Mit uns wäre es anders gewesen

Es war auf einem langen Flur an der Sorbonne in Paris, ein Blickwechsel. Sie standen ganz einfach da, in derselben Warteschlange vor dem Sekretariat. Zwei Menschen, die Small Talk betreiben, wie es tausendfach im Leben geschieht.

 

Sie trug dunkle Kleidung, einen Pony und hinter einer Brille schwarzen Kajal, hatte ihre Jugend hinter sich und kam die Treppe ins Obergeschoss hinauf, das sie zusammen mit ihrer besten Freundin Clara betrat, diese in Rot und Schwarz gekleidet und halb verdeckt von einem zu großen Hut, sowie drei weiteren Freunden, allesamt Studenten an der Sorbonne. Sie teilten dieselben Ansichten und ein großes Apartment mit anderen Mitbewohnern, darunter ein junger Mann, der eine undefinierbare Sprache sprach, Griechisch, Kroatisch oder Schweizerdeutsch, und seit Monaten bei ihnen wohnte, ohne dass jemand wusste, woher er kam oder was er hier tat. Mitten im Quartier Latin, in einer Art besetztem Haus, wo sie Partys feierten, auf denen es Alkohol in Maßen gab und wo abends die Reste vom Hühnchen und leere Flaschen herumlagen. Die fünf hatten sich bei gemeinsamen Aktionen für SOS-Rassismus

Er kam aus Saint-Germain und schrieb sich für das dritte Studienjahr in BWL ein. Mit der Strickjacke über dem weißen Hemd, seiner Nickelbrille und dem lockigen Haar wirkte er halb dandyhaft, halb pariserisch. Er war höflich, zurückhaltend und Sozialist, weswegen er sich riesig gefreut hatte über die Wahl Mitterands. Neben ihm stand sein Freund Charles: Er stammte aus Korsika, blickte mit gekrauster Stirn finster drein, nur sein Lächeln wirkte spitzbübisch. Sie hatten sich an der Uni kennengelernt und kämpften gemeinsam gegen Rechtsextremismus.

 

Nach der Einschreibung ging das Studentengrüppchen in ein Café auf der Place de la Sorbonne, wo sie sich weiter über alles Mögliche unterhielten, darüber, was sie im Moment taten und was sie im Leben noch erreichen wollten. Schließlich stellten sie sich einander vor. Sie hieß Amélie, er Vincent. Sie stammte aus der Normandie, studierte Literaturwissenschaft und wollte Lehrerin werden. Sie war dunkelhaarig und hatte Schatten unter den Augen, die offen schienen für die ganze Welt, als entdeckten sie erstaunt ihre Farbe, ein schmaler, schlanker Körper, schüchternes Lächeln, fast noch ein Kind, gerade erst Frau. Sie fragte sich, ob er ihr wohl seine Telefonnummer geben würde, ob er Lust hätte, sie anzurufen, ob sie ihm genauso gut gefiel wie er ihr. Ob sie es ihm zeigen, lieber verbergen

 

Später liefen sie durch Paris wie Touristen. Sie gingen über die Brücke auf die Île Saint-Louis, bewunderten die Seine im Sonnenuntergang, setzten sich ans Ufer und erzählten sich von ihrem Leben. Vincent war beeindruckt. Von ihrer Erscheinung – wie sie da zwischen den anderen vor ihm saß, so anders, schüchtern und aufregend. Ihr Gesicht wirkte unschuldig und verschmitzt zugleich. Er sagte sich, dass er einem Menschen begegnet war, der interessant, tiefgründig und gebildet war, der ihn zu verstehen schien, mit dem er reden könnte. Sie war reizend und sonderbar, wirkte ein wenig traurig, wie verloren in der Stadt. War es möglich, dass sie sich für jemanden wie ihn interessierte? Sie schien unnahbar. Und doch saß sie hier, direkt neben ihm, und sie redeten miteinander.

Sie, die stets dunkle Kleidung trug und sich nicht

Sie war nach strengen provinziellen Regeln erzogen worden, hatte ein geordnetes Leben geführt. Ihr Vater, ein Schuldirektor, ließ sie niemals ausgehen. In ihrer Jugend durfte sie nicht in Bars oder auf Partys – die ihre Eltern »Superpartys« nannten, ein Wort aus den wilden Sechzigern, die sie doch gar nicht wirklich kannten –, und

An jenem Abend schien die Sonne über der schon sommerlich trägen Stadt. Die Leute schlenderten am Ufer der Seine und an den Cafés entlang. Alte, Junge, Kinder, Frauen, Männer, Verliebte. Auf den Bänken Pärchen. Straßen, die ins Marais führten, wo in einem fröhlichen Stimmengewirr direkt aus den Bäckereien und Restaurants heraus Falafel und Schawarma verkauft wurden.

Als die anderen beschlossen, nach Hause zu gehen, schlug er ihr vor, noch irgendwo einen Kaffee zu trinken. Warum nicht. Sie hatten Zeit. Sie unterhielten sich lange auf der Brücke, gingen ein Stück, blieben bei einem Bouquinisten stehen an einem Stand am Ufer der Seine. Dort fand man für wenig Geld Liebesromane, Thriller, Unterhaltungsliteratur, Kitschromane, dicke Schmöker, spannende, neue und alte Bücher, Science-Fiction, Schulbücher, Essays, Psychologie- und Philosophiebücher, Geschichtsbücher und Bücher mit Geschichten und sogar Gedichtbände.

Es war die Zeit, als die Leute noch lasen, in der U-Bahn, auf der Straße, am Strand und im Bett, in der Badewanne

Sie blieben eine Weile stehen, zählten sich ihre Lieblingsbücher auf und fragten sich gegenseitig, ob der andere den und den Autor kenne. Sie hatten Glück und wurden fündig und schenkten sich eine Erstausgabe von Die Schöne des Herrn (sie ihm) und Rilkes Briefe an einen jungen Dichter (er ihr). Die Schöne des Herrn wegen

Es war längst tiefste Nacht, und mit jedem weiteren Glas oder Kaffee vertrauten sie sich ein paar mehr Geheimnisse an. Dass sein Vater ihn früher geschlagen hatte, bis er so groß war, dass er ihn um einen Kopf überragte und ihm zurückdrohte. Dass sich ihre Eltern ständig und so heftig stritten, dass sie sich mit Tellern bewarfen, anstatt sich endlich zu trennen. Dass sie beide mit dem einzigen Ziel großgezogen worden waren, ihren Eltern Freude zu bereiten, solange sie sich dem Gesetz des Vaters unterwarfen. Doch sie wollte nur eins: frei und unabhängig sein. Er hingegen hatte sich gefügt, da sein Vater ihn finanziell unterstützte, damit er neben dem Studium nicht arbeiten

»Kümmerst du dich viel um ihn?«, fragte sie.

»Ich besuche ihn jeden Tag im Krankenhaus. Es ist heftig, ziemlich hart.«

»Worüber redet ihr?«

»Er erzählt mir von seinem Leben. Seinem geheimen Leben, von dem meine Eltern nichts wissen. Er sagt mir alles. Er spricht über Dinge, über die wir vor seiner Krankheit nie gesprochen haben. Ich war ihm noch nie so nah, und in gewissem Sinne wird mir klar, dass ich ihn früher gar nicht gekannt habe.«

»Das ist bestimmt nicht leicht.«

»Ich helfe ihm, so gut es geht.«

»Hast du noch andere Geschwister?«

»Nein. Wir sind zu zweit.«

»Dann hat er also nur dich?«

»Er hat viele Freunde, die zum Glück oft da sind. Und du?«

»Wir sind drei. Ich bin die Mittlere.«

»Schwierige Position.«

»Allerdings, ich konnte nie richtig meinen Platz finden. Ich habe das Gefühl, überflüssig zu sein. Das hässliche kleine Entlein. Meint jedenfalls meine Mutter.«

»Was sagt sie?«

»Du bist schön.«

»Findest du?«

»Ja«, sagte er und sah ihr in die Augen.

Die Hände auf dem mahagonibraunen Tisch, saßen sie auf einer roten Sitzbank und blickten sich an, um sie herum ein funkelndes Jugendstil-Dekor, leuchtende Farben, karmesinrote Lampenschirme und ein Glasdach aus der Belle Époque. Hinter den großen, von Vorhängen gesäumten Scheiben war der Boulevard menschenleer. Kurz schwiegen sie. In diesem Augenblick hätte er nach ihrer Hand greifen können, nur nach der Hand, hätte ihr Gesicht in seine Hände nehmen und sie küssen oder ihr einfach nur über die Wange streichen und abwarten können. Sie hätte ihn anlächeln, ihm weiter in die Augen sehen sollen, anstatt schamhaft den Blick zu senken. Kurz kam ihr der Gedanke, aufzustehen und sich neben ihn zu setzen. Er hätte sie ganz einfach in den Arm genommen, und sie hätte den Kopf an seinem Hals vergraben. Oder sie hätten sich geküsst, und alles wäre anders gekommen, ein einziger Satz, ein Wort nur hätte genügt, jenes Wort: ja. Doch sie schwiegen weiter, ob nun absichtlich oder nicht, aus Feingefühl oder Angst, aus Stolz oder aufgrund von Vorurteilen, aus Leichtfertigkeit oder weil sie wussten, dass eine Geste, eine schlichte Geste unumkehrbar wäre. Sie schwiegen, bis schließlich doch irgendwann etwas gesagt werden musste.

»Was würdest du tun, wenn du die Wahl hättest?«, fragte sie.

»Klavier spielen.«

»Mein Vater will nicht. In einem Orchester gibt es immer nur ein Klavier, das führt zu nichts.«

»Spielst du gut?«

»Ich war auf dem Konservatorium bei uns im Viertel, in Montmartre.«

»Dann hättest du also weitermachen und Musik studieren können?«

»Vielleicht, ja. Allerdings nicht nach Meinung meines Vaters.«

»Du scheinst ziemliche Angst vor ihm zu haben.«

»Früher, ja … Jetzt nicht mehr. Und du … Was macht dir Angst?«

»Das Jahr 2000. Dir etwa nicht?«

»Warum sollte mir das Angst machen? Ist doch nichts Besonderes.«

»Es ist das Ende des Jahrtausends. Mich beunruhigt das schon. Niemand weiß, was uns erwartet. Ich habe das Gefühl, die alte Welt geht unter.«

»Umso besser«, sagte er. »Ich mag Veränderungen. Es ist aufregend, nicht zu wissen, was kommt.«

»Als ich noch in Bernay gewohnt habe, konnte ich es kaum erwarten, endlich in Paris zu sein.«

»Magst du Paris?«

»Ich liebe es. Hier kann ich endlich aufatmen. In Bernay bin ich erstickt. Ich kenne mich gut aus mit der Provinz. Bei SOS haben wir so ziemlich überall Kundgebungen und Demos organisiert.«

»Ich war bei der Demo, bei der sie Malik Oussekine ermordet haben.«

»Ich bin in der Sozialistischen Partei.«

»Warum?«

»Warum nicht? In einem seiner Bücher schreibt François Mitterrand, im Leben ist es wie beim Judo. Zuerst bist du unten, doch dann machst du einen kurzen Dreher und bist plötzlich oben. So funktioniert Politik.«

»Aber das Leben ist nicht so.«

»Nein? Wie ist es dann?«

»Ich glaube, alles verändert sich ständig, ohne dass man es merkt. Wir werden mitgerissen, fortgeschwemmt und letztlich beherrscht von dem, was uns umgibt. Unser Spielraum ist nur sehr begrenzt.«

»Warst du schon mal verliebt?«

»Ja, in meinen Französischlehrer! Ich hing an seinen Lippen. Wegen ihm wollte ich unbedingt Literatur studieren. Und du?«

»Ich habe eine Frau kennengelernt, älter als ich. Ich war sechzehn.«

»Wie alt ist sie?«

»Mittlerweile vierzig.«

»Das ist wirklich ein ziemlicher Unterschied. Habt ihr Schluss gemacht?«

»Wir wussten, dass unsere Geschichte nicht von Dauer sein würde.«

»War sie Pianistin?«

»Woher weißt du das?«

»Ist doch … logisch. Ihr hattet dieselbe Leidenschaft.«

»Allerdings … Schon seltsam, ich kenne dich nicht,

»Und du hast sie wegen ihm verlassen?«

»Ja. Für sie war es auch ein gefährliches Spiel.«

»War sie verheiratet?«

»Ja. Sie hat Kinder.«

»Dann ist es wirklich eine Liebesgeschichte.«

»Glaubst du dran?«

»Klar glaube ich dran.«

»An die große Liebe?«

»Auch. Und du?«

»Keine Ahnung. Wie alt bist du?«