Stephanie Schulte-Busch | Isabel Neitzel

Kindliche Erzählkompetenzen

Ein Ratgeber für Sprachtherapeut*innen und Pädagog*innen

RATGEBER

für Angehörige, Betroffene und Fachleute

Stephanie Schulte-Busch | Isabel Neitzel

Kindliche Erzählkompetenzen

Ein Ratgeber für Sprachtherapeut*innen und Pädagog*innen

| Relevanz des Erzählens für die kindliche Entwicklung

Das Erzählen (Narration) ist eine Kulturtechnik und fester Bestandteil unserer sozialen Interaktion. Der Austausch mit unseren Mitmenschen im Alltag sowie in Schule und Beruf ist Ausdruck unserer sozialen Eingebundenheit. Auch für Kinder ist das Gespräch über Alltagserlebnisse ab früher Kindheit ein wichtiges Ausdrucksmittel. Untersuchungen zeigen, dass Defizite in der Erzählkompetenz die Interaktion und das Spiel mit Gleichaltrigen erschweren können. In diesem Kapitel wird die Bedeutung des Erzählens für das soziale Miteinander im Sinne der Teilhabe und für die Entwicklung in Schule und Bildungssystem dargestellt.

Bedeutung für die Teilhabe

Anderen Menschen aus seinem Leben zu erzählen und von ihren Erlebnissen zu hören, ist in unserer Gesellschaft von hoher Bedeutung. Sich mit anderen Menschen auszutauschen, ist damit nicht nur wichtig für das eigene Wohlbefinden, sondern auch für die soziale Teilhabe (Partizipation). Die Teilhabe stellt nach der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen (ICF-CY) ein elementares Ziel dar. Im ICF-Modell können unterschiedliche Einflussbereiche miteinander in Beziehung gesetzt werden. Dazu gehören neben den körperlichen Voraussetzungen eines Kindes (Körperfunktionen und -strukturen) auch konkrete Alltagshandlungen (Aktivitäten) und das Eingebundensein in das Umfeld (Teilhabe). Diese einzelnen Komponenten interagieren miteinander und beeinflussen sich somit gegenseitig. Diese Wechselbeziehung wird in Abbildung 1 anhand von Beispielen aus dem kindlichen Alltag dargestellt.

Die Bedeutung des Erzählens für das einzelne Kind hängt stark von seinen persönlichen Eigenschaften sowie von seinem sozialen Umfeld ab. Ein Kind, das sehr neugierig und kommunikativ ist, wird das Erzählen im Alltag sicherlich intensiver nutzen als ein zurückgezogenes und eher schüchternes Kind. Beide Kinder sind jedoch gleichermaßen Teil einer sozialen Umwelt und interagieren in diesem System. Ihre Persönlichkeitsmerkmale (Personenbezogene Faktoren) und ihr Umfeld (Umweltfaktoren) beeinflussen sie dabei.

Abb. 1: ICF-Modell (DIMDI, 2005) mit Beispielen zum Thema Erzählen

Praxisbeispiele:

Linus ist sechs Jahre alt und wurde im Sommer eingeschult. Seit er in die Schule geht, berichtet er seiner Mutter häufig von den Erzählungen der anderen Kinder im Morgenkreis. Auch er erzählt nach Aussage der Lehrerin gerne von seinen Erlebnissen am Wochenende. Linus‘ Mutter unterstützt ihn bei seinen Erzählungen durch Nachfragen und lässt ihm ausreichend Zeit. Dadurch wird das Erzählen aus der Schule ein fester Teil seines Tagesablaufs.

Maja ist acht Jahre alt und fährt das erste Mal auf eine Jugendfreizeit. Am Anfang hat sie großes Heimweh und zieht sich zurück. Als sich die Mädchen in ihrem Zimmer eines Abends Gruselgeschichten erzählen, fürchtet sich eines der anderen Mädchen. Maja möchte sie aufheitern und erzählt, dass sie sich früher sehr vor den dunklen Schatten in ihrem Zimmer gefürchtet habe, seit einiger Zeit aber gar keine Angst mehr im Dunkeln habe. Diese persönliche Geschichte verbindet die beiden Mädchen und macht sie zu Verbündeten.

Bedeutung für Schule und Bildungsweg

Auch für die schulische Laufbahn ist das Erzählen von hoher Bedeutung. Bereits im Kindergarten können Kinder erste basale Erzählungen produzieren. In der Grundschule wird das Erzählen dann als unterrichtsrelevante Fähigkeit zunehmend vorausgesetzt. Sei es in der Erzählrunde am Morgen oder im Rahmen von Arbeitsaufträgen – eine lebendige und strukturierte Erzählweise wird positiv aufgefasst und dient damit auch als Bewertungsgrundlage für Pädagog*innen. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Erzählkompetenzen als Indikator für die schulische Entwicklung herangezogen werden können, besonders für die Schriftsprache und das sinnentnehmende Lesen, aber auch für die mathematischen Fähigkeiten. Der schriftliche Ausdruck, z. B. in Form von Aufsätzen oder Fantasiegeschichten, ist eine häufig genutzte Aufgabenstellung im Elementarbereich. Die Anforderungen werden hierbei mit jeder Klassenstufe und je nach Schulform komplexer.

Bedeutung des Erzählens für die Schullaufbahn

 Interaktion und Austausch mit Mitschüler*innen

 Mündliche Erzählungen als Anforderungen im Unterricht

 Schriftliche Erzählungen in Form von Aufsätzen und Arbeitsaufträgen

 Erzählkompetenz als Ressource für eine positive schulische Entwicklung