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Olaf Nett

Wie Andi Brehme
meine Liebe zerstört hat

Oder warum Deutschland 2014
wirklich Weltmeister wurde

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2021 Arete Verlag Christian Becker, Hildesheim

www.arete-verlag.de

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Layout, Satz und Umschlaggestaltung: Composizione Katrin Rampp, Kempten

Druck und Verarbeitung: CPI, Leck

ISBN 978-3-96423-060-7

ISBN E-Book 978-3-96423-061-4

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1990/92: One Love

1996: Wembley

2002: Ein Missgeschick

2006/08/10/12: Vier Theorien und zwei Todesfälle

2014: Finale

Prolog

Mein Name ist Arne Liebermann und ich bin der Grund, warum Deutschland 2014 Fußballweltmeister wurde. Ich weiß, dass Sie mir das zunächst einmal nicht glauben werden, und ich mache Ihnen da auch überhaupt keinen Vorwurf, ich habe es ja lange Zeit selbst nicht geglaubt.

Dennoch: Nur weil ich es nach all den Jahren endlich geschafft habe, die Liebe meines Lebens zurückzugewinnen, konnte unser Nationalteam den Pokal nach Hause holen.

Mein Liebesglück steht in direktem Zusammenhang mit dem Abschneiden unseres Teams bei großen Turnieren. Je mehr ich in meiner eigenen Vergangenheit gewühlt habe, desto klarer wurde mir dieser unglaubliche Zusammenhang; der im Übrigen schon seit meiner Zeugung besteht:

1974 nämlich haben sich meine Eltern kennengelernt. Und zwar beim Weltmeisterschafts-Endspiel Deutschland – Holland. Auf einer Feier bei Freunden, wo man sich zusammen um den Schwarz-Weiß-Fernseher versammelt hatte. Als Gerd Müller mit dieser unnachahmlichen Drehung den Ball an Jongbloed vorbei ins linke Eck schoss, war es passiert: Im Moment einmaliger Euphorie gaben sich die beiden ihren ersten Kuss. Wir waren Weltmeister und drei Monate später standen meine Eltern vor dem Standesbeamten. Nach sechs weiteren Monaten kam ich zur Welt. Und ich hätte bestimmt eine glückliche Kindheit vor mir gehabt, wenn mein Vater uns nicht 1976, just an dem Tag, als Deutschland im Endspiel gegen die CSSR stand, für irgendein blödes Flittchen für immer verlassen hätte. Kein Wunder also, dass Uli Hoeneß den fünften Elfmeter gegen die Tschechen in den Belgrader Nachthimmel gezimmert hatte.

So wuchs ich ohne Vater auf und vielleicht war dies der Grund, warum ich in den ersten fünfzehn Jahren meines Daseins keinen rechten Bezug zum Fußballsport fand. Meine große Liebe galt zwei ganz anderen Dingen. Meiner E-Gitarre, einer echten Fender Telecaster, die mir im Alter von zwölf Jahren mein Cousin Andi überlassen hatte, bevor er nach Australien ausgewandert war, und meiner Klassenkameradin Bea.

Bea war mir schon gleich bei der Einschulung aufgefallen und in meinen Augen war sie das schönste Mädchen der Stadt mit ihrem braunen, lockigen Haar und ihrem immer aufmerksamen, frechen Blick. Leider saß ich zwei Reihen hinter ihr und musste mich immer ganz nach rechts lehnen, um zumindest ihren Hinterkopf zu sehen. Denn direkt vor mir saß der eigentlich zierliche, aber dennoch sperrige AKW-Bernd, der damals noch einfach nur Bernd hieß, doch dazu später mehr.

Zwei Wochen vor den Ferien 1982 kam dann mein großer Moment, als plötzlich der Platz neben Bea frei wurde, weil Dagmar Vorbringer nach Stuttgart gezogen war. Und als unsere Lehrerin fragte, wer sich denn „opfern“ wolle, damit Bea jetzt nicht so allein da sitzen müsse, nutzte ich die Chance, gab mich der Lehrerin gegenüber ganz selbstlos und setze mich innerlich strahlend neben Bea.

Wir tendieren ja dazu, unsere Kindheit romantisch zu verklären, aber diese Tage des Sommers 1982 zusammen mit Bea auf einer Schulbank sind die einzige und gleichzeitig wundervollste Erinnerung, die ich an mein erstes Jahr in der Schule habe. Eine Zeit, in der ich jeden Tag schon zehn Minuten zu früh vor dem Klassenraum wartete und aufgeregt den Acht-Uhr-Schulgong herbeisehnte. Da saß sie dann direkt neben mir und roch gut. Ich hatte vorher noch nie den Geruch eines anderen Menschen wahrgenommen, aber Bea hatte so einen wundervollen Duft der Frische, der mich die Welt um uns herum vergessen ließ.

Vor sich auf den Schultisch setzte sie jeden Morgen ihren Monchhichi, dem sie täglich ein neues Kostüm anzog und schon am zweiten Tag bat ich meine Mutter, mir doch bitte auch ganz dringend so ein kleines, extrem teures Plüschäffchen zu kaufen, was ziemlich uncool für einen Jungen war, aber das kratzte mich überhaupt nicht. Denn so hätten wir etwas gemeinsam gehabt, die beiden Tierchen hätten sich anfreunden können und Bea und ich irgendwann vielleicht auch …

Fünf Tage später jedoch, es war ein Montagmorgen, meinte Frau Beermann, dass sie uns nun doch wieder auseinander setzen müsse, weil sie den Eindruck habe, dass ich dem Unterricht nur noch marginal folgen würde. Im Nachhinein ist die Geschichte meiner Jugend ohne Vater vielleicht als schlimmer zu bewerten, der Moment jedoch, in dem mich unsere Klassenlehrerin völlig unvorbereitet aus der vollkommenen Glückseligkeit riss, von der ich dachte, dass sie für immer anhalten würde, hat eine viel tiefere Narbe hinterlassen. Und als meine Mutter mir an diesem Nachmittag ganz stolz einen seidig glänzenden Monchhichi überreichte, fing ich laut an zu heulen.

Komischerweise – ich habe es genau nachgeprüft – passierte das alles genau einen Tag, nachdem Deutschland am Sonntag das Endspiel gegen Italien verloren hatte. Sicherlich, so richtig überzeugend klingt das nicht, ich weiß.

Und auch das Ereignis vier Jahre später, als Deutschland diesmal gegen Argentinien das WM-Endspiel verlor, kann man als rein zufällig werten: Wir waren in der fünften Klasse. Bea, ihre Freundin Doro, AKW-Bernd und ich spielten im Partykeller von Michael Stender Flaschendrehen. Ich war es, der Bea einen Kuss auf die Wange geben musste (fürs Protokoll: Es war der Tag, an dem Deutschland das Halbfinale mit 2:0 gewann). Ich schwebte im siebten Himmel und am nächsten Morgen bekam ich während des Matheunterrichts ein rosa Briefchen überreicht. Heimlich öffnete ich es und las die magischen Worte:

„Hallo, Arne. Willst du mit mir gehen? Kreuz an, ja___ nein____. Deine Bea“

Meine Hände fingen an zu schwitzen, ich lief rot an und wagte es nicht, zu Bea hinzusehen, die in unserer 5c zusammen mit Doro am anderen Ende der Klasse saß. Bemüht cool kreuzte ich schnell „ja“ an, hätte es aber am liebsten in die ganze Welt hinaus gebrüllt. Dann gab ich den Brief an meinen Sitznachbarn, der ihn weiterreichte. Leider hatten wir nach dieser letzten Stunde am Freitag sofort Sportunterricht und Bea ging danach noch zum Chor, sodass ich sie trotz ihres Liebesgeständnisses gar nicht mehr sehen konnte. Auf diese Weise verbrachte ich das Wochenende zwischen glückseligem Verlangen und schlimmster Nervosität. Klar, ich hätte sie auch einfach anrufen können, aber ich war elf und hatte Angst, dass ihre Mutter, ihr Vater oder eine ihrer Schwestern das Telefon abnahmen. Am Montag dann, dem ersten Julitag, war ich der einzige Junge, der freudig erregt zur Schule ging. Alle anderen hatten noch daran zu knabbern, dass – wie ich heute weiß – am Vortag Maradona den Steilpass seines Lebens gespielt hatte, Burruchaga Briegel entwischt war und mit seinem späten Tor zum 3:2 alle deutschen Weltmeisterträume zunichte gemacht hatte.

Vor der Schule wartete bereits Doro auf mich und hielt mir ein zerknülltes rosa Zettelchen entgegen. Sie lächelte mich an, und wenn ich versuche, mich heute daran zu erinnern, so war es ganz sicher das Lachen eines Teufels: „Haha, Arne, du Hirni. Reingelegt! Du weißt ja nicht einmal, welche Handschrift Bea hat.“

Für Doro war das damals bestimmt nur ein Gag unter vielen, aber für mich brach in diesem Moment wieder eine Welt zusammen. Und das war mir wohl auch anzusehen. Ich weiß noch, wie unser Klassenlehrer zu allem Überfluss zu mir meinte: „Na, Arne, lass den Kopf nicht hängen, aller guten Dinge sind drei, nächstes Mal werden wir Weltmeister. Garantiert!“

Vielleicht auch wegen dieses blöden Spruchs blieb ich dem Fußball weiterhin konsequent fern, obwohl meine engsten Freunde und sogar Bea bei unserem kleinen Stadtteilverein kickten. Bea war die Tochter des Trainers, die jüngste von drei Mädchen, und in Ermangelung eines Sohnes brachte ihr Vater sie in seiner Jungsmannschaft unter. Mit dabei meine beiden besten Kumpel – heute würde man wohl Homies dazu sagen –, Beas Cousin Michael Stender und Bernd Klawitter (den ich im Folgenden immer mal wieder AKW-Bernd nennen werde, weil ihn mittlerweile alle unter diesem Namen kennen). Im Gegensatz zum schmächtigen Bernie war Stender ein stämmiges Kraftpaket, dessen hervorstechendstes Merkmal war, dass er beim Sprechen den Mund nicht aufmachte, aus Angst, dass man die riesige Zahnlücke zwischen seinen Schneidezähnen sehen könnte. Ab dem Alter von zehn Jahren war er mit einer Vielzahl von Zahnklammern ausgestattet worden, die er zum Leidwesen seiner Eltern und deren Krankenkasse immer wieder erfolgreich „verloren“ hatte. Stender war in seinen Interessen ein – nett ausgedrückt – sehr eng fokussierter Teenager. Neben Fußball gab es bei ihm gerade noch einen Funken von Leidenschaft für den Videorecorder seiner Eltern, auf dem er uns immer mal wieder Zombiefilme vorführte. Dann und wann gab er sich zudem kleineren Sprengstoffexperimenten hin. Jedes Jahr nach Silvester sammelte er nichtgezündete Böller in Massen ein und mixte aus dem Schwarzpulver neue, „extrem gefährliche“ Feuerwerkskörper, mit denen er dann Schiffs- und Automodelle in die Luft jagte.

Die Modelle stammten meist aus der Fabrikation von AKW-Bernd. Sein Zimmer roch grundsätzlich nach Plastikkleber, weil er viele Nachmittage damit verbrachte, Airfix- und Revellmodelle zusammenzukleben, die er vorher akribisch mit Modellfarben bemalt hatte. Abwechslung verschafften ihm dabei nur ein Fischer-Technik-Kasten und ein Lötkolben, mit dem er nebenher die ein oder andere Platine für sein Eigenbau-Radio fertigstellte. Angefangen hatte er damit, weil sein Vater ihm gesagt hatte, dass ihm das später mal einen guten Job einbringen werde. Auch Fußball spielte er nur, weil seine Mutter es nicht mehr mit ansehen konnte, wie Bernd den ganzen Tag nur in seinem Zimmer herumhing. Also meldete sie ihren eigentlich eher amotorischen Sohn beim örtlichen Fußballverein an und die treue Seele, die Bernie nun einmal war, spielte fortan als Linksverteidiger brav seinen Stiefel runter und ließ sich von Mannschaftskapitän Johannes Altersleben anbrüllen, der irgendwann mal im Fernsehen gesehen hatte, dass Mannschaftskapitäne das nun mal so machten, das sei gar nicht bös gemeint.

Und dazwischen Bea, die durch ihr neues Hobby noch unerreichbarer für mich geworden war. Und gleichzeitig noch anziehender, denn der Fußballsport gab ihr etwas Wildes, Ungezähmtes und ungeheuer Selbstbewusstes, das zu ihrer ansonsten zwar auch kecken, aber vor allem freundlichen Ausstrahlung in einer betörenden Spannung stand. Wann immer ich Stender oder AKW-Bernd vom Training abholte, wurde mein Blick scheu und ich beneidete die ganzen Fußballjungs, unter denen ich mich irgendwie minderwertig fühlte, um den ständigen Kontakt zu Bea.

Trotzdem kam es für mich damals nie in Frage, dort auch mitzumischen. Nicht, dass ich unsportlich gewesen wäre. Aber wenn ich nach einem Training im November die matschverschmierten Trikots und die aufgeweichten Stollenschuhe meiner Freunde sah, war ich froh, dass ich stattdessen meine Gitarre hatte. Mit den vier bis fünf Akkorden, die ich rasch draufhatte, konnte ich nach der Schule wunderbar meinen Tagträumen nachgehen. Und wenn mich der Sportgeist doch mal packte, ging ich im Wald laufen. Das konnte ich über eine Stunde lang, ohne müde zu werden. Oder ich zog mir meine weiße Turnhose und mein ebenso weißes T-Shirt an und drosch mit einem schwarzen Plastikschläger einen kleinen, gelben Softball gegen die Wand im Hof. So wie damals Boris Becker und Michael Stich.

Spätestens mit dreizehn begann mir aber auch das keinen Spaß mehr zu machen. Stattdessen hatte ich von meiner Tante Andis alte verknüllte Zettel geschickt bekommen, auf denen mein Cousin die Akkorde und Texte von alten Bob Marley-Songs notiert hatte. So spielte ich bereits nach kurzer Zeit einen Reggae-Klassiker nach dem anderen und besorgte mir nach und nach Kassetten und Platten anderer anerkannter Reggae-Bands. Mir gefiel diese Mischung aus Niedergeschlagenheit auf der einen Seite und Marihuana preisender Feierlaune andererseits, eine Melange aus sozialer Rebellion und oftmals hoffnungsloser Liebe, wie sie bei Marley und UB40 zu finden war. Dazu kamen bei anderen Bands wie Steel Pulse und Black Uhuru noch Durchhalteparolen, patriarchalische Machofantasien und vertonte Bibeltexte, die man in ihrem anklagenden Fundamentalismus heutzutage eher den Taliban zutrauen würde als Hanf rauchenden Strickmützenträgern. Das war dann aber auch schon die gesamte Themenbandbreite von Reggae-Songs und insofern eine Art geschlossenes System. Auch musikalisch: Die Songs waren immer im Viervierteltakt, die Gitarrenakzente immer auf der Zwei und der Vier, der Rimshot auf der Drei und die Bassläufe irgendwo synkopisch dazwischen. Wenn man diesen Grundrhythmus einmal draufhatte, war es relativ einfach zu spielen.

Außerdem konnte ich, wenn man mal von Nirvana absah, mit der restlichen Musik der späten Achtziger, die mich eigentlich hätte prägen sollen, überhaupt nichts anfangen. Immer wenn ich heute irgendwo lese, dass mein Jahrgang zur Generation X gehören soll, denke ich, was die Musik angeht, wäre der Titel Generation niX irgendwie besser gewesen.

Während der Rest meiner kleinen Clique also dem Fußballspielen verfallen war, spielte ich „One Love/People get ready“ und träumte insgeheim davon, vielleicht einmal bei einem von Beas Fußballspielen mit meiner Gitarre aufzutreten. Ich würde ganz melancholisch „Waiting in Vain“ bringen und vielleicht würde Bea die Message verstehen und sich im gleichen Moment unsterblich in mich verlieben. Aber Bea stand natürlich mehr auf die ganzen Muskelvorzeiger und Sprücheklopfer aus ihrem Fußballteam. „Echte Jungs“ halt. Als verträumter Musiker hatte ich da wenig Chancen. Doch was sollte ich machen? Dieser blöde Balltreter- und Machosport interessierte mich halt einfach nicht. Nicht einmal das Sportstudio oder Ran, TV-Pflichtprogramm für Stender und AKW-Bernd, sagten mir irgendetwas. Bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr, als ich zum ersten Mal ein Fußballspiel im Fernsehen sah. Oder sehen musste. Und das kam so …

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One Love

Es war Frühsommer 1990 und Stender hatte nach langem Betteln von seinen Eltern endlich einen eigenen, portablen Farbfernseher bekommen. Doch statt der gewohnten Zombiefilme guckte er nun täglich Spiele der Fußballweltmeisterschaft, die, wie es mir schien, rund um die Uhr stattfanden. Und das, obwohl ich Stender ganz dringend ein paar Neuigkeiten zu seiner Cousine entlocken wollte. Bea ging jetzt auf eine andere Schule und wenn ich sie mal sah, wirkte sie stark verändert. Sie schminkte sich jetzt, wenn auch dezent und machte ansonsten auf cool und ich wollte ganz dringend, aber auch ganz unauffällig wissen, ob sie einen Freund hatte. Am Ende vielleicht sogar einen aus ihrem blöden Fußballteam? Also wurde ich nach drei Wochen doch weich und so hockten wir eines Abends zusammen mit AKW-Bernd auf Stenders Klappcouch und warteten auf den Start irgendeines Fußballspiels, von dem ich natürlich heute weiß, dass es nicht irgendein Spiel war, sondern Deutschland-Niederlande, eines der zehn besten, interessantesten und wahrscheinlich auch kuriosesten Spiele in der Historie „unseres“ Teams.

Noch wie heute kann ich mich an den eigenartigen Mischmasch von Stenders Zimmer erinnern. An seinen Wänden hingen Poster irgendwelcher Sportler, Muscle Cars und einer halbnackten Samantha Fox. Trotzdem sah man im Halbdunkel seines Jugendzimmers auch noch eine völlig intakte Playmobilburg mit Rittern in der Ecke stehen. Und das, obwohl wir alle seit einem halben Jahr schon Bier tranken. Aber wahrscheinlich fing dieser spezielle Mix ganz genau unseren Status quo ein: Wir waren zwischen 15 und 16, irgendwo zwischen Kindheit und Erwachsensein und dabei alle fürchterlich altklug.

Ich überlegte, ob ich die zwei nicht doch dazu kriegen konnte, lieber einen Zombiefilm zu gucken, oder „The Fog“, dessen Videohülle ich neben dem Videorekorder liegen sah. Also versuchte ich, meinen Freunden das Fußballdings ein wenig madig zu machen:

„Sagt mal, als echter Fußballfan, müsste man da nicht jetzt eher im Stadion sein?“

„Das Achtelfinale ist in Mailand, Arne, und morgen früh ist Schule, selbst wenn wir so viel Geld hätten, … überleg mal selbst“, kam es sofort von AKW-Bernd zurück. Stender dagegen ließ sich nicht provozieren, sondern meinte in seinem typisch abgehackten Stil: „Arne, in der Sache gebe ich dir erst einmal Recht. Aber: Fußball im Fernsehen hat auch klare Vorzüge. Sicher: Stadion, das ist das Ursprüngliche, klar. Unbenommen. Aber so ein Fußballabend, wenn er richtig zelebriert wird, dann ist das auch ganz was Spezielles.“

„Wie, speziell?“, fragte ich.

„Tradition …“, raunte er gewichtig, „… und Familie. Ich weiß noch, wie ich mein allererstes Länderspiel abends im TV sehen durfte. Unten bei uns im Wohnzimmer. Ich, mein Vater, mein Onkel und mein Opa.“ Noch nie hatte ich Stenders Augen so leuchten sehen. „Vor acht Jahren, WM-Halbfinale, Deutschland gegen Frankreich. Drei Generationen vor dem Fernseher, ich im Pyjama. Und ich sollte eigentlich nach einer Stunde ins Bett. Aber dann passierte das mit Battiston.“

„Wer ist Battiston?“, meinte ich etwas gelangweilt.

„Das ist der Spieler, den Toni Schumacher …“

„Unser Torwart damals …“, rief Bernie von der Seite rein, „das musst du bei Arne dazusagen, Michi, da kannst du nichts voraussetzen.“

„… dem unser Torwart damals eiskalt mit der Hüfte ins Gesicht gesprungen ist“, fuhr Stender fort, „und ihm den Wirbel angebrochen hat, Zähne raus und alles, Riesenskandal, und mein Vater und mein Onkel waren plötzlich für die Franzosen.“

„Oha, klingt nach Familiendrama“, meinte ich kühl.

„Keine Witze, Arne, das gab richtig Diskussionen zwischen denen, dabei habe ich die sonst quasi nie miteinander reden hören.“

„Und? Haben sie sich dann wieder vertragen?“, fragte ich jetzt schon leicht genervt.

„Ja, weil dann irgendwann die Verlängerung kam.“

„Da warst du doch schon im Bett“, wandte Bernd ein.

„Eben nicht, weil das Spiel so spannend war, durfte ich aufbleiben. Draußen war es mittlerweile stockdunkel, obwohl es Hochsommer war. Und jetzt pass auf, Arne: Verlängerung! Und die Franzosen schießen gleich zwei Tore und alle sind sich sicher: Das war’s.“ Aber dann wechselt er Rummenigge ein, und der schießt tatsächlich den Anschlusstreffer, dann dribbelt sich Littbarski durch und Fischer macht mit einem Fallrückzieher den Ausgleich. Sen-sa-tion! Ab da waren wir alle wieder für Deutschland.“

„Erzähl Arne, dass es danach Elfmeterschießen gab, sonst fragt er gleich.“ Na, vielen Dank, Bernd.

„Genau. Und ich kann mich echt noch dran erinnern, dass als Hrubesch sich beim letzten, entscheidenden Elfmeter den Ball gar nicht noch mal selbst hinlegt, wir alle gedacht haben: ‚Auweia, der Lange da haut ihn vorbei.‘ Aber von wegen, das Ding ist drin und wir sind im Endspiel. Verstehst du, was ich dir sagen will, Arne?“

„Es war die Wiedervereinigung deiner Familie, so wie jetzt bei uns mit den Ossis?“

„Sehr witzig. Nein, dass wir in dem Moment eine echte Familie waren, also zumindest der männliche Teil, drei Generationen. Und wir konnten ihn fühlen, Arne, diesen Zusammenhalt, wir konnten ihn fühlen. Auch wenn wir zwischenzeitlich unser Team hinterfragt haben …“

„Hinterfragt? Du klingst schon wie Yoda persönlich.“ Yoda hieß eigentlich Herr Schneider und war unser Deutsch- und Religionslehrer. Er war recht klein und, obwohl noch sehr jung, sah er mit seinen leicht spitzen Ohren und seinem schütteren Haar ein wenig aus wie der kleine, grüne Jedi-Meister. Bei ihm wurde im Unterricht immer alles hinterfragt, und wenn man auch sonst kein Crack in einem seiner Fächer war, zahlte es sich bei ihm aus, sich zu melden und einfach mal das ein oder andere zu hinterfragen, um am Ende des Schuljahres nicht versetzungsgefährdet zu sein.

„Verstehst du nicht, Arne? Drei Generationen“, wiederholte Stender.

„Okay“, gab ich nach, „klingt gut.“ Vor allem für jemanden wie mich, der nicht einmal wusste, wie der eigene Vater eigentlich aussah, geschweige denn der Großvater.

„Alter, den Moment werd ich immer in meinem Kopf behalten. Ins Stadion – um jetzt mal wieder auf deine ursprüngliche Frage zurückzukommen – ins Stadion wären wir in dieser Formation nie zusammen gegangen. Deshalb sage ich: Fußball ist vor allem auch TV-Sport! Denn überleg mal: Wie viel Leute passen in ein Stadion? Aber wie vielen Leuten geht es so wie mir und sie gucken zusammen mit ihren Freunden oder ihrer Familie das Spiel im TV und haben dadurch ein gemeinsames Erlebnis, zumindest bei wichtigen Länderspielen, das sie nie wieder vergessen werden.“

Ob das tatsächlich stimmte? Ob es genauso viele Menschen gab, die sich daran erinnerten, wo sie gerade waren, als Deutschland irgendein Länderspiel gewann, wie Leute, die wissen, wo sie im letzten Herbst beim Fall der Mauer waren?

„Dann sind wir zwei …“, ich deutete von mir zu AKW-Bernd „… heute Abend deine Familie?“

„Sozusagen. Wenn Deutschland spielt, guckst du mit deiner Familie, wer auch immer deine Familie ist!“

Ein Satz, der mir noch Jahre später im Gedächtnis blieb. „Okay, das ehrt uns natürlich. Äh, mal was anderes, kann ich mir von den Chips nehmen, oder gibt’s da auch irgendwelche Traditionen, dass man die zum Beispiel erst zum Spielanfang essen darf?“, witzelte ich, aber Stender verstand den Joke nicht.

„Ne, is’egal“, meinte deshalb Bernd, „aber grundsätzlich gilt bei Michi: Bier muss, Chips darf, Cabanossi kann, oder Michi?“

Jetzt grinste auch Stender und dimmte das Licht fast ganz herunter: „Hier, so muss das. So kommt die richtige Stimmung auf. Das TV-Gerät muss die hellste Lichtquelle sein.“

Für einen Moment starrten wir schweigend auf den kleinen Fernseher. Das Spiel hatte noch nicht begonnen, Stender reichte Bier rum und ich dachte: „Mist, aus der Nummer kommst du jetzt so schnell nicht wieder raus.“

Und alles nur wegen Bea. Aber wer verliebt ist, muss leiden. Ich würde schon noch einen Anlass finden, ganz nebenbei zum Thema Bea zu kommen, überlegte ich, als Stender Mini-Würstchen holte und von der Treppe aus rief: „Sind schon die Hymnen?“

„Nein“, beruhigten wir ihn.

„Hier Stichwort Hymne: Ich finde, die sollten alle singen!“, meinte Stender dann gezielt provokativ, weil er wohl wusste, dass er damit einen wunden Punkt bei AKW-Bernd traf.

Der antwortete prompt: „Ich finde, die sollen sich lieber konzentrieren. Außerdem braucht man einen gewissen Abstand zu unserer Hymne, gerade jetzt vor der Wiedervereinigung …“

„Nicht schon wieder, Bernd. Alle wollen die Wiedervereinigung. Bis auf dich.“

„Äh, sind die Trikots jetzt irgendwie anders, in denen die zwei da hinten rumlaufen?“, wechselte ich mehr oder weniger geschickt das Thema, damit die beiden sich nicht wieder in die Haare kriegten, wie jeden Mittwochmorgen im Gemeinschaftskundeunterricht. „Hatten wir nicht immer nur so’n weißes Hemd mit schwarzem Kragen?“ So viel wusste ja sogar ich vom Fußball.

Doch damit stach ich gleich in das nächste Wespennest. „Danke, dass du das sagst, Arne“, bedankte sich AKW-Bernd. „Ich bin vielleicht Purist, aber wir spielen seit achtzig Jahren in schlichtem Weiß-Schwarz und sind damit zweimal Weltmeister geworden. Und jetzt, seit zwei Jahren, komischerweise kurz bevor wir wieder Deutsches Reich werden sollen, da plötzlich tauchen die Farben unserer Flagge fett einmal quer über der Brust unserer Helden auf? Glaubst du, das ist Zufall, Arne?“

„Die Trikots sind megageil!“ konterte Stender. „Damit werden wir Weltmeister!“

„Wenn wir damit Weltmeister werden, übergebe ich mich.“

„Ich erinner dich dran, Bernd, und jetzt Ruhe!“

Aus dem Fernsehgerät quäkte jetzt die leicht selbstverliebte Stimme des Kommentators:

„Guten Abend allerseits … Deutschland-Niederlande und

wir können uns auf einen heißen Tanz gefasst machen,

hier die Mannschaftsaufstellung: Ilgner, Reuter, …“

„Hör weg, Bernie, dein Team kommt erst danach“, fing Stender gleich wieder an zu sticheln.

„Wieso das denn?“, fragte ich.

„Hmpfmf“, kam es von AKW-Bernd zurück, der gerade zwei Cabanossi und eine Handvoll Erdnussflips gleichzeitig im Mund hatte.

„Er ist Fan von den Holländern“, soufflierte Stender Bernies Gemurmel, „zumindest so’n bisschen, wa’ Bernie? Weil er der Meinung ist, dass deren Fußball schöner ist als unserer.“

„Seit wann ist Fußball schön?“, wollte ich fragen, aber Bernd kam mir zuvor:

„Die Niederlande … sind ein viel kleineres Land als wir und trotzdem schaffen sie es, mindestens genauso gut zu spielen. Das ist die Magie des Fußballs, dass die Kleinen, wenn sie schlauer sind, die Großen schlagen können. Das ist noch echter Klassenkampf.“

„Oh, Bernie, nicht schon wieder!“, gähnte Stender.

Neben seiner Liebe zu seinem Lötkolben hatte Bernd im letzten Jahr nämlich eine gewisse Leidenschaft für „politische“ Bücher entdeckt, die ihm sein großer Bruder regelmäßig auf den Nachttisch legte. Bernies Bruder Klaas war seit Jahren Student und wurde von den meisten nur der Spinner genannt. Von der Statur her genauso schmächtig wie Bernd, trug er einen Vollbart wie der Räuber Hotzenplotz, fast immer knielange Shorts und seit gefühlten zehn Jahren das exakt gleiche Palästinensertuch. Klaas politische Einstellung war irgendwie links, wie Bernd es formulierte, denn es war sehr schwer, Klaas Gesinnung genau einzuordnen, weil er sich, kaum dass er einer Gruppierung beigetreten war, im Streit schon wieder einer anderen politischen Gruppe zuwandte. So war er zwischendurch Mitglied des sozialistischen Hochschulbundes, dann der DKP, anschließend der Antifa, und momentan voll überzeugt bei den Jusos. Aber es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis er auch da wieder weg war. Das einzige Stete an ihm war, dass er seinen kleinen Bruder regelmäßig mit neuer, handfester Kapitalismuskritik versorgte. Zum Ärger von Stender, der sich als Nachkomme einer Wurstfabrikationsdynastie zum Arbeitgeberlager zählte.

„Klassenkampf? Blödsinn, das wirklich Interessante an Deutschland-Holland ist, dass man hier genau sehen kann, dass sich Schicksal im Fußball immer ausgleicht.“

Ich nickte einfach mal, obwohl ich überhaupt keine Ahnung hatte, wovon Stender sprach, denn ich wusste, dass er das sowieso gleich erklären würde. „Stichwort Endspiel Vierundsiebzig, unglücklich für die Holländer: zwei Elfmeter, dann ein Mittelstürmertor für uns und wir sind Weltmeister. Achtundachtzig dann alles genau umgekehrt, wieder zwei Elfmeter, dann ein Mittelstürmertor, aber diesmal für Oranje und die werden dann im nächsten Spiel Europameister. Versteht ihr, was da läuft?“

„Die haben sich vorher abgesprochen?“, fragte ich.

„Nein, das heißt: Fußball ist am Ende immer gerecht. Irgendwann in der Geschichte des Fußballs gleicht sich alles aus. Alles!“

„Erzähl doch keinen Scheiß, Michi“, ging AKW-Bernd dazwischen, „hier, nimm doch nur mal das Wembleytor von Sechsundsechzig, wie soll sich das denn ausgleichen?“

„Der Fußballgott wird sich da schon was einfallen lassen. Das ist nämlich das Tolle an Fußball, Arne, das!“ Stender sprach jetzt direkt in mein Gesicht und ich konnte riechen, dass das Bier in seiner Hand nicht sein erstes war. „Das ist der einzige Sport, wo ich überzeugt bin, dass der Gott der Gerechtigkeit permanent seine Finger drin hat. Kein Scheiß!“ Er hielt sich die Hand vor den Mund und stieß auf. „Ich gehe sogar noch weiter: Wenn du an dich und das Schicksal glaubst, dann kannst du im Fußball fast jeden Rückstand aufholen und zur Not sogar aus einem Null zu Vier am Ende noch einen Sieg machen!“

„Wow, wenn Liebe ein Fußballspiel wäre“, dachte ich in diesem Moment, „dann hätte ich ja vielleicht doch noch Chancen bei Bea.“ Überhaupt, jetzt lief dieses Spiel schon über zehn Minuten und ich hatte immer noch nichts über sie erfahren. So langsam musste ich mal ganz unauffällig einen Punkt zum Anknüpfen finden. Aber da plötzlich sah ich auf der Mattscheibe etwas ganz anderes, das mich total überraschte und sogar Bea für einen Moment vergessen ließ: „Hey! Bei den Orangenen spielt ja Bob Marley mit!“

„Der mit den Rastalocken? Das ist Gullit …“, erklärte Bernd, „… kommt aus Surinam, war mal holländische Kolonie. Ist einer der momentan besten Spieler der Welt.“

„Is ja cool“, meinte ich, „wenn der da jetzt so hochspringt …“

„Das nennt man Kopfball, Arne“, half mir Stender.

„… egal, wenn seine Dreadlocks da so hochfliegen, dann sieht das Original so aus wie das Cover von ’ner Reggaeplatte.“ Wahnsinn. Hatte Fußball etwa doch mehr zu bieten als ich dachte? Wenn da sogar Typen dabei waren, die aussahen wie meine musikalischen Idole?

„Gullit mpf …“, Bernd hatte schon wieder ein Würstchen im Mund, „… typischer Niederländer, technisch brillant!“

„So technisch brillant wie der, der da gerade unserem Lockenkopp in die Haare gespuckt hat?“, unterbrach ihn Stender, während sich im TV-Gerät die Stimme des Moderators vor Aufregung überschlug.

„Und jetzt muss der Unparteiische aufpassen,

was Rijkaard da gemacht hat!!!“

„Was? Wo?“, fragte AKW-Bernd.

„Da, der mit dem Polizisten-Schnurrbart“, zeigte Stender auf das Fernsehbild, „der andere Jamaikaner da.“

„Surinam, Michi! Das ist Rijkaard, … bester Vorstopper der …“

„Trotzdem kein Grund unseren Rudi wie’n Lama zu bespucken“, kam es sofort von Stender zurück. „Was? Spinnt der Schiri denn total?! Rot für Rudi Völler? Aber der ist doch das Opfer und wurde angespuckt. Der beknackte Schiri stellt beide vom Platz! Das gibt’s nicht, das ist doch total ungerecht!“

Mist, gerade hatte ich wie Bernd meine Sympathien an das Team mit den Nachkommen der ehemals Versklavten vergeben, deren Kampf seinen Weg nicht in der Musik, sondern im Fußball gefunden hatte, da musste ich mein Bild schon wieder revidieren. Und auch Bernie schien geschockt. Stender stattdessen stand kampfbereit vor der Glotze und schrie: „Der Schiri ist doch gekauft, die Sau!“ Und die Stimme aus dem Fernseher gab ihm sofort recht:

„Das ist unglaublich, schickt den Mann zurück in die Pampa!“

„Ja, gib’s ihm, Heribert!“, feuerte Stender ihn an.

„Wer ist Heribert?“, fragte ich vorsichtig.

„Oh Mann, Arne“, fand Bernd jetzt wieder Worte. „Der Kommentator. Der spießigste Spießer, den man sich nur denken kann. Klaas sagt, dass sie den beim WDR als Alibi brauchen, um weiter politisch links senden zu können. Dafür bekommt das unkritische, konservative Bürgertum dann den Sport.“

Ich nahm mir noch ein Würstchen. „Aber wenn ihr den so grauenhaft findet, warum schaltet ihr dann nicht den Ton ab?“

„Das macht man nicht, das gehört nun mal dazu zu so ’nem TV-Abend, Arne! Wenn das Spiel nicht richtig anläuft, kann man sich solange wunderbar über die Kommentatoren aufregen“, meinte AKW-Bernd. „Außerdem ist das Gequatsche meistens so schlecht, dass es schon wieder Kult ist, verstehst du? Junk Love! Hab ich neulich auch gerade in der Szene gelesen, Willkommen in den Neunzigern, dem Jahrzehnt des Trash!“

Trash? Endlich hatte ich einen Punkt zum Anknüpfen: „Sag mal, Bernd … apropos Trash. Was ist überhaupt mit der Bad Taste Party bei dir?“ Und fügte ganz unauffällig hinzu: „Wer äh …, kommt denn da alles so?“

„Und Matthäus, zwei gegen zwei! Klinsmann kein Abseits …“

Beide hatten mich überhört, starrten stattdessen stur auf die Glotze und Stender meinte zu AKW-Bernd: „Hier, Bernie, Stichwort Matthäus! Weißt du noch, wie du damals gesagt hast, der endet bei Bayern auf der Bank, als ewiges Talent, wie Calle del Haye?“

Beide lachten, und als ich noch einmal ansetzen wollte, wiederholte Stender sogar noch einmal jenes wohl enorm witzige „… ewiges Talent! Hahaha.“

Und so musste ich bis zum Anfang der zweiten Halbzeit warten, bis ich es noch einmal versuchen konnte: „Also noch mal wegen der Party jetzt, Bernd … kommt äh … also Bea zum Beispiel, kommt die da eigentlich auch?“

Aber das war wohl nicht beiläufig genug, denn Stender roch den Braten sofort: „Bea? Die steht nur auf Fußballer! Vergiss es, Arne.“

„Ich hatte doch nur gefragt, ob …“, fühlte ich mich ertappt.

„Bea kommt auch“, meinte Bernd nun ganz sachlich.

„Aber es steht ja noch gar nicht fest, ob das alles so hinhaut“, fuhr Stender dazwischen, „an dem Mittwochabend is’ auch das Halbfinale, und ich nehm’ mal an, dass wir da dabei sind, dann hat doch keiner Bock auf Bad Taste.“

„Dann stell ich eben noch ’nen Fernseher in unseren Partykeller, wo ist das Problem?“, antwortete Bernd.

„Ich mein ja nur … ahh vorbei, Alter, das war die Chance zur Führung.“

„Spielt die immer noch bei euch im Team, also Bea jetzt?“, tastete ich mich weiter vor.

„Nur noch bis nächste Woche, dann darf sie nicht mehr, dann sind wir B-Jugend.“

„Und dann ist Johannes an ihr dran.“ Stender nun wieder.

„Wer?“

„Johannes Altersleben“, erklärte Bernd, „bisher durfte er nicht. Solange Bea im Team war, war sie tabu. Gerade als Tochter des Trainers. Johannes kennst du doch, unser Kapitän, unsere Nummer Neun.“

„Bernie, das bringt nichts, wenn du Arne irgendwelche Rückennummern an den Kopf haust, damit kann der sowieso nichts anfangen.“ Jetzt wandte sich Stender gespielt liebevoll an mich: „Arne, die Nummer Neun ist traditionell der Mittelstürmer und meistens – so auch bei uns – der Torschützenkönig und damit der angesehenste Spieler des Teams. Der Star, verstehst du?“

„Aha.“

„Ja. Und wenn der Star ein Mädchen angräbt …, Arne …, was denkst du? Kriegt er die dann rum? Was meinst du?“

„Shit“, meinte ich nur.

„Bist du etwa immer noch scharf auf Bea?“

Ich wurde rot.

„Au weia.“

Und dann kam das Tor.

„Jaaa“

„Jaaa!“

Eins zu Null durch Klinsmann!“

„Klinsmann! Wahnsinn.“

Während die beiden Fußballverrückten sich neben mir in die Arme fielen, rumorte es in meinem Kopf. Johannes Altersleben. Doch, klar kannte ich den. Wer kannte den nicht? Der war mindestens einen Kopf größer als ich und mit seinen blonden Locken der Liebling aller Mädchen und irgendwie die optische Vorwegnahme von Til Schweiger, den zu diesem Zeitpunkt aber noch kein Schwein kannte. Wie sollte ich gegen den auftrumpfen? Ich nahm mir eine neue Flasche Bier und versuchte, dem Spiel zu folgen, bei dem – sogar ich konnte das erkennen – wirklich eine Menge los war. Und dann irgendwann fiel ein Name, dem ich zunächst keine große Bedeutung zumaß, der den Lauf meines Lebens aber noch maßgeblich beeinflussen sollte:

„Brehme! … Komm zieh drauf!

„Toooooor!“

Jaaaa, das war’s!

Das ist der Sieg!

Lange hat sich Andi Brehme zurückgehalten,

um dann diesen Kunstschuss abzugeben,

in der fünfundachtzigsten …“

Andreas Brehme, der eher wortkarge Kicker von Inter Mailand, der einzige Spieler, der, wie ich an diesem Abend lernte, mit beiden Füßen gleich gut schießen konnte. „Alter! Mit rechts! Brehme hat ihn mit rechts reingemacht.“ Stender sah uns an, als hätte er gerade die Glühbirne erfunden. Und als es beim Abpfiff 2:1 für uns stand, verbuchte Stender das Ergebnis als persönlichen Sieg gegen AKW-Bernd und meinte mittelschwer betrunken: „Hier, Bernie, Stichwort Gerechtigkeit: Durch ihre arrogante Spuckattacke haben die Käsköppe den Fußballgott erzürnt. Ab diesem Punkt war das Schicksal auf unserer Seite, und die Jungs haben daran geglaubt, an Gerechtigkeit. Das hat das Team zusammengeschweißt. Zwei zu Eins. Ha! Mannschaftliche Geschlossenheit gegen Hybnis.“

„Hybris“, korrigierte Bernd trocken.

„Egal! Zwei zu Eins!“