Für Mum und Dad, die mich in die Welt entlassen und zu Hause wieder willkommen geheißen haben.
Im Flugzeug
»Boarding completed.«
Es ist so weit. Jetzt oder nie. Ich starre den Senden-Button auf meinem Handydisplay an. Letzte Chance, ihn zu drücken.
So kurz vor diesem finalen Schritt, diesem winzigen Glied in der Kette von Ereignissen, die mich hierhergeführt haben, schnellt mein ohnehin bereits rasender Puls noch weiter in die Höhe.
Fast gegen meinen Willen wische ich doch noch einmal nach unten. Mein Blick huscht zum Anfang der E-Mail, an der ich schon herumfeile, seit ich das Haus verlassen habe. Und während ich den Bus genommen, die Sicherheitskontrollen passiert, das Flugzeug bestiegen, meinen Platz gefunden und mich angeschnallt habe.
Liebe Mum, lieber Dad,
bitte flippt jetzt nicht völlig aus (wahrscheinlich bringt es nichts, euch das zu schreiben, aber glaubt mir, es ist zwecklos. Wenn ihr das hier lest, bin ich längst in der Luft. Dad, du sagst doch selbst immer, wie ungefährlich Fliegen ist. Also braucht ihr euch überhaupt keine Sorgen zu machen, gerade bin ich so sicher wie noch nie).
Ich tue das, weil ich MUSS. Ich muss einfach weg. Ich habe versucht, euch klarzumachen, dass mich hier nichts mehr hält, aber ihr wolltet nicht zuhören. Tja, jetzt bleibt euch wohl nichts anderes übrig. Ich befinde mich nämlich gerade auf dem Flug BA037 von Gatwick nach Vancouver. Ihr könnt ihn sogar nachverfolgen. Ich will euch nicht anlügen oder etwas vorenthalten, deshalb teile ich euch ganz offen mit, wo ich bin. Ich musste wirklich dringend raus, also habe ich mich auf den Weg gemacht. Und wenn ihr in der letzten Zeit irgendwas mitgekriegt habt, dann wisst ihr auch, warum.
Ich rufe euch an, sobald ich gelandet bin.
Ich hab euch lieb!
P.
PS: Dad, es tut mir leid, dass ich deine Kreditkarte benutzt habe.
PPS: Ich zahle es dir zurück.
Der Pilot plaudert fröhlich über unsere voraussichtliche Flugzeit, den strahlenden Sonnenschein in Vancouver und über »ein paar kleine Ruckler«, die vermutlich über Grönland auf uns zukommen werden. Dann bittet er uns, alle elektronischen Geräte in den Flugmodus zu versetzen.
Ich schlucke. Und ergänze ein »sehr« vor lieb.
Senden.
Na bitte, es ist vollbracht. Ich stelle mein Handy auf Flugmodus, lehne mich im Sitz zurück und beobachte, wie das Terminal langsam an uns vorüberzieht, während wir zur Startbahn rollen. In ein paar Minuten bin ich wirklich da oben. England wird unter mir zurückfallen, immer kleiner und kleiner werden und in immer größere Ferne rücken, und all meine Probleme und mein Schmerz, meine Fehler und mein Bedauern gleich mit. Das nächste Mal, wenn ich diesen Boden betrete – und wer weiß, wann das passiert –, werde ich eine andere sein. Nicht direkt ein neuer Mensch, aber vielleicht die, die ich schon immer hätte sein sollen.
Jetzt haben wir die Landebahn erreicht. Die Triebwerke dröhnen, das Flugzeug nimmt Fahrt auf. Neben mir flüstert eine Frau im grünen Jumpsuit: »Es geht los!«
Ich schließe die Augen. Und endlich breitet sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus.
Los geht’s.
aka
Warum ich alle Zelte abgebrochen und mit meinem alten Leben abgeschlossen habe, obwohl ich erst siebzehn bin und meine Eltern mich ziemlich sicher umbringen werden
aka
Als ich noch dachte, dass sich alles zum Guten wenden könnte
Der erste Tag auf dem College. Der erste Tag meines neuen Lebens! Ein neues Ich, in neuen Klamotten (Skinny-Jeans, weißes T-Shirt und eine Gänseblümchenkette. Klassisch, schlicht und nicht an eine bestimmte Persönlichkeit gebunden, denn ich musste ja erst mal herausfinden, wer ich am besten sein sollte). In erster Linie aber ein Ich mit einer neuen Einstellung. Welche Einstellung? Positiv. Ich, auch bekannt als Peyton King, frischgebackene Zwölftklässlerin und die Neue, die es nicht erwarten konnte, Freunde zu finden, war bereit.
Ich war so was von bereit. Wen interessierte schon, dass ich eigentlich gar nicht auf ein Wirtschaftscollege gehen und vor allem nicht das lernen wollte, was meine Eltern für richtig hielten, statt zu tun, was ich mir selbst wünschte – und was sich im Prinzip mit dem Wort »Kunst« zusammenfassen ließ. Ich war trotzdem bereit. Alles andere war sowieso egal. Ich hatte ein Ziel, und nur dieses Ziel: Freunde finden. Echte, treue, Geheimnisse anvertrauende, WhatsApp-Gruppen teilende, zusammen im Park chillende Freunde.
Das, was an meiner alten Schule passiert war, war bloß ein Fliegenschiss gewesen. Auch wenn dieser Fliegenschiss fünf Jahre Hölle bedeutet hatte. Ja, keine Freunde zu haben, fühlt sich an, als würde einem die Seele ausgesaugt. Ja, es hat mich fast völlig kaputt gemacht. Und ja, das grausame Mobbing hat mich vermutlich nachhaltig traumatisiert und wird mich bis ins Erwachsenenleben verfolgen.
Aber – das ist vorbei! Schnee von gestern. Neuanfang, neue Peyton.
»Herzlich willkommen!« Eine lächelnde Frau saß an einem der Info-Tische im Eingangsbereich.
»Hi!«, antwortete ich. Genau so, Peyton, zeig Begeisterung. »Ich bin Peyton King!«
Die Frau nickte, sah hinunter auf die Liste vor sich, entdeckte meinen Namen und strich ihn durch. »Das hier sind deine Willkommensunterlagen.« Sie reichte mir einen Stapel Papiere. »Ein Geländeplan, die Öffnungszeiten der Mensa und so weiter. Die Einführungsveranstaltung findet um 09:00 Uhr in der Aula statt. Hast du vorher noch irgendwelche Fragen?«
Wie finde ich Freunde? Werden die anderen mich mögen? Warum mochte mich früher niemand? Sehe ich okay aus? Wie ist meine Frisur? Tue ich das Richtige? Werden die anderen mich mögen?!
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, danke!«
(Kann man von der eigenen Hoffnung und Vorfreude high werden? Falls ja, dann war ich das definitiv. Das hörte man allein schon an meinem Tonfall.)
Auf dem Weg zur Einführung befürchtete ich, dass wir diese schrecklichen Kennenlernspiele spielen würden. Und gleichzeitig hoffte ich auch ein bisschen darauf, dass es tatsächlich damit losgehen würde. Sie waren zwar todespeinlich, aber meist funktionierten sie ja.
Allerdings war ich mir nicht sicher, ob man das hier überhaupt für nötig hielt. Auch wenn die Gebäude des Wirtschaftscolleges größtenteils auf einem eigenen Gelände standen, so gehörte es doch offiziell zur Eastridge Highschool, die die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler bis zum Abschluss der elften Klasse besucht hatte. Noch dazu gab es zwei Partnerschulen, von denen auch viele kamen. Ein kleiner Rest war von ganz woanders, so wie ich. Das war also mein neues Leben – endlich. Ich war raus aus dieser Hölle, die die Claridge Academy für mich gewesen war, weit weg von allen, die mich je gemobbt hatten, und von denen, die es zugelassen hatten. Ich war frei und konnte neu anfangen.
Am Tag zuvor war ich bei der Friseurin meiner Mutter gewesen. Ich hatte ihr genau gesagt, was ich wollte – sympathisch, aber nicht zu auffällig, nichts zu Bemühtes, nichts, was zu sehr schrie: Schaut mich an! Daraufhin hatte sie meine straßenköterblonden Wellen in einen sattbraunen Long-Bob mit kupferfarbenen Strähnchen verwandelt, der gerade auf meine Schultern hinabfiel. Perfekt. Ich hatte den ganzen Sommer über geübt, mir die Haare zu glätten, und jetzt hatte ich die passende Frisur dafür.
Seht ihr, wie bereit ich war? So was von.
Die Einführung war etwas seltsam. Alle versammelten sich in der Aula, um der Willkommensansprache – oder vielmehr der Willkommenspredigt – des Oberstufenkoordinators, Mr Kirby, zu lauschen, der sehr wenig lächelte. Danach wurden wir in Kleingruppen eingeteilt und über den Campus geführt. Ich war in einer Gruppe mit zwei anderen Mädchen, die nur miteinander tuschelten und mich kaum beachteten, und mit drei Jungs, die überhaupt nichts sagten. Kein besonders guter Start.
»Von welcher Schule kommst du?«, fragte ich eines der Mädchen, als wir nach dem Rundgang zurück in die Aula gebracht wurden. Ich war wild entschlossen, diese erste Gelegenheit nicht verstreichen zu lassen, ohne es wenigstens versucht zu haben.
»Eastridge«, antwortete sie. Eine besitzergreifende Geste schloss ihre Freundin mit ein. »Und du?«
»Von der Claridge. Academy.«
Sie runzelte die Stirn. »Wieso bist du dann nicht dort in die Oberstufe gegangen?«
Ich sagte nicht, weil ich da keine Freunde habe, und wenn ich hier auch keine finde, gehe ich elendiglich zugrunde, sondern: »Weil das ein Scheißladen ist.« Was mich betraf, entsprach das absolut der Wahrheit.
Aber es kam falsch rüber, zu laut, zu vehement. In meinen Ohren klang es viel zu übertrieben und das wollte ich doch eigentlich um jeden Preis vermeiden. Ich lächelte, aber auch das fühlte sich nicht richtig an. Ich konnte spüren, wie mir die Röte den Hals hinaufkroch. Ein einziges Gespräch und ich hatte es schon vergeigt.
»Tja, die Eastridge ist ganz okay«, meinte das Mädchen und zuckte mit den Schultern.
»Das ist jetzt nicht mehr die Eastridge«, wurde sie von ihrer Freundin erinnert, »sondern das College. Das ist was völlig anderes.«
»Ich versuche hier, nett zu sein.« Das erste Mädchen verzog das Gesicht. »Ihr Mut zu machen und so.«
Die andere verdrehte die Augen, was nicht besonders freundlich wirkte. Aber sie fragte mich: »In welcher Aufnahmegruppe bist du?«
Hoffnungsvoll blickte ich auf mein Anmeldeformular. »S6.«
»Tja, wir sind beide in S2.« Sie zuckte mit den Achseln. Dieses Achselzucken sagte: Sorry, wir werden leider keine Freunde. Ciao.
»Okay«, antwortete ich.
»Wir müssen auch langsam los«, meinte die Erste wieder. »Zur Anmeldung.«
»Okay.« Ich wiederholte mich, aber was sollte ich sonst tun?
Halb hatte ich gehofft, sie würden mich vielleicht fragen, ob ich mit ihnen zu Mittag essen wollte, aber nichts da. Bloß ein peinlich berührtes Lächeln und dann zogen sie zusammen davon.
Keine Panik, alles in Ordnung. Das war meine erste soziale Interaktion und ich hatte weder angefangen zu heulen noch mich völlig blamiert. Man könnte es als eine Art Testlauf betrachten. Schließlich konnte ich ja nicht erwarten, dass jedes kurze Gespräch gleich zu lebenslanger Freundschaft führen würde. Schön optimistisch bleiben.
Auf einer Bank in der Sonne aß ich mein mitgebrachtes Pausenbrot und zeichnete mit der freien Hand vor mich hin. Ich stellte mir meine Zukunft vor, den Schulabschluss, mit Hut und Talar, umringt von Freunden, die mich breit anlächelten. Das war alles, was ich vom Leben wollte. Nicht Hut und Talar, die waren mir eigentlich ziemlich egal – aber Freunde. Eine beste Freundin, die Art, von der man in Büchern liest. In den Geschichten, die ich liebte, denen über stinknormale Mädchen wie mich, hatten alle beste Freundinnen, oft sogar mehrere. Ganze Horden davon. Obwohl sie mir manchmal das Gefühl gaben, sehr allein zu sein, in meiner eigenen, freundinnenlosen Realität, las ich sie trotzdem weiter. Ja, ich verschlang sie regelrecht, um zu lernen, was eine gute beste Freundin ausmachte, damit ich vorbereitet war, wenn es eines Tages – endlich – so weit wäre.
Okay, bringen wir es hinter uns. Ich weiß, was ihr wissen wollt. Ihr wollt wissen, warum ich so besessen davon war, Freunde zu finden. Wie ich die letzten Jahre überhaupt ohne überlebt hatte. Ihr fragt euch, wie ich jahrelang zur Schule gehen konnte, ohne Freundschaften zu schließen. Ihr denkt, du musst doch Freunde haben. Jeder hat Freunde. Oder vielleicht glaubt ihr, dass ich bestimmt mal welche hatte, sie aber durch irgendeine schlimme Tat vergrault habe. Und jetzt seid ihr neugierig, was das gewesen sein könnte.
Zuerst lasst mich euch eins sagen: Es stimmt. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt keine Freunde. Und ich hatte auch davor nie welche. Keine Menschen, die ich mochte und deren Gesellschaft ich mir ausgesucht hatte und die andererseits mich mochten und die sich meine Gesellschaft ausgesucht hatten. Keine Leute, mit denen ich samstags chillen, Ausflüge planen oder über WhatsApp quatschen konnte. Keine Leute, die mich auf Fotos bei Instagram markierten oder mir Freundschaftsarmbändchen knüpften.
Und zweitens: Es gab keinen großen Zwischenfall, der mich freundelos gemacht hat. Ich werde jetzt auch nichts so Dramatisches sagen wie: Alle haben mich gehasst. Denn das stimmt nicht. Auf irgendeine komische Art denke ich manchmal, dass es einfacher gewesen wäre, hätten sie es getan. Ich wurde nicht gehasst, ich wurde gehetzt. Wie bei der Fuchsjagd. (Die Jäger hassen den Fuchs nicht. Das Ganze ist für sie bloß ein Sport.) Ich wurde gehänselt, ausgelacht, ignoriert. Ab und an toleriert, öfter jedoch für einen blöden Scherz auf meine Kosten missbraucht.
Jetzt fragt ihr euch: Aber warum? Was hast du getan? Ihr versucht euch vorzustellen, was an mir so furchtbar ist, dass es mich zum Mobbingopfer gemacht hat. Vielleicht denkt ihr an Leute, die ihr kennt oder kanntet, die auch gemobbt wurden, und ihr vergleicht mich mit ihnen. Hört auf damit. Lasst sie in Ruhe. Haben sie nicht genug gelitten, ohne dass ihr sie als Messlatte dafür nutzt, wer es verdient, eine Zielscheibe zu sein?
Drittens möchte ich euch gern begreiflich machen, warum ich die fünf Jahre an meiner alten Schule, der Claridge Academy, allein und komplett ohne Freunde verbracht habe. Vertraut mir, darüber habe ich sehr viel nachgedacht (sehr viel!). Ich habe versucht, eine Art Erklärung zu finden, die Sinn ergibt. Denn ich verstehe schon, es klingt total komisch. Mindestens eine Freundin muss es doch gegeben haben, nur eine? Keine Freunde? Jemals?
Tja, ich hatte über die Jahre eine Handvoll Fast-Freunde, übergangsweise. Da war Sophie in der Siebten, die in einem anderen Leben meine beste Freundin geworden und geblieben wäre, mich aber schon sehr früh hat fallen lassen, ungefähr zur Zeit des Kuchenverkauf-Vorfalls – dazu kommen wir noch –, und die die nächsten fünf Jahre damit zubrachte, mich gründlich zu ignorieren. Ich kann es ihr kaum verübeln. Wären unsere Rollen vertauscht gewesen, hätte ich vermutlich auch versucht, meine Haut zu retten.
Zusammen mit Mädchen aus anderen Klassen und Jahrgängen war ich in der Netball-Mannschaft und die meisten von ihnen waren freundlich zu mir. Selbst die paar Mädels aus meiner Klasse ließen mich in Ruhe, wenn wir im Netball-Modus waren, als wäre das eine akzeptierte Schutzzone. Und Imi, die Abwehrspielerin aus meinem Jahrgang, die normalerweise kein Wort mit mir sprach, lud mich nach den Auswärtsspielen manchmal ein, mit ihr und ihrer Mum zu McDonald’s zu gehen. Immerhin.
Abgesehen davon waren da noch ein paar andere Leute, die mein Leben gerade so erträglich machten. Schwache Berührungspunkte mit alltäglichem Glück, oder zumindest mit der Normalität, die mich davon abhielten, völlig den Mut zu verlieren.
Es gab die Bibliothek, einen ruhigen und sicheren Zufluchtsort in der Mittagspause, und die Bibliothekarin, Ms Randall. Sie kannte meinen Namen und redete mit mir darüber, was ich las, als interessierte sie sich für meine Meinung. Ab der Neunten gab es außerdem den Kunsttrakt, mit den weißen Wänden und dem Geruch nach Leinöl. Und Mr Clayton, der mir immer zulächelte, als wüsste er, wie ich mich fühlte. Einmal nahm er mich nach dem Unterricht diskret beiseite, um mir zu sagen, dass das Atelier in den Pausen für Schüler offen stand. Dort versammelte sich eine kleine Gruppe von Außenseitern, um zu werkeln und zu zeichnen. Alle unterschiedlich, alle aus verschiedenen Jahrgängen. Wir sprachen kaum miteinander – schon gar nicht außerhalb unseres Mittagspausenexils – und waren doch froh, nicht allein zu sein.
Und das war es so ziemlich, in all den Jahren, die ich auf die Claridge ging. Ihr fragt euch bestimmt, wie man die Schulzeit ohne einen einzigen Freund übersteht. Die Antwort ist: genau so, wie man ohne Regenschirm durch einen Schauer läuft. Kopf einziehen, Schultern hoch, so schnell wie möglich.
Jetzt wisst ihr aber immer noch nicht, warum. Und dabei interessiert euch doch genau das. Wie gesagt, es gab keinen dramatischen Zwischenfall – es gab eher mehrere kleine Zwischenfälle. Eine Art Schneeballeffekt von Niemand-mag-Peyton-King. Ich werde ein paar davon beschreiben, damit ihr versteht, was ich meine. Fangen wir beim Anfang an.
An der Claridge Academy hatten wir eine Uniform mit einem Blazer, von dem es hieß, er sei unisex. An meinem ersten Tag in der siebten Klasse trug ich diesen Blazer, genau wie einige andere Schülerinnen in der neu zusammengewürfelten Klasse. Eine nach der anderen bemerkte aber, dass es megauncool war, als Mädchen mit diesem Blazer herumzulaufen, und irgendwann zogen sie ihn alle aus. Ich hatte das Pech, es als Letzte mitzukriegen, die Letzte zu sein, die den Blazer noch anhatte und die sich den Kommentar »Warum trägst du das da?« von Amber Monroe einfing. (Amber spielt übrigens eine große Rolle in diesen Anekdoten. Am gleichen Tag hat sie mich nach meinem Namen gefragt, und als ich »Peyton« antwortete, verzog sie das Gesicht. Sie fragte »Wieso das denn?«, mit solcher Abscheu, dass ich mich für meine bloße Existenz entschuldigen wollte.)
Immer noch siebte Klasse. Ein Kuchenverkauf. Eins dieser Ereignisse, die einem irre wichtig waren, obwohl man nur Gebäck in der Schulmensa verkauft hat, für zwanzig Cent das Stück. Alle mussten Kuchen und Kekse für den Verkauf mitbringen und ich hatte eine große Dose voller Schmetterlings-Cupcakes mit Salzkaramell-Topping gebacken, fluffig und cremig und einfach zum Anbeißen. Ein paar von uns waren gerade dabei, die Leckereien auf dem Tisch auszulegen, als Amber Monroe sagte – und ich erinnere mich genau an ihren beiläufigen Tonfall, halb scherzhaft, als wäre das ein Witz, über den wir gemeinsam lachen könnten –: »Ich hab gehört, du hast deine Muffins vergiftet, King.«
Hätte ich damals die Schlagfertigkeit und das Selbstvertrauen meines heutigen Ichs besessen, hätte ich darüber gelacht. »Ach was, ich habe nur ein bisschen Gras beigemischt«, hätte ich erwidern sollen. Das wäre super angekommen. Die Art ironische Bemerkung, die einen in dem Alter lustig und cool wirken lässt. Aber das war mir nicht eingefallen. Stattdessen war ich knallrot angelaufen und hatte mit weinerlicher Piepsstimme (zumindest hört sie sich in meiner Erinnerung so an) gestottert: »N…nein, nein!! D…das habe ich nicht!« Und dann meldete sich hinter mir Mo Jafari zu Wort, lässig und gedehnt: »Klingt irgendwie, als hättest du’s doch getan.«
Offenbar sprach sich das herum. Niemand kaufte, geschweige denn aß einen meiner hübschen Cupcakes. Noch dazu fanden sie es alle superlustig. Besonders, als ich in Tränen ausbrach.
Achte Klasse. Ein Sexualkunde-Workshop mit einer externen Leiterin, die mit uns über gesunde Beziehungen reden wollte. Sie schlug vor – fröhlich und nichts ahnend –, dass wir uns alle in kleinen Grüppchen mit unseren Freunden und Freundinnen zusammensetzen sollten. Mir rutschte das Herz in die Hose und ich sah zu, wie alle anderen unbekümmert umherliefen und sich in klar definierten Kleingrüppchen zusammenfanden. Übrig blieb ich. Mein Gesicht brannte und mir stiegen Tränen in die Augen. Krampfhaft starrte ich zu Boden. Ich hatte meinen Platz nicht verlassen und hoffte, niemand würde es bemerken. Vermutlich wäre die Workshopleiterin so barmherzig gewesen, mich unsichtbar bleiben zu lassen, da ich es so offensichtlich wollte. Aber da tönte schon Amber Monroes selbstbewusste Stimme durch den ganzen Raum: »O Gott, Peyton, hast du echt überhaupt keine Freunde?« Sie klang so entsetzt. Auf übertriebene Weise, theatralisch, aber trotzdem entsetzt. Als wäre die Tatsache, keine Freunde zu haben, so furchtbar, dass selbst sie fast Mitleid bekam. »O mein Gott«, sagte sie ein zweites Mal, noch lauter, wahnsinnig laut. »Peyton King hat keine Freunde!« (Man könnte denken, das wäre eine dieser Sachen, die man irgendwann vergisst, über die man hinwegkommt. Aber glaubt mir: Dem ist nicht so. Diesen Satz hätte man genauso gut in Stein meißeln können, so sehr hat er sich mir ins Gedächtnis gebrannt.)
Immer noch achte Klasse. Ich beschloss herauszufinden, warum die Leute mich nicht mochten, damit ich an dem Problem arbeiten und es beheben konnte. Dafür schrieb ich einem von den netteren Mädchen eine Nachricht. Kerry Bridges erledigte stets ihre Hausaufgaben, hatte immer schön gekämmte Haare und machte nie Ärger. Zwar hatte sie nie versucht, sich mit mir anzufreunden, aber sie war auch nie gemein zu mir gewesen. Die Nachricht war folgende: Liebe Kerry, entschuldige, dass ich dir einfach so schreibe, aber ich hoffe, du kannst mir weiterhelfen. Wahrscheinlich ist dir aufgefallen, dass ich nicht viele Freunde habe und mich irgendwie keiner so richtig mag. Ich habe mich gefragt, ob du vielleicht weißt, woran das liegt, und ob du es mir verraten würdest, damit ich etwas verbessern kann! Wenn nicht, kein Problem! Aber danke fürs Lesen! Peyton
(Möchtet ihr gerade aus Fremdscham für mein dreizehnjähriges Ich im Boden versinken? Jap, ich auch.)
Auf jeden Fall hat Kerry Bridges einen Screenshot dieser Nachricht an eine Freundin geschickt. Die ihn wiederum an zwei andere Freundinnen weitergeleitet hat. Die ihn auf Snapchat gepostet haben. Alle in meiner Stufe haben diese Nachricht gelesen. Womöglich sogar die ganze Schule. Wie sich herausgestellt hat, ist es schlimm, keine Freunde zu haben, aber noch schlimmer, wenn man versucht, etwas daran zu ändern. Ich hätte genauso gut auf die Bühne in der Aula klettern und mich vor der kompletten Schule nackt ausziehen können. Rückblickend betrachtet wäre das für mein Image wahrscheinlich besser gewesen.
Immerhin schrieb mir Kerry nach diesem Zwischenfall einen Brief, in dem sie sich dafür entschuldigte, die Nachricht herumgezeigt zu haben. Sie beteuerte, sie habe nicht geahnt, was passieren würde, und es tue ihr leid. Sie klebte einen Smiley-Sticker darauf und schob den Brief durch den Türschlitz meines Schließfachs. Aber sie versuchte weder, sich mit mir anzufreunden, noch hielt sie andere davon ab, sich über mich lustig zu machen. Und sie hat mir nie verraten, warum mich niemand mochte. Vermutlich dachte sie zu dem Zeitpunkt, dass es mittlerweile selbst mir völlig klar sein musste.
Neunte Klasse. Mo Jafari fiel irgendwann auf, dass P. King ja wie Peking klingt – wie in Pekingente. Mit einem Mal war ich für den Rest der Zeit auf der Claridge nur noch »die Ente«, samt allem, was irgendwie im Entferntesten damit zu tun hatte – Entchen, Gummiente, Quak-Quak, Vogel, Entenarsch – um nur einige Beispiele zu nennen. Ein paar davon hören sich vielleicht an wie lieb gemeinte Spitznamen oder Späße unter Freunden. Tja, das waren sie nicht.
Zehnte Klasse. Zu der Zeit hatte ich die größte Mobbingwelle eigentlich überstanden und war nur noch die einsame Außenseiterin, mit der niemand redete. Das war nicht schön, aber allemal besser, als ständig die Zielscheibe zu sein. Doch dann sollte ein neues Bild in der Schulmensa aufgehängt werden und Mr Clayton entschied sich für eins von meinen. Ich fühlte mich ziemlich geehrt, da normalerweise nämlich nur Kunstwerke von Elftklässlern ausgestellt wurden, meist Projekte für ihren Abschluss der Sekundarstufe 1. Das Gemälde hatte ich während der Mittagspausen im Atelier angefertigt, meinem Zufluchtsort. Es war quasi meine eigene Version von van Goghs Sternennacht: unsere Stadt bei Dunkelheit, die Skyline klein (und grau und unscheinbar) unter einem riesigen, strahlenden Sternenhimmel. Mr Clayton zufolge war es »fantastisch«, ein Wort, das ich aus seinem Mund vorher noch nie gehört hatte. Während einer Versammlung in der Aula verkündete er, dass es aufgehängt werden würde, und die ganze Schule klatschte pflichtschuldig. Ich war unheimlich stolz und glücklich – selbst als Amber Monroe und alle aus ihrer Clique viel zu laut applaudierten, pfiffen und übertriebene Verbeugungen andeuteten.
Ganze dreieinhalb Tage hatte es dort gehangen, als man mich ins Büro des Oberstufenkoordinators rief, wo Mr Clayton mit tief gerunzelter Stirn auf mich wartete. Man habe mein Kunstwerk »entweiht« – das waren seine Worte. Vor der ersten Stunde hatte jemand mit Edding ENTENFOTZE quer über das Bild gekritzelt und daneben einen stümperhaften Penis samt Hoden gemalt. (Schon damals durchzuckte mich der Gedanke, dass eine Vulva ja wohl deutlich mehr Sinn ergeben hätte. Es sagte viel über diesen unbekannten Schmierfinken aus, dass er nicht in der Lage war, eine zu zeichnen.) Mein Gemälde war unwiederbringlich zerstört und es brach mir das Herz.
Die ganze Klasse bekam deswegen eine Standpauke. Es war kein Geheimnis, dass ich eine Außenseiterin war, auch unter den Lehrern nicht, und selbst ihnen war bewusst, dass man das Bild deshalb bekritzelt hatte. Unser Jahrgangsleiter, Mr Karousi, behielt uns in der großen Pause drinnen, um den Schuldigen herauszufinden. Allen außer ihm war völlig klar, dass es Joe Hedge gewesen war. Und ich meine wirklich allen. Trotzdem sagte keiner auch nur einen Ton. Und ich saß da, in diesem Klassenzimmer, und lauschte dem Schweigen, mit dem sie ihn alle schützten – als hätte er es verdient. In mir loderte Wut auf – in meiner Brust, in meinen Händen, hinter meinen Augen. Er würde einfach so davonkommen. Er hatte etwas so Grausames getan – nicht bloß gemein, sondern richtig grausam – und es war ihnen egal.
Als Mr Karousi schon aufgeben wollte und uns mitteilte, wie enttäuscht er war, dass niemand die Verantwortung übernahm, meldete ich mich zu Wort: »Alle hier wissen, dass es Joe war.«
Kollektives, hörbares Nach-Luft-Schnappen. Joe drehte sich fassungslos zu mir um, Ambers Blick hätte töten können und Mr Karousi sah mich stirnrunzelnd an, als hätte ich mich gerade höchstpersönlich schuldig bekannt. Mo Jafari murmelte: »Krasse Scheiße, King.«
»Warum spricht es denn keiner aus?«, fragte ich. Inzwischen liefen mir die Tränen in Sturzbächen übers Gesicht. »Es war Joe.«
Joe, der sich nicht mal die Mühe machte, seine Tat zu leugnen, wurde für vier Tage der Schule verwiesen und durfte zwei Monate lang nicht am Fußballtraining teilnehmen. Zum ersten Mal musste jemand für das, was er mir angetan hatte, Konsequenzen tragen – und trotz allem war ich froh darüber.
Jedenfalls bis zum Sportunterricht in der darauffolgenden Woche. Langstreckenlauf. Ich joggte allein vor mich hin, wie immer in meine eigenen, tröstlichen Gedanken versunken, da rammte mich jemand von hinten. Als ich stolperte und fiel, zu erschrocken, um einen Laut von mir zu geben, wurde ich gepackt und von der Aschebahn gezerrt. Der Rasen musste frisch gemäht worden sein, denn in regelmäßigen Abständen türmten sich Grashaufen am Rand der Bahn. In einen davon wurde ich gestoßen, mit dem Gesicht voran. Ich bekam Gras in die Augen, in die Nase und in den Mund. Jemand presste meinen Kopf nach unten und flüsterte mir ins Ohr: »Na, wie redet es sich jetzt, Petze?«
Sie ließen mich da liegen. Schluchzend und spuckend wünschte ich ihnen Pest und Cholera an den Hals. Nachdem ich mich endlich aufgerappelt und es bis zur Ziellinie geschafft hatte, schnauzte mich Mr McGee auch noch an, weil ich so lange gebraucht hatte – er bemerkte dabei anscheinend weder die Grasflecken auf meinem Sportzeug noch die Halme in meinen Haaren oder die grünen Tränenspuren auf meinen dreckverschmierten Wangen –, und schickte mich dann in die Schlangengrube, die Umkleide. Dort angekommen, ignorierten Amber und ihr Hofstaat mich komplett, was ich in dem Moment als sehr gnädig empfand. Aber ebenso wenig beachteten mich die anderen Mädchen, die sich wahrscheinlich alle selbst für gute Menschen hielten und die sich gegenseitig in den Arm nahmen, wenn eine von ihnen weinte. Und das war die reinste Folter.
Dieser Vorfall muss das Fass zum Überlaufen gebracht haben. Ich entwickelte Wut. Echte Wut. So heftig, dass man sie wahrscheinlich schon als Raserei beschreiben könnte. Lodernder Zorn, der sich ausbreitet und das Feuer schürt. Ich war sauer, weil man mich in einen Grashaufen geschubst hatte, ja. Aber nicht nur. Dieser Zorn speiste sich aus der riesengroßen Ungerechtigkeit des Ganzen. Es war einfach nicht fair. Es war nicht richtig. Joe hatte etwas Falsches getan. Nichts Fragwürdiges oder Grenzwertiges, nein, etwas Grundfalsches. Jemandes Arbeit oder Kunstwerk zu zerstören, ist ein Vergehen, und jemanden körperlich anzugreifen, ebenso. Trotzdem wurde er von meinem kompletten Umfeld geschützt. Und in den Augen der anderen war ich diejenige, die etwas falsch gemacht hatte, schlicht und ergreifend, weil ich aufgezeigt hatte, dass er im Unrecht war. Ich war diejenige, die wirklich bestraft wurde. Er wurde durch den Vorfall zum noch größeren Helden, ich zur noch größeren Außenseiterin. Es war vollkommen absurd.
In der Schule ist Coolness eine Währung. Und offenbar ist es cool, Scheißkerle mit ihrem Scheiß durchkommen zu lassen und sie sogar noch dafür zu feiern.
Wer glaubt, dass Gerechtigkeit siegt, war wohl nie auf einer weiterführenden Schule.
Fünf Jahre lang habe ich solche Aktionen mitgemacht. Fünf endlose, schreckliche Jahre, in denen ignoriert zu werden noch das Beste war, was mir passieren konnte. Und dabei hatte ich nichts Schlimmes getan, nicht mal irgendetwas besonders Peinliches. Ich hatte bloß Pech.
Jedenfalls sagte ich mir das selbst, wenn ich versuchte, positiv zu denken, damals, als ich aufs Wirtschaftscollege kam und mir erlaubte zu hoffen. Es gab nichts Bestimmtes an mir, keinen grundlegenden Wesenszug, den meine Peiniger entdeckt hatten und abstoßend fanden. Es würde nicht den Rest meines Lebens so weitergehen. Ich war in der Lage, Freundschaften zu schließen, wie alle anderen. Die neue Schule war meine Chance, das endlich zu beweisen. Und wenn auch nur mir selbst. Ich würde Freunde haben und dann wäre alles besser. Das war nur die logische Konsequenz, dessen war ich mir hundertprozentig sicher.
Und das ist genau das Ding. Hatte ich damals auch nur den leisesten Verdacht, dass Freunde möglicherweise nicht die Lösung all meiner Probleme waren? Dass ich Freunde kennenlernen könnte, aber trotzdem alles schiefgehen würde? (Und ich meine: so richtig schief!) Nein. Ich hatte bloß diese bescheuerte Hoffnung.
Da war ich also, an meinem ersten Tag auf der neuen Schule, und hoffte, Freunde zu finden, die mein Leben besser machen würden.
Tja, gefunden habe ich sie. Und ich habe sogar geglaubt, alles wäre besser. Zumindest eine Weile.
Vancouver
Aber nichts war besser. Ganz offensichtlich.
Ich schaue aus dem winzigen Flugzeugfenster und versuche, den Boden zu sehen, der so weit unter mir ist, dass es wirkt, als würde ich ein Gemälde betrachten. Laut Karte gehört er zu Grönland. Einem kompletten Land voller Menschen mit eigenen Lebensgeschichten und Problemen. Wäre ich in Grönland geboren worden, hätte ich dann dieselben Schwierigkeiten gehabt? Oder ist alles bloß Zufall, die Leute, die einen umgeben, die Schule, auf die man geht, die Freunde, die man findet – oder eben nicht findet?
Über mir ertönt ein deutliches, aber freundliches Ping und das Anschnallzeichen leuchtet auf. Im gleichen Augenblick sackt das Flugzeug ab.
»Oh nein!« Der Frau im grünen Jumpsuit neben mir entfährt ein leiser Stoßseufzer.
Ich lehne den Kopf zurück und versuche, ein mulmiges Gefühl zu unterdrücken. Turbulenzen machen mir eigentlich nicht viel aus. Allerdings habe ich gerade mein altes Leben komplett hinter mir gelassen. Falls das jetzt ein Omen sein soll, was meine Zukunft betrifft, dann kein besonders gutes. Mein Magen schlingert zeitgleich mit dem Flugzeug. Aber ganz ehrlich? Ich nehme es tausendmal lieber mit diesen physischen Turbulenzen auf als mit denen, die mich im Leben bisher sonst durchgeschüttelt haben. Zumindest weiß ich, dass diese Holpertour in fast zehntausend Metern Höhe zeitlich begrenzt ist.
Meine Sitznachbarin ist da offenbar vollkommen anderer Ansicht. Sie hält die Augen geschlossen und umklammert die Armlehnen. Ab und an entweicht ihr ein Wimmern durch die fest zusammengebissenen Zähne. Ich beobachte sie einen Moment und überlege, ob ich etwas sagen soll, um sie zu beruhigen.
»Es ist alles in Ordnung.«
Sie antwortet, ohne sich zu mir umzudrehen, als fürchtete sie, eine unbedachte Bewegung von ihr könnte den Flieger zum Absturz bringen. »Wie bitte?«
»Es ist alles in Ordnung«, wiederhole ich. »Passen Sie auf, ich zeig’s Ihnen.« Ich stelle mein Wasserglas rüber auf ihren Tisch. »Schauen Sie mal. Die Oberfläche bewegt sich kaum.«
Sie runzelt die Stirn, ihr Blick huscht zum Glas.
»Sich auf etwas anderes zu konzentrieren, kann helfen, wenn man Angst hat«, erkläre ich. Das Flugzeug wackelt und ich deute aufs Wasser. »Sehen Sie? Es schwappt nicht mal über den Rand.«
Jetzt dreht sie den Kopf und sieht mich an. »Du bist ganz schön tapfer.«
»Nicht wirklich. Aber Turbulenzen sind nicht gefährlich. Sie fühlen sich nur so an.«
Das nächste Ruckeln schüttelt uns durch bis ins Mark. Die Frau schreit leise auf, dann schließt sie die Augen erneut und atmet tief ein. »Was macht das für einen Unterschied?«
Keine Ahnung, ob sie eine echte Antwort hören will, weil ja ziemlich klar ist, wo hier der Unterschied liegt. Deshalb frage ich stattdessen: »Warum fliegen Sie nach Kanada?«
»Ich wohne dort.« Sie hält die Lider weiter geschlossen.
»Oh, cool! Sind Sie Kanadierin?«
»Ja. Wobei, nein.« Sie öffnet die Augen. »Eigentlich bin ich US-Amerikanerin, aber ich lebe jetzt seit fast zwanzig Jahren drüben. Kanada war wirklich gut zu mir.«
So als spontane Kurzbeschreibung eines Landes, in das ich vor meinem alten Leben flüchte, klingt das doch echt nett. Ich merke es mir für später und stelle mir vor, wie ich das in Zukunft mal zu jemandem sage: Ich bin nach Kanada geflogen und das Land war wirklich gut zu mir.
»Was ist mit dir?«, fragt sie nun zurück, laut, so als wollte sie sich davon ablenken, was ihr sonst so alles durch den Kopf schießt. »Was erwartet dich in Kanada?«
»Das weiß ich noch nicht. Aber ich werde es herausfinden.«
Sie wirft mir einen überraschten Blick zu. »Wie meinst du das?«
»Ich habe keinen festen Plan. Das wird … eine Art Abenteuer.«
»In Kanada?«
»Ja.«
Kurze Stille. »Warum?«
»Ich …« Wie erkläre ich das? »Ich musste einfach raus. Aus meinem Leben. Woanders hin. Und Kanada kam mir vor wie … ein guter Ort dafür. Ergibt das Sinn?«
»Nicht so richtig. Aber irgendwie … vielleicht doch.« Mit einem erneuten Ping erlöschen die Anschnallleuchten über uns. Sichtlich erleichtert atmet sie auf. Schließt für einen Moment wieder die Augen, öffnet sie und lächelt. »O Gott, ich hasse Fliegen.«
»Mein Vater sagt, auf normaler Flughöhe ist ein Flugzeug der sicherste Ort, an dem man sich befinden kann.«
»Echt?« Sie sieht mich hoffnungsvoll an. »Stimmt das? Ist dein Vater Pilot?«
»Nein, er arbeitet bei einer Bank.«
Spontan bricht sie in Gelächter aus. »Tja, das überzeugt mich. Warum musstest du raus aus deinem Leben?«
»Lange Geschichte«, antworte ich. Ist es eigentlich gar nicht. Aber ich werde jetzt nicht versuchen, ihr das zu erklären. Ich weiß nicht mal, ob ich es könnte.
»Du bist aber keine Ausreißerin, oder?« Sie beäugt mich misstrauisch, womöglich auch besorgt.
»Nein.« Oder vielleicht doch? Ist man automatisch eine Ausreißerin, wenn man vor dem eigenen Leben davonrennt? Wahrscheinlich. »Es ist ein bisschen komplizierter.«
Ist ja nicht so, als wäre ich von jetzt auf gleich abgehauen. Ich habe mir noch beinahe einen kompletten Tag Zeit gelassen, nachdem ich beschlossen hatte, dass ich wegmuss. Währenddessen habe ich ein paar Nachforschungen angestellt, meine Reisedokumente zusammengesucht, meine elektronische Reiseerlaubnis beantragt (die zum Glück recht schnell bewilligt wurde) und mir ein Hostel in Vancouver gebucht. Das klingt nicht nach Kurzschlussentscheidung, oder? Fast vierundzwanzig Stunden, in denen ich mir die Sache hätte anders überlegen können. Aber das habe ich nicht.
Heute Morgen bin ich ganz normal zur Schule gegangen. Ich habe meine Ankunft absichtlich so getimt, dass der Unterricht längst begonnen hatte, damit ich nicht aus Versehen jemandem über den Weg lief, den ich nicht sehen wollte. Ich ging zum Büro des Oberstufenkoordinators und erklärte ihm, dass ich das College schmeißen würde. Er meinte, dass er darüber mit meinen Eltern sprechen müsste und dass sie mir Zeit geben würden, um meinen Entschluss zu überdenken, dass ich nichts überstürzen solle. Wir könnten uns ja alle nächste Woche noch mal zusammensetzen. Ich nickte bloß.
»Und warum brichst du ab?«, wollte Mr Kirby wissen.
»Das ist einfach nicht das Leben, das ich führen möchte.«
Die ganze Zeit über fragte ich mich nervös, ob Dad wohl eine Benachrichtigung darüber kriegen würde, dass ich mein Flugticket mit seiner Kreditkarte bezahlt hatte. Aber zum Glück für mich passierte nichts. Ich ging nach Hause, packte mein Skizzenbuch und meine kanadatauglichsten Reiseklamotten – Latzhose, Langarmshirts und einen Hoodie – in einen Reiserucksack und verließ das leere Haus so betont lässig, als würde ich nur schnell zum Supermarkt huschen und dabei zufällig meinen dicken Wintermantel über dem Arm tragen.
Um ehrlich zu sein, habe ich eigentlich nicht daran geglaubt, dass wirklich alles klappen und ich es tatsächlich ins Flugzeug und hoch in die Luft schaffen würde, ohne dass mich jemand aufhält.
Aber hier sitze ich nun. Und versuche, mir einen Reim auf alles zu machen. Wie ich hier gelandet bin, was genau meine Fehler waren. Bisher bin ich zu folgendem Schluss gekommen: Vielleicht war ich all die Jahre viel zu sehr auf andere Menschen fixiert. Ich dachte, das wäre der richtige Weg. Aber wir sehen ja, wohin er mich geführt hat. Nachdem ich meine gesamte Energie darauf verwendet habe, Freundschaften zu schließen, stehe ich am Ende komplett mit leeren Händen da. Sogar schlimmer als vorher, denn jetzt weiß ich, dass man ohne Freunde besser dran ist als mit schlechten. Und wer bitte will eine solche Lektion lernen? Ständig bin ich anderen Leuten hinterhergerannt, um mich selbst zu finden. Vielleicht muss ich einfach mal … na ja, ich sein. Herausfinden, wer ich eigentlich bin, ohne mir am laufenden Band Sorgen zu machen, ob das genug ist.
Und genau das werde ich in Kanada tun. Ich werde nicht einsam sein, sondern unabhängig. Ich werde einmal quer durchs Land reisen, auf eigene Faust, von einem Ende zum anderen. Es wird unglaublich. Und es wird mein Leben verändern.
Und wenn ich zurückkomme … hm, wer weiß, womöglich komme ich gar nicht zurück. Vielleicht werde ich zur Nomadin. Nur ich, ein Paar Wanderstiefel, mein Rucksack und mein Skizzenbuch. Ich werde einer von diesen Life Coaches, die superinspirierende Vorträge darüber halten, welche Kraft und welches Potenzial im Alleinsein liegen.
Das ist meine Chance, jemand anderes zu werden. Wie damals, als ich aufs College kam, nur besser. In einem völlig anderen Land kann ich zu einer völlig anderen Person werden. Wobei … nein, ich möchte nicht einfach irgendjemand anderes werden. Ich will versuchen, Peyton zu sein. Die richtige Peyton, die ich nie sein konnte. Was habe ich zu verlieren? Nichts. Es ist eh längst alles verloren.
Wenn man bedenkt, was alles schiefgehen könnte, bin ich erstaunlich ruhig, als wir die Passkontrolle erreichen. Bestimmt liegt es daran, dass ich schon alle möglichen Szenarien im Kopf durchgespielt habe. Im schlimmsten Fall setzen sie mich ins nächste Flugzeug nach Hause. Sollte es dazu kommen, wäre ich zwar mehr als enttäuscht und ziemlich am Boden, aber es wäre kein absoluter Weltuntergang. Auch wenn ich mich dann früher als erhofft den Konsequenzen meines Handelns stellen müsste, hätte ich das Ganze trotzdem durchgezogen. Außerdem würden meine Eltern mir dann vielleicht endlich zuhören und einsehen, dass es so nicht weitergeht.
Ich antworte dem Mann am Schalter also auf seine Frage, warum ich nach Kanada gekommen bin, mit der dreisten Lüge, die ich mir vorher zurechtgelegt habe, und erkläre ihm, dass mein über alles geliebter Großvater, der in Edmonton, Alberta, lebt, operiert wird und ich hergeflogen bin, um für ihn da zu sein. Diesen Großvater gibt es tatsächlich und er lebt auch in Alberta. Was das »über alles geliebt« angeht … nun ja. Dazu kann ich nur sagen: Ich habe diesen Mann in meinem ganzen Leben noch nie getroffen. Nach allem, was ich weiß, könnte das mit der OP sogar stimmen. Ich fühle mich dennoch kein bisschen schuldig, dass ich seine Existenz als Ausrede benutze; geschieht ihm ganz recht. Immerhin hat er meine Grandma, die ich wirklich über alles liebe, damals mit meinem Vater sitzen lassen. Im Moment kommt mir seine kanadische Staatsbürgerschaft zudem einfach sehr gelegen, für alle eventuellen Schwachstellen in meinem Plan. Warum sind Sie nach Vancouver geflogen, wenn er doch in Alberta wohnt? »Wir werden ein paar Tage in Vancouver verbringen, weil ich noch nie dort war. Und dann wollen wir mit dem Auto bis zu ihm nach Hause fahren, so als eine Art Roadtrip.« Was ist mit der Operation? »Der Termin ist erst nächste Woche. Und seine Fahrtüchtigkeit ist nicht eingeschränkt.« Ich habe auf alles eine Antwort, was mir normalerweise gar nicht ähnlich sieht. Ich mache sogar Witze über Ahornsirup und entschuldige mich gleich darauf, weil der Grenzbeamte – Barry – die sicher schon hundertmal gehört haben muss. Er verdreht die Augen und schüttelt den Kopf, aber während er den Stempel in meinen Pass drückt, umspielt ein kleines Lächeln seinen Mund. Und auf meinem Gesicht breitet sich ein großes aus.
Auch wenn ich Barry erzählt habe, Grandad würde mich am Flughafen abholen, wartet in der Ankunftshalle natürlich niemand auf mich. Trotzdem kann ich nicht anders: Wie die meisten Ankommenden verrenke ich mir den Hals und mustere alle Menschen hinter dem Ausgang genau, als würde mich überraschend doch jemand in Empfang nehmen.
In meinem Fall ist dem zum Glück nicht so. Ich habe es geschafft. Ich bin in Kanada! Ich suche mir eine Stuhlreihe im Wartebereich vor einem Info-Schalter, setze mich und atme tief durch. Wahrscheinlich ist jetzt ein guter Zeitpunkt für eine kleine Bestandsaufnahme. Es ist kurz nach 20 Uhr hier, was bedeutet … wie spät ist es zu Hause? Ich schaue hoch und bemerke eine Anzeigetafel mit Uhrzeiten auf der ganzen Welt. London, 04:09. Ich habe meinen Eltern zwar versprochen, sie sofort anzurufen, sobald ich gelandet bin, aber bestimmt schlafen sie gerade. Ich wähle mich ins Flughafen-WLAN ein und sehe zu, wie mein Handydisplay von Nachrichten überschwemmt wird.
Meine Eltern haben beide jeweils auf meine E-Mail geantwortet und mir außerdem WhatsApp-Nachrichten geschickt, die im Grunde dasselbe meinen:
Dad:
WIE BITTE???
Mum:
PEYTON!!!
Die Texte danach sind schon etwas aussagekräftiger. Ich kann quasi in Echtzeit nachverfolgen, wie meine Eltern begreifen, dass ich wirklich im Flugzeug sitze und dass es bereits abgehoben hat. Sie schreiben mir, ich solle auf der Stelle heimkommen. Sie erinnern mich daran, dass ich erst siebzehn bin, dass ich zur Schule muss, dass ich nicht einfach so abhauen kann. Ich scrolle durch die Nachrichten, die mich vermutlich nervös machen sollten, aber ich bin merkwürdig ruhig. Allmählich ebbt die Textflut ab. Die letzte Aufforderung lautet, sie anzurufen, und zwar SOBALD DU DURCH DEN SICHERHEITSCHECK DURCH BIST, VÖLLIG EGAL, WIE SPÄT ES DANN IST!, denn sie würden WACH BLEIBEN UND DARAUF WARTEN. Außerdem wollten sie meinen Flug online nachverfolgen, sodass sie GENAUESTENS informiert wären, wann die Maschine landet, und sollte ich mich nicht SOFORT MELDEN, würden sie DIE MOUNTIES AUF mich ANSETZEN!
Mounties? Ich schaue das Wort nach. Kanadische Polizisten. Ich verdrehe die Augen und entspanne mich ein bisschen. Denn ich weiß jetzt, dass – einmal abgesehen von den ganzen Großbuchstaben und Ausrufezeichen – alles in Ordnung ist. Sie haben nicht das getan, was ich befürchtet hatte, nämlich die Flughafenpolizei zu informieren und sie anzuweisen, mich in den nächstbesten Flug zurück nach England zu stecken. Ich habe also wirklich eine Chance. Irgendetwas in ihnen hat – wenn auch nur unterbewusst – beschlossen, mir diese Chance zu geben.
Ich hole tief Luft und rufe an.
»Peyton!« Nach gefühlt nicht mal einem Klingeln geht Mum atemlos ans Telefon.
»Hi.«
»Du …«, setzt sie an, dann hält sie inne. »Wir … ich kann nicht fassen, dass du –«
»Es tut mir leid.«
»Wie konntest du uns das antun? Und warum?«
»Das habe ich doch erklärt. In der E-Mail.«
»Aber du kannst nicht einfach sang- und klanglos verschwinden, Peyton. Ich weiß, du denkst wahrscheinlich anders darüber, aber das geht so nicht. Du musst nach Hause kommen. Was ist mit deinem Unterricht?«
»Ich habe die Schule abgebrochen«, erwidere ich.
»Du hast was?« Sie hört sich an, als wäre sie kurz vor einer Ohnmacht.
»Ich gehe nicht mehr hin«, bekräftige ich.
»Du kannst nicht einfach alles hinschmeißen, Peyton. Du musst zur Schule gehen, das ist gesetzlich vorgeschrieben.«
»Nicht, wenn ich einen Job oder einen Ausbildungsplatz habe. Und ich habe Mr Kirby erzählt, ich hätte einen Job.«
»Peyton!« Jetzt klingt sie verzweifelt und schrill. »Du kannst nicht … Das ist keine …« Sie stockt und ich lausche einer gedämpften Diskussion durch die Leitung. Protest, etwas, das sich anhört wie ein lang gezogener Seufzer, und dann ist mein Dad am Hörer. Seine Stimme ist so scharf, dass sie mich fast durchs Telefon hindurch schneidet.
»Peyton«, bellt er. »Das ist vollkommen lächerlich. Du kannst deine Ausbildung nicht abbrechen. Das steht nicht zur Debatte.«
»Zu spät, ich habe sie bereits abgebrochen.« Früher hätte mich Dads Tonfall in Panik versetzt, aber im Augenblick bin ich gefasst. Was soll er denn vom anderen Ende der Welt aus unternehmen?
»Es ist überhaupt nicht zu spät. Ich werde in der Schule anrufen und die Sache regeln.«
»Das kannst du ruhig tun«, sage ich. »Aber ich komme trotzdem nicht nach Hause. Und dann hast du dir umsonst nur noch mehr Stress damit gemacht. Außerdem werden die Eltern für den Verstoß gegen die Schulpflicht belangt, nicht die Kinder. Falls du dir also ein Bußgeld einfangen willst, wenn du mich wieder anmeldest und ich nicht komme, nur zu. Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
»Peyton!«
»Ich bin siebzehn. Und die Ausbildung auf dem Wirtschaftscollege ist nicht das, was ich will. Ich bin so unglücklich. So scheißeunglücklich.« Ich merke, wie meine Stimme bricht, spüre die Tränen in mir aufsteigen. »Und ihr wusstet das, jahrelang, und habt nichts unternommen. Stattdessen habt ihr mich gezwungen, auf diese Schule zu gehen, obwohl völlig klar war, dass das nichts für mich ist. Wirtschaftsrecht interessiert mich einfach nicht. Ich will Illustratorin werden!«
»Also darum geht es hier?« In seinen Ton mischen sich Ungläubigkeit und Gereiztheit. »Wir haben dich nie davon abgehalten zu zeichnen. Du malst ständig. Du probst hier diesen lächerlichen – und gefährlichen – Aufstand, nur weil wir dir geholfen haben, die richtige Entscheidung für deine Zukunft zu treffen?«
»Nein, Dad!« Auch ich werde jetzt lauter, übermannt von meinen Gefühlen, so wie er. »Ich mache das, weil ich muss. Wo warst du die letzten sechs Jahre? Siehst du nicht, was los ist? Ich habe keine Freunde. Niemanden. Ich bin ein Niemand. Und ich will kein Niemand sein, Daddy.« Das »Daddy« rutscht mir so raus und verrät mich. Aber er soll wissen, wie ich mich fühle, wie mein Leben aussieht. Es steht so viel auf dem Spiel.
Leise sagt er: »Du bist kein Niemand.«
»So fühlt es sich aber an.«
»Peyton. Wenn das eine Art Zusammenbruch ist, dann –«
»Ist es nicht.« (Oder? Vielleicht ja doch.) »Es ist einfach das, was ich gerade tun muss.«
»Ganz abgesehen davon«, fährt er fort, als wäre ein Zusammenbruch etwas, wovon man mal eben absehen könnte, »kannst du nicht so mir nichts, dir nichts wegfliegen. Wir müssen wissen, wo du bist.«