vaters ging der Beiname »Berserker« früh auf Ian über und auch jetzt mit seinen vierzig Jahren und der Statur eines Hünen hatte er trotz all der Schlachten, Kämpfe und Ritterspiele nicht viel von seiner Kraft und Milde eingebüßt. Trotz des ersten grauen Schimmers in seinem lang über die Schultern fallenden dunklen Haar galt er immer noch als unbesiegbar und gerecht in den schottischen Ebenen und auf den schottischen Bergen. Wie schon sein Vater wurde er als Clanoberhaupt der im grün-blauen Tartan auftretenden McLarens ohne Wenn und Aber akzeptiert und genoss weitreichendes Ansehen.
Sie waren noch nicht ganz fertig mit dem Umkleiden, als es an der Tür polterte.
»Mylady, Euer Vater möchte nicht mehr warten. Beeilt Euch«, stöhnte Oswald durch die Tür hindurch.
»Ich bin gleich so weit. Einen kleinen Augenblick noch.«
»Ihr bereitet mir Sorgen, Mylady.«
»Nicht böse sein, Oswald. Ich mache alles wieder gut.«
Und zu ihrem Dienstmädchen sagte sie: »Ist nun alles verschnürt? Lass mich gehen, damit ich diese grausigen McGregors endlich begrüßen kann.«
Damit machte sie sich los und öffnete ihre Kammer, um zu Oswald in den Gang zu treten.
»Wozu wartest du noch?«
Oswald schüttelte den Kopf und schritt voran.
Ihre Familie und die McGregors warteten in der Halle des Burgherrn im ersten Geschoss unterhalb des Turms auf der nordöstlichen Ecke von Donnahew Castle, welches auf drei Seiten von steil abfallenden Hängen geschützt wird. Von Norden her ist es durch Erdwälle befestigt. Um den geräumigen, von hohen Mauern umgebenen Innenhof gruppieren sich die Wohn- und Repräsentationsbauten vorrangig auf der nördlichen und westlichen Seite über zwei Etagen. Das dominierende Bauwerk ist der dreißig Meter hohe, vierstöckige Wohnturm mit der Lord’s Hall, durch dessen Erdgeschoss der vierzehn Meter lange gewölbte Torweg führt. Ebenfalls in der ersten Etage schließt sich der große Rittersaal an, während sich um die Ecke herum an der Westseite die Küche befindet. Das Erdgeschoss hingegen beherbergt diverse Kammern für die unterschiedlichsten Zwecke.
»Eleonore, mein Kind, wo hast du nur wieder so lange gesteckt?«, wurde sie von ihrem Vater begrüßt, als sie den Saal hinter Oswald durch einen kleinen Nebeneingang betrat.
»Verzeiht …«
»Schon gut, schon gut«, wurde sie sofort von Ian McLaren unterbrochen. »Ich möchte dir heute unsere Gäste vorstellen.« Er wies mit der Hand auf den älteren der beiden Männer, die vor einer Reihe sechs weiterer Männer standen. »Das ist Rupert McGregor, unser geschätzter Nachbar, mit seinem Sohn Steven.«
Mit einem angedeuteten Knicks und leichtem Kopfnicken begrüßte Eleonore Vater und Sohn McGregor. Jedoch anstatt ehrfürchtig den Blick zu senken, schaute sie kurz zu ihrer Mutter hinüber und gewahrte, dass diese sie mitleidig ansah. Irgendwas geht hier doch vor, schoss es ihr durch den Kopf. Dann blickte sie Steven McGregor an, der sich, wie es schien, in festliche Kleidung gehüllt hatte. Hoch und aufrecht stand er da, in seinem rot-schwarz karierten Kilt, die mit zwei Fasanenfedern geschmückte Mütze unter die linke Achsel geklemmt. Die Haare gingen ihm über die Ohren bis auf die Schultern und sein Gesicht schmückte ein dunkler Schnurrbart. Nur unter dem linken Auge prangte eine vernarbte Schnittwunde, die das Stolz ausdrückende und makellose Gesicht nicht sonderlich verunstaltete.
Im Gegenteil: zeugte sie doch von einer gewissen Erfahrenheit im Umgang mit Waffen.
Eleonore musste sich unwillkürlich eingestehen, dass sie sich die McGregors wesentlich hässlicher vorgestellt hatte.
»Steven ist im besten Mannesalter«, fuhr Ian fort, »und er ist gekommen, um zu sehen, was du für eine Schönheit bist.«
Leichte Röte stieg Eleonore ins Gesicht, womit sie gar nicht einverstanden war. Jedoch war sie machtlos. Noch war sie sich nicht ganz sicher, worauf diese Vorstellung hinauslaufen sollte.
»Nun gut, jetzt hat er mich gesehen. Darf ich wieder gehen?«, fragte sie den Vater in ihrer schnippischen Art, um damit von ihrer Röte abzulenken.
»Aber Mädel, sei doch brav. Du bist doch kein Kind mehr.«
»Na eben.«
»Du weißt, dass wir uns so manches Mal mit unsern Nachbarn nicht vertragen haben. Damit soll jetzt Schluss sein.«
Während Ian offensichtlich zu einer größeren Rede ausholte, spazierte er um seine Tochter herum. »Du bist im heiratsfähigen Alter. Du bist manierlich anzuschauen. Deine Mitgift wird nicht ganz ohne sein, dazu gehört außer dem Geld auch eine gewisse Reputation, die unsere Familie bei Hofe und unter der Bevölkerung genießt.« Eleonores Stirn zog sich über der Nase in zwei senkrechte Furchen. Ihre Ahnung sorgte für leichtes Unbehagen.
»Kurzum«, fuhr der Vater fort, »du bist für eine Hochzeit mit Steven McGregor wie geschaffen.«
»Nein«, entfuhr es dem Mädchen mit einer nicht geringen Schärfe, weshalb sie sich sofort eine Hand an den Mund hielt. Mit Augen so offen wie eine Sonnenblume schaute sie zunächst ihren Vater, dann ihre Mutter, ihre beiden Schwestern Deirdre und Catriona, die allerdings ihren Blick auf den Boden gesenkt hielten, und wieder ihren Vater an.
»Eleonore, mein Kind, das will ich nicht von dir hören«, setzte der Vater ebenfalls etwas energischer ein. »Schon gar nicht in diesem Ton. Den verbitte ich mir.«
»Entschuldige, Vater, aber das geht nicht.«
»Was geht nicht?« In einer ruckartigen Bewegung versteifte Ian seinen Kopf und zog die Augenbrauen zusammen.
»Na, dass ich Steven McGregor heirate.«
»Und warum nicht, bitte schön?«
»Ich kenne ihn doch gar nicht. Und er mich auch nicht. Wir lieben uns doch nicht.«
»Was hat denn Liebe mit Heirat zu tun? Das andere wird sich schon ergeben. Deshalb ist Rupert ja mit seinem Sohn hier. Damit ihr euch kennenlernen könnt.«
»Vater, das kannst du nicht von mir verlangen.«
»Was soll denn das nun wieder heißen? Du bist ihm seit einigen Monaten versprochen und nun ist es an der Zeit, dass die Hochzeitsfeierlichkeiten besprochen werden.«
Während Ian mit vor Stolz geschwollener Brust durch den Saal marschierte, stand seine Tochter starr an ihrem Platz. Ihr Atem ging schwer, die Brust hob und senkte sich wie ein Segelboot auf dem unruhigen Meer. Ihre Wangen glühten in einem Rot, als hätte ihr jemand auf jede das Blütenblatt einer Rose aufgelegt. Sie überlegte, was sie dem Vater daraufhin entgegnen sollte.
»Du wirst schon sehen, was du davon hast«, rief sie, drehte sich um und verschwand eilig aus dem Saal durch die Tür, durch die sie ihn zuvor betreten hatte.
Mit großen Augen und offenen Mundes schaute Ian seinen Nachbarn Rupert und dessen Sohn an. Bevor er jedoch einen Ton herausbringen konnte, fauchte ihn Rupert an: »Wenn das alles ist, was Ihr meinem Sohn und mir zu bieten habt, Ian McLaren, dann ist eine widerspenstige Tochter nicht gerade das beste Aushängeschild für Euch und Eure Familie.«
»Ja, aber«, sagte Ian und man sah es ihm an, dass es sich dabei um einen eher kläglichen Versuch einer Entschuldigung handelte und er nicht mit dem Widerstand seiner Tochter gerechnet hatte, »ich kann das gar nicht verstehen. Ihr habt vollkommen recht, Rupert. Ich werde dafür sorgen, dass meine Tochter umgehend wieder zurückgebracht wird. Ihr werdet sehen, sie wird Euch, Eurem Sohne und auch mir fortan ein folgsames Mädchen sein.«
»Das hoffe ich nur für Euch. Oder wie soll ich es sonst verstehen, dass die Tochter ihrem Vater nicht folgen möchte, um einen McGregor zu ehelichen?«
Während sich Ian mit Rupert unterhalten hatte, hatte seine Frau Bellana bereits die Leute losgeschickt, um ihre Tochter wieder zurückzuholen. Als Frau und Mutter konnte sie zwar sehr gut verstehen, dass Eleonore nicht einfach ohne selbst gefragt zu werden vermählt werden mochte. Als Ehefrau des Berserkers Ian McLaren jedoch wusste sie nur zu gut um die Jahrzehnte währende Fehde zwischen den McLarens und den McGregors und dass es eine einmalige Chance war, diese Fehde durch eine Hochzeit beizulegen und Ruhe, wenn nicht gar Frieden zwischen beiden Clans zu schaffen.
Als einer der Bediensteten zurückkam und Ian ins Ohr flüsterte, dass sie seine Tochter nirgends hatten finden können, wurde er ungehalten.
»Potzblitz nochmal, was bildet sich meine Tochter ein?« Dabei schlug er dermaßen mit der Faust auf den Tisch, dass seine kleinste Tochter Catriona zusammenzuckte.
»Komm, mein Sohn«, wandte sich Rupert an Steven, »ich glaube, wir haben hier nichts mehr zu suchen. Der große McLaren ist nicht mal Herr seiner Familie, wie wird er dann seinen Clan führen? Wir begeben uns auf den Heimweg.«
Rupert und alle seine Gefolgsleute drehten sich um und verließen zunächst den Saal, anschließend Donnahew Castle.
Lange hielt es Elroy Dougal bei seiner Familie nicht aus. Spätabends war er auf dem kleinen Hof angekommen. Nachdem er das Pferd im Stall versorgt hatte, denn einen eigenen Stallmeister konnten sich die Dougals nicht leisten, hatte er sich in den Hauptraum begeben, in welchem der Herd stand, wo sich der Tisch befand, an dem gegessen wurde, wo der Riemen an der Wand hing, mit dem sein Vater ihm den Hintern versohlt hatte, wenn er nicht folgsam war. Die Dougals gehörten zum unteren Adel und ihr Hof hatte schon mehr als nur ein Ein-Raum-Haus, wie es die überwiegende Bevölkerung auf dem Lande bewohnte. Auf dem Herd stand die Suppe vom Abend, die noch warm war. Er füllte sich nacheinander zwei Teller voll und begab sich dann ins Bett, wo er das Schnarchen und Atmen der Eltern und Geschwister hörte.
Doch schlafen konnte er nicht. Seine Gedanken kreisten unaufhörlich um Eleonore. Er spürte, dass der Ruf ihres Vaters dieses Mal nicht ohne Bedeutung gewesen war. Sein Bauch sagte ihm, dass heute Abend auf Donnahew Castle etwas mit Eleonore passiert sein musste. Deshalb beschloss er noch in der Nacht, sich am nächsten Morgen in aller Frühe sofort wieder auf den Weg zu machen, um Eleonore aufzusuchen.
Was ihr Vater von ihr verlangte, empfand Eleonore als ungeheuerlich. Wie konnte er so etwas tun? Er war doch immer so liebevoll, hatte für sie und ihre drei Schwestern immer ein verständiges Ohr und ein Späßchen auf den Lippen. Das, was er jetzt verlangte, war zu viel.
Nachdem sie den Saal verlassen und ihre Eltern mit den Gästen hatte stehen lassen, flüchtete sie kurzerhand hinter einen Gobelinvorhang auf dem Gang. Sie hoffte, dass die Häscher schnell an ihr vorbeiliefen und sie dann in ihre Kemenate gelangen konnte, um wieder in ihre Reitkleidung zu schlüpfen. Denn sie musste aus dem Schloss, sie musste weg, sie musste zu Elroy.
Ihr Brustkorb schwoll an, als sie hinter dem Vorhang stand und einige Männer an ihr vorbeiliefen. Da hörte sie plötzlich ein kurzes Zischen hinter sich: »Pst … Pst.« Sie drehte sich um. »Komm, hier entlang.« In der Wand befand sich eine Tür, durch die eine Frau mit langem blonden Haar und einem bis auf den Boden reichenden, weiß leuchtenden Kleid winkte, ihr zu folgen. Eleonore schluckte, versuchte sich daran zu erinnern, ob hier immer schon eine Tür gewesen war. Aber es gelang ihr nicht. Sie konnte sich an keine Tür erinnern, obwohl sie als Kind öfters diesen Gobelinvorhang als Versteck benutzt hatte. Jetzt gab es eine Tür und eine engelgleiche Frau bedeutete ihr, hindurchzutreten.
»Nun komm schon, du musst hier verschwinden. Ich werde dir helfen. Sie werden dich sonst finden.«
Das war schließlich das Stichwort, das Eleonore dazu brachte, sich durch die Tür zu wagen. Sie ging wenige Schritte auf die weiße Frau zu in den vom Strahlen der Frau erleuchteten Raum. Dann hörte sie hinter sich die Tür ins Schloss knacken. Sie erschrak, drehte sich um und sah gerade noch, wie die Tür verschwand und zur Wand wurde. Fragend blickte sie der Frau ins Gesicht, die vor ihr stand und sie von oben herab anschaute. Nicht aus Hochmut, denn ihr Blick erschien milde und wohlwollend, sondern weil sie gut einen Kopf größer als Eleonore war.
»Wer bist du? Warum hilfst du mir?«
»Wer ich bin, wirst du noch früh genug erfahren. Und warum ich dir helfe, kann ich dir sagen.« Die Frau sah sie aus traurigen Augen an. »Die McGregors wollen dir nichts Gutes und du solltest besser deinem Herzen folgen und Elroy Dougal heiraten.«
»Woher weißt du von Elroy? War er es, der dich geschickt hat?«
»In gewisser Weise vielleicht. Jedoch kennt Elroy mich nicht.«
Sie drängte Eleonore durch den dunklen Gang, der in einem so hellen Licht erschien, das ausschließlich von dieser strahlend leuchtenden Frau ausging, dass Eleonore geneigt war, sich die Augen mit einer Hand zu bedecken. Nach dem einen Gang bogen sie ab in einen weiteren, sodass die Gänge wie ein Labyrinth wirkten, denn sie bogen immer mal wieder nach links und mal nach rechts in den nächsten ab. Am Ende war das Mädchen überrascht, dass sie in ihrer Kemenate herauskamen. Sie bekam Gelegenheit, in ihre ledernen Kleider zu steigen, und alsdann führte sie die Frau erneut durch die Gänge. Dabei sang sie unaufhörlich ein Lied vor sich hin, dessen Text Eleonore nicht verstand. Es ward in einer Sprache gesungen, die Eleonore nicht kannte und auch noch nie gehört hatte. Diese weiße Frau kam Eleonore merkwürdig vor, denn auf ihre neuerlichen Fragen ging sie nicht mehr ein. Sie schien sie nicht mehr zu hören. Dafür hörte sie mit ihrem säuselnden Singsang auf und benahm sich so, als würde sie sich auf einem entspannten Spaziergang an der frischen Luft befinden.
Nach einer für Eleonore endlos scheinenden Zeit in diesem Irrgarten von Gängen, der sich unmöglich in ihrem kleinen Schloss befinden konnte, dachte Eleonore, öffnete die weiße Frau noch einmal eine Tür und Eleonore trat hinaus. Sie stand nun außerhalb der Burgmauern und wurde von einem dunklen Baumkronendach bedeckt, das keinen Blick auf den Himmel, die Wolken oder gar die Sterne zuließ. Als sie sich umdrehte und den Abhang hinaufschaute, konnte sie in einiger Ferne die hohen Mauern ihres Schlosses schwach erkennen. Wie war sie von der Mauer hierher gelangt, ohne wirklich zu schreiten?
»Geh nur«, säuselte die Frau Eleonore ins Ohr, »da vorne findest du Beauty Camilla. Sie wird dich nach Pynchon Moor zu Elroy bringen.«
Erneutes Erstaunen zeichnete sich in dem Gesicht des jungen Mädchens ab. Doch bevor sich Eleonore bei ihr bedanken konnte, war die weiße Frau verschwunden. Eleonore holte tief Luft. Wie konnte das alles geschehen? War es Wirklichkeit gewesen? Oder hatte sie alles nur geträumt? Aber wie konnte das ein Traum sein, wo sie doch jetzt im Wald neben ihrem Pferd stand? Es musste ein Wunder geschehen sein.
Sogleich stieg sie in den Sattel und ließ sich von Beauty Camilla durch den Wald in Richtung Pynchon Moor führen.
In einer frühen Stunde am nächsten Morgen traf Elroy in Donnahew Castle ein. Für die Wachleute am Tor war er kein Unbekannter, sie ließen ihn durch. Jedoch wunderte er sich, wie ruhig es auf der Burg war. Lediglich die Dienstmädchen und anderes Weibervolk rannten ihm über den Weg. Außer den Wachen begegneten ihm keine männlichen Personen. Das war merkwürdig, beinahe unheimlich. In solch einer Stille hatte er das Leben auf dieser Burg noch nicht erlebt. Es musste irgendetwas geschehen sein. Schnell begab er sich deshalb zu der Burgherrin Bellana, um von ihr zu erfahren, was hier geschehen war.
»Ach, Elroy, guter Junge«, sagte Bellana zu ihm und ergriff seine beiden Hände. »Ich glaube, mein Mann und ich haben einen Fehler gemacht.«
»Was für einen Fehler? Was meint Ihr damit?«
»Elroy, wir haben nur das Wohl des Clans und den Frieden in diesem Lande im Auge gehabt, ohne dabei das Wohl unserer Tochter zu beachten.«
»Das Wohl Eurer Tochter? Welche Tochter? Ist etwas mit Eleonore? Sagt es mir.«
»Ian will Eleonore mit Steven McGregor vermählen.«
»Mit einem McGregor, diesen Bastards?«
»So ist es. Mit einem McGregor, zum Wohle des Volkes.«
Ein dumpfer Schmerz durchzog Elroys Brust. Bislang war nie ein Wort darüber gefallen, dass Eleonore vermählt werden sollte. Bislang war er im Stillen davon ausgegangen, dass er Eleonore heiraten würde. Und er wusste, dass auch Eleonore so fühlte und dachte. Dass ihrer beider Liebe nun so schmerzlich ein Ende finden sollte, verletzte ihn tief. Doch diese Nachricht konnte nicht der Grund für die auf der Burg herrschende Ruhe sein.
»Aber was ist geschehen?«
»Eleonore ist gestern Abend verschwunden«, antwortete Bellana. »Sie hat sich ihrem Vater widersetzt und ist fluchtartig aus dem Saal gestürmt. Obwohl wir sofort einige Leute hinterherschickten, war sie nicht mehr aufzufinden. Die halbe Nacht haben wir Donnahew Castle umgekrempelt, dann ist Ian mit einigen Männern in den Wald hinausgeritten, nachdem wir gesehen hatten, dass ihr Pferd nicht mehr im Stall stand.«
Den Kopf gesenkt merkte sie schließlich an: »Vielleicht kehrt er ja bald mit ihr zurück.«
»Ich werde sie ebenfalls suchen.«
Elroy Dougal riss sich aus Bellanas Händen los. »Ich werde einem besonderen Weg nach Pynchon Moor folgen, um sie zu finden.«
»Aber willst du dich nicht erst stärken und ein kräftiges Frühstück zu dir nehmen?«
»Lasst gut sein, ich fühle mich stark genug. Ich werde Euch Eure Tochter zurückbringen.«
Mit diesen Worten verließ er Bellana und marschierte zu seinem Pferd. Gerade als er aufgesessen hatte und sich zum Tor wandte, wurde dieses geöffnet. Ian McLaren stürmte hoch zu Pferd mit seinen Männern herein. Als er auf Elroy traf, blickte er ihn aus traurigen Augen heraus an und schüttelte resigniert den Kopf. Eleonore war nicht in seinem Gefolge. Er hatte sie nicht gefunden.
Elroys Augen funkelten, als er seinem Pferd mit den Hacken in die Flanken stieß und durch das Tor hinausgaloppierte.
Catriona, die jüngste Tochter des Berserkers, hatte zwar verstanden, dass ihre Schwester Eleonore verschwunden war, aber warum und was dahinter steckte, war ihr nicht bewusst. Dies zu wissen, verlangte auch keiner von ihr. Mit ihren sechs Jahren war sie in einem Alter, da durfte sie das Leben noch von der schönen Seite nehmen. Gerade Ian und seine Frau Bellana waren so offenherzige und bodenständige Menschen, die genau wussten, wann sie ihre Kinder in die Pflicht nehmen konnten. Sie wünschten sich für ihre vier Mädchen, die sie erzogen, nichts sehnlicher, als diese frei und ungezwungen aufwachsen zu sehen. Deshalb verwunderte es nicht, dass Bellana ihre Tochter am frühen Morgen hinaus in den Stall zum Spielen schickte, als die Männer erneut den Hof verließen.
»Was macht denn Blacky heute? Hast du ihm schon was zu trinken gegeben?«, fragte sie ihre Tochter.
»Nein, hab ich nicht. Das werde ich sofort tun.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und rannte in die Küche, um sich von Breaca, der Köchin, warme Milch in das Fläschchen füllen zu lassen, mit dem sie Blacky mehrmals am Tag fütterte. Blacky war ein vor drei Wochen geborenes Lamm. Es hatte ein rabenschwarzes Fell und wurde gleich nach der Geburt nicht ein einziges Mal von seiner Mutter angeschaut. Brady, der achtjährige Sohn Oswalds, hatte das kleine schwarze Schaf im Stall gefunden, weil er das helle, nach Hilferufen klingende Blöken des Winzlings gehört hatte, als es ganz alleine auf einem Teppich aus Stroh stand. Selbst als Junge fand er das Geschöpf so niedlich, dass es ihm das Herz zerriss, kein erwachsenes Mutterschaf daneben stehen oder liegen zu sehen. Das Lämmchen könnte aber etwas für Catriona sein, war sein Gedanke, woraufhin er die Tochter des Burgherrn und deren Mutter darüber informierte. Seitdem kümmerte sich das Mädchen um die Aufzucht des schwarzen Schafes. Gelegentlich stand Brady dabei, schaute dem Mädchen zu, gab ihr den einen oder anderen Tipp.
Mit der Flasche in der Hand kam Catriona in den Stall und stellte fest, dass Blacky nicht in der Buchte war, wo er sich sonst aufhielt. Schnell rannte sie wieder hinaus und um den Stall herum, um in den Gehegen nachzuschauen. »Blacky«, rief sie dabei. »Blacky, wo steckst du?« Doch dort war Blacky ebenso nicht zu finden.
»Was ist denn los?«, wollte Brady wissen, der ihre Rufe gehört hatte und zum Gehege kam.
»Blacky ist fort. Wo ist er hin?«
»Kann doch nicht sein. Hast du drinnen richtig nachgeschaut?«
»Ja, da war ich zuerst. Dann dachte ich, vielleicht ist er ja draußen. Wo sind denn die anderen Schafe, die gestern noch hier im Gehege waren?«
»Die sind gestern auf die Weiden gebracht worden. Aber ich hatte den Männern gesagt, dass sie Blacky nicht mitnehmen sollten. Das haben sie auch gemacht … Denke ich.«
»Wir müssen dorthin und Blacky suchen.«
»Das dürfen wir nicht, Catriona. Du weißt, dass wir die Burg nicht verlassen dürfen.«
»Aber ich muss doch zu Blacky. Kommst du mit?«
Brady schaute nach unten und scharrte mit dem Fuß eine Grasnarbe beiseite. Ihm tat heute noch seine Wange weh, wenn er daran dachte, wie er beim letzten Mal allein das Burggelände verlassen hatte. Oswald, sein Vater und Stallmeister, hatte eine lockere Hand, wenn seine Kinder nicht den Anweisungen folgten.
»Dann eben nicht. Dann gehe ich halt alleine«, sagte Catriona und begab sich auf den Weg. Sie nutzte einen sehr unbequemen Ausgang, der gleich hinterm Stall lag. Eigentlich war es kein Ausgang, sondern einfach ein Loch in der Mauer, durch das Schmutzwasser vom Burghof und aus dem Stall abfließen konnte. Catriona musste sich anstrengen, nicht mit ihren Kleidern das Rinnsal trockenzuwischen. Mit zusammengezogenen Augenbrauen hatte Brady sie dabei beobachtet. Er hatte sich auf einen großen Stein im Gehege gesetzt und beschlossen, hier so lange auszuharren, bis Catriona wieder zurück war. Vielleicht würde keiner etwas merken, hoffte er.
Als Eleonore die Augenbinde abgenommen worden war, konnte sie nur wenig erkennen. Sie kauerte in einem dunklen Raum, der über eine winzige Öffnung nach draußen verfügte. Diese konnte wahrlich nicht als Fenster bezeichnet werden, es war nicht mehr als ein Guckloch. Es war Nacht, der Mond war von Wolken verhangen. Es war kalt in der Kammer, die Wände waren feucht, es roch modrig. Lediglich neben der hölzernen Tür war eine Kerze auf einem Ständer an der Wand aufgehängt. Sie warf ihr spärliches Licht in den Raum, das von den kalten Wänden aufgesogen wurde wie von einem trockenen Schwamm. Ein kleiner Tisch und ein Hocker standen vor einer Pritsche, die nicht besonders zum Verweilen einlud.
Gott sei Dank, dass mich keiner von den Kerlen schändlich behandelt hat, dachte Eleonore. Mit Grauen erinnerte sie sich daran, wie die Männer vorhin aus dem Wald getreten waren, Beauty Camilla zum Stehen gebracht und sie aus dem Sattel gezerrt hatten. Sie hatte sich gewehrt, so gut es ging, aber gegen diese Rüpel konnte sie einfach nichts ausrichten. Sie war für die nur ein kratzbürstiges Mädchen. Das sollte sich ändern, wenn ich hier wieder raus bin, ging ihr durch den Kopf.
Die Kerle hatten sie gefesselt, ihr die Augen verbunden und dann bäuchlings auf einen Pferderücken gelegt. So wurde sie an diesen grässlichen Ort gebracht, der ihr ein Verlies sein sollte. Wo sich dieser Kerker befand, wusste sie nicht. Noch wusste sie, wer der Herr dieser Kerle war, die sie hierhergebracht hatten, dessen Männer hier so grobschlächtig ihre Dienste taten. Auf ihre diesbezüglichen Fragen waren die Kerle in lautes Lachen ausgebrochen. Einen Namen hatte sie nicht verstanden, die Kerle hatten es tunlichst vermieden, erkannt zu werden. Eleonore konnte sich nicht erklären, warum sie verschleppt worden war. Oder handelte es sich vielleicht einfach nur um Wegelagerer, die von ihrem Vater ein Lösegeld erpressen wollten?
Mutlos ließ sie sich auf den Hocker nieder, legte ihre Arme auf den Tisch und bettete ihren Kopf darauf. Der nächtliche Weg hatte sie trotz des Liegens auf dem Pferd viel Anstrengung gekostet und so wurde sie jetzt, als sie zur Ruhe kam, müde. Beinahe wäre sie eingeschlafen, wenn sie nicht lauter Lärm vor der Tür hätte aufhorchen lassen.
Der Himmel hatte sich mit dunklen Wolken gefüllt, die rasend über die Wälder und Ebenen hinweg tobten und für eine unwirtlich aussehende Landschaft sorgten. Büsche und Sträucher wurden über den Boden gewirbelt. Auf dem Burghof von Donnahew Castle wirbelte ein Leinenhemd in die Höhe, das von der Wäscheleine losgerissen worden war.
»Brady, wo bist du?«, rief Breaca aus dem Fenster der Küche heraus. Dann war sie im Fenster nicht mehr zu sehen, um gleich darauf durch die Tür in den Hof zu treten. Auf ihrer ausladenden Hüfte hatte sie einen Wäschekorb unter den rechten Arm geklemmt, in dem sie die Wäsche einsammeln wollte. Doch zuvor rief sie ihren Sohn, den sie bei dem heraufziehenden Wetter lieber bei sich in der Küche wusste.
»Brady, wo steckst du?«, rief sie erneut und murmelte dann vor sich hin: »Dass der Bengel aber auch kein Zuhause kennt. Und das bei dem Wetter.« Dabei blickte sie in den Himmel. Ein Regentropfen fiel ihr auf die Wange und provozierte ein Zucken in ihrem Gesicht. Sie stellte den Korb ab und ging an der Seite des Stalls entlang zur Mauer, als sie ihren Sohn im Gehege auf einem Stein hocken sah. Er schien in Gedanken versunken und schaute mit erstarrten Augen auf ein Loch in der Mauer. Die Rufe seiner Mutter hatte er ebenso wenig gehört, wie er die dunklen Wolken am Himmel und den heraufziehenden Wind gesehen und gespürt hatte.
Breaca schritt auf ihn zu und griff ihm an sein linkes Ohr. »Nun wird es aber Zeit. Wie lange willst du mich noch rufen lassen?«, fragte sie und drehte ihren Sohn am Ohr in die Höhe.
»Auaaaa«, jaulte Brady und streckte sich vom Stein auf, um den Schmerz, den seine Mutter ihm bereitete, zu mildern, »ich hab doch nichts gemacht.«
»Nichts gemacht schon, aber auch nicht gehört.« Und als hätte sie geahnt, was für ein Unwetter auf sie zukam, sagte sie: »Du willst wohl noch vom Blitz getroffen werden!« Bei ihrem letzten Wort teilte ein weißblauer Blitz die dunklen Wolken und stieß hinter der Burgmauer in den nahe liegenden Wald, um gleich danach mit einem krachenden Donner den Spalt in den Wolken wieder zu verschließen.
Brady musste nicht mehr am Ohr gefasst werden, um seiner Mutter in die Küche zu folgen. Nachdem er noch schnell beim Wäscheabnehmen geholfen hatte, schlossen sie hinter sich die Tür und sahen, dass die Herrin Bellana am Herd stand.
»Wo ist Catriona? Breaca, hast du sie gesehen?«, fragte sie.
Breaca drehte ihren Kopf zu Brady.
»Ich weiß es nicht«, antwortete dieser anstelle seiner Mutter und zog den Kopf zwischen die Schultern.
»Ich hatte gedacht, ihr wärt beide zusammen im Stall gewesen, bei Blacky.«
»Waren wir auch, aber …«
»Aber was?«, unterbrach ihn Breaca. »Wart ihr nun zusammen oder nicht? Ich hab Catriona doch die Milch gegeben.«
»Ja, wir wollten Blacky ja füttern, aber Blacky war nicht da.«
»Nicht da? Und was dann?«, fragte Bellana.
»Dann wollte Catriona ihn suchen.«
Bellana schlug sich eine Hand an den Mund. »Mein Gott, was war dann? Wo ist Catriona hin?«
»Sie glaubte, dass Blacky wohl auf den Weiden bei der Herde wäre. Deshalb wollte sie dort hingehen.«
»Und du hast sie nicht davon abgehalten?«, schaltete sich die Köchin wieder ins Gespräch. Schneller als sich jeder denken konnte, schon gar nicht Brady hatte es erwartet, hatte sie ihm eine Ohrfeige gegeben, deren Klatschen in dem Geschirr in der Küche beinah ein Echo fand. »Habe ich dir nicht immer eingebläut, dass du auf sie aufpassen sollst?«
Brady schossen die Tränen in die Augen, während er sich seine linke Wange rieb.
»Lass gut sein, Breaca«, beruhigte die Burgherrin ihre Köchin und wandte sich wieder dem kleinen Jungen zu. »Sie ist also zu den Weiden, sagst du. Wie lange ist das her?«
»Ich weiß nicht genau, da war aber noch nicht so ein Unwetter. Dann hätte ich sie bestimmt nicht gehen lassen.«
»Ja, ich weiß, Brady. Du bist ein guter Freund für Catriona. Manchmal macht sie nur, was sie will, und nicht, was besser für sie wäre.« Sie strich Brady über den Kopf und drehte sich erneut zu dessen Mutter um. »Wir müssen sie suchen gehen. Ruf bitte alle Jungs und Männer zusammen, die noch hier auf der Burg sind, Breaca.«
»Ja, Mylady, das mache ich.«
Bellana begab sich in ihr Gemach, um sich robuste Kleidung anzuziehen, die sie im Wald und im Gelände nicht behindern würde. Das Gewitter wurde immer heftiger und sie mussten sich bei der Suche nach dem Mädchen beeilen. Ihre ganze Hoffnung war, dass ihre Tochter die Herden bereits erreicht hatte und von den Schafsjungen aufgenommen und versorgt wurde.
»Es ist etwas Schlimmes geschehen«, hörte Bellana plötzlich eine weibliche Stimme mit einer eigenartigen Melodie sprechen. Sie drehte sich um und sah neben dem Kamin die weiße Frau stehen, die sie zuvor nur bei den Geburten ihrer Töchter gesehen und von der sie immer gedacht hatte, dass sie eine Halluzination infolge der anstrengenden Geburten gewesen wäre.
»Was willst du mir damit sagen?«, fragte sie die Frau, von der sie nicht wusste, wie sie in das Zimmer gelangt war.
»Ich sehe deine Tochter Catriona zwischen Felsen, die so stark und dunkel sind und das Mädchen umschließen, dass sie sich nicht von allein daraus befreien kann.«
»Du machst mir Angst. Doch was soll ich tun?«
»Du musst dich beeilen. Denn du musst das Mädchen nicht nur aus der Enge befreien, sondern es ist jemand bei ihr, der ihr Angst macht. Catriona wäre nicht das erste Mädchen, dessen Herz vor lauter Angst zu schlagen aufhörte. Deshalb ist Eile geboten.«
»Aber das mache ich doch. Die Männer warten schon im Hof und wir werden eilen, um meine Tochter zu finden.« Bellana schritt auf die weiße Frau am Kamin zu. »Doch sagt mir: Wer seid Ihr, dass Ihr mir helft?«
»Das ist nicht wichtig«, sang die weiße Frau und verschwand, ohne dass sie einen einzigen Schritt tat. Sie löste sich einfach in Luft auf. Mit weit geöffneten Augen hatte Bellana zugeschaut und war erneut unsicher, ob es eine Halluzination war oder ob ihr gerade eine gute Fee erschienen war.