Impressum

Hasso Grabner

Der Mann mit der gelben Tasche

Erzählung

 

ISBN 978-3-96521-411-8 (E-Book)

 

Umschlaggestaltung: Ernst Franta

 

Das Buch erschien 1962 im Deutschen Militärverlag Berlin.

 

2021 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E-Mail: verlag@edition-digital.de

1

Das kurze, trockene Blaffen von drei, vier detonierenden Handgranaten zerriss die nächtliche Stille. Sekunden später brach ein Höllenlärm los. Nervöses, hastiges Gewehrfeuer peitschte auf, drohend, Respekt fordernd rauschte ein MG 42 dazwischen.

Der Jäger Karl Neubauer sprang von seinem Lager. Er war wachfrei und hatte sich niedergelegt. Die schmerzhafte Müdigkeit des ersten Schlafes beherrschte noch alle seine Glieder. Es war finster in dem Häuschen; der so jäh aus dem Schlaf Gerissene wusste im Moment nicht recht, wo er sich befand. Neben ihm rappelte sich der Obergefreite Franz Czirwinski auf. Als ein langjähriger Soldat nahm er die abrupte Ruhestörung gelassen hin. Er schimpfte zwar: „Nicht mal schlafen lassen die einen“, aber das war tatsächlich mehr der Ärger über die verlorene Nachtruhe als Nervosität. Keineswegs war es Angst vor dem, was sich da draußen am Dorfrande offensichtlich entwickelte, vor dem Nachtgefecht mit allen seinen Gefahren. Czirwinski hatte seine Schuhe mit einem Griff gefunden und mit der durch hundertfache Übung erlangten Geschwindigkeit angezogen, während Karl noch an seinem Schuhriemen knotete.

Es wurde hart an die Tür geklopft. „… raus ihr Säcke, Alarm, Kruzitürken“, dröhnte der raukehlige Bass des Unteroffiziers Lechleitner. „Los, los. Mach, mach“, drängte nun auch Franz, sich erinnernd, dass er von den beiden Männern in diesem Häuschen der Rangältere war. Immerhin hatte er sechs Jahre in „des Führers Rock“ auf dem Buckel gegenüber diesem Neubauer, der erst ganze vier Wochen über seine auch noch lächerlich kurze Rekrutenzeit hinaus war. „Mach, mach“, wiederholte er, „es gibt Kattun, damit du mal siehst, was das ist.“

Karl war fertig. „Na los“, sagte er kurz.

„Wenn du schon noch einen Stahlhelm hast, nimm ihn mit“, sagte Franz ruhig. „Wenns scheppert, sind sie praktisch, nur die Schlepperei …“

Karl warf die Jägermütze auf sein Lager und stülpte sich beim Hinausgehen den Eisenhut auf.

Unterdessen war Lechleitner zurückgekommen. Angesichts der erkennbaren Gefechtsbereitschaft der beiden Männer verzichtete er auf weiteres Schimpfen und orgelte: „Mir nach, Richtung Waldrand.“

Sie rannten los. Aus den Schatten der umliegenden Häuser heraus schlossen sich Männer der vorwärts stürmenden Spitze an. Der Gefechtslärm hatte an Heftigkeit zugenommen. Das rasende Feuer mehrerer Maschinengewehre überwog in diesem Konzert. Für Karl war das alles ein ungegliederter Spektakel, man schoss eben, aber die Deutschen hatten eindeutig die höhere Feuerkraft. Es war ihm dies keineswegs ein Triumph, aber im ersten Moment doch irgendwie beruhigend. Ärgerlich wischte er dieses Gefühl beiseite. Das fehlte noch, sich der Überlegenheit der faschistischen Waffen zu freuen! Es war schon eine Schande, zu diesem Vorwärtsrasen gezwungen zu sein, das ihn Sekunde um Sekunde näher an die Gefechtslinie brachte. Der Lechleitner rannte immer einen halben Meter vor ihm her, und dieser Oberschnäpser Czirwinski wich nicht von seiner Seite. Kameradschaft nannten die Kommissköpfe das. Ihn, den Neuen, wollten sie nicht allein lassen. Anstatt sich hier links oder rechts irgendwo hinwerfen zu können, musste er, zwischen diesen beiden buchstäblich eingekeilt, vorwärts traben. War das eine blödsinnige Lage!

Weiße Leuchtkugeln jagten in rascher Folge zum Nachthimmel empor. Der Dorfrand und die kurze Wegstrecke zum Wald lagen in blau-weißem Licht. Die ersten verirrten Kugeln zwitscherten an ihnen vorbei. Von irgendwoher war das stotternde Tack, Tack, Tack einer Maschinenwaffe zu hören. Karl ahnte nicht, dass das ein leichtes italienisches Maschinengewehr war. Doch seine erfahrenen Begleiter wussten sofort: Hier greift kein Spähtrupp an, sondern eine für Partisanenverhältnisse wohlausgerüstete größere Einheit. Davon zeugte auch die Häufigkeit der Handgranatendetonationen; Handgranaten, die dem Knall nach sowohl aus italienischen Beutebeständen stammen als auch russischer Herkunft sein konnten. Deutsche Stielhandgranaten flogen den versteckten Werfern dieser heißspritzenden Eier aber nicht entgegen.

Das alles hatten Lechleitner, Czirwinski und die anderen schon wahrgenommen, Karl hingegen hatte davon keine Ahnung. Solche Situationen waren zu neu für ihn, als dass er sich hätte routiniert in die Gefechtssituation hineintasten können. Auch hatte er ganz andere Sorgen. Hier rannte Karl Neubauer, der alte Kommunist, der sich bis vor Kurzem, das heißt bis nahe an das Ende dieses verfluchten Hitlerkrieges, vor dem Nazirock hatte drücken können. Hier rannte er, Karl Neubauer, wie ein Wilder mit dem Schießprügel in der Hand und zweihundert Patronen in den Taschen Menschen entgegen, die als seine Feinde anzusehen ihn keine Macht der Welt zwingen konnte. Sie schossen auf ihn. Mit gutem Recht schossen sie auf ihn, und er – er sollte auf sie schießen. Das war das Schlimmste, was ihm in seinem ganzen harten Leben passiert war.

Sie gelangten zum Kompaniegefechtsstand. Mit japsender Stimme meldete der etwas kurzatmige Lechleitner seine Gruppe. Oberleutnant Dürrstein gab Befehl, sich bis zur äußersten linken Spitze vorzuarbeiten, von dort müsste man den Gegner schon fast aus der Flanke fassen können. Lechleitner hatte eine ungefähre Vorstellung vom Gelände. Die Truppe lag bereits eine Woche in diesem griechisch-bulgarischen Grenzdorf. Er brauchte also nicht viel zu fragen und zog mit seinen Männern ab.

Gleich die ersten zweihundert Meter mussten sie geduckt vorgehen. Über den toten Winkel pfiffen die Infanteriegeschosse in beachtlicher Dichte. Der Rest des Weges wurde robbend zurückgelegt. Karl war in der Kunst des Gleitens wenig geübt und fiel bald um Meter zurück. Ihm war das recht, denn er brannte ganz und gar nicht darauf, „dem Feind Auge in Auge“ gegenüberzustehen. Die Kameraden überdies auch nicht, aber sie gingen eben ohne Bedenken vor, als gehöre es zu den alltäglichen Dingen, zu schießen und gegebenenfalls erschossen zu werden. Karl sah sich von der Klammer Lechleitner-Czirwinski befreit und blieb, tief aufatmend, liegen.

Er hatte aber seine Rechnung ohne das gemacht, was Franz Czirwinski unverrückbar unter Kameradschaft verstand. Der lange Obergefreite wollte den Neuling in dieser brenzligen Lage nicht allein lassen, sprang trotz der Gefahr ein paar Sätze zurück und warf sich an Neubauers Seite nieder. „Das ist nur das erste Mal“, redete er ihm tröstend zu, „an die Angst gewöhnt man sich.“ Karl seufzte. Dieser Landser würde nie begreifen, warum ein Mensch wie Neubauer keine Eile hatte, zum Schuss zu kommen. Stumm kroch er mit unauffälliger Langsamkeit vorwärts. Die Geduld des Obergefreiten war aber nicht zu erschüttern. Er blieb mit ihm wortlos auf gleicher Höhe.

So gelangten sie schließlich doch an die Kampflinie und wurden von Lechleitner nebeneinander eingewiesen.

Im Schein der Leuchtkugeln konnte Karl die Situation überblicken. Die deutsche Stellung bildete einen sanft geschwungenen Bogen. In ihrem Rücken lag ein schwarzer Wald. Das Spiel von Licht und Schatten durchzuckte ihn bei jedem Leuchtpistolenschuss. Vor dem nach innen gekrümmten Bogen fiel das Gelände schräg ab zu einer Schlucht. Kubikmetergroße Felsbrocken lagen darin. Hinter ihnen blitzte, mal hier, mal da, das Mündungsfeuer der Partisanen auf. Mit Leuchtspurgarben lenkte der Kompaniechef die Feuerkraft seiner Truppe auf die verschiedenen Stellen der Schlucht, von denen er glaubte, am heftigsten beschossen zu werden. Wie Perlengeschmeide jagten die Ketten feuriger Punkte durch die dunkle Nacht. Die Lechleitner-Gruppe richtete ihre Gewehre auf das Kopfende der glühenden Schlange und schoss nahezu manövermäßig Magazin auf Magazin leer. Ab und zu meckerte die MPi des Unteroffiziers dazwischen.

Karl hatte lange zu seinem ersten Schuss gebraucht. Er zitterte vor Wut und Scham über seine demütigende Lage. Viel schlimmer war das, als im Grusonwerk an der Horizontalbohrmaschine den Krieg verlängern zu helfen. Gewiss, dort hatte er nur ein lächerlich geringes Minimum an Arbeit geleistet. Wenn es irgend möglich gewesen war, war Ausschuss unter seinen Händen entstanden. Und trotzdem hatte er sich in Hitlers Kriegsmaschine eingespannt gefühlt. Das ganze Leben war ihm deshalb vergällt gewesen, wie besudelt war er sich selbst vorgekommen. Das lag nun alles drei Monate zurück. Die Schnüffler der Herren Wehrwirtschaftsführer waren ihm zwar nie auf die Schliche gekommen, aber der Verdacht, die so geringen Leistungen des Gefolgsmannes Neubauer könnten andere Gründe haben als mangelnde Qualifikation, hatte schließlich dazu geführt, seine uk-Stellung aufzuheben.

Für den ersten Moment war ihm das eine Erleichterung gewesen. Er sei doch ein pfiffiger Bursche, der auch mit dem Barras fertig werden würde, hatte er sich gesagt. Bei der Blitzausbildung im Ersatzbataillon war auch alles ganz gut gegangen. Die Vorgesetzten fanden den Vermerk „Wahrscheinlich nicht zuverlässig“ in der Stammrolle des Rekruten Neubauer durch den Rekruten Neubauer selbst widerlegt. Er war eifrig, ganz besonders dann, wenn es um praktische Waffenübungen und Waffenkenntnis ging. So etwas konnte der Arbeiter immer gebrauchen: Lenin hatte das oft genug mit Nachdruck betont, und Lenins Wort galt viel bei dem Bohrwerkdreher Karl Neubauer.

Soweit, so gut. Aber nun lag er hier und seine Situation war tausendmal schlimmer als je zuvor.

„Halte doch hin, wo die Funken spritzen“, raunzte ihn Czirwinski an und lud rasselnd durch. Karl zog den Kolben fest in die Schulter. Wie zum Spiel visierte er das Ziel an. Er hatte auf dem Schießstand nicht umsonst gut aufgepasst und hohe Ringe geschossen. O ja, er könnte! Mit einem grimmigen Lächeln hob er das Korn an, einen Zentimeter, zwei Zentimeter, drei. Eure Macht hat auch eine Grenze, ihr Hunde von Hitler bis Lechleitner und Czirwinski, dachte er beinahe vergnügt. Karl Neubauer schießt zehn Meter über das von euch befohlene Ziel hinweg, ein Dreck ist euer Befehl. Dann zog er den Abzug über den Druckpunkt hinaus. Als der Schuss aus dem Lauf jagte, kam ihm mit gleicher Geschwindigkeit eine neue Idee. Schuss auf Schuss, schulmäßiges Schnellfeuer; die Patronen, die du in die Luft ballerst, schießt kein anderer einem Freund ins Herz. Hastig lud er durch. Mit einem Klick sprang die heiße Hülse auf den Fels. Schuss. Durchladen. Schuss. Durchladen. Schuss.

„Mann, sei nicht so aufgeregt, immer mit der Ruhe“, sagte Czirwinski neben ihm fast väterlich.

Idiot, dachte Karl, und laut sagte er: „Ich – aufgeregt? Keine Spur.“

„Na ja, das ist nur beim ersten Mal, das verliert sich. Und dann kommt es noch einmal wieder. Wenn du zurückkommst aus dem Lazarett an die Front, nachdem du die erste verplättet gekriegt hast. Sonst gewöhnt man sich daran.“ Sprach’s, zielte und schoss wieder, die Ruhe selbst, der Obergefreite Franz Czirwinski, bemüht, seinem als Soldat jüngeren Kameraden ein Höchstmaß dieser Ruhe abzugeben.

Die pfeifenden Silberschnüre schwenkten aus der Schlucht auf den rechten Abschnitt hinüber. Dort duckte sich der Wald zu kurzem Krüppelholz zusammen und kroch ein Stück den Berg hinauf. In Sekundenschnelle mochte sich da der Hauptstoß der Partisanen entwickelt haben. Der Hochwaldrand schien für einen Moment wie in Brillanten gefasst, so dicht lagen die Einschläge der detonierenden Handgranaten. Ein zweites MG 42 jagte Leuchtspurgarben in das Unterholz.

Jetzt drehten alle MG-Schützen ihre Spritzen auf. Pausenlos stiegen vom Gefechtsstand die kurzlebigen Magnesiumsonnen in den Nachthimmel. Durch den Gefechtslärm der Maschinengewehre und der zerknallenden Eier hörte man nicht mehr die Munitionsträger hasten und keuchen, die den ungeheuren Appetit der MGs befriedigen sollten.

Lechleitner fluchte. Mit seiner MPi reichte er nicht bis zum gegenüberliegenden Frontabschnitt. Er hatte also Zeit, seine Männer anzutreiben, das Gewehrfeuer zu verstärken. Er forderte sie schnauzend auf, die Schlucht nicht ganz außer Acht zu lassen, und legte seine eigene Leuchtpistole bereit, um notfalls aufhellen zu können, sollte die Lage dort bedrohlich werden. Innerlich fluchte Lechleitner auf den Trottel von Kompanieführer, der sich in seiner Unerfahrenheit womöglich von einem Scheinangriff bluffen ließ und den Mittelabschnitt vergaß. Der alte Unteroffizier hatte eine Nase für taktische Operationen. Auch vermisste er das trockene Tack, Tack, Tack des italienischen MGs, das er vorher hatte stottern hören. Das musste keineswegs an Munitionsmangel liegen, obwohl die Partisanen mit Munition nie reich gesegnet waren.

Karl war die taktische Wendung, die das Gefecht anzunehmen schien, nicht gleichgültig. Dort drüben hatten sich die Partisanen auf Wurfnähe an die Deutschen herangearbeitet. Es gab gewiss Tote und Verwundete. Seine Sympathien waren bei den Partisanen. Sie sollten siegen. Gleichzeitig aber konnte sein Herz nicht wünschen, dass deutsche Landsleute starben. Das war ein schreckliches Dilemma, aus dem es keinen Ausweg gab, keinen geben konnte. Je näher die Reihen aufeinandertrafen, desto mehr wurde er sich der Ausweglosigkeit seiner moralischen Lage bewusst. Er kannte nicht viele der deutschen Soldaten, die da drüben lagen, war er doch erst kurze Zeit bei der Truppe, aber mit einigen hatte er schon ein wenig Fühlung gehabt. Gutmütige und Grobiane waren darunter, Dummköpfe und Nachdenkliche, aber alle hatten sie auf ihre Art vom Krieg die Schnauze voll. Wem hätte er mit gutem Recht den Tod wünschen dürfen? In den ersten vierzehn Tagen hatte Karl oft davon geträumt, mit vielen, ja möglichst mit allen Kameraden überzulaufen. Dann hatte er erstaunt einsehen müssen, dass ihm das noch nicht einmal allein so ohne weiteres möglich war. Gleich nachdem er in Saloniki zur Kompanie Dürrstein gekommen war, waren sie aufgebrochen und Tag für Tag von Ort zu Ort gezogen. An irgendeine Verbindung zur griechischen Bevölkerung war gar nicht zu denken, geschweige denn zu Partisanen. Von solchen hatte er seine Kameraden nur immer reden hören, und das noch in sehr widerspruchsvoller Weise. Er selbst hatte noch keine gesehen, so sehr er auch wünschte, es möge recht viele geben, schon, um so schnell wie möglich überlaufen zu können. Bis jetzt jedenfalls konnte er das Vorhandensein von Partisanen nur schlussfolgern. So wäre man zum Beispiel von Saloniki aus nicht in nordwestlicher Richtung marschiert, der fernen Stadt Skoplje entgegen, weil schon starke jugoslawisch-griechisch-bulgarische Partisanenverbände den Raum bis zum Prespasee beherrschten, wussten die Kameraden zu erklären. Jetzt schien auch der nordöstliche Weg unsicher geworden zu sein. Hatte doch die Truppe einen auffälligen Bogen um die Stadt Drama gemacht, den Boz Dag umgangen und schlich nun auf Saumpfaden die Ausläufer der südlichen Rhodopen hinauf. Lechleitner, der mit seinen guten Informationen gern prahlte, sprach von der Absicht der Deutschen, die Straße Xanthi–Plovdiv zu erreichen. Der mehrtägige Aufenthalt in diesem Bergdörfchen sollte wohl dazu dienen, jenen vielleicht letzten Verbindungsweg zum noch einigermaßen gesicherten deutschen Machtbereich freihalten zu helfen.

In der heutigen Nacht wurde Karl nun die Existenz massiver Partisanenverbände bewiesen. Was tun? Auf die Frage fand er trotz allen Grübelns keine Antwort. Gab es eine Möglichkeit, mehr zu tun, als nur in die Luft zu schießen? Jetzt überzulaufen wäre ganz unmöglich. Der Lechleitner hätte ihn nach fünf Metern mit der MPi durchlöchert. Vielleicht konnte man liegenbleiben, wenn das Gefecht zu Ende war? Unwahrscheinlich, sehr unwahrscheinlich, wenn er an Franz Czirwinskis beflissene Kameradschaft dachte. Seufzend gestand sich Karl ein, aus dieser Lage wohl nicht mehr als das gute Gewissen retten zu können, wenigstens auf keinen wirklichen Kameraden, auf keinen Partisanen geschossen zu haben.

Ein Kompaniemelder hastete heran. Befehl: Seitengewehre aufpflanzen. Lechleitner lachte.

Das ist doch ein Idiot, dieser Kompanieheini. Als ob einer seiner Männer nach monatelangem Rückzug zu Fuß noch solch eine Plempe hätte! Trotz dieser stillen Überlegung gab er den Befehl sofort mit lauter Stimme weiter. Jetzt war das Lachen bei den Männern. Eine despektierliche Haltung, die nicht geduldet werden durfte, denn nun kam der Befehl von ihm. Zum Glück fiel dem Unteroffizier ein, gestern noch bei dem Neuen ein solches Käsemesser gesehen zu haben. „Haltet das Maul, ihr Idioten, glaubt ihr, es gibt nur solche Schlumpschützen wie euch? Los, Neubauer, zeig’s ihnen, pflanz auf!“

Karl stieg ob dieses Lobes die Schamröte ins Gesicht. Die anderen mussten ihn für einen besonders strammen Preußen halten. Morgen spätestens würde er das Ding verlieren. Jetzt aber musste er es aufpflanzen, obwohl er sich mit dieser martialischen Bewaffnung noch lächerlicher vorkam.

Lechleitner war’s zufrieden und äußerte seinen Seelenzustand, indem er ein Magazin seiner MPi verschoss. Um dieses für ihn feuerwerkartige Vergnügen recht zu genießen, streute er seinen Kugelregen in weitem Bogen aus. Dabei geriet sein Blick halb nach rückwärts. Für eine Sekunde blieb ihm das Herz stehen. Partisanen! Den Steilhang mussten sie erstiegen haben, den er als zuverlässige Flankendeckung angesehen hatte. Sein Gefühl, dass der Rabatz am rechten Flügel nur ein Scheinangriff war, hatte ihn nicht betrogen. Das alles jagte ihm blitzartig durch den Kopf. „Feind von links“, brüllte er auf, riss ein neues Magazin aus dem Futteral und ballerte los. Tack, Tack, Tack – das Partisanenmaschinengewehr erhob seine Stimme. Die Kugeln prasselten in die Steine, zwischen denen die Lechleitner-Gruppe lag. Querschläger sirrten böse durch die Luft. Ein Mann sprang auf und brach nach zwei Schritten zusammen. Lechleitners Kaltblütigkeit rettete für Sekunden die Lage. Seine Salve zwang die in langen Sätzen anstürmenden Partisanen zu Boden. Ihre Absicht misslang, die Gruppe im Lauf durch Handgranaten zu vernichten. Nun mussten sie an den Boden gepresst ihre Eier werfen, wodurch die Treffsicherheit wesentlich gemindert wurde. Katzengleich hatten die Deutschen die Stellung gewechselt. Sie lagen, nun das Gesicht dem Gegner zugewandt, und eröffneten ein rasendes Feuer. Am reaktionsschnellsten war Franz Czirwinski. Er packte den vor Entsetzen fast bewegungsunfähigen Neubauer am Koppel und riss ihn mit brutaler Kraft herum.

„Schieß, Mensch, jetzt geht’s um den Arsch!“, brüllte er den Kameraden an.

Ein fürchterlicher Stich durchfuhr Karls Herz. Wie eine Hammermühle dröhnte sein Kopf. Jetzt brach zusammen, was er sich eben tröstend ausgemalt hatte. In der flammenzuckenden, rauen Wirklichkeit der ringsum detonierenden Handgranaten zerbrachen alle Illusionen. Ihm war so elend zumute, dass er den Kopf auf die Erde legte und sterben wollte. Ein Hagel von Handgranatensplittern prasselte auf seinen Stahlhelm. Die Hände fühlten glühend heiße Stiche. Der Lebenswille riss ihn hoch. Da stürmten die Partisanen an. Die Deutschen sprangen auf und schossen im Stehen in die anrollende Woge hinein. Auch Karl zielte jetzt auf einen der dunklen Schatten, drückte ab, zielte ein zweites Mal und schoss wieder.

Die ersten waren heran. Bärtige Männer, zum Teil in Pelzjacken, große, zäh und gefährlich aussehende Burschen. Einer rannte direkt auf Karl zu, den Gewehrkolben drohend geschwungen. Karl drückte ab, kein Schuss – die Kammer war leer. Der Partisan schien über ihn kommen zu wollen wie ein rächender Kriegsgott. Seine Waffe erhob sich über Karls Haupt. Da sah der Bedrohte die Pelzjacke des Partisanen am unteren Ende ein Stück aufklaffen. Fest packte er sein Gewehr und stieß das Bajonett mit wilder Kraft genau in diese Stelle. Ein furchtbarer Schrei brach aus dem bärtigen Munde. Klirrend fiel das Gewehr des Partisanen zu Boden. Seine Hände griffen um den mörderischen Lauf, dessen stählerne Spitze ihm tief im Leibe saß.

In tierhafter Verzweiflung versuchte Karl, seine Waffe loszureißen. Vergebens, die Partisanenfäuste ließen nicht locker. In diesem Moment war schon ein anderer Partisan zur Stelle. Weit kreiste sein Gewehr über Karl. Blitzschnell ließ der sich nach rückwärts zur Erde fallen. Der todbringende Schlag ging ins Leere. Im Fallen war Karl mit der Rechten auf Lechleitners Leuchtpistole geraten. Er riss sie hoch und feuerte die Ladung in das wutverzerrte Gesicht über ihm. Die Wirkung war entsetzlich. Feurige Magnesiumlohe schoss aus Pelz und Bart des Partisanen hervor. Durch die gleißende Flammenwand sah Karl für einen Moment die entsetzten Augen des Getroffenen blitzen, dann war das Gesicht eine einzige wabernde Fackel. Dennoch gab der Partisan mit dem letzten Rest seiner Kraft dem verhassten Feind einen Fußtritt, der Karl über den Rand des Schräghanges hinabschleuderte. Ein mächtiger Felsbrocken hielt ihn auf. Karl fühlte noch den Aufprall seiner Rippen, dann umfing ihn tiefe Nacht.

2

Efkari Tsukala hatte den kostbaren Holzkohlenvorrat angegriffen, um heißes Wasser in dem großen Hängetopf zu bereiten. Man würde es brauchen können, wenn die Faschisten aus dem Dorf geworfen waren. Ihretwegen hatte Efkari auch kein offenes Holzfeuer gemacht. Selbst einen geringen Lichtschein aus dem Rauchabzug konnten die Deutschen missverstehen und als Signal deuten. Die Frau starrte in die dunkelrote Glut. Sie lauschte dem Gefecht mit wachsender Unruhe. Der Widerstand der Deutschen schien sich versteift zu haben, der Kampflärm kam nicht näher. „Sie müssen geschlagen werden, so sorgfältig, wie dieser Angriff vorbereitet war“, sagte sie mit leiser Stimme, zu ihrer Tochter Futula gewandt. Das junge Mädchen nickte stumm, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Sie war mit dem Aufwickeln von Binden beschäftigt und hatte schon einen ansehnlichen Haufen fertig. Die Mutter war mit der Arbeit ihrer Tochter zufrieden. Sie trat näher und strich ihr mit leiser Hand über das Haar. „Hoffentlich brauchen wir nicht alle“, seufzte das Mädchen. Die Mutter zuckte mit den Schultern. „Hoffentlich haben wir genug“, sagte sie, „es geht hart zu da draußen.“

Ein Geräusch an der Tür schreckte die beiden Frauen auf. Blitzschnell versteckte Futula den Verbandstoff.

Die Tür öffnete sich einen Spalt, ein Junge von ungefähr achtzehn Jahren schlüpfte rasch herein. „Boitscho“, riefen beide Frauen wie aus einem Munde. Der Angesprochene atmete heftig, auf seinem Gesicht lag ein verschmitztes Lächeln. Als er Futula ansah, senkte sie den Kopf. Eine tiefe Röte übergoss ihr Gesicht.

„Was ist, Boitscho, kommt ihr bald?“, fragte Efkari nervös. Sie hatte den Jungen am Hemd gepackt und schaute ihm fragend in die Augen.

Das Lächeln verschwand vom Gesicht des Partisanen. Langsam nickte er mit dem Kopf, was bei den Bulgaren und auch bei den Griechen „nein“ bedeutet. Dann berichtete er der Frau stockend und im mangelhaften Griechisch eines Grenzbulgaren, dass die Partisanen Lisevon nicht einnehmen könnten. Die verfluchten rechtsgerichteten Partisanengruppen hatten die ELAS-Leute im Stich gelassen. Es war verabredet gewesen, jene sollten nach zwei mächtigen Flankenangriffen der ELAS in der Mitte der Front den Hauptschlag führen und durchbrechen. Die ELAS hatte wie wild links und rechts angegriffen, aber in der Mitte hatte sich nichts gerührt. Nun könnten sie nicht mehr weiter.

Ein bitterer Zug lag um Efkaris Mund. Es war im Grunde nichts Neues, was sie hier erfuhr. Die rechten Gruppen trieben dieses verräterische Spiel immer und immer wieder. Sie verfügten über das Vielfache an Waffen, die sie von dem britischen Sonderkommando bekamen, das hinter der deutschen Front operierte. Sie erhielten ständig aus der Luft Munitionsnachschub, Verpflegung, Bekleidung, Geld. Trotzdem ließen sie der ELAS den Löwenanteil im Kampf gegen die Deutschen. Nie suchten sie den Kampf und griffen nur zu den Waffen, wenn deutsche Säuberungskommandos ihre Schlupfwinkel aufstöberten. Immer und immer wieder bemühte sich die ELAS-Truppenführung um gemeinsame Operationen. Selten, sehr selten nur kam es zu Übereinkünften, und noch seltener war dann auf die rechten Einheiten Verlass. Entweder sie kamen zu spät, oder sie hatten den Treffpunkt nicht gefunden, oder aber ihre Führer bestanden auf eine grundsätzlich andere Taktik. Es waren meist Offiziere der königlich-griechischen Armee, die glaubten, den Partisanenkommandeuren von vornherein in militärischen Dingen überlegen zu sein. Sie unterstellten sich prinzipiell nicht deren Kommando. So gab es bei den wenigen gemeinsamen Operationen meist noch zwei Befehlshaber. Das erforderte von den ELAS-Kommandeuren ein kaum vertretbares Maß an taktischer Wendigkeit und Engelsgeduld. Dennoch galt die Zusammenarbeit mit den monarchistischen Andarten als unbedingte politische Linie der ELAS. Die Revolutionäre kannten die Beweggründe der Rechten nur zu gut. Der Hitlerkrieg ging seinem Ende zu. Die ELAS hatte sich im griechischen Volk legendären Ruhm erworben. Von den rechten Partisanengruppen sprach man kaum. Eine militärisch starke ELAS würde das Haupthindernis sein, in Griechenland wieder eine monarchistisch-kapitalistische Ordnung zu errichten. Jeder im Kampf gegen die deutschen Faschisten gefallene Partisan würde einer Volkserhebung fehlen. Die ELAS- Bewegung war heute gut, den Engländern militärisch den Weg nach Norden frei zu kämpfen. Für die „innere Ordnung" würden dann schon die glänzend ausgerüsteten, geschonten rechten Verbände sorgen. Das um so leichter, je mehr Partisanen im Grammos, Epiros, Pindos und in den Rhodopen mit dem Bild eines freien Griechenland im Herzen die letzte Ruhestatt fanden.

Weil das so war und weil sich die Partisanen ein heiliges Recht erworben hatten, von jedem Sohn Griechenlands einen Beitrag im Kampf um die Befreiung der Heimat vom faschistischen Joch zu fordern, darum versuchte die ELAS-Führung immer wieder, mit den Rechten eine gemeinsame Front zu bilden, auch unter Opfern.

Alle diese Zusammenhänge waren Efkari wohlbekannt. Sie war früher Lehrerin in Kavalla gewesen, bis die Faschisten alle Schulen geschlossen hatten. Wie viele Intellektuelle hasste sie die Rückständigkeit des monarchistischen Regimes und war konsequent genug, sich seinen entschlossensten Feinden, der illegalen Kommunistischen Partei Griechenlands, anzuschließen. Nach heldenmütigem konspirativem Einsatz hatte sie auf Parteibeschluss Kavalla verlassen und war in dieses thrazische Bergdorf gegangen. Hier wurde sie bald unter den Partisanen als eine furchtlose und kluge Etazi bekannt. Diese von dem türkischen Wort Etak gleich Bett abgeleitete Bezeichnung stammt aus der Zeit des Freiheitskampfes der Balkanvölker gegen die Türken. Etazi wurden die Männer und Frauen genannt, die trotz drohender Lebensgefahr immer ein Bett, eine Unterkunft für flüchtige oder verwundete Partisanen bereit hatten. Mit Ehrfurcht wurde das Wort Etazi im Volke geflüstert. Liebe und Verehrung bildeten um diese Menschen eine Mauer, die kein Faschist je durchdringen konnte.

So war Efkari Tsukala eine Vertraute der Partisanen, von der auch noch mehr zu erwarten war als nur solidarische Hilfeleistung. Sie hatte in den wenigen Tagen der deutschen Besetzung Lisevons auf den Mann genau die Kampfstärke des Feindes ermittelt. Futula war die Meldegängerin gewesen, die jene wertvollen Zahlen dem ELAS-Stab überbracht hatte. Auf die Fünfzehnjährige konnte man sich unbedingt verlassen. Sie war flink wie ein Reh, zäh und ausdauernd beim Laufen und Klettern, ortskundig wie die ältesten Dorfbewohner. Sie hatte schon lange vor dem deutschen Einmarsch die Verbindung zwischen ihrer Mutter und dem Partisanenkommando aufrechterhalten und dabei den jungen Bulgaren Boitscho kennengelernt. Es gab viele Bulgaren in diesem griechischen Partisanenverband, aber keiner erschien Futula schöner und liebenswerter als Boitscho.

Der Mutter war die Herzensverwirrung ihrer Tochter nicht verborgen geblieben. Sie war ihr nicht gram deshalb. Nie würde ihre Tochter das unwürdige Schicksal der meisten Griechinnen teilen müssen, die von ihren Vätern ohne ihren Willen, ja sogar ohne ihr Wissen an irgendeinen Mann verkauft wurden, dessen Vater bereit und in der Lage war, den Kaufpreis zu zahlen, der meistens aus einer Kuh oder zwei, drei Schafen bestand. So wollte es die patriarchalische Sitte der griechischen Bergdörfer. Den Handel machten die Väter untereinander aus, der junge „Bräutigam“ und die „Braut“ erfuhren wenige Minuten vor der Eheschließung an der Kirchentür, mit wem sie ein Leben lang verheiratet sein mussten. Das würde der Tochter der Efkari Tsukala nicht widerfahren. Futula würde ihrer Mutter sagen können: Diesen Mann liebe ich, ihn möchte ich heiraten. Efkari würde dann schon erforschen, ob auch dem Auserwählten die Tochter gefiel, und später die Angelegenheit regeln. Die strengen Sitten gestatteten ja nicht, dass sich die jungen Leute untereinander selbst einig werden konnten. Es war unmöglich, dass sich ein junger Mann und ein junges Mädchen auf der Straße unterhielten. Ja selbst beim Tanz auf dem Dorfplatz durften sie niemals miteinander sprechen. Säuberlich getrennt, tanzten hier die Burschen, dort die Mädchen, und wehe, eines von ihnen würde ertappt, wenn es einen schüchternen Blick zu den tanzenden Jungen warf. Mit Schimpf und Schande wäre es vom Dorfplatz gejagt worden. Die Alten hielten argwöhnisch Wache. Es ging um die väterliche Vorherrschaft, um das Geschäft der Familienoberhäupter, die ihre Töchter verkaufen wollten. Die unvorstellbare Armut verlieh diesen menschenunwürdigen Sitten eine zählebige Anerkennung. Je ärmer die Menschen waren, desto fester hingen sie ihnen an, gab es doch schließlich für einen armen Teufel von Familienvater im ganzen Leben oftmals nur eine einzige Chance, zu einer Kuh zu kommen, und das war seine als Tauschobjekt wertvolle Tochter.