Die Ereignisse und Figuren dieses Romans sind fiktiv, doch die geschilderten Serienmorde beruhen auf einer Reihe entsetzlicher Verbrechen, die im Sommer 1979 ihren Anfang nahm, als in Atlanta die Leichen des vierzehnjährigen Edward Smith und des dreizehnjährigen Alfred Adams gefunden wurden. Danach begann die offizielle Untersuchung der sogenannten »Kindermorde von Atlanta«. Im Verlauf der folgenden zwei Jahre wurden mindestens zwanzig weitere afroamerikanische Kinder ermordet. (Es gab in diesem Zeitraum noch mehr Kindstötungen in Atlanta, doch sah man »keinen Zusammenhang« mit den anderen Morden, obwohl viele Opfer die gleichen demografischen Merkmale aufwiesen wie die »offiziellen« Opfer.)
Am 1. Juni 1981 wurde Wayne Williams, ein dreiundzwanzigjähriger Afroamerikaner, des Mordes an zwei Erwachsenen, Jimmy Ray Payne (21) und Nathaniel Cater (27), angeklagt. Obwohl er offiziell nur dieser beiden Verbrechen beschuldigt war, wurde die Anklage gemeinhin so verstanden, dass man ihn auch für den Täter der zweijährigen Mordserie hielt. Am 27. Februar 1982 wurde Williams beider Morde für schuldig befunden und zu einer Haftstrafe von zweimal lebenslänglich verurteilt. Im darauffolgenden Monat wurde die Sondereinheit »Kindermorde« offiziell aufgelöst. Alle Bemühungen, das Urteil gegen Wayne Williams anzufechten, wurden von den Gerichten zurückgewiesen. Viele der Einwohner Atlantas glauben, dass der Kindermörder noch immer auf freiem Fuß ist.
Für den Roman habe ich die Chronologie leicht verändert.
Neunundzwanzig und mehr
1979 goss es drei Monate ohne Unterlass, ein kräftiger, hässlicher, die Sommerferien verderbender Regen. Das Wasser, das auf Atlanta niederrauschte, spülte die ordentlich mit Kreide hingemalten Himmel-und-Hölle-Felder vom Asphalt und raubte den in Gärten vergessenen Tennisbällen die Sprungkraft. An den wenigen regenfreien Tagen flitzten die Kinder nach draußen und spielten unter tief hängenden grauen Wolken Ochs am Berg. Die rote Erde Georgias heftete sich an preiswerte Leinenturnschuhe, und die Kinder trugen sie in Wohnzimmer mit hellen Teppichböden. Mütter versohlten schmale Hintern mit Ledergürteln, ehe sie mit feuchten Lappen die verschmutzten Böden abtupften und sich Sorgen machten über die Kosten einer Teppichreinigung oder den Verlust der Kaution. Wenn es regnete, waren Donnergrollen und gezackte lila Blitze die Begleitmusik. Sich langweilende Kinder wurden angehalten stillzusitzen. Sei ruhig. Gott spricht. Die Kinder lauschten, wie das Wasser gegen die Scheiben klatschte, und dachten, dass Gottes Botschaft wohl nichts war, was sie verstehen sollten.
Doch am ersten Schultag mussten die Schülerinnen und Schüler der Oglethorpe Elementary School nicht in gelben Gummijacken schwitzen oder Regenschirme tragen. Die Morgensonne zwinkerte ihnen zu, als sie mit leuchtend bunten Schultaschen und Brotdosen über rissige Gehwegplatten stapften. Das ungewohnte Licht verwandelte die Plastikhaarspangen der Mädchen in Prismen, die Regenbogen auf ihre Wangen warfen. Alle wünschten, die Sonne wäre am Tag zuvor herausgekommen, weil sie dann dem Eismann hätten nachjagen können. Aber das behielten sie für sich.
Vielleicht sagte jemand leise, aber hörbar: Warum kommt die Sonne ausgerechnet raus, wenn wir zur Schule müssen? Und vielleicht hörte Gott das. Denn selbst wenn Fünftklässler Gottes Sprache nicht verstehen konnten, bezweifelte niemand, dass er ihre verstand.
Zur Mittagszeit war der Himmel wieder so grau wie am Vortag, aber die Fünftklässler gingen trotzdem raus. Eigentlich hatten sie sich darauf gefreut, in die Container umzuziehen, die kürzlich hinter dem alten Schulgebäude aufgestellt worden waren, und sich damit gegen die jüngeren Jahrgänge abzuschotten, aber die fensterlosen Metallräume hatten etwas Beklemmendes und Freudloses, trotz der fröhlichen Willkommensgrüße an den Pinnwänden. Die Kinder stürzten auf den feuchten Schulhof hinaus, wobei LaTasha Renee Baxter den Container als Letzte verließ, weil sie das schwere Springseil trug, das seit dem letzten Schultag im Juni aufgewickelt an seinem Platz gelegen hatte.
Seit LaTasha denken konnte, war Seilspringen die Bewährungsprobe für Mädchen, und genauso lang schon war sie darin beschämend unfähig. Jetzt war das fünfte Schuljahr angebrochen, das letzte Jahr der Grundschule; im nächsten Jahr würde sie zur Southwest Middle School gehen, die näher an ihrem Zuhause lag. Ihre Eltern hatten sich für die Oglethorpe Elementary School entschieden, weil ihre Mutter nicht weit davon arbeitete, was sich als praktisch erwies, als Tasha noch jünger war. Wenn nötig, konnte Mama in weniger als fünf Minuten in der Schule sein. Aber nun, da Tasha zu einer jungen Dame wurde, wollten Mama und Daddy sie lieber auf ihrer Seite der Stadt wissen statt direkt gegenüber von den Sozialwohnungen.
Weil dieses Schuljahr die letzte Gelegenheit bot, sich ihren Platz unter den Mädchen ihrer Klasse zu erobern, hatte Tasha fast die ganzen Ferien damit verbracht, an ihrer Seilspringtechnik zu arbeiten. Wegen des schlechten Wetters hatte sie im Keller geübt, wo sie das eine Ende des Seils an einem Holzstuhl festband und ihre achtjährige Schwester DeShaun dazu verdonnerte, es am anderen Ende zu packen und zu schwingen. Tasha hatte sich durch alle Springreime gearbeitet. Am besten klappte »Ice Cream«, und sie schaffte es fast bis ans Ende des Alphabets, bevor sie aus dem Tritt kam. Sie hatte allerdings schon beschlossen, absichtlich bei »P« auszusteigen, weil es in ihrer Klasse keinen Jungen gab, dessen Name mit diesem Buchstaben anfing.
Nachdem sie das Seil entwirrt hatte, hielt sie ein Ende in der Hand und wartete darauf, dass jemand anders sich das andere Ende schnappte, aber niemand griff zu.
»Wollt ihr gar nicht springen?«, fragte sie.
Eine kleine Traube von Mädchen in Kniestrümpfen zuckte synchron mit den Schultern und blickte zu Monica Fisher, der besten Seilspringerin, die Georgia je gesehen hatte. Sie war aus Chicago, wo die Mädchen über zwei Seile auf einmal sprangen und Reime riefen, die manchmal sogar Schimpfwörter enthielten.
»Nee«, sagte Monica. »Ich hab keine Zeit für den Babykram. Ihr bringt mich nur dazu, dass ich mir die Frisur verschwitze.« Sie strich sich über den geglätteten Pagenkopf, der mit einem breiten Haarband zurückgehalten wurde. Tasha bemerkte waagerechte Abdrücke, wo Lockenwickler geklemmt hatten.
Tasha ließ das Seil fallen, als wäre es heiß. Sie hatte sich für den ersten Schultag die Haare gewaschen, aber Mama hatte ihr die Tortur des Glätteisens erspart. Das Ganze traf sie unvorbereitet. »Schon in Ordnung«, sagte Tasha. »Ich wollte auch gar nicht springen. Aber was soll man denn sonst machen.«
»Hört nur, wie sie lügt«, sagte Forsythia Collier, Monicas beste Freundin. Forsythias Haar war ebenfalls geglättet, und ihre öligen eingedrehten Locken ringelten sich bis zu den Schultern. »Sie hat bestimmt den ganzen Sommer geübt.«
Monica lachte etwas lauter als angemessen und gackerte so lange weiter, bis die anderen Mädchen einstimmten.
Tasha beschloss mitzulachen. Hatte Mama ihr nicht erklärt, dass man auch über sich selbst lachen können muss? Außerdem wollte sie keinen Ärger mit Monica und Forsythia.
Dann fing es an zu regnen, und Tasha war erleichtert, obwohl sie genau wie alle anderen stöhnte, als sie wieder auf die Blechdose zurannten, die dieses Jahr ihr Klassenraum sein würde. Sie rief sogar: »Meine Haare!«, obwohl das Wetter ihren strammen Cornrows nichts anhaben konnte.
Im Container erhob sich das Regengeprassel auf dem Dach zusammen mit dem Wind zu einem gewaltigen Crescendo. »Los, wir spielen Jacks«, rief Tasha über das Getöse hinweg.
»Okay«, sagte Monica.
Tasha wandte den Kopf ab, um ihr Lächeln zu verbergen, während sie aus ihrer Schultasche das lila Filzsäckchen herausfischte, das zwanzig dreidimensionale Metallsterne und einen Flummi enthielt. Seilspringen war nicht das Einzige, was sie den ganzen Sommer geübt hatte.
Die Mädchen schufen eine freie Fläche, indem sie alle Tische und Stühle in eine Ecke schoben. Die meisten Jungs waren unter Aufsicht ihres neuen Lehrers, Mr Harrell, in eine heftige Diskussion über Comics vertieft. Tasha setzte sich im Schneidersitz gegenüber von Monica auf den Boden, während ihre Klassenkameradinnen ihren Kaugummiatem über sie hinwegbliesen. »Will noch jemand mitmachen? Es können bis zu fünf Leute mitspielen.«
»Nein«, sagte Monica. »Lass uns allein spielen.«
»Okay«, sagte Tasha und verstreute mit einem Wurf die kleinen Metallteile.
Tasha gewann wie geplant, aber sie hatte eigentlich aufhören wollen, bevor sie es der eingebildeten Monica so richtig zeigte. Doch sie konnte nicht anders, als anzugeben und sämtliche Techniken vorzuführen, die sie während der langen feuchten Sommerferien perfektioniert hatte. Sie kannte sogar ein paar Manöver, die die anderen noch nie gesehen hatten, Tricks, die ihre Mutter als Kind in Oklahoma gelernt hatte. Im Mittleren Westen war Jacks noch mal eine ganz andere Nummer.
Die Mädchen klatschten, als Tasha den Flummi nach doppeltem Aufprall und Einsammeln der Sterne mit einem besonderen Griff auffing. Sogar ein paar Jungs kamen rüber und sahen zu.
»Wow«, sagte Roderick Palmer, der süßeste Junge der Klasse, hinter vorgehaltener Hand. »Die macht sie fertig.«
Tasha konnte sich nicht verkneifen zu fragen: »Woll’n wir noch ’ne Runde?«, obwohl klar war, dass Monica genug hatte.
Monica stemmte sich vom Boden hoch, verschränkte die Arme vor der Brust und verdeckte damit die Konturen ihres Bustiers. »Schon okay.« Sie klopfte sich energisch die Hose ab. »Ich hab dich nur gewinnen lassen, weil meine Mutter immer sagt, wir sollen nett zu dir sein, weil deine Eltern sich trennen und so.«
»Nee«, stellte Tasha klar. »Sie trennen sich nicht. Sie wohnen nur gerade nicht zusammen. Das ist was anderes.« Sie überlegte, wie sie erklären könnte, was ihr Zuhause von Monicas oder dem der anderen Kinder, die keinen Vater mehr hatten, unterschied. Sie hatte immer noch einen Vater. Er rief sie fast jeden Abend an und holte sie dienstags vom Ballett ab. Getrennt war was anderes, Heftigeres. Fast so schlimm wie eine Scheidung. Und das Wort hatten ihre Eltern noch nie benutzt.
Monica lachte und stieß Forsythia mit ihrem spitzen Ellbogen an, damit ihre Verbündete einstimmte.
»Es ist nur vorübergehend«, beharrte Tasha. Von der Brust breitete sich ein Glühen bis zu ihrem Gesicht aus, während sie die Jacks einsammelte. »Außerdem«, rief sie Monicas Rücken hinterher, »sagt meine Mutter, dass deine Eltern über ihre Verhältnisse leben!« Keiner der Zuschauer reagierte auf Tashas Konter. Monica, die sich plötzlich sehr für die Comic-Kriege der Jungs interessierte, drehte sich nicht mal um. Nur Rodney Green, das seltsamste Kind der Klasse, schien über ihre Bemerkung nachzudenken. Mit einem durch zwei Wangen voller Bubblegum verbreiterten Gesicht und hinter der Brille zusammengezogenen Brauen betrachtete er Tasha, bis es ihr unangenehm wurde und sie sich wegdrehte.
Sie ging zur Mädchentoilette, setzte sich in eine Kabine, bedeckte das Gesicht mit den Händen und legte die Demütigung hinein. Sie kniff die Augen fest zu, um die Tränen zurückzuhalten, so wie man durch Druck eine Blutung zu stillen versucht. Sie kam sich unendlich dumm vor.
Zwei Wochen zuvor war Daddy tatsächlich ausgezogen. Tasha war nicht so dumm, dass sie nicht begriffen hätte, was das hieß. Als Mama und er zu ihr gekommen waren, um es ihr zu sagen, hatte sie zunächst geglaubt, sie wollten ihr beichten, dass noch ein Kind unterwegs wäre. So war es bei Tayari Jones im letzten Jahr. Tayari hatte der ganzen Klasse erzählt, wie ihre Eltern lächelnd und Händchen haltend in ihr Zimmer gekommen waren und ihr – einfach so – erzählten, dass es im August ein neues Baby in ihrem Haus geben würde. Was hätte Tasha also denken sollen, als Mama und Daddy sanft an ihre Zimmertür klopften, wortlos über die Unordnung hinwegstiegen und dabei Händchen hielten? Sie hielten nie Händchen und berührten sich eigentlich auch selten, abgesehen vom dem flüchtigen Schmatzer, wenn einer von ihnen Geburtstag hatte. Danke, Baby. Dann der Kuss.
Anders als Tayaris Eltern hatten sie allerdings nicht gelächelt. Mama hielt Daddys Hand so fest umklammert, dass ihre Fingerknöchel hervortraten. Dabei dehnte ihr Gesicht sich kummervoll in die Länge, als wäre das Kinn zu schwer und zöge ihr rundes Gesicht in ein trauriges Oval.
Doch Tasha sah darin ein passendes Vorzeichen für ein Baby. Wo in aller Welt würden sie es unterbringen? Im Gästezimmer? Es wäre ungerecht, wenn das Baby ein eigenes Zimmer bekäme, während sie sich eins mit DeShaun teilen musste. Und wenn das Gästezimmer mit dem Baby voll wäre, wo würde dann Nana bleiben, wenn sie zu Besuch aus Birmingham kam? Sie wusste, dass Mama und Daddy nicht vorschlagen würden, das Baby bei ihr und DeShaun unterzubringen. Neben ihren beiden Himmelbetten war nicht genug Platz für eine Wiege.
»Was?«, fragte Tasha mit Blick auf Mamas Unterleib.
Daddy löste seine Hand aus Mamas und berührte Tashas Gesicht. »Warte, bis DeShaun da ist.«
Tasha setzte sich auf ihr Bett und schlang die Arme um die angewinkelten Beine. Es war ernst. Zwillinge? O Gott. (Sie konnte den Namen des Herrn missbrauchen, so viel sie wollte, solange sie es nicht laut tat.) Eine kleine Schwester war wirklich schon mehr als genug. Sie sah die Zwillinge in zwei identischen Kinderwagen vor sich. Die Leute würden sie ganz reizend und süß finden. Es würde sich so anfühlen, als wäre man das einzige gewöhnliche Mädchen in einer Klasse voller hübscher Menschen. Von dem Gefühl hatte sie in der Schule schon genug; sich auch noch zu Hause so zu fühlen, wäre unerträglich.
Tasha wünschte sich einen Röntgenblick, um direkt in Mamas Bauch gucken und sehen zu können, was unter der braunen Bluse vor sich ging, die in den Bund ihrer beigefarbenen Hose gesteckt war. Ihr Bauch stand ein bisschen vor, aber nicht mehr als bei Müttern im Allgemeinen. Oder doch? Mama fuhr mit den Händen über ihre Bluse und strich die Falten glatt.
Die Toilettenspülung rauschte, und dann kam DeShaun herein.
»Was?«, fragte das kleine Mädchen und blickte von seinen Eltern zu seiner älteren Schwester und zurück.
»Wir warten schon auf dich, um das rauszufinden«, sagte Tasha.
»Ich war auf der Toilette«, maulte DeShaun.
»Tasha«, sagte Mama, »fahr sie nicht so an.«
»Ich hab doch nur gesagt –«
Daddy räusperte sich. »Delores.« Er nahm wieder Mamas Hand, aber diesmal schlang sie ihre Finger nicht um seine. Er ließ sie wieder los und legte den Schwestern je eine Hand auf den Kopf. Auf Shauns dunklem Haar hoben sich seine Fingernägel als ordentliche Rechtecke ab.
»Mädchen«, sagte er, »ich liebe euch sehr.«
Vor allem DeShaun, dachte Tasha. Sie konnte sich noch an die Zeit vor DeShauns Geburt erinnern. Mama meinte, das könne überhaupt nicht sein, weil sie nur dreiundzwanzig Monate auseinander waren, aber Tasha erinnerte sich wirklich und wusste, dass sie damals mehr geliebt worden war. Wie würde es erst werden, wenn die Zwillinge da waren? Sie wandte das Gesicht zur Wand, aber Daddy drehte ihren Kopf sanft wieder zurück, sodass sie in sein ernstes und unglückliches braunes Gesicht blicken musste.
»Und eure Mutter liebe ich auch.« Er wandte sich zu Mama um, die ihre Knie zu betrachten schien. »Aber eure Mutter und ich glauben, dass es das Beste ist, wenn wir im Moment nicht zusammen wohnen.«
Tasha sah schnell zu ihm hoch. Es gab kein Baby?
»Für eine Weile«, sagte er mit Blick auf Tasha, bevor er sich zu Mama umdrehte.
»Für eine Weile«, wiederholte Mama. »Um mal zu sehen, wie es funktioniert.«
»Okay«, sagte Tasha schnell. Erleichtert.
Ihre kleine Schwester DeShaun zupfte sich ein Stück trockene Haut von der zittrigen Unterlippe.
Jetzt kam sich Tasha wirklich dumm vor. Monica hatte recht. Sie war unreif. Und Daddy hatte es auch falsch angepackt. Er hätte sagen sollen: Tasha, DeShaun, eure Mutter und ich haben mit dem Feuer gespielt, und jetzt steht euer ganzes Leben in Flammen.
Nach diesem ersten Schultag trat Tasha sich nicht die Schuhe ab, bevor sie ins Haus kam. Sie ließ den nassen Regenschirm auf den Teppich fallen und stapfte in die Küche, wobei sie wütende, matschige Fußspuren in Größe 36 hinterließ. Sie trank Saft aus drei verschiedenen Gläsern und wusch kein einziges hinterher aus. Frustriert warf sie sich aufs Sofa und legte die Füße hoch.
»Du sollst deine Füße nicht auf das Sofa legen«, erinnerte DeShaun sie.
Tasha achtete nicht auf ihre kleine Schwester und stellte ihr Glas ohne einen Untersetzer auf den Sofatisch. »Wusstest du, dass Mama und Daddy sich getrennt haben?«, fragte sie.
DeShaun biss in ein Stück Karotte. »Was heißt das?«
Tasha überlegte. »Es ist das Gleiche wie Scheidung.«
»Was das heißt, weiß ich auch nicht.«
»Scheidung ist, wenn die Eltern nicht mehr zusammen sind. Wenn der Dad woanders wohnt.«
»Dass Daddy woanders wohnt, weiß ich schon.« DeShaun schien durcheinander. »Du doch auch, oder?«
»Ja, klar weiß ich das.« Tasha war eingeschnappt. »Ich frage dich, ob du wusstest, dass sie getrennt sind.«
»Und ich habe gefragt, was heißt das«, protestierte DeShaun.
Getrennt. Also Kinder, bei denen es nur die Mutter am Black History Day in die Schule schaffte und sich anhörte, wie sie ein Gedicht aufsagten. Oder solche, die Stiefväter hatten, die sie beim Vornamen riefen. Ayana McWhorter, Tashas beste Freundin, hatte einen namens Rex, der Ayana und ihre Freundinnen nicht mochte. Er war jung, sagte jedenfalls Mama und machte Tss tss, aber Tasha sah ihn nicht so. Rex war groß und dünn und hatte eine schmale Narbe auf einer Seite des Gesichts, die er mit einem dichten Bart zu verbergen suchte. (Ungepflegt, sagte Mama.) Tasha hätte die Narbe gar nicht bemerkt, wenn Ayana sie nicht darauf hingewiesen hätte: Da hat jemand versucht, ihn umzubringen. Danach kam Ayana zum Spielen immer zu Tasha, denn Tasha ging nicht mehr gerne zu ihr, und Mama hielt auch nicht viel davon. Im Juni, als Ayana den Nachmittag bei ihnen verbrachte, hatte Mama sie vom Fernseher weggeholt und Bastelpapier auf dem Küchentisch ausgebreitet.
»Ihr Mädchen solltet mal was Produktives tun«, sagte Mama und bedeckte zur Sicherheit den Fußboden mit Zeitungspapier. »Da bald Vatertag ist, könntet ihr Karten machen.«
Tasha fand die Idee gut. Sie bastelte wirklich gern.
»Ich mache keine Karte für Rex«, sagte Ayana laut und aufsässig.
Tasha blickte zu Mama und rechnete damit, dass sie sauer war, aber Mama strich dem Mädchen nur sanft über den Nacken.
»Du kannst eine Karte für wen auch immer machen. Deinen Granddaddy oder einen Onkel.«
»Ich will überhaupt keine Karte machen«, murrte Ayana.
»Okay, dann mal doch einfach was.«
Ayana malte nicht. Stattdessen aß sie Bastelkleber und übergab sich dann über den ganzen Tisch, was das Papier ruinierte, das Tasha ordentlich gefaltet und mit Glitzer bestäubt hatte.
Mama legte Ayana ein kaltes Handtuch auf die Stirn und machte leise Tss tss.
Getrennt hieß erbrochener Kleber und saure Pailletten.
Tasha ging in ihr Zimmer und wartete darauf, dass Mama nach Hause kam.
»LaTasha Renee Baxter«, brüllte Mama. »Komm sofort runter.«
Als Tasha in die Küche kam, erklärte DeShaun sich für unschuldig.
»Ich habe Saft getrunken, aber ich habe meinen Becher ausgespült und in den Geschirrspüler gestellt. Und das sind auch nicht meine Fußstapfen. Meine Füße sind kleiner, siehst du?« Sie stellte einen Fuß neben einen der schmutzigen Abdrücke.
Überzeugt von diesem Beweis, scheuchte Mama DeShaun ins andere Zimmer.
»Du stellst meine Geduld heute auf eine harte Probe«, fing sie an. Sie hatte ihre hochhackigen Schuhe ausgezogen und fuchtelte damit herum. »Was ist denn das Problem, junge Dame?« Sie zeigte mit der Spitze eines Pumps auf die leeren Saftgläser und den dreckigen Boden. »Ich habe den Boden gestern Abend erst gewischt. Es gibt eine Fußmatte –« Sie merkte, dass Tasha gar nicht zuhörte. »Sieh mich an, wenn ich mit dir rede.«
Tasha hob den Blick. Sie versuchte, durch geschlossene Zähne zu sprechen, wie es erwachsene Frauen tun, wenn sie richtig wütend sind. »Ihr habt mir nicht gesagt, dass ihr getrennt seid.«
Darauf war Mama nicht vorbereitet. Tasha sah es ihr an. »Was?«
»Monica hat gesagt, ihre Mutter meinte, ihr hättet euch getrennt. Mir habt ihr das aber nicht gesagt.«
Mama ließ sich auf einen der hölzernen Küchenstühle sinken und klopfte auf den freien Platz neben sich.
»Ich will mich nicht hinsetzen.« Tasha spürte ihr Herz in den Schläfen pochen.
»Tasha, Daddy und ich haben dir und Shaun gesagt, dass wir lieber nicht zusammenwohnen wollen.«
»Aber ihr habt nicht getrennt gesagt!« Tasha war einem Erwachsenen gegenüber noch nie laut geworden.
Mamas Miene veränderte sich, und Tasha rannte vor Angst in ihr Zimmer und warf die Tür zu.
Eine halbe Stunde später erklomm Mamas Stimme die Treppe nach oben. »Essen steht auf dem Tisch!« Tasha antwortete nicht, und niemand kam hoch, um nach ihr zu sehen.
Das Besteckgeklapper auf den Tellern konnte sie aushalten, aber als sie den Mixer surren hörte, drückte sie das Gesicht ins Kissen und schrie; Mama und DeShaun ließen sich unten Milchshakes schmecken. Letzte Woche hatte DeShaun sich geweigert, Kohl zu essen, und Mama hatte ihr gut zugeredet. Nur einen kleinen Bissen. Es war ein Riesending gewesen, dass DeShaun nicht genug Vitamine bekommen könnte, aber niemanden interessierte es, ob Tasha ganz ohne etwas zu essen ins Bett ging.
Sie wühlte in ihrem Schrank, bis sie eine kleine Packung Erdnüsse fand, die Nana ihr aus dem Flugzeug mitgebracht hatte, und ein zähes Marshmallow-Ei aus dem Osterkorb vom letzten Jahr. Schlucken ging nur unter großen Schwierigkeiten; sie erstickte fast an salzigem Kummer und Durst.
Ich werde nie wieder mit ihnen essen, schwor sie sich. Sie können bis in alle Ewigkeit Milchshakes trinken; ich werde nicht einen Happen essen.
Zwei Tage lang hielt Tasha durch. Sie stopfte sich beim Mittagessen voll und ließ Müsliriegel unter ihrem Bett verschwinden, die ihr durch die Abende halfen. Sie kaute jeden Bissen ganz langsam, damit er lange vorhielt.
»Tasha wird schon wieder essen, wenn sie Hunger hat«, sagte Mama ins Telefon. »Sie wird nicht in ihrem Zimmer hocken bleiben und den Hungertod sterben.« Mama verstummte. »Das sagt sich so leicht … M-hm. Warte.« Sie rief die Treppe rauf. »Tasha, geh mal oben ans Telefon.«
Sie ging ins Zimmer ihrer Eltern. »Hallo.«
»Hey, Marienkäfer.« Daddys Stimme war dunkel und glatt wie ein geschmolzener Wachsstift.
Ihr war zum Weinen zumute. »Hey, Daddy«, flüsterte sie.
»Deine Mutter sagt, du hättest keinen großen Appetit.«
»Ich habe keinen Hunger.«
»Sie macht sich wirklich Gedanken um dich. Warum isst du nicht ein bisschen was, damit sie sich nicht sorgen muss.«
»Sie sorgt sich nicht um mich.«
»Sag so was nicht. Deine Mutter liebt dich.«
»Davon merk ich aber nichts.«
»Was?«
»Nichts.«
»Also, wirst du was essen?« Das Timbre seiner Stimme kaschierte ein unterschwelliges Flehen, als wenn ihre Weigerung, zu Abend zu essen, die Erwachsenen nicht kaltließ.
»Ja«, sagte Tasha. Sie konnte sich nicht dazu durchringen, ihn zu enttäuschen oder ungehorsam zu sein.
Aber sie konnte sich auch nicht überwinden, an einem Tisch zu Abend zu essen, der nur für drei gedeckt war.
Am nächsten Tag hörte Mama auf, sie zu ignorieren.
»Tasha, komm runter und iss.« Sie betonte jede wütende Silbe, indem sie den Pfannenwender aufs Treppengeländer schlug.
»Ich hab keinen Hunger«, brüllte Tasha zurück.
»Dann komm einfach runter und setz dich an den Tisch.«
»Mir geht’s nicht gut.«
»Vor zehn Minuten sahst du noch ziemlich gesund aus.«
Tasha gab keine Antwort. Als sie Mamas müde Schritte auf der Treppe hörte, kickte sie ihre Schuhe von den Füßen, ohne die Schnallen zu lösen, und streckte sich auf dem Bett aus, sodass sie hoffentlich ein bisschen kränklich wirkte. Mama kam einfach rein, ohne sich um die selbst gemachten Schilder mit BITTE KLOPFEN und BETRETEN AUF EIGENE GEFAHR zu kümmern.
»Tasha«, sagte Mama und setzte sich auf die Bettkante. »Ich bin es leid. Komm runter und iss. Ich weiß, dass du deinen Daddy vermisst, aber ein Hungerstreik ist keine Lösung.« Sie suchte in Tashas Gesicht nach einem Lächeln. »Komm schon, Tash, steh auf. Ich habe extra Cheese Dreams für dich gemacht.«
Tasha setzte sich auf und sah ihre Mutter mit leicht abgewandtem Kopf skeptisch an. Mama klimperte rasend schnell mit den Wimpern, wie DeShaun, wenn sie den Tränen nahe war. Tasha zog die Augenbrauen zusammen und spitzte die Lippen. Was war hier los? War das alles ein gewiefter Plan, nur um sie zum Essen zu kriegen?
»Willst du denn keine Cheese Dreams?« Mama stützte die Ellbogen auf den Oberschenkeln ab und legte den Kopf in eine Hand. Ihre weiche Wange quoll braun und zart durch die Lücken zwischen ihren Fingern. Mit geschlossenen Augen fragte sie noch mal: »Willst du denn keine Cheese Dreams?«
Tasha konnte sie hören, die leichte Veränderung im Ton, die Tränen vorausging. Sie hätte sich am liebsten mit aller Macht gegen die Tür gestemmt, die sich gerade zu öffnen drohte. Sie wünschte, sie hätte einen Finger in ein Loch stopfen können, so wie der kleine Holländerjunge in der Geschichte vom bedrohten Deich, um das, was von ihrem Leben noch übrig war, vor den Fluten zu retten.
»Ich wusste nicht, dass du Cheese Dreams machst«, sagte Tasha, in der Hoffnung, dass ihre Weigerung zu essen als Ablehnung des Speiseplans durchging. Sie machte sich auf den Weg zur Tür, energiegeladener, als sie sich fühlte, und vermied es dabei, ihre übermüdete Mutter anzusehen, die noch in von der Arbeit zerknitterter Bluse und Rock auf dem Bett saß.
»Komm her«, sagte Mama leise.
Tasha blieb stehen, drehte sich aber nicht um; sie wollte nicht hinsehen.
»Nimm mich mal in den Arm«, sagte Mama.
Tasha hörte ihren erschöpften Kummer. Sie machte auf den Fußballen kehrt und folgte der brüchigen Stimme ihrer Mutter. In Mamas Umarmung lag eine verzweifelte Heftigkeit, die Tasha nicht mehr erlebt hatte, seit sie vier Jahre zuvor fast von einem Auto erwischt worden wäre. Damals hatte Mama Tasha so fest umarmt, dass sie beinahe geschmolzen und verschwunden wäre. Tasha hatte den Druck von Mamas Lippen auf dem Scheitel zwischen den Zöpfen gespürt, auf ihrer Stirn, den Wangen und ihren bebenden Lippen; dann hatte sie nur noch die Kiefern und Mamas Hals gerochen.
Heute drückte Mama sie mit der gleichen ausgehungerten Zuneigung. Diesmal bekam Tasha die ganze Intensität von Erwachsenengefühlen ab und musste vor Hitze nach Luft schnappen. Es dauerte mehrere unerträgliche Augenblicke, bevor Mama sie aus ihrer Umarmung freigab.
»Und jetzt essen wir«, sagte sie.
Tasha und DeShaun setzten sich an den Tisch und starrten sich neugierig an. Dass es Cheese Dreams gab, war schon seltsam genug. Mama hatte mehr als einmal erklärt, dass Käse-Sandwiches, die aus French Toast gemacht und in Himbeersirup getränkt wurden, keine ausgewogene Mahlzeit waren. Wenn sie doch einmal einwilligte, diese seltene Köstlichkeit zu servieren, zwang sie die Mädchen, zuerst einen grünen Salat zu essen. Doch heute mussten sie weder irgendwas Blättriges hinunterwürgen, noch war der Sirup rationiert. Tasha gab einen großzügigen Klacks in die Mitte des Sandwichs. Der Sirup lief an den Seiten runter. Keine Reaktion von Mama. Tasha drückte die Plastikflasche noch mal zusammen, was noch einen dicken Himbeertropfen freisetzte. Keine Reaktion. Sie drückte ein wenig mehr. Dann wurde ihr klar, dass sie keine Ahnung hatte, wie viel Himbeersirup genug war. Sie hörte nicht auf zu drücken, bis das Tellermuster bedeckt war und DeShaun bettelte: »Ich will auch!«
Tasha schnitt sorgsam ein dreieckiges Stück aus ihrem Cheese Dream und steckte es sich in den Mund. Zucker und der leicht bittere Geschmack von Lebensmittelfarbe überwältigten sie. Mama sah zu, wie ihre Töchter mit zu viel von etwas Gutem kämpften, und lachte.
Ihr Lachen war rein, aber schwer. Es schüttelte ihren Oberkörper mit Macht und brachte das goldene Medaillon an ihrem Hals zum Tanzen. Tasha lachte auch, obwohl ihr Lieblingsessen ziemlich ruiniert war, in Süße ertränkt. DeShaun kicherte ebenfalls.
Mama rettete die Sandwiches aus ihrem klebrigen Bett und legte sie auf saubere Untertassen. Dann stellte sie sie den Mädchen hin und sagte: »Ich glaube, wir werden klarkommen.«
»Aua«, protestierte Tasha, als ihre Mutter ein Gummiband um eine ordentlich abgeteilte Haarsträhne wickelte. Es tat nicht weh, aber sie jammerte schon mal vorsorglich. DeShaun beschwerte sich nie und ging deshalb oft mit so straff zurückgebundenen Haaren zur Schule, dass ihre Augen schräg nach oben gezogen wurden.
»Das tut doch gar nicht weh«, sagte Mama, wurde aber etwas sanfter.
»Warum kann ich mir nicht selbst die Haare machen?«
»Weil du sie nicht gerade teilen kannst und weil ich dich nicht wie eine kleine Wilde aus dem Haus lasse.«
Tasha seufzte, legte das Gesicht auf die Innenseite von Mamas Oberschenkel und fuhr mit der Hand über ihr pekannussfarbenes Schienbein, weil sich die Strumpfhose so schön anfühlte.
»Tasha, Finger weg von meiner Strumpfhose. Ich habe keine Zeit, mich noch mal umziehen, wenn du eine Laufmasche reinmachst.«
Tasha nahm die Hand weg und fühlte sich zurückgewiesen.
»Okay«, sagte Mama und tätschelte Tashas Schulter. »Ich bin fertig.«
Tasha ging ins Bad, um das Werk im Spiegel über dem Waschbecken zu begutachten. Ihr Haar sah aus wie DeShauns. Offenbar dachte Mama, es wäre süß, wenn sie wie die kleine und die große Version von etwas Gleichem aussähen, so wie diese Puppen, die ineinandergesteckt werden. Aber es war völlig unpassend, um nicht zu sagen peinlich für eine Fünftklässlerin, die gleiche Frisur zu haben wie eine winzige Drittklässlerin.
Tasha warf sich in eine reifere Pose und fischte den silbernen Schlüssel, der wie ein Anhänger an einem Schnürsenkel hing, unter ihrer Bluse hervor, um ihn raushängen zu lassen. Wenigstens das würde sie von ihrer Schwester unterscheiden; kleine Kinder hatten keine Schlüssel, und Tasha hatte ihren auch erst seit diesem Schuljahr. Statt zu ihrer Nachbarin, Mrs Mahmud, gingen sie und Shaun nach der Schule direkt nach Hause und blieben dort die zwei Stunden allein, bis Mama von der Arbeit kam.
Für Tasha war das die schönste Zeit des Tages. Sie hatte das Sagen. Jeden Tag verfügte sie mit großem Ernst, dass alles, was mechanisch war, nur sie allein anfassen durfte.
»Es ist zu gefährlich«, hatte sie ihrer Schwester gesagt, als sie den Thermostat auf dreiundzwanzig Grad einstellte.
Sie sah noch ein bisschen länger in den Spiegel. Wenn das Wetter besser gewesen wäre, hätte sie auf gewissen Änderungen ihrer Frisur bestanden. Aber es regnete, und sie würde sowieso eine blöde Mütze tragen müssen.
Tasha saß an ihrem Platz, als ihre Nase zu laufen anfing. Sie hatte ein langes Stück Toilettenpapier in der Tasche, aber da Forsythia Collier auf der anderen Seite des Gangs sich die Nase gerade mit winzigen Kleenextüchern aus einem süßen Täschchen abtupfte, war es ihr zu peinlich, ein Stück zerknittertes Klopapier abzureißen. Tasha atmete tief durch die Nase ein, in der Hoffnung, dass sich der Fluss umkehren ließe, ohne dass etwas zu hören war.
Mr Harrell sah sie von vorn missbilligend an. »Miss Baxter«, sagte er, »wenn Sie sich die Nase putzen müssen, gehen Sie bitte zur Toilette.«
Tasha stahl sich aus dem Container, wobei sie scheinbar hoch konzentriert den weißen Fliesenboden mit den schwarzen Sprenkeln betrachtete.
Der Gang, der die Container der Fünftklässler mit dem Hauptgebäude verband, war überdacht, aber zu den Seiten hin offen. Feuchte Luft wehte Tasha ins Gesicht. Sie schob gerade die Hände in die Taschen, als sie Jashante Hamilton entdeckte, der an einem Pfeiler lehnte. Er verlagerte das Gewicht auf ein Bein und reckte das Kinn.
»Was machst ’n du hier draußen?«, wollte er wissen.
»Ich gehe mir nur die Nase putzen.« Aus irgendeinem Grund kam es Tasha so vor, als würde sie ihn um etwas anflehen.
Er sah gut aus. Nicht so wie Roderick Palmer, der hübsche mädchenhafte Wimpern, süße O-Beine und hellbraune Haut hatte, so wie das Holz eines Bleistifts. Jashante war groß und rotbraun wie ein Paar Collegeschuhe. Seine Haare waren kurz geschoren, mit Pomade versehen und in gleichmäßige gewellte Reihen gekämmt. Er hatte etwas Erwachsenes an sich. Tasha wusste, dass er viel älter war als die meisten Fünftklässler. (Sehr viel älter als sie, weil sie spät Geburtstag hatte.) Roderick Palmer behauptete, irgendwo Jashantes Akte gesehen zu haben, in der angeblich stand, dass er fünfzehn sei.
»Hast du keins von diesen Mini-Kleenex in deiner Handtasche wie all die andern Fancy Girls?«, fragte er. Seine Stimme war brüchig und fast schon tief.
Es schmeichelte Tasha, dass er glaubte, sie wär vom gleichen Kaliber wie Forsythia Collier; in Wahrheit hatte sie gar keine Handtasche. Sie stopfte, was immer sie brauchte, in die Hosentaschen oder vorn in die Schultasche.
»Oh. Die habe ich zu Hause vergessen.«
Jashante sagte nichts. Er musterte sie in aller Ruhe. Tasha fühlte sich auseinandergenommen, als sie spürte, wie er sie ansah. Er betrachtete ihre Baby-Frisur und schien jede einzelne Plastikspange zu zählen. Dann blieb sein Blick an den zarten Umrissen ihres Unterhemds hängen, das eine Brust bedeckte, die bald für das erste Bustier bereit wäre. Danach an knochigen Handgelenken, von einem Allerweltsbraun ohne wärmende Rottöne, die aus zu kurzen Ärmeln eines gestreiften Rollkragenshirts ragten, schließlich an schmalen Hüften in pinken Jeans.
»Ich muss weiter«, sagte sie. »Es ist kalt hier.« Sie sehnte sich nach der Unantastbarkeit der Mädchentoilette, in der sie sich wieder zusammensetzen konnte, und ging an ihm vorbei.
»Hey«, sagte er.
Sie tat so, als hörte sie nichts.
»Hey, Fancy Girl. Wie heißt ’n du?«
Da hatte Tasha schon die Schwingtür erreicht. Sie drückte sie auf und ging nach drinnen. Im warmen, sicheren Gebäude atmete sie bewusst langsam ein und aus. Ihre Haut kribbelte, juckte und glühte, als hätte sie sich in eine Wolldecke gewickelt.
Der Fernseher, ein kleines Schwarz-Weiß-Gerät mit langen Antennen und Alufolie daran, thronte auf dem Kühlschrank. Tasha bemerkte ihn gleich, als sie und Shaun zum Essen runterkamen.
»Was macht denn der Fernseher da?«, fragte sie. Eine Stunde zuvor, als Tasha, noch ganz elektrisiert von ihrer Laubengangbegegnung, nach Hause gekommen war, hatte er noch nicht dort gestanden.
»Überraschung«, sagte Mama.
»Hast du nicht gesagt, dass wir keinen Fernseher in der Küche brauchen?« Ihre gute Laune verflüchtigte sich schnell.
»Na ja«, sagte Mama, »ich wusste ja, wie sehr du dir einen wünschst. Und dann habe ich diesen runtergesetzt gesehen …«
Das war eindeutig ein schlechtes Zeichen. Tasha hatte das Thema vor drei Jahren zum ersten Mal aufgebracht, nachdem sie erfahren hatte, dass Monica Fisher beim Frühstück Zeichentrickfilme guckte. Sie sah förmlich vor sich, wie Monica zufrieden vor sich hin kicherte und dabei unzählige Schüsseln mit Lucky Charms verputzte. Tasha dagegen musste sich damit vergnügen, wieder und wieder den Text auf der Shredded-Wheat-Schachtel zu lesen. Als sie ihre Mutter auf diese Ungerechtigkeit aufmerksam machte, wurde ihr die Bitte unmissverständlich abgeschlagen.
»In dieser Familie«, hatte Mama verschnupft gesagt, »reden wir miteinander, wenn wir am Tisch sitzen. Wir brauchen keinen Fernseher, der uns Gesellschaft leistet.«
»Aber was ist mit morgens? Da reden wir nicht. Du und Daddy trinkt bloß Kaffee. Und ich und Shaun müssen dann die Cornflakesschachtel lesen.«
»Shaun und ich«, korrigierte Mama sie, und damit hatte es sich.
Es war nicht Mamas Art, ihre Meinung zu ändern. Diese Fernseher-Geschichte musste mit der Trennung zu tun haben. Das lag auf der Hand. Seit Daddy weg war, waren die Tischgespräche auf »reichst du mir mal« und »iss deinen Brokkoli« zusammengeschrumpft. Der Fernseher bedeutete, dass er nicht zurückkehren würde, um das Abendessen mit Klopf-klopf-Witzen und lustigen Geschichten von der Arbeit zu beleben. Daddy war endgültig weg, und seinen Platz hatte ein schäbiger kleiner Fernseher eingenommen, der wahrscheinlich nicht mal Kanal sechsundvierzig empfangen konnte.
Außerdem ließ Mama sie gar nicht entscheiden, was geguckt wurde. Sie bestand darauf, dass sie beim Abendessen die Nachrichten sahen.
»Aber wir woll’n Familie Feuerstein gucken«, quengelte DeShaun.
»Nein, Herzblatt«, protestierte Tasha.
»Wir gucken die Nachrichten«, sagte Mama in ihrer Das-ist-mein-letztes-Wort-Stimme.
»Aber –«
»Nichts aber. Ihr müsst wissen, was in der Welt los ist, sonst könnten die Weißen die Sklaverei wiedereinführen, und ihr würdet es nicht merken, bis sie kommen und euch holen.«
Das war eine von Daddys üblichen Bemerkungen. In letzter Zeit machte Mama das oft. Zum Beispiel morgens, wenn sie sie weckte. Da sagte sie: »Zeit, die Welt zu begrüßen!«, statt, wie sonst: »Erwache und lache.« Es war deprimierend zu hören, wie Mama Daddys Phrasen übernahm. Ein mickriger Ersatz, ähnlich wie damals, als Mama ihre Duschhaube verlegt hatte und mit einer Gefriertüte auf dem Kopf baden musste.
Wie sich herausstellte, waren die Nachrichten gar nicht so schlecht. Nicht so interessant wie Herzblatt, aber Kopf an Kopf mit Familie Feuerstein, denn davon kannte Tasha schon alle Folgen. Wenigstens liefen bei den Nachrichten keine Wiederholungen. Auf Kanal zwei gab es eine schwarze Dame, die Mama gern mit Vornamen anredete und deren Aussehen sie kommentierte, als würden sie sie persönlich kennen. »Monica sollte eigentlich wissen, dass es ihr nicht steht, die Haare so straff zurückgebunden zu tragen«, sagte Mama zum Beispiel, während sie Schmelzkäse über den Brokkoli gab.
»Mir gefällt Monica Kaufmans Oberteil«, wollte Tasha hinzufügen, sobald sie fertig gekaut hatte. Aber noch bevor sie schlucken konnte, erschienen die Bilder der Kinder auf dem Fernsehschirm. Neun Porträts, wahrscheinlich Schulfotos, die in Dreierreihen angeordnet waren wie ein Tic-Tac-Toe-Spiel. Tasha starrte gebannt hin. Sie hatte weiches süßes Obst im Mund, das sie runterschlucken wollte, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie musste husten. Statt ihr auf den Rücken zu klopfen, machte Mama leise und streng: »Psst.«
»Mama«, sagte DeShaun.
»Psst.«
Irgendjemand hatte diese Kinder ermordet. Zwei kleine Mädchen, der Rest Jungen. Was war passiert? Tasha hatte ein paarmal im Fernsehen gesehen, wie Leute ermordet wurden. Es gab einen Knall, und dann lag jemand auf dem Boden, mit einem großen, ketchupartigen Blutfleck auf den Klamotten. Sie war nicht ganz sicher, wie die Pistole die Menschen tötete. Eine Patrone spielte eine Rolle, ja. Aber eine Patrone war ein winziges Ding, das auf eine Fingerspitze passte.
»Die sind alle tot?«, fragte DeShaun. Sie blickte zu dem Mädchen oben links, das ungefähr so alt war wie sie. Das Mädchen lächelte mit offenem Mund, als wenn der Fotograf sie kurz vor dem Auslösen mit Handpuppen zum Lachen gebracht hatte.
»Manche von ihnen«, sagte Tasha und beugte sich vor, um mehr zu verstehen.
DeShaun hakte die Finger zwischen Unterlippe und Zähnen ein. Sie war den Tränen nahe; Tasha bemerkte die flatternden Lider ihrer kleinen Schwester. Sie schob ihr die Dose mit Pfirsichen zu, in der Hoffnung, dass der Ausbruch noch auf sich warten lassen würde, bis die Nachrichten vorbei waren, denn DeShaun weinte nicht wie ein normaler Mensch; sie heulte immer so drauflos, dass man nichts mehr verstehen würde. Als DeShaun den Mund öffnete, um loszuplärren, klingelte das Telefon und würgte ihr Schluchzen ab.
»Hallo«, sagte Mama. »Ja, wir sehen es gerade.« Sie machte Tss. »Natürlich sind sie zu Hause.« Lautes Ausatmen. »Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, mit ihnen zu reden. Wir gucken gerade die Sechs-Uhr-Nachrichten, genau wie du.« Mama hielt den Hörer ans andere Ohr und blickte zur Decke. »Schön«, sagte sie. »Ich gebe dir Tasha.«
Daddys Stimme war tief, wie ein Loch, das bis nach China reicht. »Hey, Süße«, sagte er. »Guckst du Nachrichten?«
»Ja, Sir.«
»Hör zu« – seine Stimme war ernst – »ich will, dass DeShaun und du nach der Schule direkt nach Hause geht. Nimm deine Schwester an die Hand, und redet mit niemandem. Hast du verstanden?«
»Ja, Sir«, sagte Tasha. Er klang wütend. Das war nicht fair. Mit DeShaun würde er nicht so reden. Tasha beschloss, dass sie auch eine Frage für ihn hatte. »Daddy, wo bist du?«
Mama blickte sie von der anderen Tischseite scharf an. Sie öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder und presste die Lippen wie zur Warnung fest aufeinander. Tasha wusste durch diskretes Ohrenspitzen, dass Daddy bei »seiner Freundin« war, wollte aber wissen, wo genau.
»Nicht weit weg«, sagte er sanft. »Mach dir keine Sorgen.«
Tasha hätte gern noch Genaueres aus ihm herausbekommen, aber DeShaun versuchte, ihr den Telefonhörer zu entwinden.
»Aua!«, sagte Tasha. »Shaun hat mich gekratzt.«
»Gib ihr den Hörer«, sagte Mama.
»Aber ich bin noch nicht fertig mit Daddy. Ich wollte ihn gerade fragen –«
Mama zeigte mit ihrem schlanken Zeigefinger auf Tasha und erhob ihn dann wortlos. Tasha reichte DeShaun den Hörer und murrte: »Das ist nicht fair.«
DeShaun hielt den Hörer mit beiden Händen und brüllte in die Sprechmuschel, als glaubte sie, extra laut reden zu müssen, damit er sie, wo auch immer er war, hören konnte. »Daddy, kannst du zurückkommen? Jemand holt die Kinders!«
Tasha schüttelte den Kopf. Wenn DeShaun Angst bekam, wütend wurde oder sich richtig doll freute, fing sie an, wie ein Baby zu reden. Ihre Stimme wurde ganz hoch, und sie kam mit den einfachsten Wörtern durcheinander.