Für Marlene
Es ist nicht das erste Mal, dass der Hund versucht, mich zu ermorden.
Normalerweise rettet mich seine schiere Größe, er ist eigentlich nicht zu übersehen, wenn er sich anschleicht, ein Bullmastiff von knapp sechzig Kilo, rehbraun mit schwarzer Maske.
Lupus.
Was für ein völlig verfehlter Name für dieses Tier. Er hat nichts von einem Wolf, nichts an ihm ist schlank oder lang gezogen, die Ohren hängen herab, die Schnauze ist faltig und stumpf, der ganze Hund wie aus einem Block geschlagen. Die Vorstellung, dass er in einem Rudel durch den Wald jagt, ist lachhaft. Lupus schläft gerne, Lupus frisst gerne, Lupus ruht gerne. In unserem stillen Haus hat er alle Möglichkeiten dazu, wir verlangen nichts von ihm, nur ein wenig Schutz in der Nacht, dass er anschlägt, wenn jemand ins Haus will. Ansonsten lassen wir ihn in Ruhe. Seit Carl im Rollstuhl sitzt, gibt es auch die langen Märsche nicht mehr, ich gehe mit ihm nach draußen, wende mich diskret ab und warte geduldig, bis er fertig ist, dränge ihn zu nichts.
Deshalb verstehe ich nicht, was er gegen mich hat.
Seine Mordpläne müssen über Jahre gereift sein. Vielleicht war es am Anfang nur ein Aufblitzen, der Schatten einer Idee, eine entfernte Wärme, die ihm angenehm war. In seinem großen, schweren Kopf mahlen die Gedanken langsam, aber sorgfältig. Es dauert, bis er zu einer Entscheidung kommt, entsprechend unausgereift waren seine ersten Versuche: Lupus trottete mir im Flur zwischen die Beine. Lupus schlang mir seine Leine um die Füße. Lupus stupste mich in die Kniekehlen, als ich an der Böschung über dem Elbe-Havel-Kanal stand. Ich habe das damals nicht ernst genommen, habe gedacht, du dummes, ungeschicktes Vieh, und sonst nichts weiter. Dass er mir ans Leben will, habe ich erst später begriffen.
Wir wanderten im Berchtesgadener Land, es war eigentlich schon zu viel für Carl, aber er hielt sich noch gerade so, quälte sich über die Wege, blieb oft stehen. Wir gingen ganz langsam. In der Wimbachklamm war ein Abschnitt des Holzgeländers entfernt worden, die Stelle nur durch ein rot-weißes Absperrband gesichert, zehn Meter unter uns das reißende Wasser, so laut, dass ich Lupus nicht hörte, der mir plötzlich von links in die Beine lief. Ich stolperte, griff nach dem Geländer und bekam nur das Band zu fassen, mein rechter Fuß rutschte ab, das Band gab nach, riss, ich fiel auf die Knie. Er hätte es dort schon beenden können. Ein leichter Stoß mit seinem mächtigen Schädel, und ich wäre über die Kante gegangen.
Auf Nimmerwiedersehen und schöne Grüße aus dem Wimbachtal.
Danach zehn Jahre nichts. Keine Drohungen, keine Anschläge, keine Andeutung irgendeiner Gefahr. Wie ein Schläfer lag er im Untergrund und ließ sich von mir füttern, verhielt sich, wie ein Hund sich verhält, schlief, fraß, ruhte, wartete mit einer Engelsgeduld, bis meine Wachsamkeit nachließ.
Wartete bis heute.
Ich komme aus dem Badezimmer und wende mich nach links, in den Händen der volle Wäschekorb, Buntwäsche vierzig Grad, Carls Hemden und Hosen, das Bettlaken für Hannos Zimmer. Der Korb ist schwer, die Sachen kommen frisch aus der Maschine. Tausende Mal bin ich so die Treppe hinuntergegangen, ich könnte sie blind gehen, kenne sie auswendig, ihre Abstände, die Höhe, die Länge der Stufen. Lupus liegt auf der zweiten von oben. In seinem Leben hat er noch nie auf der Treppe gelegen, kein einziges Mal. Ich erwarte ihn nicht, der Korb nimmt mir die Sicht, außerdem ist es schon fast dunkel, ich bin spät dran heute Abend. Mit dem rechten Fuß trete ich auf ihn und weiß sofort alles, diesmal hat er mich erwischt, denke ich, als mir der Korb aus den Händen fliegt und mit ihm die Wäsche in dunklen, klatschenden Schwingen.
Ich falle.
Mein Leben rast in Bildern an mir vorbei, dort hängen sie an der Wand, vergrößerte Fotografien unserer Urlaube, die wir bei Krusmann haben rahmen lassen, viel Italien am Anfang, Riviera, Toskana, Pisa, Rom, weiter unten dann Österreich, Seefeld und Zillertal, überhaupt die Alpen, Zugspitze, Jungfraujoch, Bad Gastein, dazwischen noch der katastrophale Abstecher an die Costa Blanca, knapp vierzig Grad und vierzigtausend Engländer, zuletzt das sanfte Ausklingen im Allgäu: Carl und ich auf einer Bergwiese, hinter ihm zwei wenig interessierte Milchkühe. Ich kenne die Bilder auswendig, könnte sie blind erzählen. Wir werden alt auf ihnen, Carl und ich, vielleicht hätte ich sie nicht chronologisch aufhängen sollen, sondern in umgekehrter Reihenfolge, sodass ich im Sturz von oben nach unten jünger werde und als knapp Dreißigjährige auf dem Boden im Erdgeschoss aufschlage, im himbeerfarbenen Bikini am Strand von Sestri Levante und nicht mit Ende sechzig auf einer Kuhwiese bei Kempten.
Ich bleibe am Treppenabsatz liegen, verdreht, zerschlagen, aber ohne Schmerzen. Mein rechtes Bein hängt über den Wäschekorb, mein Blick geht zur Seite, in Richtung Wohnzimmer, wo Carl vor dem Fernseher sitzt.
Ich weiß nicht, wie lange ich so liege.
Das Licht scheint schwächer zu werden, Minuten, Stunden, es ist schwer, ein Gefühl für die Einheiten zu bewahren. Immer wieder schwimmt mein Bewusstsein weg, erst als das Blaulicht durch die offene Haustür in den Flur wabert, komme ich wieder halbwegs zu mir. Carl muss meinen Sturz gehört und den Hausnotruf an seinem Handgelenk betätigt haben. Ein schlecht rasierter Notfallsanitäter spricht mich an und leuchtet mir mit einer Taschenlampe in die Augen, fühlt an der Halsschlagader meinen Puls, prüft meine Atmung, indem er seine Wange an meinen Mund legt. Aus dem Kragen seines weißen Polohemdes ragt der Ausläufer einer Tätowierung, eine Art Schwanzspitze oder Stachel, von der ich eigentlich gar nicht wissen will, wie sie sich unter dem Hemd fortsetzt.
Ein Skorpion, so scheint es, oder ein Hummer.
Aber wer lässt sich einen Hummer in die Haut stechen, der, ausgehend von der Größe der sichtbaren Schwanzspitze, über die gesamte linke Körperhälfte reicht, mindestens aber hinab bis zum Oberschenkel und vielleicht noch weiter, über das Knie hinaus? Nur ein Verrückter würde so etwas tun, oder ein Hummerfischer, der in Abstammung von einer langen Linie an Hummerfischern seine Familie mit Hummern ernährt und somit jedes Recht hätte, sich das Tier auch symbolisch anzueignen.
Wie auch immer.
Der junge Mann – Skorpion oder Hummer – beginnt mit der Reanimation: Herzdruckmassage, Mund-zu-Mund-Beatmung. Als er seine Lippen auf meine drückt, bleibt die Welt stehen. Wann bin ich zuletzt so geküsst worden? Die Berührung ist fest und klar, will nur eine Sache, das Leben. Eine gute Frage: Wann hat Carl mich zuletzt so geküsst? Kann es sein, dass ein Mensch dreiundzwanzig Jahre nicht geküsst wird, keine liebevolle Berührung, nichts, und trotzdem weiterlebt? Der junge Mann scheint es zu spüren, sogar die Bluse macht er mir auf, zerschneidet meinen BH, klebt die Elektroden für das Notfall-EKG auf.
Die Nulllinie ist eindeutig.
Gemeinsam beobachten wir den Monitor, leuchtend grün und pulsierend die Linie, dann spritzt er mir Adrenalin, es gehört sich wohl so. Noch einmal sucht mein Blick die Tätowierung an seinem Hals, die ringförmigen Segmente, die Giftblase, den gebogenen Stachel.
Es muss ein Skorpion sein.
Ich hoffe für den jungen Mann, dass es ein Skorpion ist.
Mit der flachen Hand fährt er über mein Gesicht und schließt meine Augen. Ich will es nicht glauben, aber es ist eine Tatsache:
Lupus hat mich erwischt, endgültig.
Zwischen den Augen, sechs Zentimeter tief hinter der faltigen Stirn, sitzt der Gehorsam des Hundes und zwingt ihn nach oben. Er drückt die Hinterläufe durch und streckt die Vorderläufe, stemmt sich hoch, der Kiefer reißt auf, ein gewaltiges Gähnen schüttelt das Tier, überwältigt es fast. Einen solchen Körper zu bewegen, in einer solchen Nacht, nach einem solchen Tag – die ganze Schwerkraft wirkt dagegen, die Natur im Ganzen mit ihren Gesetzen. Und doch steht der Hund, eindeutig steht er da im Licht der Stehlampe und leckt sich mit der Zunge den Speichel vom Gesicht.
Hanno nippt an seinem leeren Glas, schluckt trocken, ohne es zu bemerken. Seit Stunden sitzt er mit seinem Vater am Tisch und säuft, beobachtet den Hund, der sich zum ersten Mal an diesem Abend von seiner Decke entfernt und quer durchs Wohnzimmer an ihm vorbei zu seinem Vater tappt. Ohne zu begreifen, wie es gelingt, hebt Hanno die nächste fast leere Flasche an und gießt den Rest des klaren Schnapses in sein Glas. Zeitlupenhaft rinnt der letzte Tropfen aus dem Hals und hält sich zitternd am Rand. Der ganze Tag ist darin gefangen, Hanno starrt hinein und erkennt sich selbst, sein ruckhaftes Hochschrecken am Morgen, wie er den Hund versorgt und seinen Vater aus dem Bett in den Rollstuhl hievt, ihn ins Bad fährt und in die Wanne kippt, Schutt auf Emaille, sein in die Wanne prasselnder Vater, unförmig und ausufernd, begrenzt nur vom Wannenrand, über den er nicht hinausläuft, höchstens ein Arm, der hochschießt und sofort wieder ins Wasser schlägt.
Als Kind hat Hanno selbst in dieser Wanne gelegen. Das Sonnenlicht fiel als Säule durch die Milchglasscheibe und traf ihn mit Wucht, blendete ihn, es sei denn, er setzte sich mit dem Rücken zum Fenster auf den Stöpsel und die Kette aus kleinen Metallkugeln, gegen den Ring gelehnt, der den Stöpsel beim Ablaufen des Wassers in der Fassung hält. Im ganzen Haus gibt es solche Orte des Unwohlseins. Die Kammertür kreischt über eine Unebenheit im Boden. Im Keller hängt ein Balken so tief, dass Hanno mit der Stirn dagegen läuft. Seinen Vater scheint es nicht zu stören. Teilnahmslos starrt er in das grelle Licht, während Hanno ihn mit dem Waschlappen abreibt und der Schaum in der Wanne zerfällt, zitternd bei jedem Wellenschlag, der Oberkörper seines Vaters wächsern und weich, die Muskulatur zurückgebildet, als benötigte er sie nicht mehr.
»Untenrum mach mal selber«, nuschelt Hanno und drückt seinem Vater den Lappen in die Hand. Er wendet sich diskret ab, während sein Vater sich zwischen den Beinen wäscht, dann greift er ihn unter den Armen und hebt ihn an, auf den Schultern das ganze Gewicht dieses schweren, alten Körpers, der ihm wegrutscht und ins Wasser klatscht, ein wildes Schlagen und Strampeln, bis Hanno ihn wieder zu fassen bekommt.
Sie geht auf den Rücken, die Arbeit. Ein Stechen im Lendenwirbelbereich, Hanno greift hin, dort, am Grab, es ist ganz deutlich in der Klarheit des Tropfens zu erkennen, wie er eine Hand auf den Rücken legt, das Gesicht schmerzverzerrt, und ins Hohlkreuz geht, bevor er die Schaufel nimmt und die dunkle, feuchte Erde in den Schacht wirft. Ein dumpfes Prasseln, als die Erde auf das Holz trifft, kaum vorstellbar das Dröhnen und Donnern im Inneren, ein dritter Weltkrieg in der Bunkerenge des Sarges, aber diesmal, wirklich, der letzte.
Bumm, bumm, geht die Erde nieder.
Hanno steckt die Schaufel in die Schale zurück und stellt sich neben seinen Vater, nimmt die Hände der Trauergäste entgegen, raue Pranken, weiche Mädchenhände, die sich ohne Widerstand zwischen seine Finger schlängeln, ein paar kalte Fische mit glitschiger, schillernder Haut. Susannes Hand dagegen ist warm und trocken, als hätte er sie nicht zuletzt vor über dreißig Jahren, sondern gerade eben erst in seiner eigenen gehalten. Im Nebel des Alkohols kann Hanno nicht unterscheiden, ob er die Wärme erst jetzt spürt oder sie schon vor ein paar Stunden am Grab gespürt hat. Wahrscheinlich ist beides, unwahrscheinlich, dass er sich vorhin nicht daran erinnert hat, wie unzertrennlich sie als Kinder waren, Susanne Dreyer, die knapp Ältere, immer einen Schritt vorneweg, er, der Kleinere, in ihrem Schatten hinterher, durch die Gärten, die Stadt, den Wald, Leopardenflecken im Gesicht von der Sonne, die durch die Blätter fiel, die Schienbeine blutig vom Unterholz. Susanne schlug den Weg mit einem Stock frei. Hanno sicherte nach hinten ab. Die Gefahren des Dschungels waren mannigfaltig, Susanne zählte sie auf: Vogelspinnen, Piranhas, Würgeschlangen, die aus den Blasrohren gefeuerten Pfeile der Indios, die mit einem Froschgift präpariert waren und den Körper innerhalb von Sekunden lähmten. Grüner Schaum käme einem aus dem Mund, wenn man das Gift nicht sofort aussaugte. Sie machte es an seinem Unterarm vor. Fasste ihn mit beiden Händen an Ellenbogen und Handgelenk, beugte sich vor, setzte die Lippen an. Unter seiner Haut kribbelte das Gift in den Adern, es schien schon zu wirken. Hanno regte sich nicht. Eine Kinderewigkeit verging, drei Mal rief ein Vogel, ein Riesenpapagei, der über ihnen im Baum hockte. Beim vierten Ruf spuckte Susanne das Gift auf den Boden und wischte sich über den Mund. Die Stelle an seinem Arm war rot und taub, das sei normal, sagte sie, vielleicht bleibe das so, sie könne ihm aber eine Salbe aus Moos, Spucke und Vogelbeeren machen, die er dann eine Woche lang auftragen müsse.
Hanno lächelt mit geschlossenen Augen.
Im Tropfen, der sich beult und dehnt und nur noch von der Oberflächenspannung am Flaschenrand gehalten wird, umklammert er Susannes Hand eine Sekunde zu lang. Mit einem Ruck macht sie sich los, und er lässt den Blick auf ihre schwarzen, hochhackigen Schuhe sinken, die unschlüssig auf der Stelle tänzeln, bevor sie knirschend zur Seite wegtreten. Hanno starrt auf die halbmondförmigen Abdrücke im Kies, streckt die Hand aus, aber es kommt niemand mehr. Über den Friedhof ziehen weiße Schleier, ab und zu ein Räuspern, jemand zieht die Nase hoch, dann ist es still.
»Schiebt mich doch gleich mit rein! Dann wär endlich Ruhe!«
Ein Speichelfetzen fliegt aus dem Mund seines Vaters und fächert sich in der Luft zu einem feinen Sprühregen auf. Platz wäre genug. Hanno schätzt die Breite des Grabes auf knapp einen Meter, die des Rollstuhls auf achtzig Zentimeter. Er versichert sich kurz, ob die Hebelbremsen eingerastet sind, dann kehrt sein Blick zu den Halbmonden im Kies zurück. Er will seinen Vater nicht ansehen. Fast dreißig Jahre hat er ihn nicht ansehen müssen, hat er es sich in der Ferne bequem gemacht, während seine Mutter sich allein um alles kümmern musste, kein freier Tag, keine Stunde, die sie nicht bei ihm gewesen ist. Hanno hebt den Kopf. Aus dem Pulk lösen sich die ersten Trauergäste, die Jungen wollen nach Hause, die Alten ins Café. Er hat die Standardvariante bestellt, Wasser, Kaffee und Kuchen für 10,50 Euro pro Person, die alkoholischen Getränke kosten extra.
Der Tag löst sich vom Rand der Flasche und schlägt einen Krater in die flüssige Oberfläche des Schnapses. Mama ist tot, denkt Hanno oder ein anderer, vielleicht der, dessen Hand die Flasche noch immer fest umklammert hält. Er stellt sie ab, will nicht mehr trinken. Träumen möchte er, dumpf einlullende Träume wie hinter dickem Schaumstoff geträumt, ein träge angedeuteter und nicht ausgeführter Akt, aus dem er sanft in den Schlaf gleiten kann. Er horcht in seine Überforderung hinein. Es ist dort ganz still, die Bewegungen erstarrt, die Empfindungen ausgesetzt wie im Auge eines Sturms. Um ihn herum wirbeln die entwurzelten Bäume und abgedeckten Dächer, von der Weide gerissene Kühe, Traktoren, andere Landmaschinen.
Mama ist tot.
Vater ist krank.
Ich bin wieder hier.
Auf der Terrasse flackern die Kugelleuchten, eine Unregelmäßigkeit im Stromkreis. Der Hund schreckt unter der Hand seines Vaters hoch, die Ohren aufgerichtet, die Fänge leicht geöffnet. Der Gehorsam ist ein schwarzer Tumor sechs Zentimeter tief im limbischen System. Er muss mit den Jahren gewachsen sein, von einem mikroskopisch kleinen Punkt zur Erbse, oder noch weiter, auf die Größe eines Tischtennisballs. Eine Tomografie könnte die Veränderungen in der Hirnaktivität sichtbar machen, rot pulsierende Areale um den Tumor herum. Es ist zu befürchten, dass der Gehorsam unbemerkt weiterwächst, bis der Hund qualvoll daran verendet. In einer Obduktion könnte er als Todesursache festgestellt werden, aber wer obduziert einen Hund, der treu bis in den Tod seinem Herrn gefolgt ist? Niemand schöpft in einem solchen Fall Verdacht.
Hanno selbst würde es nicht tun.
Herr Holtz sieht schlecht aus.
Susanne Dreyer findet ihn blass und grau, obwohl das Wetter in den letzten Tagen schön war und sie ihn mehrfach auf der Terrasse hat sitzen sehen, das Gesicht zur Sonne gewendet, eine Decke lose um die Beine geschlagen. In der Kapelle ist es ihr nicht aufgefallen, erst hier am Grab, im hellen Tageslicht, erkennt Susanne die Müdigkeit in seinem Gesicht. Er hält den Kopf gesenkt, bemerkt die Menschen kaum, die gekommen sind, um ihm ihre Anteilnahme auszusprechen. Sie müssen erst auf sich aufmerksam machen, manche gehen leicht in die Knie, andere legen ihm eine Hand auf die Schulter, wieder andere sprechen ihn an, viel lauter, als es sich auf einem Friedhof gehört.
Drei sind noch vor ihr.
Susanne wischt ihre Handflächen am Rock ab. Herr Holtz soll keine Feuchtigkeit spüren, wenn sie gleich vor ihm steht und ihm die Hand reicht. Auf den Tag genau vor einunddreißig Jahren und acht Monaten hat er sie zuletzt berührt. Die Erkenntnis trifft sie vollkommen unvorbereitet. Für eine Sekunde ist alles unwirklich, das grellweiße Kreuz und das schwarze Loch davor, die beiden Gestalten, Vater und Sohn, nebeneinander im Gegenlicht. Sie hebt den Blick über den Friedhof, rechts hinter der Pappelreihe liegen Jürgen und ihre Mutter in einer Familienparzelle. Es ist vorgesehen, dass Susanne irgendwann Jürgens Platz übernimmt, damit ihre Mutter nicht alleine liegen muss. So hat sie es gesagt, kurz vor ihrem Tod: Damit ich nicht alleine liegen muss. Die Schlange rückt um eine Stelle vor, zwei sind noch vor ihr.
Einunddreißig Jahre, acht Monate.
Eine solche Unmenge an Zeit, überwältigender mit jeder Sekunde, die dazukommt. Herr Holtz, in seinen Rollstuhl eingesunken, die Füße zitternd auf den Fußstützen, wie er eine weitere Hand fallen lässt. Seit Sylvias Tod hat Susanne diesen Moment vorausgedacht. Wenn ihr Arm sich streckt und seiner, wenn die zitternden Finger sich berühren, am Ansatz des Zeigefingers, am ersten Gelenk des Daumens, wenn die Hände ineinandergleiten und Druck ausüben, erst ihre, dann seine, oder umgekehrt, wenn die Form sich findet, zwei Hände vereinigt zu einer Skulptur:
Der Händedruck.
Susanne streckt die Hand aus. Herr Holtz braucht eine Sekunde, bevor er reagiert, dann greift er zu, und die Zeit kollabiert, die Jahre fallen ineinander, sacken zusammen wie die Türme in New York, ein Trümmerfeld unter aufwallenden Staubwolken, Rauch, flatternden Papieren.
Das Städtchen Kufstein ist die Perle Tirols, umrahmt von Bergen, so friedlich und still.
Sie hat es sich im Netz angesehen, auf der Seite der Tourismusbehörde, im Ortskern die barockisierte Kirche mit Zwiebelhelm, auf einem Felsen über dem Inn die Festung Kufstein, terrassiert über zwei Ebenen, Bürgerturm, Kaiserturm, Heldenorgel, täglich um zwölf die Weise vom Guten Kameraden (in den Sommermonaten Juli und August zusätzlich um achtzehn Uhr), die bei günstigen Windverhältnissen bis ins benachbarte Bayern und auf den Gipfeln des Wilden Kaisers zu hören ist. Eine schwebende Melodie, so hat sie auch das Lied in Erinnerung, das sie vor einunddreißig Jahren und acht Monaten gleich zwei Mal gehört hat.
Es gibt so vieles dort in Tirol, ein gutes Weinerl aus Südtirol, da denkt ein jeder, es möcht immer so sein.
Wenn es immer so wäre. Ihre Hand in der Hand von Herrn Holtz, das Gewebe miteinander verwachsen, ein gemeinsamer Klumpen Fleisch, zwischen ihnen schwingend wie ein Kind, das sich beim Spaziergang an die Arme seiner Eltern hängt. Es geht am Inn entlang, unterhalb der Festung, die sich senkrecht über ihren Köpfen erhebt, gegenüber die sich zum Bahnhof hin auffächernden Gleise, die Römerhofgasse mit ihren bunt bemalten Häusern, auf einen Kaffee ins Auracher Löchl, ein Eis für das Kind, einen Obstler für den Herrn Papa, danach ins Hotel für den Mittagsschlaf, es muss noch gepackt werden, der Zug geht am Abend.
Und ist der Urlaub dann wieder aus, dann nimmt man Abschied und fährt nach Haus.
Susanne macht ihre Hand los. Für einen Moment glaubt sie nicht, dass es gelingen kann, dann ist sie frei. Um nicht zu fallen, greift sie das Nächstbeste, erwischt Hannos Hand und hält sie fest, spürt die Verwandtschaft zwischen ihm und seinem Vater nur kurz an einer Schwiele unter dem Daumen. Unmöglich, dass er so alt sein soll wie sie. Ihm fehlt doch ein Großteil der Zeit, ungültig die Jahre, die er in der Ferne verbracht hat, an einem anderen Ort als hier, wo sie mit Herrn Holtz gealtert ist, während er fast unverändert vor ihr steht, das gleiche Grübchen im Kinn, die gleichen schmalen Wangen, der gleiche stille, aufmerksame Blick. Unmöglich, dass sie zusammen Kinder gewesen sein sollen.
Mein liebes Maderl, leb wohl, leb wohl.
***
In ihrem Elternhaus bewohnt Susanne nur eine Etage, eigentlich nur ein Zimmer mit Blick auf das Haus und den Garten von Herrn Holtz. Es ist früher Nachmittag, als sie von der Beerdigung zurückkehrt, hell, die Sonne noch hoch über den Bäumen. Susanne nimmt das Fernglas und lässt den Blick über die Terrasse gleiten, die leeren Räume so nah, dass sie glaubt, hineingreifen zu können. Wohnzimmer und Küche im Erdgeschoss, im Obergeschoss das Badezimmer und Hannos altes Kinderzimmer, das Schlafzimmer und Sylvias Nähzimmer mit dem großformatigen Druck von Max Liebermanns Birkenweg im Wannseegarten an der Wand. Das Haus der Familie Holtz strahlt in einem fast makellosen Weiß. 2014 wurden nach Installation einer neuen Wärmedämmung die Außenwände frisch gestrichen, drei Monate ihres Lebens, die Susanne nicht wiederbekommt. Die Fenster verstellt von Gerüsten, das ganze Haus eingehüllt in ein Kleid aus milchigen Folien, sodass sie selbst mit dem Fernglas nicht erkennen konnte, was im Inneren geschah. Fremde Arbeiter im Garten, Staubwolken beim Abschlagen des Verputzes, ein Schrottcontainer auf dem Rasen. Die Terrasse unbenutzbar, das Gras zerfurcht von schwerem Gerät, achtlos hingeworfene Stangen, ein feiner Mehltau auf den Blättern der Rosen. Eine blinde Zeit, in deren Kern Herr Holtz und Sylvia auch noch unangekündigt für vier Wochen verreisten, es war ihnen wohl selbst zu viel geworden. Ein Großraumtaxi holte sie frühmorgens ab, Susanne war gerade im Bad, sah noch die Rücklichter in der Einfahrt, als sie auf eine Ahnung hin zum Fenster stürzte. Vielleicht hätte sie damit rechnen müssen, aber es hatte keine Anzeichen gegeben. Sylvia musste in der Nacht heimlich hinter den Folien gepackt haben.
Lupus kommt um die Hausecke und legt sich vor der Terrasse ins Gras. Er starrt auf den Fleck, wo sonst Herr Holtz sitzt, links neben dem rechteckigen Tisch aus dunklem Holz, der während der Sanierung, ebenfalls mit einer Folie bedeckt, drei Monate lang mitten auf der Rasenfläche stand. An einem normalen Samstagnachmittag wäre nun Zeit für eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen. Sylvia würde beides auf einem roten Tablett nach draußen tragen, dazu eine Schale Leckerlis für Lupus, die sie vor ihm abstellte, bevor sie sich zu Herrn Holtz an den Tisch setzte, genau wie er mit dem Gesicht zum Garten, und mit vorsichtig nippenden Schlucken anfinge, ihren Kaffee zu trinken. Susanne hat Kuchen im Kühlschrank, aber kein Verlangen danach, wenn dort draußen niemand ist, der mit ihr teilt, wenn dort draußen nur der Hund liegt und nicht begreift, dass das Leben, wie er es kennt, endgültig vorüber ist. 2006 kam er in die Familie, an einem Freitag im Januar, im Garten tiefer Schnee, Eichhörnchenspuren. Am Halsband führte Herr Holtz ihn in das Weiß hinaus, jeden Tag ein Stück weiter, bis der Hund seine Angst überwand und freiwillig mitkam. Gemeinsam tobten sie durch den Schnee. Herr Holtz warf einen Stock in das Geäst der Bäume, sodass ein feiner Puder niederging, der Hund apportierte den Stock, wieder und wieder. Susanne stand am geöffneten Fenster, hörte, wie Herr Holtz den Namen des Hundes rief, Lupus, ließ es geschehen. Erst als Tauwetter einsetzte und die Eiszapfen tropfend von der Regenrinne schmolzen, wagte sie sich an den Zaun und hielt Lupus ihre zitternde Hand hin. Er roch daran und sie an ihm, dann gingen sie auseinander.
Ein Burgfrieden, noch immer gültig.
Draußen im Gras hebt Lupus den Kopf und spitzt die Ohren. Für eine Sekunde spürt Susanne ihre Leidensgenossenschaft wie ein starkes, durch die Gärten gespanntes Band, dann hört auch sie das Knirschen der Reifen auf dem Kies, sieht einen Teil des Wagens, der sich über die Einfahrt nähert und hinter dem Haus aus ihrem Blickfeld verschwindet. Lupus trottet um die Ecke, eine Wagentür schlägt zu, Susannes Herz rasend in ihrer Brust, dass sie glaubt, sie muss sterben davon. Weil sie nichts sieht, stellt sie sich alles vor. Wie Hanno den Rollstuhl aus dem Kofferraum hebt und neben der Beifahrertür aufstellt, wie er seinem Vater heraushilft, wie schwer Herr Holtz in den Sitz fällt; Lupus, der vor Herrn Holtz stehen bleibt; Herr Holtz, der seine Hand ausstreckt und sie von Lupus lecken lässt; Hanno, der die Haustür aufschließt und seinen Vater über die Rampe ins Haus schiebt. Sie werden im Flur die Sakkos ausziehen und an die Garderobe hängen. Hanno wird das tun. Er wird die Flügeltüren zum Wohnzimmer aufstoßen, Lupus wird sich an ihm vorbeidrängen und mit seinem Kopf sanft gegen die Terrassentür stoßen, Hanno wird die Tür öffnen, und sie werden herauskommen, die Sonne scheint so schön, vielleicht gibt es doch noch Kaffee und Kuchen, es kann gar nicht anders sein.
Susanne nimmt das Fernglas und macht sich bereit, ein inneres Aufrichten, ein Straffen, wie jedes Mal, kurz bevor es beginnt. Hannos Gestalt scheint hinter der Fensterfront auf, eine schemenhafte Bewegung in der Tiefe des Wohnzimmers. Er kommt auf sie zu, mit jedem Schritt deutlicher, bleibt vor der Terrassentür stehen und sieht hinaus, die Schultern gebeugt, die Arme schlaff am Körper. Als er die Vorhänge zuzieht, glaubt Susanne zunächst an einen Scherz, lächelt sogar über das neckische Spiel, das er mit ihr treibt.
Drei grausame Stunden.
Im Fernglas verschwimmt das schwarz-weiße Streifenmuster der Vorhänge zu einem verwaschenen, fleckigen Grau, im Garten wachsen die Schatten, ein kurzer Hoffnungsschimmer, als sich die Terrassentür einen Spalt öffnet, Susanne erkennt einen Arm, ein Bein, Lupus wankt heraus und erleichtert sich am nächsten Baum, verschwindet in dem schmalen Spalt, der sich sofort wieder schließt. Die Vorhänge zittern, dann ist es still. Susanne lässt das Fernglas sinken. Ihr Blick geht zur Uhr über dem Fenster, eine Digitaluhr, tellergroß und mit roten Leuchtziffern, die lautlos umspringen.
18.59
19.00
Das Haus gegenüber bleibt stumm.
Mit einer Faust, die ihr klein und schwächlich vorkommt wie die eines Kindes, schlägt Susanne gegen die Wand. Der Schlag bleibt ohne Wirkung, nur ihre Fingerknöchel tun etwas weh, ein Schmerz, der auszuhalten ist und in den folgenden Stunden am Fenster rückstandslos vergehen wird.
Auf der Terrasse flackern die Kugelleuchten, eine Unregelmäßigkeit im Stromkreis.
Längst hätte das gemacht werden sollen.
Der Elektriker war für Montag bestellt, drei Mal hat er den Termin verschoben, bis ich ihn daran erinnert habe, was er unserer Familie alles zu verdanken hat, und ausgerechnet jetzt muss mir diese Sache dazwischenkommen, dieses Ärgernis, diese Frechheit, oder bilde ich mir das alles ein, und der Elektriker war längst hier, und die Leuchten flackern nur in meiner Vorstellung von den flackernden Leuchten, wie sie vor dieser Sache geflackert haben? Mein Kopf schwirrt, und ich versuche zur Beruhigung meinen Namen zu denken, Sylvia Annette Holtz, geborene Weber, verheiratet, ein Sohn, aus unerfindlichen Gründen vorzeitig abberufen, weggepackt und wieder aufgestanden, denke, wie überhaupt, erhebe mich von dem Platz, auf dem ich immer sitze (immer gesessen habe?), und trete zwischen die Vorhänge vor der breiten Fensterfront, der Garten ein dunkles Rauschen in den Bäumen, der graue Rasen eine von unruhig zuckenden Schatten betanzte Fläche, auf der ich selbst als junge Frau einmal getanzt habe. Mein schwarz gepunkteter Rock drehte sich zwei Fingerbreit über meinen Knien, Carl konnte gar nicht anders, als hinzusehen und die Umstehenden zu fragen, wer das sei, wer da so tanze, als gäbe es kein Morgen, wer da so mühelos die Zeit anhielt, dass der Abend nicht zu vergehen schien und wir am Morgen, der doch noch kam, nebeneinander aufwachten, in ein Laken gewickelt, die Füße am Kopfende, und nie mehr auseinandergingen.
Schnee von gestern.
Es lässt sich gut anschauen, sicherlich, wie ich da in Carls Armen liege, ganz glatt und fest und dumm, und glaube, dass nichts je zu Ende geht, aber da endet die Erinnerung, und ich wende mich vom Garten ab, in dem ich vor wenigen Tagen noch die welken Blüten der Rosen entfernt habe. Die Kränkungen des Todes blättern sich so vielfältig auf, es ist nur eine davon, dass ich offensichtlich nicht mehr eingreifen kann in die materielle Welt, nicht mehr hineingreifen kann in den Rittersporn, der es doch so nötig hätte, wenn er diesen Sommer zwei Mal blühen soll.
Eine weitere Kränkung: die Endgültigkeit.
Kaum kann ich Hanno ansehen, wie er da sitzt, über den Schnaps gebeugt, die Traurigkeit wie Galle im Mund, bitter und metallisch, all das Ungesagte, das noch hätte gesagt werden müssen. Er hat ja nie die Zähne auseinandergekriegt, alles musste man ihm aus der Nase ziehen. Schmeckt’s dir? Ja. Wie war’s in der Schule? Gut. Möchtest du Nachtisch? Nein. Hanno ist ein stilles Kind, hat es geheißen. Hanno überzeugt durch aufmerksames Zuhören. Hannos Stärken liegen im künstlerischen Bereich. Er führt das Glas zum Mund, immer noch fällt ihm die Strähne in die Stirn, wenn er sich vorbeugt, wie früher am Esstisch. Hast du Hausaufgaben? Ja. Welche Fächer? Weiß nicht. Bis wann? Irgendwann.
Besser nicht darüber nachdenken, was gewesen ist.
Ich mache mich los und stakse durch das Zimmer zur Tür, schnappe nach Luft, greife nach dem Türrahmen. Damit war nicht zu rechnen; im Tod so herumgeworfen zu werden, der doch eigentlich die Fortsetzung des Schlafes ist. Ich muss froh sein, dass sich kein Gedanke mehr lange hält, eine Lücke, und ich schlüpfe hinaus in den Flur, schleiche so leise wie möglich die Treppe hinauf, horche am oberen Treppenabsatz stehend nach unten. Kann ich das überhaupt noch, ein Geräusch verursachen? Kann ich noch die Ursache für etwas sein, Auslöserin einer Kette von Ereignissen, Teil eines Geschehens? Ich öffne den Mund, um zu rufen, schließe ihn sofort wieder. Im Haus ist es still, kein Laut dringt von unten herauf. Seit Tagen habe ich nicht mehr nach dem Rechten gesehen. Ich mache ein paar Schritte, im Flur liegt Carls Bademantel, und ich steige darüber hinweg, an der Wand hängt ein Bild schief, von einem Körper, der versehentlich dagegen gestoßen ist. Ich lasse es schief hängen. Überall brennt Licht, obwohl niemand da ist. Aus der geöffneten Tür zum Badezimmer strömt muffig-feuchte Luft, nasse Handtücher liegen in einem Klumpen auf den Fliesen, gräulich angetrocknete Schaumränder in der Wanne, das Fenster geschlossen, sodass die Feuchtigkeit nicht entweichen kann und sich Schimmel in den Fugen bilden wird, wenn Hanno sie nicht bald trocken wischt, gefälligst, will man denken, zack, zack, besser heute als morgen, und traut sich nicht.
Eine weitere Kränkung: die plötzliche Abhängigkeit von den Lebenden.
Ich ziehe den Kopf aus der Tür, gehe weiter in Hannos altes Kinderzimmer, ein Teller mit Essensresten neben dem Bett, eine Zeitschrift, sein Schlüsselbund. Alte Gewohnheiten. Ich habe immer alles halbwegs erhalten, für den Fall, dass er zurückkommt, das Bett war immer frisch bezogen, im leeren Schrank lagen Handtücher bereit. Sinnlos zu berechnen, was das gekostet hat, das Waschen, Bügeln, Falten, Einräumen, Saugen, Wischen, Fensterputzen, nicht zu vergessen die Renovierungsarbeiten, ein neuer Parkettboden, das Streichen der Wände, zwei Mal in den letzten dreißig Jahren. Was verdient eine Putzfrau? Zehn Euro pro Stunde, dazu die Kosten für Wasser, Strom und Putzmittel, Staubsaugerbeutel, Fenstertücher, dazu die Sonderausgaben, fünfzehn Quadratmeter Parkett, zehn Liter Farbe.
13000 Euro, konservativ gerechnet.
So viel hat mich Hannos Abwesenheit gekostet, ein Kleinwagen, aber es war doch gut investiertes Geld, immerhin ist er jetzt da, endlich zurück, und seine dreckige Wäsche liegt auch schon wieder über den ganzen Boden verstreut.
Ich schließe die Augen, so leicht verliert man sich in der Vergangenheit und den Belangen der Lebenden, es scheint überhaupt keinen Kern mehr zu geben, auf den ich mich zurückziehen kann. Das Obergeschoss kommt mir riesig vor, viel größer als früher. Wer braucht so viel Platz? Fünf Zimmer, und in jedem die Spuren einer aus den Fugen geratenen Ordnung, die ersten Staubmäuse in den Ecken, aufgezogene Schubladen, aus denen wie Gedärm die Wäsche hängt, eine schwarze Banane auf dem Tisch im Nähzimmer. Im Schlafzimmer das zerwühlte Bett, nicht nur Carls Seite, sondern auch meine, offenbar hat er sich in der Nacht herumgeworfen, Decken und Kissen zusammengerafft, die Laken herausgezogen. Auf dem Boden vor Carls Nachttisch liegen zwei Flaschen, Schnaps und Wasser, die Hälse einander zugewandt wie Liebende. In seinem Kampf mit den nächtlichen Ungeheuern muss Carl gegen den Tisch gestoßen sein, der quadratische Fuß der Nachttischlampe hat sich leicht verschoben und einen schmalen Keil aus hellem Holz freigegeben, den ich anstarre, bis er sich von der Tischplatte löst und aufsteigt, die Spitze gegen mein rechtes Auge gewendet, und in unendlicher Langsamkeit in mein Hirn eindringt.
Fast denke ich: Wie soll ich leben damit?
Korrigiere mich und denke: Wie soll ich in Frieden tot sein, wenn niemand die Lampe je in ihre natürlichen Grenzen zurückversetzt, wenn überhaupt nie jemand Ordnung schafft und die Lampe bis in alle Ewigkeit um einen Fingerbreit verrückt neben ihrem Platz steht? Die Versuchung, hinzufassen, ist überwältigend. Mein Arm streckt sich schon wie von selbst, fast berühren die Fingerspitzen den seidenen Schirm.
Aber ich kann nicht, falle aufs Bett, an der Decke ein Wasserfleck, den ich noch nie bemerkt habe. Der Keil in meinem Hirn beschränkt meine Aufmerksamkeit auf eine Länge von zehn Zentimetern. Es tut nicht weh, dafür klumpt die Bettdecke unangenehm im Rücken, ein flächiger Druck auf die Nierengegend, punktiert vom Häkchen des Reißverschlusses knapp neben dem Rückgrat. Ich spüre, wie die Erschöpfung in mir aufsteigt. Die Müdigkeit des Hundes im Stockwerk unter mir ist ein dichter, mit feinen Tröpfchen gesättigter Nebel, Carl und Hanno scheinen endlich in ihren Stühlen einzunicken, sodass auch ich bald schlafen kann. Ein kleiner Tod im großen, an diesem schrecklichen, nicht enden wollenden Tag. Draußen vor dem Fenster fährt der Wind durch die Buchen, ich höre es schon nur noch als Grundrauschen, nehme an, dass es immer so gewesen ist. Ein letzter Gedanke, ich weiß nicht, wem er gehört, ob er uns allen gehört oder mir allein, eine letzte Kränkung, bevor mir die Augen zufallen:
Wir sind ganz unten. Tiefer geht es nicht.