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Impressum
Zitat
Vorwort
Mehr als ein Traum - Karo Stein
Träume für Finn - Elisa Schwarz
Der unsichtbare Mantel - Sabrina Železný
Die Freiheit in Gedanken - Jannis Plastargias
Ocean Dreams – Die Einsamkeit am Meer
Unter dem Wasser - Thomas Pregel
Mein Held - Jobst Mahrenholz
Alb Träume - Anna Maske
Alles Gute zum Geburtstag - Alexa Lor
Klangfarben der Liebe 1965 - Florian Tietgen
Bruderliebe - Tanja Meurer
Bacha-Bazi - Laurent Bach
Anam Cara - Leann Porter
Lebe deinen Traum - Chris P. Rolls
Zwillingstraum - Juliane Seidel
Vorstellungen Autoren
Vorstellung Designerin
Setzerinnen
Vorstellung Bar jeder Sicht
Werbung
Weitere Informationen
Like a Dream
Benefizanthologie
Herausgeberin: Juliane Seidel
Impressum
2. Auflage 2021
ISBN-13: 978-1539536727
ISBN-10: 1539536726
Herausgeberin: Juliane Seidel
© Juliane Seidel, 2016-2021
Zietenring 12
65195 Wiesbaden
www.juliane-seidel.de
www.like-a-dream.de
koriko@gmx.de
Cover: ©Casandra Krammer
Lektorat: Juliane Seidel, Brunhilde Witthaut, Christina McKay
Korrektur: Anna Maske, Brunhilde Witthaut,
Elisa Schwarz, Kay Monroe
Satz: Annette Juretzki (Taschenbuch) / Jana Walther (eBook)
Illustrationen: Tanja Meurer
Sämtliche Personen dieser Geschichten sind frei erfunden und Ähnlichkeiten daher nur zufällig.
Im wahren Leben gilt: Safer Sex.
Ebooks sind nicht übertragbar und dürfen auch nicht kopiert oder weiterverkauft werden. In jedem Buch steckt jahrelange Arbeit, bitte respektiert das. Die Autoren freuen sich sehr über Rückmeldungen, z.B. bei Facebook, per Mail oder als Rezension.
Nimm dir Zeit zum Träumen – es bringt dich den Sternen näher. (Irisches Sprichwort)
Vorwort
Als ich im März 2001 die Seite »Like a Dream« (www.like-a-dream.de) ins Leben rief, hatte ich keine Ahnung, wohin mich die Reise führen würde. Ich habe nicht damit gerechnet, dass mich dieses Projekt über 15 Jahre begleiten und ich im Laufe der Zeit so viele Künstler*innen (japanische Mangaka und internationale Zeichner*innen und Autoren*innen) kennenlernen würde. Umso mehr freue ich mich, dieses Jubiläum in Form dieser Anthologie zu feiern und dafür so viele wundervolle Autor*innen gewonnen zu haben. Nahezu alle teilnehmenden Schreiberlinge kenne ich persönlich, habe ihre Romane gelesen und geliebt. Dementsprechend freue ich mich über jede einzelne Geschichte, die zum Thema »Träume, Wünsche, Hoffnungen« eingereicht wurde und nun den Weg zwischen zwei Buchdeckel gefunden hat. Unterstützt von Cassy Krammer, das schöne Cover verantwortlich ist, Chris P. Rolls, die den kompletten Satz und die eBook-Erstellung übernommen und meiner Frau Tanja Meurer, die mir in den letzten Wochen den Rücken freigehalten hat, ist »Like a Dream« eine Anthologie geworden, in der eine Menge Liebe und Herzblut steckt. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen teilnehmenden Autor*innen bedanken, die sich die Zeit genommen haben, dieses Projekt zu unterstützen und gleichzeitig etwas ganz besonderes für meinen Blog zu schaffen – ohne euch gäbe es weder meine Seite »Like a Dream« noch die gleichnamige Anthologie.
Da es sich um eine Benefizanthologie handelt, kommen alle Einnahmen dem LBSK e.V. zugute, die mit der »Bar jeder Sicht« (www.sichtbar-mainz.de) einen Treffpunkt für queere Gruppen und Vereine bieten und ein ehrenamtliches Beratungs- und Helfersystem für Lesben, Schwule, Bi-, Trans* und Intersexuelle auf die Beine gestellt haben. Im Rahmen des queeren Lesefestivals »QUEER gelesen« (www.queer-gelesen.de) arbeite ich eng mit dem Team der Bar jeder Sicht zusammen und freue mich, den Verein auf diesem Weg unterstützen zu können.
Ich hoffe dir, liebe*r Leser*in, gefällt die bunte und abwechslungsreiche Auswahl in dieser Anthologie und du hast Freude an den Geschichten. Besonders dir gilt mein Dank, denn ohne dich gäbe es weder Blog, noch Anthologie. Vielleicht lernst du neue Autor*innen kennen, vielleicht überraschen dich die Geschichten deiner favorisierten Schreiberlinge – auf jeden Fall wünsche ich im Namen aller Autor*innen viel Vergnügen bei unseren Träumen.
Juliane Seidel, Oktober 2016
Nachtrag März 2021:
In Zuge der Neuauflage der Anthologie verabschiedet sich eine Autorin aus »Like a Dream«, so dass die überarbeitete Neuauflage ein wenig kürzer ist, als die ursprüngliche Fassung. Ich bin mir jedoch sicher, dass die 15 enthaltenen Geschichten dennoch begeistern, unterhalten und zum Träumen einladen.
Im Zuge der Neuauflage wurde der Buchsatz komplett überarbeitet und der 2. Benefizanthologie »Like a (bad) Dream« angepasst – ich bedanke mich bei Annette Juretzki, die den kompletten Taschenbuch-Satz gemacht und den Seiten neues Leben eingehaucht hat, bei Jana Walther, die das eBook neu gesetzt hat und bei meiner Frau Tanja, die kurzfristig kleine Illustrationen für die Deckblätter gezaubert hat.
Mehr als ein Traum
Karo Stein
Seit zwei Monaten komme ich jeden Mittwochnachmittag ins Divine, ein kleines alternatives Café, und höre ihm zu. Er sitzt auf einem alten Stuhl am Rand der winzigen Bühne und liest Gedichte, die er vermutlich selbst geschrieben hat. Ein Mikrophon braucht er nicht, denn seine Stimme zieht nicht nur mich magisch in seinen Bann. Tief und sinnlich, sentimental und melancholisch, mit einer Klangfarbe, die bei mir für Gänsehaut sorgt und mich absolut um den Verstand bringt.
Dabei mag ich Gedichte nicht besonders. Genau betrachtet habe ich seit der Schulzeit nie wieder einen Gedichtband zur Hand genommen. Schon damals konnte ich Reimen jeglicher Art kaum etwas abgewinnen. Natürlich gibt es die großen altehrwürdigen Meister, die ich im Rahmen des Deutschunterrichts ertragen und gemocht habe, aber alles darüber hinaus entzieht sich vollkommen meinem Verständnis. Es war eine Qual, als Anton, mein erster Freund, ein Liebesgedicht für mich geschrieben hat. Das Gefühl von Fremdschämen überkommt mich noch heute, viele Jahre später, wenn ich nur daran denke. Es tut mir leid, dass ich viel weniger emotional darauf reagiert habe, als er es erwartet hatte. Wir sind längst nicht mehr zusammen, was allerdings nichts mit seiner Leidenschaft fürs Dichten zu tun hatte. Noch heute sind wir locker befreundet. Anton schreibt immer noch Verse, die hoffentlich jemand anderes mehr zu würdigen weiß.
Wenn er sehen würde, wie ich hier sitze, zuhöre und gar nicht genug von diesem Typen bekommen kann, würde er mich vermutlich für verrückt halten. Eine Möglichkeit, die ich bereits in Erwägung gezogen habe und weswegen ich letzten Mittwoch nicht hergekommen bin. Bei dem Gedanken daran schüttelt es mich. Der Tag war grauenhaft gewesen, eigentlich sogar die ganze Woche. Ich habe mich noch nie so unruhig und überflüssig gefühlt. Es gab einfach nichts, womit ich mich längere Zeit ablenken konnte. Ich war regelrecht aggressiv. Am Ende habe ich eingesehen, dass es keine gute Idee gewesen ist und ich einen anderen Weg finden muss, um den kleinen Poeten aus meinem Kopf zu bekommen.
Deshalb sitze ich heute wieder hier und lausche ihm wie hypnotisiert. In meinem Kopf läuft währenddessen ein Film, dessen Inhalt keineswegs jugendfrei ist und der mich heute Nacht um den Verstand bringen wird. Ich sollte ihn ansprechen, irgendetwas tun, bevor ich tatsächlich noch durchdrehe. Es wäre mit Sicherheit besser, eine Abfuhr zu erhalten, als dieses ständige Hoffen. Dabei bin ich überhaupt nicht der Typ, der passiv auf eine Chance wartet. Bisher habe ich mir immer genommen, was ich wollte. Ich weiß, wie ich mich und meinen Körper in Szene setze und habe kein Problem damit, meine Bedürfnisse klar zu definieren und Grenzen zu ziehen. Nach einer Partnerschaft steht mir nicht der Sinn und an die große Liebe glaube ich nur bedingt. Bisher ist jeder Versuch eine längerfristige Beziehung zu führen, hoffnungslos gescheitert. Vielleicht bin ich einfach nicht dafür gemacht. Ich brauche niemanden an meiner Seite, um mich besser oder gar vollständig zu fühlen.
Umso verwirrender ist es, dass dieser Kerl mir nicht aus dem Kopf geht und ich viel zu viel über ihn nachdenke. Ich lausche seinen Worten, sauge jede Bewegung auf und verinnerliche die Form seines Mundes, die winzigen Grübchen, die entstehen, wenn er lächelt. Manchmal erscheint es, als würden seine Augen für winzige Momente aufleuchten, dann sind sie wieder unendlich dunkel und voller Schmerz. Ich mag es, wenn er sich verlegen durchs Haar streicht, wenn er die Nase kraus zieht oder wenn seine Mundwinkel zucken.
Seufzend trinke ich einen Schluck von meinem Milchkaffee und sehe mich um. Einmal abgesehen von dem wunderbaren Mann mit den Gedichten, ist das Divine längst mein Lieblingscafé. Es hat einen ganz besonderen Charme, der zwischen verrückt und elegant pendelt. Es gibt alte Sofas mit tiefen Polstern, jeder Stuhl ist ein Unikat, ebenso wie die Tische. An den Wänden hängen Bilder der großen Discoqueen Divine, aber auch andere Musiker und Schauspieler der 70er und 80er Jahre. Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen gefallen mir besonders gut. Sie durchbrechen auf atemberaubende Weise den ganzen Glitter und Glamour. Es gibt immer wieder etwas Neues zu entdecken, was den Reiz des Cafés ausmacht. Ganz zu schweigen von dem großartigen Kaffee, den es hier gibt.
Ich begreife nicht, was mit mir los ist. Ich sollte ihn ansprechen, auf ein Getränk einladen und diese seltsame Sache klären. Vielleicht reicht ein schneller Fick und es ist vorbei. Vielleicht sind wir uns auch dermaßen unsympathisch und müssen gar nicht so weit gehen. Leider bezweifle ich das. Ich sollte schnellstmöglich ergründen, ob die Anziehung auf Gegenseitigkeit beruht.
Die meisten Gedichte sind voller Schmerz und Zweifel und handeln von unglücklicher Liebe. Manchmal verstehe ich die Metaphern nicht. Ja, die Worte ergeben kaum einen Sinn, aber seine Art, sie zu rezitieren und zu betonen, berührt mein Herz. Verrückt, absolut verrückt und surreal.
Bei jedem Lächeln kribbelt es in meinem Bauch und ein heißes Gefühl jagt durch meinen Körper. Ich wünschte, er würde mich nur einmal ansehen. Wenn er dort vorn sitzt, scheint er vollkommen selbstvergessen zu sein und danach … verschwindet er ohne sich umzusehen. Während ich ihm hinterhersabbere, hat er mich vermutlich noch nicht einmal wahrgenommen.
Dabei ist das Divine nicht besonders groß. Ich suche mir meist einen Platz in der Nähe der Bühne. Einige Male habe ich schon in Erwägung gezogen, meine Kaffeetasse vom Tisch zu schubsen. Dann hätte ich mit Sicherheit seine Aufmerksamkeit, leider aber auch die aller anderen Gäste.
Wie jeden Mittwoch habe ich mir auch heute fest vorgenommen, ihn anzusprechen. In meinem Kopf rotiert ein ganzes Repertoire von Anmachsprüchen, mit denen ich bereits Erfolg hatte, aber nichts scheint für ihn angemessen zu sein. Am Ende wird er wohl wieder wortlos verschwinden und ich vertröste mich auf die nächste Woche. Dieser Typ erscheint mir so unnahbar, beinahe wie ein Traumgebilde, irgendwie zerbrechlich und filigran, als würde ihn eine Art Seifenblase umgeben, die zerplatzt und sich zusammen mit ihm auflöst, wenn ich ihn anspreche. Das wäre auch eine Lösung für dieses Problem. Im Grunde ist alles besser als diese Ungewissheit. Fast schon wahnhaft steigere ich mich in diese Sache hinein, hatte sogar, seitdem ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, keinen Sex mehr. Außer mit meiner eigenen Hand und einem Film, in dem er die Hauptrolle spielt.
Ich schüttle den Kopf und kann nicht glauben, was mein Gehirn für einen Unsinn produziert. Er ist wie eine Droge. Sollte die Wirkung nicht nach einer gewissen Zeit nachlassen? Dann hätte ich zwar Entzugserscheinungen, aber die vergehen irgendwann. Wenn ich es heute nicht schaffe, ihn anzusprechen, ist das mein letzter Nachmittag hier. Ich bin so wild entschlossen, dass mein Herz hart in der Brust hämmert. Mir ist ein bisschen schlecht und meine Beine beginnen nervös zu zittern.
Der verhaltene Applaus reißt mich aus meinen Gedanken. Er reagiert mit einem schmalen Lächeln. Seine Wangen verfärben sich sanft und er senkt den Blick. Dann schlägt er das kleine, ziemlich alt aussehende Buch zu und steckt es in die Ledertasche, die neben dem Stuhl steht. Er erhebt sich, ohne auch nur einen winzigen Moment in meine Richtung zu schauen, geht von der Bühne und verlässt das Lokal.
Ich habe es vergeigt. Wieder einmal war ich nicht schnell genug. Ich verhalte mich schwachsinnig. Mein Herz schmerzt seltsam, während ich ihm durch die großen Glasscheiben des Cafés hinterhersehe. Plötzlich dreht er sich um und für eine Sekunde treffen sich unsere Blicke. Verwirrt halte ich die Luft an, habe irrationale Hoffnungen, die sich in Luft auflösen, als er weitergeht und aus meinem Blickfeld verschwindet. Er hat mich angesehen! Der Gedanke schwirrt durch meinen Kopf und der Vorsatz, nächste Woche nicht wieder herzukommen löst sich in Wohlgefallen auf.
Ich lehne mich zurück, atme tief durch und warte darauf, dass das flattrige Gefühl in meinem Bauch verschwindet.
Wenn er weg ist, fühle ich mich jedes Mal so leer und verwundbar. Deshalb hält mich auch nichts länger hier drin.
Ich verlasse das Café. Ein lauer Sommerwind lässt mich leise seufzen. Ich mag den Sommer, zumindest dann, wenn die Hitze nicht alles lahmlegt. Entschlossen mache ich mich auf den Weg nach Hause. Nach einigen Metern biege ich in den kleinen Stadtpark ein. Eigentlich wäre ich schneller, wenn ich links daran vorbeigehen würde, aber ein bisschen frische Luft wird mir sicherlich gut tun. Ich atme tief den schweren Duft der Rosen ein, der in der Luft hängt. Vielleicht vertreibt die Farbenpracht der vollen Blüten meine trüben Gedanken.
Noch ehe eine eventuelle Wirkung einsetzen kann, sehe ich eine wohlbekannte Gestalt auf einer Parkbank sitzen. Abrupt bleibe ich stehen und starre ihn an. Kein Zweifel, da vorn sitzt er. Ich sehe mich panisch um und überlege, ob ich quer über den Rasen laufen soll, um ihm aus dem Weg zu gehen. Das erscheint mir allerdings albern und so setze ich mit zunehmend heftiger klopfendem Herzen einen Fuß vor den anderen … Die Hände tief in die Hosentaschen graben, schiebe ich alle Gedanken von mir.
»Hallo Stalker«, sagt er leise, als ich an ihm vorbei gehe. Stirnrunzelnd bleibe ich stehen. Er sieht mich unsicher an.
»Hallo Poet«, erwidere ich und versuche ein breites Lächeln. Leider bin ich so aufgeregt, dass ich wahrscheinlich nur ein schiefes Grinsen zustande bringe.
»Wie kommst du darauf, dass ich ein Poet bin?«
»Weshalb hältst du mich für einen Stalker?«
Eine Weile sehen wir uns schweigend an, dann lachen wir gleichzeitig verhalten. Seine Augen beginnen zu strahlen und mir wird angenehm flau im Bauch. Er deutet neben sich und ich lasse mich erleichtert auf die Bank fallen.
»Sören«, stelle ich mich vor und sehe ihn neugierig an.
»Aaron.« Seine Wangen verfärben sich und ich befürchte, dass ich jeden Moment neben ihm schmelzen werde.
»Freut mich, Aaron. Also, wie kommst du darauf, dass ich dich stalke?«
»Keine Ahnung…«, rudert er zurück und nun brennt sein Gesicht feuerrot. Auf der einen Seite finde ich es durchaus amüsant aber eigentlich möchte ich ihn gar nicht so sehr in Verlegenheit bringen. Immerhin hat er geschafft, was ich seit Wochen nicht hinbekomme: Wir sitzen nebeneinander und reden … jedenfalls irgendwie.
»Du warst bisher immer da und ich … na ja, letzte Woche nicht, aber ich hatte gehofft, dass du heute wiederkommst.«
»Ja, ich höre dir gern zu«, behaupte ich schlicht und werde mit einem erneuten Lächeln belohnt. »Dabei stehe ich echt nicht auf Gedichte und teilweise habe ich gar keine Ahnung, was du überhaupt vorliest.«
»So schlimm?«
»Nein, nein, nicht schlimm. Es ist für mich eher erstaunlich. In dieser Hinsicht bin ich vollkommen talentfrei und kann dich nur bewundern. Sich so etwas auszudenken und es dann noch vor Publikum zu rezitieren … Das ist schon beeindruckend.«
»Findest du?«
»Ja«, sage ich grinsend.
Aaron schüttelt den Kopf und seufzt dann theatralisch. »Das ist nicht von mir«, flüstert er. Seine Hände klemmen zwischen den Oberschenkeln und ich wette, sie zittern.
»Nicht? Von wem dann?«
»Von meiner Oma.«
»Cool. Sie war wohl sehr verliebt in deinen Opa?« Aaron zuckt mit den Schultern, dann dreht er sich ein Stück, sodass er mich frontal angucken kann. Sein Blick brennt auf meiner Haut, während ich fasziniert die Lippen betrachte und mich frage, wie sie wohl schmecken. Ich müsste mich nur ein Stück nach vorn beugen. Er befeuchtet sie mit der Zunge und ich spüre, wie es in meiner Hose eng wird. Hatte ich schon erwähnt, wie verrückt ich meine Reaktion auf ihn finde? Das ist eindeutig nicht normal!
»Sie hat diese ganzen Gedichte nicht für meinen Opa geschrieben, sondern … sondern für eine Frau.« Ich sehe, wie er die Luft anhält und gleichzeitig panisch meinem Blick ausweicht. Beinahe befürchte ich, dass er aufspringt und davonrennt. Zum Glück bleibt er sitzen. Bis mein vernebeltes Gehirn reagieren könnte, wäre er vermutlich schon uneinholbar verschwunden.
»Deine Oma war also in eine Frau verliebt?«, erkundige ich mich mit rauer Stimme.
»Ich glaube schon, aber ich verstehe es nicht. Sie war doch ihr ganzes Leben lang mit Opa verheiratet und jetzt …« Er reibt sich über die Augen und wendet sich von mir ab. »… ist sie tot.«
»Das tut mir leid«, erwidere ich betroffen, rutsche ein Stück tiefer und lehne meinen Kopf gegen das harte Holz der Lehne. Ich weiche bewusst seinem Blick aus und sehe nach oben in den blauen Himmel, betrachte die Blätter der Bäume, die sich im Wind wiegen.
»Alles ist plötzlich falsch und ich weiß gar nicht mehr, was ich denken soll«, sagt Aaron schließlich leise.
»Wegen ein paar Gedichten? Wann hat sie die denn geschrieben?«
»Die meisten wohl mit neunzehn«, antwortet er. »Ein Jahr bevor sie Opa geheiratet hat, aber es gibt auch noch Bücher aus späteren Jahren.«
»Na ja, dann hat sie eben mal für eine Frau geschwärmt. Das kommt vor.«
»Aber nicht in unserer Familie.«
»Aha und wieso nicht?« Neugierig sehe ich ihn an, aber er schüttelt nur den Kopf. Noch immer kann ich es kaum begreifen. Wir sitzen hier wirklich zusammen auf der Bank. All die Wochen, in denen ich ihn aus der Ferne angesehen und mit in meine Träume genommen habe. Jetzt ist er so nah. Ich rieche ihn, fühle die Wärme, die von Aaron ausgeht, und möchte am liebsten einfach noch eine ganze Weile neben ihm sein.
»Es ist falsch«, sagt er kaum hörbar. Ich runzle die Stirn und bin mir nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden habe. »Alle behaupten, es falsch ist. Meine Mutter weint ständig. Es ist aber längst keine Trauer mehr. Vielmehr behauptet sie, Oma hätte uns alle belogen und ihr Leben wäre nun nichts mehr wert. Außerdem schämt sie sich und hat Angst, dass es herauskommt.«
»Ich glaube, ich verstehe dich nicht ganz. Was daran liegen könnte, dass wir uns gar nicht kennen und ich auch nichts über deine Familie weiß. Allerdings hätte ich nichts dagegen, diesen Umstand zu ändern.« Eigentlich sollten die Worte locker rüberkommen, aber mein Hals ist ganz trocken und noch immer wütet diese unfassbare Aufregung in mir.
»Gefallen dir die Gedichte?«, erkundigt er sich zusammenhanglos.
»Hm, es gefällt mir, wie du sie vorträgst, allerdings finde ich sie ziemlich verwirrend und auch ein bisschen düster.«
»Ich übe vor dem Spiegel und nehme mich sogar auf, damit ich höre, wie es klingt.«
»Deine Oma war dir wohl sehr wichtig?«
»Nein … also … Sie war sehr streng und unnahbar. Ihr Leben war bestimmt von Ordnung und Disziplin, deshalb beeindrucken mich die Texte auch so. Es ist, als wenn sie in den frühen 60er Jahren noch eine vollkommen andere Frau war.«
»Vielleicht hat es ihr mehr bedeutet. Klingt, als habe sie sich letztendlich den Konventionen unterworfen. Lesbisch zu sein, war vermutlich damals nicht einfach.«
»Lesbisch?«, quiekt er und sein Gesicht nimmt erneut diesen tiefroten Farbton an. »Sag doch so etwas nicht.«
Einen Moment bin ich mir nicht sicher, ob er mich veralbert, allerdings scheint es Aaron vollkommen ernst zu meinen. Er sieht sich sogar panisch um.
»Was denkst du denn, was mit deiner Oma los war, wenn sie solche Gedichte für eine Frau geschrieben hat?«
»Es ist eine Sünde«, flüstert er. Jetzt habe ich das sichere Gefühl, dass er abhauen will. Ich weiß nicht, ob ich ihn aufhalten möchte. Seine Aussage ist verwirrend und macht mich ein wenig wütend. Allmählich gewinne ich den Eindruck, dass meine Fantasie mir einen Streich gespielt hat.
»Es ist eine Sünde«, wiederholt Aaron, schaut sich unsicher um und leckt sich offensichtlich nervös über die Lippen. Plötzlich beugt er sich vor und haucht mir einen Kuss auf die Lippen. Noch ehe ich die Berührung genießen kann, ist sie schon wieder vorbei und Aaron springt tatsächlich auf. Erstaunlicherweise funktionieren meine Reflexe besser als gedacht, sodass ich ihn am Arm erwische und zurückziehe. Sein Widerstand ist gering. Aaron lässt sich gegen mich fallen. Ich lege eine Hand auf seine Wange und bringe ihn dazu mich anzusehen. Sein ängstlicher Blick verunsichert mich, als ich jedoch näher komme, fallen seine Augen zu und der verführerische Mund öffnet sich ein Stück. Behutsam küsse ich ihn. Aaron wimmert leise, weicht jedoch nicht zurück. Ich erhöhe den Druck und kann nicht glauben, wie unheimlich gut es sich anfühlt. Sein Mund scheint genau für meinen geschaffen zu sein. Ich spüre seine Finger, die sich in mein Shirt krallen, während ihm ständig diese süßen Laute entkommen. Seine Zungenspitze schnellt hervor, verschwindet jedoch sofort wieder. Ich folge ihr und bitte vorsichtig um Einlass. Für einen Moment befürchte ich, dass ich ihn damit überfordere, aber dann öffnet er seinen Mund für mich. Es ist kein gieriger oder leidenschaftlicher Kuss. Er verfolgt nicht einmal ein bestimmtes Ziel. Wir erkunden uns vorsichtig und schmecken den anderen behutsam. In meiner Brust wird es furchtbar eng, als wir uns voneinander lösen und Aaron mich mit großen Augen ansieht.
»Mein erster Kuss«, murmelt er schüchtern und ein tiefes Rot bedeckt seine Wangen.
»Ich hoffe, er hat dir gefallen«, flüstere ich und streiche mit dem Daumen über seinen Mundwinkel.
Aaron schließt die Augen. Sein Kehlkopf hüpft nervös und er nickt kaum merklich.
»Mir auch.« Ich beuge mich vor und wiederhole die Worte flüsternd direkt an seinem Ohr. Erneut seufzt er leise und lehnt den Kopf gegen meine Schulter. Seine Arme umschlingen meine Körpermitte. Er drückt mich fest an sich und nun bin ich derjenige, der eindeutig überfordert ist. In meiner Fantasie war das alles weniger kompliziert. Obendrein befanden wir uns meist in meinem Bett, hatten genügend Erfahrung, um all die Dinge zu tun, nach denen uns der Sinn stand.
Ich spüre die Blicke der Leute, die an uns vorbeigehen, und auch die abfälligen Kommentare entgehen mir nicht. Allerdings scheint Aaron nichts davon mitzubekommen, denn er klammert sich an mich, als würde er jeden Moment ertrinken.
In der nächsten Sekunde springt er jedoch auf und rennt davon. Diesmal bin ich nicht schnell genug, um ihn aufzuhalten. Geschockt schaue ich ihm hinterher, bis mein Verstand endlich den Befehl an meine Beine sendet, sich in Bewegung zu setzen und die Verfolgung aufzunehmen. Ein paar hundert Meter halte ich durch, dann spüre ich die Auswirkungen meiner vernachlässigten sportlichen Aktivitäten. Ich keuche wie eine Dampflok und habe Aaron längst aus den Augen verloren. Frustriert gebe ich auf, stütze die Hände gegen die Knie und versuche wieder zu Atem zu kommen.
»Scheiße«, fluche ich stockend, richte mich auf und scanne die Umgebung ab. Von Aaron kann ich keine Spur entdecken. Resigniert gehe ich nach Hause. In meinem Kopf wirbelt alles durcheinander. Ich habe keine Ahnung, was ich machen soll oder ob es überhaupt etwas gibt, das ich tun kann. Mehr als seinen Vornamen kenne ich nicht und ob er nach unserer heutigen Begegnung noch einmal ins Divine kommt, erscheint mir nicht sehr realistisch.
Trotzdem betrete ich am nächsten Mittwoch das Café. Ich bin nervös, habe die ganze Woche schlecht geschlafen und war kaum fähig, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Ständig zeigte mir mein Gehirn die Bilder unseres Zusammentreffens und noch immer bilde ich mir ein, seine Berührungen auf den Lippen zu spüren. Das ist bescheuert. Trotzdem treiben mich ein unbändiges Verlangen und eine seltsame Sehnsucht hierher. Ich bin mir nicht sicher, ob er heute kommt, und doch kann ich nichts gegen den winzigen Splitter Hoffnung machen, der sich tief in mein Herz gebohrt hat. Nach einer Woche intensiven Grübelns steht das Ergebnis unumstößlich fest. Ich habe mich eindeutig verliebt. Vielleicht vergeht es wieder, wenn ich ihn nur aus dem Sinn bekomme. Im Moment scheine ich jedoch weit davon entfernt zu sein. Es ist so albern, dass ich am liebsten frustriert auflachen möchte. Dieser kurze Moment auf der Parkbank hat etwas in mir freigesetzt, das ich nicht mehr loswerde. Er hat mich berührt und ich will mehr davon.
Heute setze ich mich nicht in die Nähe der Bühne, sondern lasse mich in die weichen Polster eines alten Sofas sinken. Ich bestelle einen Milchkaffee und schließe kurz die Augen, um den Aufruhr in meinem Inneren irgendwie unter Kontrolle zu bringen.
Als die Kellnerin mir das Getränk auf den Tisch stellt, lächelt sie mich an und deutet zur Bühne. Mein Herz bleibt für den Bruchteil einer Sekunde stehen, ehe es mit rasender Geschwindigkeit davon galoppiert. Als ich nach meiner Tasse greifen will, spüre ich, wie sehr meine Hände zittern. Ich drücke mich tiefer ins Sofa, weiß plötzlich nicht, ob ich von ihm gesehen werden will.
Tatsächlich scheint es, als würde er sich suchend umschauen, bevor er sich auf den Stuhl setzt und aus der Tasche das alte Büchlein holt. Ist er enttäuscht, als er mich nicht auf meinem angestammten Platz entdeckt?
Schließlich strafft Aaron die Schultern, räuspert sich, schlägt das Buch auf und beginnt erneut ein Gedicht zu rezitieren. Diesmal höre ich erstaunlich aufmerksam zu.
Ich werde ihn immer hören, den Klang der kratzenden Feder auf dem Papier:
Unsere Liebe kann nicht falsch sein
Dein letzter Brief, so schriebst du.
Du schriebst es bei Kerzenschein,
heimlich
unheimlich
umgeben von kalten, grauen Mauern.
Unsere Liebe kann nicht falsch sein!
Mir fehlte der Mut, mein Herz blutend und leer, aber ihre Worte sind noch immer in mir.
Ich spüre sie jeden Tag,
halte mich am Leben,
kämpfe, hoffe, verzweifle.
Unsere Liebe kann nicht falsch sein.
Unsere Liebe ist nicht falsch, kann es niemals sein.
Die Verzweiflung in seiner Stimme ist deutlich zu hören. Sie bringt mich um den Verstand. Zum ersten Mal habe ich ihm wirklich zugehört und es zerreißt mich förmlich.
Erneut lässt Aaron den Blick durch den Raum schweifen und entdeckt mich. Für einen Moment scheint sein Gesicht zu strahlen und verursacht damit ein heftiges Kribbeln in meinem Bauch. Dann schüttelt er jedoch beinahe unmerklich den Kopf und trägt weitere Gedichte vor. Ich schaffe es kaum, auf meinem Platz sitzen zu bleiben, denn ich habe Angst, dass er, wie immer, wenn er fertig ist, aus dem Lokal flüchtet. Will ich ihn überhaupt aufhalten?
Die weiteren Gedichte rauschen an mir vorbei. Ich verliere mich erneut darin, ihn zu beobachten, jede Geste wahrzunehmen, seinen Mund anzustarren. Ich will ihn küssen, will diese süßen Laute hören und seinen Duft einatmen. Ich will wissen, wovor er Angst hat und warum er trotzdem dort vorn auf der winzigen Bühne sitzt und voller Schwermut und Hingabe rezitiert.
Am Ende halte ich unwillkürlich die Luft an. Er räumt das Buch zurück in die Tasche, hängt sich den Ledergurt um die Schulter und steigt von der Bühne herunter. Es gibt verhaltenen Applaus, den er mit einem schüchternen Lächeln entgegennimmt. Mein Blick ist starr auf ihn gerichtet. Ich versuche ihn zu hypnotisieren, irgendwie aufzuhalten. Tatsächlich zögert Aaron einen Moment, ehe er Richtung Ausgang geht. Ich will ihn rufen, seinen Namen laut durch den Saal brüllen, ihn an den Kuss erinnern, aber ich bleibe stumm. Er öffnet die Tür, verharrt abermals. Ich sehe, wie sich seine Brust schwer hebt und senkt. Er presst die Augen zusammen, schließt die Tür wieder und dreht sich in meine Richtung.
Er kommt auf mich zu. Mein Verstand begreift es kaum, aber mein Herz flippt vollkommen aus. Ohne ein Wort lässt er sich neben mich auf das Sofa fallen. Die extrem tiefen Polster bringen ihn aus dem Gleichgewicht, sodass er gegen mich prallt.
»Sören«, nuschelt er und drückt sich dichter an mich. Jetzt bin ich es, der die Augen schließt. Ich vergrabe mein Gesicht in seinen Haaren, atme tief den wunderbaren Duft ein und kann kaum glauben, dass er wirklich hier bei mir ist.
»Hallo Poet«, flüsterte ich, auch wenn er die Gedichte nicht selbst geschrieben hat.
»Hallo Retter«, antwortet er, hebt den Kopf und sieht mich an. Fragend erwidere ich den Blick.
»Retter?«
»Ja«, haucht er und wird entzückend rot. »Dass meine Oma lesbisch war, hat zu Hause eine echte Katastrophe ausgelöst. Alle spielen verrückt, besonders meine Mutter. Plötzlich stellt sie alles in Frage und versucht mich noch mehr von der Außenwelt abzuschotten, als sie es ohnehin schon getan hat. Ich bin zweiundzwanzig und hatte bis vor wenigen Wochen keine Ahnung, dass es solche Cafés gibt. Ich habe immer darauf gehofft, etwas anderes als den vorgezeichneten Weg mit Heirat und Kindern gehen zu können, es anders zu machen, als die vorherigen Generationen in meiner Familie. Ich bin anders als sie und will nicht für den Rest meines Lebens unglücklich sein.« Aaron verstummt und zieht die Unterlippe zwischen seine Zähne. Vermutlich hat er keine Ahnung davon, wie erotisch das auf mich wirkt und wie sehr ich mich zusammenreißen muss, um nicht auf der Stelle über ihn herzufallen.
»Ich wusste vor allem nicht, wie gut sich ein Kuss mit einem Mann anfühlt, auch wenn ich schon eine ganze Weile davon geträumt habe.«
Noch immer fehlen mir die Worte, denn seine Finger streicheln meinen Oberschenkel. Sie verursachen ein heißes und prickelndes Gefühl auf der Haut.
»Nicht irgendeinen Mann …«, präzisiert er und sieht mich dabei so sehnsüchtig an, dass mir ein tiefes Knurren entkommt. Ich packe seinen Nacken und ziehe ihn zu mir heran. Unsere Münder prallen aufeinander. Wir seufzen gleichzeitig auf, während Aarons unbeholfene und stürmische Art mich um den Verstand bringt.
»Ich will nicht so enden wie meine Oma«, nuschelt er hektisch, reißt sich los und sieht mich verzweifelt an.
»Das musst du auch nicht.«
»Ich kann mich doch nicht gegen meine Familie stellen. Sie werden mich rausschmeißen und …«
»Wir leben im 21. Jahrhundert«, erwidere ich und umschließe sein Gesicht mit meinen Händen. »Du kannst deinen eigenen Weg gehen. Du hast doch bereits damit angefangen, als du hierhergekommen bist, um diese Gedichte vorzulesen.«
»Und kannst du mich vielleicht … vielleicht ein Stück dabei begleiten und …«
Ehe er weitersprechen kann, verschließe ich seine Lippen. Noch nie hatte ich das Bedürfnis, jemanden so vorsichtig und zärtlich zu küssen, ihm zu zeigen, wie gut ich mich in seiner Nähe fühle. Dabei wissen wir doch im Grunde kaum etwas voneinander. Um uns herum wird erneut geklatscht. Einige wollen uns anscheinend mit Pfiffen anfeuern. Für einen Moment habe ich Sorge, dass ihn das erneut in die Flucht schlägt, aber er sieht mich lediglich atemlos an, während sein Gesicht beinahe zu brennen scheint.
»Ist das ein Ja?«, murmelt er gegen meinen Mund und bringt mich damit zum Kichern.
»Ja, das ist ein verdammtes Ja. Glaubst du, ich lass dich noch mal abhauen?«
»Will nicht weglaufen«, raunt er seufzend. Stirn an Stirn verharren wir eine Weile. Sein Atem geht schwer und ich höre ihn heftig schlucken. »Ich habe überhaupt keine Ahnung von … Ich weiß nichts über … übers Schwulsein … außer, dass es falsch sein soll. Bisher habe ich in einer ziemlich behüteten und recht eindimensionalen Welt gelebt. Es gab für alles Regeln und Vorschriften. Niemand hat sie infrage gestellt. Ich habe versucht ein guter Sohn zu sein, aber da war schon immer etwas in mir, von dem ich wusste, dass es auf keinen Fall richtig ist. Trotzdem will ich diesen Teil erkunden, weil ich glaube, dass ich … ich so bin und nur so glücklich werde. Ich will mich nicht für den Rest meines Lebens verbiegen.«
»Wir können es gemeinsam herausfinden.«
»Und wenn ich nicht mutig genug dafür bin?«
Ich bringe ein wenig Abstand zwischen uns, damit ich ihn besser ansehen kann. Erneut knabbert er auf der Unterlippe herum, während seine Finger fest miteinander verschränkt sind.
»Du bist verdammt mutig. Außerdem ist es dein Weg und du bestimmst die Geschwindigkeit, mit der du ihn beschreiten willst. Wenn ich dabei an deiner Seite sein darf, wäre das großartig, weil ich, … weil du mich echt umgehauen hast, seitdem ich dich das erste Mal gesehen habe. Ich würde dich gern kennenlernen und sehen, ob wir vielleicht ein gemeinsames Tempo finden.«
»Es ist verrückt«, behauptet Aaron und fängt an zu lachen. »Passiert das wirklich oder befinde ich mich gerade in einem irrationalen Traum?« Er drückt mir einen Kuss auf den Mund und kichert erneut. »Seit ich das Buch meiner Oma auf dem Dachboden gefunden habe, träume ich davon, ihre Gedichte vorzulesen. Zuerst habe ich den Drang unterdrückt, aber es wurde immer schwieriger Ich hatte das Gefühl, es unbedingt machen zu müssen. Tausende Male habe ich in Gedanken durchgespielt, wie ich die Verse rezitiere und mir vorgestellt, dass es einen Menschen im Publikum gibt, der mich sieht, der mich wirklich erkennt.«
»Scheint funktioniert zu haben«, erwidere ich grinsend.
»Ja«, ruft er laut und hält sich dann erschrocken die Hand vor dem Mund. »Das ist ja das Unheimliche daran. Ich wusste zuerst nicht, wie ich es anstellen sollte und dann bin ich durch Zufall an diesem Café vorbeigekommen. Ich war noch nie in einer Gegend, wo es schwule Bars und Kneipen gibt. Da hätte ich mich auch niemals hinein getraut, aber das Divine war … keine Ahnung, ich hatte das Gefühl, dass ich hier richtig bin. Als ich dort auf der Bühne war, dachte ich, ich falle jeden Moment tot um, aber dann habe ich dich gesehen und alles kam mir plötzlich so einfach vor. Ich habe deine Blicke gefühlt und gleichzeitig fühlte ich mich so verbunden mit meiner Oma, wie in meinem ganzen Leben nicht. Ich kann das gar nicht richtig erklären und vermutlich hört es sich total bescheuert an, denn ich habe von diesen Dingen wirklich keine Ahnung« Er stockt, sieht mich panisch an und schüttelt hilflos den Kopf. Seine hektischen Erklärungen bringen mich zum Schmunzeln.
»Ich sag‘s ja: Du bist verdammt mutig.«
»Meine Eltern sehen das vermutlich anders.«
Anstatt darauf zu antworten, suche ich nach seinen Lippen. Aaron erwidert augenblicklich den Kuss und drückt mich sogar nach hinten in die Polster. Wir knutschen, lösen uns schwer atmend und verlassen schließlich das Divine.
An der Tür ergreift Aaron meine Hand und drückt sie fest.
Das hier ist so viel mehr als nur ein Traum, es ist der Beginn unserer Wirklichkeit.
Träume für Finn
Elisa Schwarz
~ Gegenwart ~
Mittendrin kommt der Moment, in dem ich vor der Welt fliehe. Die Arme ausbreite, Anlauf nehme und abhebe. Mit der Luftströmung über Berge, Wiesen, Wälder, Städte und Felder gleite, bis die Miniaturansicht unter mir in einen farbigen Brei übergeht. Bis ich frei bin und atmen kann, mich fallenlassen darf und dennoch getragen werde. Die höhnenden und einschmeichelnden Stimmen, die Schreie und das Gelächter in meinem Kopf, das dumpfe Stöhnen, Keuchen und Schnarren – all das wird leiser, verstummt. Das Pfeifen des Luftwiderstandes klingt wie ein Konzert der Freiheit. Ich bin der Dirigent meines Lebens. Ich ganz alleine. Angestachelt von Hass und Zorn balle ich die Hände zu Fäusten. Mut lässt mich den Rücken durchdrücken, meine Muskeln anspannen. Angst wird von den Windböen davongetragen und entblättert mich Stück für Stück. Zurück bleibe ich – nackt, rein, schön – mit all meinen Facetten. Meine Gefühle habe ich mitgenommen. Nichts kommt an mich heran. Kein Schmerz der Welt, von der ich mich weit entfernt habe.
Ein Panzer überrollt mich, kaum, dass ich die windige Höhe hinter mir gelassen habe, mich an den Ort zurückwünsche, der mein Sicherheitsnetz bildet. Das Atmen fällt mir schwer. Ich krümme mich, ziehe die Beine an und mache mich klein.
»Finn?« Nach dem Schmerz und dem Pfeifkonzert höre ich sie immer: Die Stimme von Frau. Mit samtenen Worten und Versprechungen versucht sie mich aus dem Nichts zu ziehen. Zurück in die brutale Realität. Ich zittere und japse, beginne um mich zu schlagen.
»Finn, du musst aufwachen.«
Mein Brustkorb ist zentnerschwer. Der Panzer … nimm ihn weg. Ich bekomme keine Luft mehr. Noch bevor ich realisiere, wer meinen Namen ausspricht, spüre ich schon die Tränen meine Wangen nach unten laufen.
Es ist Neill. Mein Neill.
»Finn, bitte. Wach auf! Du musst zu dir kommen.«
Das bin ich! Mein Name dringt in mich, kommt bei mir an. Hilft mir, klarer zu werden. Zu oft war ich Daniel. Fand Mann schöner. Konnte Mann besser stöhnen. Heute kenne ich den wohl wichtigeren Grund: Mann konnte sich von Finn, seinem eigenen Fleisch und Blut, besser distanzieren.
»Neill?« Meine Nase läuft. Ich ziehe sie hoch und bebe weiter. Fahrig wische ich über mein Gesicht. Der Druck nimmt endlich ab. »Neill?«
Ein leises Brummen folgt.
»Neill?«, rufe ich erneut, lauter diesmal.
»Ich höre dich, Finn. Ich bin bei dir.« So sanft.
Nach kurzem Suchen finde ich sie: Seine Hände, die meine Sorgen weg streicheln, Wärme in mich massieren. Es sind gute Hände, vertrauensvolle Berührungen. Ich umfasse die Finger, die sich um meine schließen. Gegendruck ist gut. Fester …
Es dauert.
Es dauert immer.
Alles schmerzt. Der innere Schmerz ist schlimmer, als der körperliche.
Langsam richte ich mich auf, mit beiden Händen mit Neill verbunden, und hebe schwerfällig den Kopf. Ich blinzle Neill entgegen, hole angestrengt Luft und zittere.
»Du bist schon lange nicht mehr geflogen.« Seine Stimme hat einen karamellfarbenen Klang – samtig, ein wenig eingefärbt. »Ist gestern etwas gewesen?« Neill sieht mich an, aus klaren blauen Augen.
Eine schweißnasse Haarsträhne streicht er mir aus der Stirn und fährt mit dem Daumen über meine Wange und Oberlippe. Ich drücke mein Gesicht in seine Handfläche, nehme alles, was er bereit ist, mir an Zärtlichkeit zu schenken. Ich betrachte seinen Mund, den ich so gern küsse. Erinnerungen unserer gemeinsamen, letzten Jahre erblühen in mir, schön wie ein Traum. Sie sind immer präsent.
Auf seine Frage hin schaue ich zur Seite, schluchze erneut. »Vielleicht war es der Mann gestern auf der anderen Straßenseite. Er hatte etwas Komisches an sich.«
Dabei sah er so normal aus. Ein normaler Passant, ein Durchschnittstyp.
»Möchtest du darüber reden?«
Schnell schüttle ich den Kopf. »Später.«
Nach einem aufreibenden Albtraum bin ich nie sofort bereit. Neill nickt, akzeptiert das. Statt zu reden, beuge ich mich vor. Ich lehne mich an den warmen, vertrauten Körper und spüre seinem Herzschlag nach. Weiche Lippen senken sich auf meine, spenden mir Trost. Nur langsam weicht der Druck von meiner Brust.
Der Kuss dauert ungewöhnlich lange, beflügelt mich und zieht mich weiter über die Schwelle ins Hier und Jetzt. Der Glanz in Neills Augen spiegelt die Wirklichkeit unserer Verbindung wider. Die Ebene, auf der wir gemeinsam funktionieren, leben und lieben gelernt haben.
Ein Feuerwerk vom Himmel aus zu betrachten,
ist genauso schön, wie dem im eigenen Körper zu lauschen.
Bereits geduscht und angezogen, fertig für die Arbeit, zückt Neill sein Handy und tippt hastig eine Kurznachricht ein. Ich muss nicht fragen, für wen sie ist. Er informiert seinen Vorgesetzten. Es war eine Prämisse für ihn, einen Job mit flexiblen Arbeitszeiten zu bekommen – wegen mir.
»Frühstück?« Eine obligatorische Frage, die Neill dennoch täglich stellt. Mein Kopfschütteln folgt automatisch und Neill seufzt auf.
»Kuscheln?« Mechanisch nicke ich und lasse mich von ihm in meine übliche Seitenlage befördern. Auf dem Rücken schlafe ich nicht. Nie wieder. Die Angst, Mann könnte über mich kommen, sitzt tief. Lächelnd legt Neill sich mir gegenüber, streichelt mir immer wieder durch mein Haar und lässt die Finger meine Schläfe entlang wandern. Minutenlang. Eine halbe Stunde. Die Stille des Raumes und Neills Anwesenheit sind meine Nervennahrung. Mein Zittern ebbt ab. Noch fünfzehn Minuten. Weitere fünf. Ich atme geräuschvoll aus und drücke abermals meine Wange in seine Handfläche hinein.
»Ich muss gleich los, Finn. Kann ich dich alleine lassen?« Er sieht mich an, fürsorglich und besorgt.
»Sicher. Geh nur.«
Neill kann sich darauf verlassen, dass ich meine, was ich sage. Fünf Jahre Beziehungsarbeit liegen hinter uns.
Ein letzter Kuss folgt. Dann noch einer, weil ich ihm nachgehe, als er aufsteht. Bevor er sich von mir löst, streicht er über meine Arme zu meinen Händen hinab. Unsere Fingerspitzen trennen sich erst, als er sich einen weiteren Schritt von mir entfernt. »Wir sehen uns heute Nachmittag, mein Lieber. Wollen wir was kochen oder mal wieder ausgehen? Es tut dir immer gut, nach einem Flug rauszukommen.«
Meine einzige Mahlzeit am Tag ist ihm wichtig. Mir nicht. Dennoch nehmen wir sie unumgänglich ein, seit wir gemeinsam leben. Für Neill ist das ein verbuchter Erfolg auf meinem Genesungsweg, für mich eine Notwendigkeit. Ich lausche in mich hinein, wiege den Kopf. »Ausgehen wäre schön. Wir waren tatsächlich länger nicht mehr weg.«
»Fein. Das schaffst du, ich bin mir sicher.«
Ich nicke schnell, drücke meine Lippen auf seine Wange und schlurfe in die Küche, um mir einen Kaffee zu holen. Auch mein Arbeitstag steht an. Doch im Gegensatz zu Neill verlasse ich diese vier Wände selten ohne Begleitung. Vor allem nicht ohne Ziel und nie, ohne Neill vorher Bescheid zu geben. Ich bin Webdesigner und arbeite von zuhause aus. Mir gelingt ein Lächeln in Neills Richtung, als er mir Tschüss zuruft. Ich werfe ihm einen Luftkuss zu, den er geschickt auffängt und in der Tasche seiner Jeans verstaut.
‚Ich liebe dich so sehr.’ Er bewegt stumm die Lippen, lesen kann ich es in seinen Augen.
~ acht Jahre vorher ~
Wie immer sitze ich mitten in der Nacht mit brennenden, überanstrengten Augen vor meinem Computer. Es ist zurzeit die einzige, für mich umsetzbare Möglichkeit, Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen. Jahrelang habe ich nicht einmal das geschafft. Schlafen gehe ich, sobald mein Zimmer vom anbrechenden Tag in kräftiges, leuchtendes Rot getaucht wird. Wenn ich mich mit dem Schreibtischstuhl drehe, kann ich die Morgenröte vom Ostfenster meines kleinen Zimmers aus bewundern. In dem Moment, in dem sich die Sonne über die Weite der grünen Insel erhebt, fallen mir die Augen zu. Tage, die anbrechen, bedeuten keine Gefahr mehr. Nächte hingegen muss ich durchwachen. Wenn der Feuerball vom Meer verschluckt wird, kommt der Mann. Die Augen zu schließen und zu schlafen, bedeutet für mich zu fliegen.
Hier in Bantry House, unweit von Cork, werde ich nicht gefordert, sondern angenommen, gehört und verstanden. Die psychiatrisch geschulten Lehrkräfte legen keinen Wert auf mein Erscheinen. Sie freuen sich, wenn ich es schaffe zu kommen.
Stunde um Stunde durchforste ich das Netz, das so lebendig erscheint, als würden wir uns in einer Großstadt befinden. Neben den für mich festgeschriebenen Therapiesitzungen suche ich nach Antworten, sehne mich nach Gleichgesinnten und kann mich doch nicht überwinden, den ersten Schritt zu tun: Im Internet Kontakt mit anderen aufzunehmen. Ich vermisse etwas, dass ich nicht greifen kann. Das macht es nur noch schlimmer. Fahrigkeit, Wut, Schmerz und Angst greifen um sich, beherrschen mich. Aber es in Worte zu fassen, schaffe ich nicht. Nicht einmal bei meinem Therapeuten, Dr. O’Brian. Meist erzähle ich ihm von den Klippen, an denen ich stundenlang verweile und auf die Brandung starre. Das Rauschen und Brüllen des Atlantiks pumpt Adrenalin durch meine Adern, lässt mich leben und atmen, nicht vergessen, dass ich bin. Nicht einmal habe ich darüber nachgedacht, den letzten Schritt über das felsige Kliff zu tun. Dr. O’Brian hat mich wochen-, gar monatelang begleitet, um sicher zu sein, dass ich keinen Suizidversuch starte – bis er mir vertraute, bis ich mir selbst vertrauen konnte. Er hört mich gerne reden, ich mich seltsamerweise auch. Frau hatte Daniel das Reden genommen. Fremde Ohren hätten etwas heraushören können. Finn redet umso mehr. Über alles, nur eben nicht über Elementares. Dies ist mit dicken Ketten in mir verschlossen.
Eine handgeschriebene Liste liegt neben mir. Aufgeschrieben sind unzählige von Websites mit meinen Usernamen und Passwörtern, die ich in den letzten Monaten aufgesucht und durchforstet habe. Ich suche mit der Bleistiftspitze die Zeilen ab und starre erneut auf die Suchergebnisse von Google. Von der Austauschplattform für Asexuelle – Zielgruppe dieses Forums – fühle ich mich auch heute magisch angezogen. Aber ich bin nicht wie die …
Ich erwarte deshalb nichts, nie eigentlich. Schon gefühlt hundert Mal habe ich die Seite aufgerufen und nach der immer gleichbleibenden Suche nach Hinweisen auf Menschen, die wie ich sind, wieder geschlossen. Es gibt Ähnlichkeiten, aber die meisten User werden von anderen Dingen bewegt und angetrieben. Dinge, die außerhalb jeglicher Sexualität ihr Dasein, ihr gesamtes Leben ausmachen.
Dennoch logge ich mich ein, nicht bereit aufzugeben. Freiflieger – das bin ich, so fühle ich mich – schwebend zwischen Traum und Realität. Verloren, verlassen, vergessen. Mein Passwort lautet 28Okt2004 – an diesem Tag begann mein zweites Leben. Das von Finn. Nur Finn.
Ohne Erwartung klicke ich mich durch unzählige Beiträge und bleibe an dem Profilbild eines Mannes hängen, der mir aus großen blauen Augen entgegenblickt. Die Leere darin spricht Bände. Ich kann nicht wegschauen. Mein Puls beschleunigt sich. Ein abgehacktes, kurzes Lachen entringt sich meiner Kehle, als ich seinen Usernamen lese: Pennywise. Ich mag trockenen Humor, bei dem ich nicht fröhlich loslachen muss. Das Lachen hat Frau bei Daniel entfernt.
’Das ist meine Lebensgeschichte – die, des sich selbst betrügenden, gefühlskalten, biromantischen Träumers – die Geschichte eines Außenseiters!’
Ich bin angefixt von der bösen Selbstironie, alleine durch diese Titelzeilen. Meine Augen fliegen über den Beitrag. Sein Kampf um einen Platz in dieser Gesellschaft. Missachtet, belächelt, ausgestoßen. Stets nur geduldet. Eine unverstandene Minderheit, weil Sex ein Fremdwort für ihn ist. Toleranz wird groß geschrieben, wenn es sich um eigene Belange handelt, aber wehe, es kommt ein anderer daher. Aus einer noch kleineren Gruppe. Unsere Gemeinsamkeit?
Die Gegensätze sind deutlich: Er, der Provokant. Ich, der Nichtexistente; der heute vor siebzehn Jahren zur Welt gekommen ist.
Seine Geschichte berührt mich. In mir rumort es. Ein Sehnen macht sich breit. Immer wieder ist es sein Bild, das meinen Blick auf subtile Weise anzieht. Es hat einen ganz eigenen, anrührenden Charakter. »Ich bin auch so alleine wie du«, wispere ich in die Stille des dunklen Zimmers, das nur von dem monotonen Brummen des Computers beschallt wird.
Viel später, kurz vor Sonnenaufgang, springe ich über meinen kilometerlangen Schatten und schreibe ihm eine Mail. Ihm, der so weit weg in Letterkenny lebt; für mich am anderen Ende der Welt. Irland kommt mir auf einmal unendlich groß vor. Als das erste Licht des Tages durch mein Fenster dringt, klicke ich auf Senden und schließe noch im Sitzen die müden Augen.
~ sieben Jahre vorher ~
Elf Monate nach meiner ersten Kontaktaufnahme stehe ich mit donnerndem Herzen im Eyre Square in Galway. Ich sehe mich immer wieder schweißgebadet nach allen Seiten um. Es sind zu viele Fremde um mich herum. Zu viele Augen, die mich zu durchbohren scheinen und mir das Gefühl geben, verloren zu sein. Schon zweimal habe ich mich in den letzten Minuten umgedreht und dabei ertappt, wie ich mit dem Gedanken spielte wegzulaufen. Angst sitzt mir im Nacken. Dr. O’Brian hatte mir von diesem Treffen abgeraten. Wir sind kein Stück weiter. Aber ich habe geübt, wochenlang, damit ich heute hier stehen kann, ohne laut zu schreien … oder wegzusacken. Meine Atmung geht trotzdem schwer.
Heute ist der Tag, an dem ich Neill das erste Mal persönlich treffen werde. Weitere ungeduldige Minuten stehe ich an unserem vereinbarten Treffpunkt. Meine Zweifel wachsen ins Unermessliche, bis ich hinter mir eine Stimme vernehme, die vertraut auf mich wirkt.
»Finn? Bist du das?«
Langsam drehe ich mich um. Sehe in seine strahlenden blauen Augen und nicke kaum merklich. Nervös trete ich einen Schritt näher, die zittrigen Hände tief in den Taschen meiner Jeanshose vergraben.
»Hi, Neill. Ich freue mich so sehr, dass wir es geschafft haben.« Meine Stimme versagt beinahe. Es war uns beiden klar, dass dieses Treffen mein Ziel der Selbstständigkeit in weite Ferne rücken könnte. Ein einziger Trigger reicht aus, um mich zusammenbrechen zu lassen.