Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart
2., korrigierte Auflage 2020
© 2009 Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten.
Gestaltung: Rund ums Buch – Rudi Kern, Kirchheim/Teck
Hersteller gemäß ProdSG:
Druck und Bindung:
Books on Demand GmbH, In de Tarpen 42, 22848 Norderstedt
Verlag: Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH,
Silberburgstraße 121, 70176 Stuttgart
ISBN 978-3-460-07021-9
eISBN 978-3-460-51086-9
www.bibelwerk.de
VORWORT
ERSTER TEIL: EINLEITUNG
1.Die Bezeichnung des Buches
2.Die Stellung des Buches
3.Bedeutung
4.Aufbau
5.Innere Bewegung
6.Bedeutsame Personen und Motive
7.Literarische Eigenart
8.Geschichtsbezug
9.Forschungsposition
Zeittafel
10.Ausstrahlung
ZWEITER TEIL: KOMMENTAR
I.Vermehrung und Unterdrückung der Israeliten in Ägypten (Ex 1–2)
1.Einleitung
2.Von einer Familie zu einem Volk (1,1-7)
3.Drei Maßnahmen Pharaos (1,8-22)
4.Rückblick auf Ex 1
5.Geburt und Rettung Moses (2,1-10)
6.Misslingen am Beginn (2,11-15)
7.Unbeirrter Einsatz für Gerechtigkeit (2,16-22)
8.Gott weiß Bescheid (2,23-25)
9.Rückblick auf Ex 1–2
II.Die Berufung des Mose (Ex 3–4)
1.Annäherung
2.Gottes Zugehen am brennenden Busch (3,1-6)
3.Gottes Anliegen (3,7-12)
4.Der Sendende (3,13-15)
5.Jahwes Plan (3,16-22)
6.Jhwhs Machterweise (4,1-9)
7.Mitbestellung Aarons (4,10-17)
8.Rückblick auf Gottes Begegnung mit Mose
9.Abschied des Mose aus Midian (4,18-20)
10.Weitere Anweisung Gottes an Mose (4,21-23)
11.Nächtliche Gefährdung auf dem Weg (4,24-26)
12.Erste Begegnungen mit Aaron, Ältesten und Volk (4,27-31)
13.Rückblick auf Ex 3–4
III.Erstes Scheitern und Gottes Antwort darauf (Ex 5–6)
1.Einführung
2.Die Zuspitzung des Konflikts (Ex 5)
3.Gott nimmt die Herausforderung an (Ex 6)
Stammbaum für Aaron und Mose
IV.Gottes Zeichen an Ägypten (Ex 7–11)
1.Hinführung
2.Ein Vorausblick (Ex 7,1-7)
3.Ein Vorspiel (Ex 7,8–13)
4.Neun Zeichen (Ex 7,14–11,10)
5.Rückblick auf Ex 7–11
V.Pesach, Aufbruch und endgültige Befreiung von Ägypten (Ex 12,1–15,21)
1.Einführung
2.Der Abschied von Ägypten (12,1-13,16)
3.Der Durchzug durch das Schilfmeer (13,17–14,31)
4.Lob Gottes in Lied und Tanz (15,1-21)
5.Rückblick auf Ex 1-15
VI.Auf dem Weg zum Sinai (Ex 15,22–18,27)
1.Hinführung
2.Von Mara bis Elim (15,22-27)
3.Manna und Sabbat (Ex 16)
4.Massa und Meriba (17,1-7)
5.Der Angriff Amaleks (17,8-16)
6.Jitros Lob und Kritik (Ex 18)
7.Rückschau auf den Weg zum Sinai (Ex 15,22–18,27)
VII.Israel wird im Bund am Sinai Gottes Juwel (Ex 19,1–24,11)
1.Einführung
2.Vorbereitung auf die Zehn Worte (Ex 19)
3.Die Zehn Worte (20,1-17)
4.Israels Bitte um Vermittlung und Moses Antwort (20,18-21)
5.Das Bundesbuch (20,22–23,33)
6.Ratifizierung und Feier des Bundes (24,1-11)
7.Das Urbild religiöser Gemeinschaft als Botschaft von Ex 19–24
VIII. Die Heiligtumsbestimmungen (Ex 24,12–31,18)
1.Moses Aufstieg (24,12-18)
2.Sinn und Ziel des Heiligtums (Ex 25–31)
3.Auftrag zur Spendensammlung und zur Ausführung des Heiligtums (25,2-9)
4.Das Abbild des Heiligtums (Ex 25,10–27,21)
5.Kleidung, Heiligung und Opfer der Priester (Ex 28–29)
6.Wohlgerüche für Jhwh (Ex 30)
7.Aufträge zur Ausführung des Werks (Ex 31)
8.Die Übergabe der Tafeln (31,18)
IX.Bundesbruch und Erneuerung des Bundes (Ex 32–34)
1.Bundesbruch, Gottes Zorn, Moses erste Intervention und Folgen (32,1-29)
2.Wie Mose mit Gott spricht (32,30–34,3)
3.Gottes Erneuerung des Bundes und Moses Strahlen (34,4-35)
4.Eckpfeiler biblischer Theologie und Spiritualität in Ex 32–34
X.Herstellung, Errichtung und Erfüllung des Heiligtums (Ex 35–40)
1.Vorbereitungen für den Bau: Sabbatvorschrift, Spenden und Künstler (35,1–36,7)
2.Bau des Heiligtums und des Inventars für den Gottesdienst (36,8–39,43)
3.Errichtung des Heiligtums und seine Erfüllung mit Gottes Herrlichkeit (Ex 40)
4.Das Heiligtum als Ort der ‚menschlichen‘ Gegenwart Gottes
DRITTER TEIL: ANHANG
I.Wirkung
1.Exodus in den übrigen biblischen Schriften
2.Exodus und jüdische Identität
3.Exodus in christlicher Auslegung
4.Exodus im Islam
5.Exodus in Literatur, Philosophie und politischer Wirkung
6.Exodus in darstellender Kunst, Musik und Film
7.Bleibende Botschaft
II.Ausgewählte Literatur
1.Kommentare
2.Exegetische Studien
3.Weiterführende Literatur zur Wirkungsgeschichte
III.Abbildungsverzeichnis
IV.Abkürzungsverzeichnis
Verzeichnis der Exkurse
Die Aufnahme von Ex 2 in Apostelgeschichte 7 und in Hebräer 11 · Gottes Name · Die Verhärtung / Verstockung des Herzens · Zur Bedeutung von Ex 12,1–13,16 · Sinai – Wüste und Berg als Raum der Gottesbegegnung · Der Bundesschluss am Sinai – religiöse Beziehung und rechtliche Verfassung · Das Heiligtum als rettende Arche des Gottesvolkes · Psalm 114
Sowohl für den jüdischen als auch für den christlichen Glauben nimmt das Buch Exodus eine Schlüsselrolle ein. Gottes Name „Jhwh“, sein Bund mit dem Volk, die Erzählung von der Befreiung und andere grundlegende Glaubensüberzeugungen sind dort verankert. Zudem bildet es einen der Höhepunkte der schriftstellerischen Kunst der Weltliteratur sowie eines der wirkungsvollsten Werke, die seit der Antike die Geistesgeschichte mitgeprägt haben. Es vermittelt höchste menschliche, ethische und spirituelle Einsichten und Werte.
Die wissenschaftliche Exegese hat in den letzten Jahrzehnten wesentliche Fortschritte zum Verständnis dieser alten Texte erzielt. Diese im Neuen Stuttgarter Kommentar einer interessierten Leserschaft zugänglich zu machen ist uns eine Freude. Unsere Zusammenarbeit gründet persönlich in Freundschaft und Verbundenheit als Jesuiten sowie fachlich in einem gemeinsamen Zugang zu den Texten. Für uns beide ist Exodus eine ‚Jugendliebe‘, der wir uns in unseren Dissertationen gewidmet haben, sodass wir hier unsere Forschungsschwerpunkte zusammenführen und in wechselseitiger Ergänzung präsentieren können: Georg Fischer leitet in das Buch ein und legt Ex 1-18 aus – auf dem Hintergrund seiner Monographie zur Berufung Moses (Ex 3-4), zahlreicher weiterer Studien zu Exodus und langjähriger Erfahrung der Kommentierung von Jeremia; Dominik Markl entwickelt seine Exegese der zweiten Buchhälfte auf der Basis seiner Arbeit zu Dekalog und Sinaiperikope (Ex 19-24) und beleuchtet die Wirkungsgeschichte.
Unser Kommentar versucht, nahe am biblischen Wort zu bleiben. Die zahlreichen Hypothesen zur Entstehung von Exodus können wir hier nicht referieren; vielmehr sollen die Aussagen und die Ausstrahlung des Buches in den Mittelpunkt der Auslegung treten. Sie kommen in der sprachlichen Gestaltung und oft gerade in deren Feinheiten zum Ausdruck. Das Achten auf solche Details und die Bezüge mit anderen Stellen mögen den Lesern einen Eindruck von der Prägnanz und Wucht des Originals vermitteln; dazu wird häufig auf den ursprünglichen Wortlaut verwiesen, auch in Abhebung von anderen Übersetzungen; dabei konnten wir die Einheitsübersetzung nur eingeschränkt berücksichtigen, weil diese sich derzeit in Revision befindet.
Unsere Erklärung will nüchtern und sachlich auf Gottes Wort ausgerichtet sein. Dessen Dichte und Kraft verlangten, angesichts des begrenzten Raumes knapp zu formulieren, wofür wir die Leser um Verständnis bitten. Sie mögen die Verweise auf andere Stellen zur Vertiefung bei Interesse selber nachschlagen bzw. das oft nur kurz Angedeutete persönlich weiter bedenken oder ergänzen.
Wir danken dem Herausgeber der Reihe, Prof. Dr. Christoph Dohmen, für sein Vertrauen – umso mehr, als er selber Fachmann auf diesem Gebiet ist (s. seinen Kommentar zu Ex 19-40 in HThKAT). Besondere Verdienste gebühren Dr. Klaudia Engljähringer für ihre aufmerksamen und wertvollen Beiträge zum gesamten Kommentar sowie Josef Baumgartner für das letzte Korrekturlesen der zweiten Hälfte. Ebenso gilt unser Dank Herrn Tobias Dulisch, dem Lektor des KBW in Stuttgart, für die gute Betreuung.
Widmen möchten wir dieses Buch jenen Menschen, die sich in unserer Zeit – wie Mose im Exodus – mutig und unermüdlich für die Freiheit Anderer einsetzen und sie so begleiten zur Begegnung mit Gott.
Für die zweite Auflage haben wir einige kleine Verbesserungen vorgenommen.
Innsbruck / Rom, im Februar 2020 |
Georg Fischer SJ Dominik Markl SJ |
Schemot „Namen“ lautet die hebr. Benennung des Buches, nach seinem ersten Hauptstichwort in Ex 1,1. Diese Bezeichnung ist aus mehreren Gründen passend. Zum Einen findet sich eine Aufzählung der Söhne Jakobs / Israels in 1,2-5, als Überleitung von der Genesis her, und noch im selben Kapitel werden die beiden Hebammen Schifra und Pua namentlich erwähnt (1,15). Zum Anderen kommen eine Reihe wichtiger Gestalten darin vor, teils sogar erstmalig, unter ihnen Mose (ab 2,10), Aaron (ab 4,14) und weitere bedeutsame Personen aus ihrem Umkreis (bes. in der Genealogie 6,14-27). Schließlich gibt Gott auf Moses Anfrage hin eine Deutung seines Namens in 3,14f.
Die im Deutschen übliche Bezeichnung Exodus geht auf das griech. exodos „Herausweg, Auszug“ zurück. Auch sie erfasst einen wesentlichen Aspekt des Buches, insofern bis Ex 15 die Ereignisse bis zum Verlassen Ägyptens und danach der weitere Weg zum Sinai sowie die Geschehnisse dort beschrieben werden. Zudem enthält jenes Ausziehen eine weitreichende symbolische Bedeutung, als sich wiederholt vollziehendes Zurücklassen von Unfreiheit und Abhängigkeit.
Exodus wird in den gängigen Ausgaben der Bibel an zweiter Stelle plaziert. Es folgt auf Genesis, das die notwendige Vorbereitung dafür liefert; ohne Gen wäre Ex kaum verständlich, weder von den anfangs handelnden Personen (und –gruppen), noch von der Ansetzung des Schauplatzes in Ägypten her. Auch ist die in der Jakobsfamilie bis Gen 50 hin erreichte Versöhnung eine Voraussetzung für das Werden einer Gemeinschaft, wie sie in Ex 1,9 erstmalig als „Volk“ benannt wird.
In Ex 19 wird der Berg Sinai erreicht, und diese Ortsangabe bleibt über das Buchende hinaus bestimmend über das gesamte Buch Levitikus hinweg bis nach Num 10, wo in V. 11-13 die Israeliten aus der Wüste Sinai aufbrechen und sich damit endgültig auf den Weg Richtung Land machen. Exodus bildet so Auftakt und Grundlage der folgenden Bücher: Sowohl der Auszug aus Ägypten als auch Gottes Selbstmitteilung am Sinai finden ihre Weiterführung in den folgenden Büchern und sind auf diese Fortsetzung angelegt.
Das bedeutet, dass Exodus jetzt nicht nur mit seinen Nachbar-Büchern, sondern insgesamt mit der Tora sowie wegen des Einzugs ins Land mindestens auch mit Josua aufs Engste, ja sogar untrennbar verknüpft ist. Es steht nun innerhalb eines großen Erzählbogens, der von der Schöpfung bis zur Landnahme, vermutlich aber weiter bis in die Königsbücher (s. die Anspielungen auf den Tempel in Ex 15,13.17) reicht und als Interpretationszusammenhang ernst zu nehmen ist.
Die theologischen Aussagen von Exodus bilden das Zentrum und die Basis des Glaubens an den Gott der Bibel. Wer Jhwh eigentlich ist, enthüllt sich in diesem Buch auf neue und in Manchem nicht mehr überbotene Weise: Er schenkt Befreiung aus Knechtschaft. Er geht mit dem Volk im „Bund“ eine bleibende Beziehung ein (Ex 19-24) und gibt diesem dafür eine es tragende Lebensordnung. Er verleiht der engen Verbindung sichtbaren Ausdruck im Heiligtum. Als er abgelehnt und verletzt wird, antwortet er in der Folge mit einer noch weitergehenden Mitteilung seines Wesens als „barmherzig und gnädig“ (Ex 34,6). Ex enthält den Kern atl. Gottesoffenbarung (mehr dazu u. bei 6a).
Darüber hinaus zeigt Ex auch auf, wer „Israel“ ist (s. auch u. S. 18). In Ex 1 ist zum ersten Mal von ihm als Volk die Rede, in Ex 12 als „ganze Gemeinde“, in Ex 15 von einem gemeinsamen Lied und Gebet. Diese Menschen erhalten zusammen von Gott das Angebot, ihm „besonderes Eigentum, … ein Königreich von Priestern und eine heilige Nation“ zu sein (19,5f). Die dreifache Auszeichnung in Gottes Nähe macht von nun an Israels Identität aus, zumindest als Zielvorstellung.
Auch konkrete Vollzüge und Institutionen dieser neuen Gemeinschaft hängen an Exodus. Dazu gehören u.a. der Beginn des religiösen Jahres (Ex 12,2) und damit eine Zeitordnung, Feste wie Pesach, Getreide-Ernte und Herbst-Lese (Ex 12 sowie 23,14-17), der Wochenrhythmus aufgrund des Sabbat (Ex 16), die Rechtsvorschriften in Dekalog und Bundesbuch (Ex 20-23), die Bestimmungen betreffend das Heiligtum, dessen Ausstattung und Personal (Ex 25-31). Eine Fülle ganz wesentlicher Charakteristika der Gemeinschaft Israels findet in Ex ihre Erklärung und Begründung. Mehrfach ergehen Aufforderungen, diese Setzungen als für die Zukunft entscheidend und tragend zu bewahren („gedenken, erzählen, …“, z.B. bei der Einsetzung des Pesach 12,14).
Grob lässt sich Ex in zwei große Abschnitte unterteilen:
A) Ex 1-18 Der Weg zum Gottesberg
B) Ex 19-40 Am Gottesberg
Diese Teile sind weiter zu untergliedern, Ex 1-18 in:
I.Vermehrung und Unterdrückung der Israeliten in Ägypten (Ex 1-2)
II.Die Berufung des Mose (Ex 3-4)
III. Erstes Scheitern und Gottes Antwort darauf (Ex 5-6)
IV.Gottes Zeichen an Ägypten (Ex 7-11)
V.Pesach, Aufbruch und endgültige Befreiung von Ägypten (Ex 12,1-15,21)
VI.Auf dem Weg zum Sinai (Ex 15,22-18,27)
Ex 19-40 weist eine in sich verschachtelte Struktur auf:
VII. Israel wird im Bund am Sinai Gottes Juwel (Ex 19,1-24,11)
VIII. Die Heiligtumsbestimmungen (Ex 24,12-31,18)
IX. Bundesbruch und Erneuerung des Bundes (Ex 32-34)
X.Herstellung, Errichtung und Erfüllung des Heiligtums (Ex 35-40)
Im Zentrum des Buches steht die Erzählung des Bundesschlusses Ex 19,1-24,11.
Darin eingebettet sind zwei große Gottesreden – Dekalog und Bundesbuch:
aBundesangebot und Theophanie (Ex 19)
bDekalog (Ex 20,1-17)
bBundesbuch (Ex 20,22-23,19)
a’Bundeszeremonien und Theophanie (Ex 24,1-11)
Dieser Buchmitte, und dabei besonders dem „Zehn-Wort“, kommt grundlegende Bedeutung zu (s. das Schema S. 209).
Der Aufbau spiegelt eine logische innere Dynamik wider: Gott befreit sein Volk Israel aus Ägypten (Ex 1,1-15,21) und prüft es am Weg zum Sinai (Ex 15,22-18,27). Auf der Basis dieses wechselseitigen Kennenlernens kann sich Israel an Gott als seinen König binden (15,18; 19,6). Nachdem Jhwh mit Israel den Bund geschlossen und seine Weisung in Dekalog und Bundesbuch gegeben hat (Ex 19,1-24,11), vermittelt er die Weise, in der er vertieft mit seinem Volk in Beziehung bleiben möchte – im Heiligtum und dem dortigen Dienst der Priester (Ex 24,12-31,18). Anfertigung und Verehrung des Goldenen Kalbes bedeuten den ersten Bruch des Bundes in der Geschichte Israels (Ex 32). Durch Moses Vermittlung überwindet Gott diese Krise und vertieft die Beziehung noch, indem er den Bund erneuert (Ex 33f). So kann Israel als sein erstes gemeinsames Werk das Heiligtum errichten, in dem sich Gott bleibend vergegenwärtigt (Ex 35-40).
Dazu tritt eine Reihe von Veränderungen, die eine Entwicklung und Verwandlung beim Volk zeigen. Am Beginn, in Ex 1,11, steht ein erzwungenes Bauen von ägyptischen Vorratsstädten – am Ende, in Ex 35-40, erfolgt mit großzügigen, freiwilligen Spenden (35,4-29 mit 36,3-7) und kreativem künstlerischem Einsatz die Errichtung des Heiligtums (T.E. Fretheim).
Eine ähnliche Bewegung zeigt sich beim Dienen. Steht am Anfang der vom Pharao erzwungene Sklavendienst (1,13f; 5,18 …), so wandelt sich die Ausrichtung des Volkes zum Dienst, d.h. zur Verehrung Gottes (G. Auzou); Letztere wird angekündigt in 3,12 und ausgeführt mit dem Singen in Ex 15 sowie in dem ab Ex 19 einsetzenden Eingehen auf Gottes Erscheinen und Forderungen.
Nicht nur beim Volk, auch bei den Herrschern sind Veränderungen zu beobachten. Dies gilt besonders für den Pharao (s. sein sich wandelndes Verhalten, von der Unterdrückung in Ex 1 bis zu seinem Auszugsbefehl in 12,31), aber auch für den Gegensatz zwischen ihm und Gott beim Treffen auf ‚Widerstand‘: Auf den durch Mose übermittelten Wunsch der Israeliten, Gott zu dienen, verschärft der ägyptische König ihre Fronarbeit (Ex 5). Jhwh dagegen, ebenfalls auf Intervention Moses, lässt sich, sogar nach einem massiven Verstoß des Volkes gegen ihn selber, von seiner Absicht zu vernichten abbringen und offenbart sein innerstes Wesen als „erbarmend und gnädig“ (Ex 32-34). Daran zeigt sich ein grundlegender Unterschied zwischen menschlicher und göttlicher Herrschaft. – Solche Entwicklungen innerhalb des Buches geben den Lesenden eine Zielrichtung an und lassen sie anhand der Kontraste erkennen, woran sie sich orientieren sollen.
Das Crescendo in der Anwesenheit Gottes am Ende von Ex 2 (fünfmal in 2,24f) bietet den passenden Auftakt für die Kundgabe seines Namens „Jhwh“ und dessen Deutung in 3,14f (s. den Exkurs dazu dort). Weitere Schlüsselstellen für die Mitteilung seines Wesens sind 6,2-8, wo Gott das Verhältnis zu früherer Offenbarung anspricht, sowie 34,5-7, in dem er sich als erbarmend zeigt.
Bereits bei 5) waren mit „bauen“ und „dienen“ wichtige, mit Gott verbundene Stichwörter in den Blick gekommen. In ähnlicher Weise vollzieht sich z.B. mit „glauben“ ein Weg, der von der Infragestellung durch Mose in Ex 4,1 über Gottes Zusagen in V. 5.8 zu einer ersten Realisierung in V. 31 reicht. Nach einer Phase des Nicht-Hörens (s. 6,9) kommt es schließlich in 14,31, nach dem Ereignis am Schilfmeer, zum endgültigen Sich-Festmachen an Jhwh, wobei dort, einmalig, sogar Mose darin einbezogen wird.
Ein anderes Hauptmotiv ist das „Erkennen“ Gottes, das sowohl für Israel (Ex 6,3.7 und öfter) als auch für Ägypten (ab 7,5 und bis 14,4.18 reichend; zuvor noch die fehlende Kenntnis Jhwhs beim Pharao in 5,2) eine entscheidende Aufgabe ist.
Auch die Weisen seiner Gegenwart erfahren besondere Aufmerksamkeit. Dem Mose erscheint Gott in Feuersflamme, Busch und Bote in Ex 3,2-4; Letzterer spielt auch eine wichtige Rolle in 23,20-23. Feuer als Theophanie-Element begegnet wieder in 19,16-19, gepaart mit Wolken, Rauch, Donnern, Blitzen, wozu die Wolken- und Feuersäule in 13,21f; 14,19f.24 eine Voranspielung bildet. Eine besondere Gottesschau schildert 24,10f; allerdings vermag sie nur zu beschreiben, was „unter seinen Füßen“ ist. Das Stichwort „Angesicht“ prägt Ex 33, in einer seltsamen Balance von bejahenden (V.11.14f) und verneinenden Aussagen (V.20.23). Schließlich, am Ende des Buches in 40,34-38, ergreift Gott von seinem Heiligtum Besitz, sichtbar in den bekannten Symbolen Wolke und Feuer, dort ebenso wie in 24,16f verbunden mit „Herrlichkeit“, einem sehr bedeutenden Konzept des ganzen Buches.
Es benennt Gottes überragende, letztlich unfassbare Ausstrahlung und ist neu für den vom Anfang der Bibel, dem Buch Genesis herkommenden Leser. Die hebr. Wurzel begegnet als Zeitwort „sich verherrlichen“ in Ex 14,4.17f, angesichts der Rettung am Schilfmeer, und als Hauptwort kabod „Herrlichkeit“, so erstmalig in 16,7.10, anlässlich der Gabe des Manna in der Wüste. Weitere Verknüpfungen bestehen mit der Kleidung der Priester in 28,2-40 (doch dort meist übersetzt als „Ehre“) und in 29,43 mit dem Begegnungszelt, das durch Gottes „Herrlichkeit geheiligt wird“ – eine Vorankündigung zur Realisierung in 40,34f. Dazwischen, in 33,18.22, sagt Jhwh Mose die Erfüllung von dessen Bitte zu, seine Herrlichkeit schauen zu dürfen. Dies erfolgt wohl dann in der Enthüllung seines gnädigen Wesens in 34,5-7.
Mit „Heiligtum“ und „geheiligt“ ist in den beiden vorausgehenden Absätzen bereits etwas angesprochen worden, das in Ex am zweithäufigsten innerhalb der ganzen Bibel begegnet; nur Levitikus bietet mehr Belege für die hebr. Wurzel „heilig“. Die Vorkommen setzen in Ex 3,5 mit „heiliger Boden“ ein, gehen weiter über die „heilige Versammlung“ in 12,16 (zweimal) und die Forderung nach Heiligung der Erstgeburt in 13,2 und erreichen im Lobpreis Gottes in 15,11 einen ersten Höhepunkt. Dort verweist V.13 mit „deine heilige Wohnung“ dann auch gleich vorweg auf das später zu errichtende Heiligtum.
Die soeben genannten Motive zeigen markante Verschiebungen gegenüber dem vorausgehenden Buch, der Genesis. Gottes Sich-Kundtun und die daraus sich ergebenden Veränderungen für die an ihn Glaubenden treten ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die vielfältigen und faszinierenden Formen seines Erscheinens legen das Schwergewicht auf Gottes Begleitung und Anwesenheit, wobei die Dynamik auf die Errichtung des Heiligtums in Ex 25-31 und 35-40 zuläuft, als Ätiologie für den Tempel und seine Institutionen. Diese sind vollständig getragen von der Erfahrung des barmherzigen, vergebenden Gottes (Ex 32-34, bes. 34,5-10), als der sie erfüllenden und ermöglichenden Mitte – wie es auch strukturell sichtbar wird.
Mit der obigen Wandlung ist vor allem eine Gestalt untrennbar verbunden: Mose. Ab seinem ersten Auftreten in Ex 2 nimmt er eine beherrschende Stellung ein, und er wird sie bis Dtn 34 nicht mehr abgeben – auch ein Anzeichen für die Zusammengehörigkeit der vier letzten Bücher der Tora. Mose ist jene Person, die von beiden Seiten, Gott und Volk, für die Vermittlung legitimiert und an allen wichtigen Ereignissen wesentlich beteiligt ist. 289 Vorkommen seines Namens im Buch Exodus, von 650 in der Tora und insgesamt 770 in der Hebräischen Bibel, unterstreichen seine Bedeutung.
Es sind vor allem drei Aspekte, die Mose auszeichnen. Zunächst ist er der bevorzugte Ansprechpartner Gottes. Kein anderer Mensch in der Bibel wird häufiger von Gott angeredet. Als Folge davon ist Mose mit Gott vertraut wie es von niemand sonst im AT berichtet wird, und er kann dessen Botschaft weitergeben sowie Zeugnis für Jhwh ablegen. Der Glaube Israels hängt entscheidend auch an Mose (Ex 14,31).
Unübersehbar ist weiters die Rolle, die er für die Vermittlung der Gesetze einnimmt. Recht in Israel ist, mit ganz wenigen Ausnahmen, an seine Person gebunden, entweder als Hörer der entsprechenden Anweisungen Gottes (z.B. in Ex 20,22-23,33, u.a. das Bundesbuch enthaltend), oder in eigener Auslegung und Aktualisierung, wie im Buch Deuteronomium (s. 4,1.44f; 5,1 …). Mose ist gleichsam die Verkörperung der israelitischen Rechtsordnung.
Weniger augenscheinlich ist ein dritter Aspekt. Mose ist der Abstammung nach Levit, der Erziehung nach Ägypter, und mit einer Midianitin verheiratet. Er verbindet, im Bogen seines Lebens, so unterschiedliche Themenblöcke wie Aufenthalt in Ägypten, Auszug, Wüstenwanderung, Sinai, verschiedene Rechtssammlungen usw. Daran wird deutlich, dass Mose kompositionell und offenbar ganz bewusst die Funktion eines Bindeglieds hat. Er vereint in seiner Person sehr unterschiedliche Traditionen und dient so für sein Volk als Figur der Einheit (für weitere Züge von ihm s. G. Fischer, Mosebild).
Exodus ist die Gründungserzählung des Volkes Israel in mehrfacher Weise: Soziologisch wächst Israel in Ägypten von Jakobs Familie zur Volksmenge (1,1-7); diesem Volk schließen sich auch Menschen anderer ethnischer Herkunft an (12,38). Unter religiöser Rücksicht wird Israel durch Gottes Erwählung zu seinem Volk („mein Volk“ erstmals 3,7) und durch den Bund am Sinai zu Gottes Juwel und einem Königreich von Priestern (19,5-6). Geschichtlich gründet Israel in der Ursprungserfahrung, aus Unterdrückung befreit worden zu sein (20,2; Dtn 26,5-9). Rechtlich wird Israel im Sinaibund als Theokratie auf der Basis eines demokratischen Konsenses verfasst und erhält im Dekalog eine Art Verfassungsurkunde, im Bundesbuch gleichsam seinen ersten Gesetzeskodex (vgl. S. 231f.).
Geographisch spielt Ex überwiegend an drei Orten. Ex 1-14 haben als Hauptschauplatz Ägypten. Mit dem Durchzug durch das Schilfmeer betritt das Volk in Ex 15-18 die Wüste. Die Wanderung durch sie führt es schließlich an den Gottesberg, den Sinai, der für den Rest des Buches sein Aufenthaltsort wird.
Ägypten steht nicht nur für eine der ältesten, prächtigsten und mächtigsten Kulturen und Herrschaftssysteme des Altertums, im Vergleich zu dem sich Israel unter menschlicher Rücksicht wie ein Zwerg in der Völkergemeinschaft ausnimmt. Im ‚Pharao‘ – der namenlos und somit archetypisch bleibt – verkörpert sich despotische Gewalt, gegenüber der sich Jhwh mit allen notwendigen Mitteln als mächtiger erweist, um unterdrückte Menschen zu befreien.
Schilfmeer und Wüste sind einerseits geographische Realität am Weg von Ägypten zum Sinai. Zugleich aber symbolisieren sie den verwandelnden und befreienden Durchgang bei der ‚Geburt‘ Israels (Ex 14) sowie die herausfordernde Erfahrung von Hunger, Durst und Gefahren (Ex 15-18), die wie eine Fastenzeit auf das Gottesfest am Sinai vorbereiten.
Unter den Orten ragt, geographisch und von der Bedeutung her, der Berg Sinai heraus. In Ex 3,1 wird er noch als „Horeb“ (Bedeutung: „Trockenheit, Dürre“) benannt, wie später oft im Deuteronomium, ab Ex 16,1 dagegen „Sinai“, vermutlich im Zusammenhang mit der gleichnamigen Wüste (19,1f); die Herkunft der Benennung, ihre Bedeutung und auch die Lokalisierung des Berges sind unsicher (s. dazu den Exkurs „Der Gottesberg“ bei C. Dohmen sowie die Karte S. 183).
Unumstritten ist jedoch sein theologischer Stellenwert: Die Sinai-Texte reichen von Ex 19 bis Num 10 und bilden so nicht nur das Zentrum der Tora, sondern auch ihr Schwergewicht. Für das AT ist der Sinai der privilegierte Ort von Gottesoffenbarung und –nähe. Die Situierung auf einem Berg ist in hohem Maße symbolisch und spiegelt die Erfahrungen von Majestät, Erhabenheit, Weitsicht, Hochgefühl. Dieses „Gipfel-Erlebnis“ gibt das Buch Exodus wieder, das seinerseits einen Höhepunkt innerhalb der Bibel darstellt.
Innerhalb der Bibel wird Exodus als selbstständiges Werk überliefert, mit eigenem Titel. Wie aus den Funden von Qumran zu ersehen ist, entsprach dem in früherer Zeit wohl die Abfassung als für sich stehende Schriftrolle, mit Ex 1 als Beginn und Ex 40 als Ende, trotz der unleugbaren und geradezu geforderten Bezüge mit den Nachbarrollen Genesis und Levitikus.
Diese offenbar bewusst gesetzte Einheit als ‚Buch‘ ist jedoch in sich vielgestaltig. Eine große Zahl von Formen und Gattungen (Geburtsgeschichte, Berufungserzählung, Theophanie, usw.) findet Verwendung; G.W. Coats u.a. wollen dafür unterschiedliche „Sitze im Leben“ vorschlagen, was durchaus für deren ursprünglichen, isolierten Gebrauch zutreffen mag. Jetzt aber sind sie so miteinander verwoben, dass sie einerseits ihre Funktion an je ihrer Stelle erfüllen und anderseits zugleich gemeinsam ein Ganzes bilden, das kaum mehr in unterschiedliche soziale oder historische Ansetzungen aufzulösen ist. Mit T.E. Fretheim kann man von einer „zusammengesetzten Einheit“ sprechen.
Dazu passt noch eine Beobachtung: Alle Einzelteile zeigen eine stimmige, oft sogar notwendige Abfolge. Mit dem Beginn des Buches einsetzend, wird jede folgende Einheit an jeweils ihrer Position benötigt, sei es zur Lösung der zuvor entstandenen Probleme oder Fragen, sei es im Blick auf später kommende Texte. Wie das Buch in dieser Weise jetzt untrennbar verbunden erscheint, hat theologisch eine Entsprechung in seinem Programm-Bekenntnis „Jhwh, unser Gott“ (erstmalig Ex 3,18), das die Absicht enthüllt, die verschiedenen Gruppen der Israeliten zu vereinen.
Eine Besonderheit ist sicherlich die Verbindung von Erzählung und Recht, die in so großem Ausmaß erstmalig in biblischen Büchern begegnet. Dieses Miteinander ist konstitutiv; mehrfach sind dieselben Motive in beiden Darstellungsweisen zu finden, etwa das Essen der Mazzot in der Schilderung der Ereignisse beim Aufbruch (Ex 12f) sowie dann in den Vorschriften des Bundesbuchs (23,15) und des Privilegrechts (34,18), oder der Sabbat, zuerst als Erfahrung in der Wüste (Ex 16), danach aber, gleich öfter, als rechtliche Forderung (20,8-11; 31,12-17; 34,21 …).
Die Verknüpfung des Rechts mit Erzählungen erfüllt verschiedene Funktionen, wie u.a. am Beispiel von Ex 19-24 sehr deutlich wird (D. Markl, Dekalog): Die Erzählung wirkt in Bezug auf das Recht
–geschichtlich-konstituierend: Das Berichten der Ereignisse gibt den Rechtsakt des Bundesschlusses wieder und erinnert bleibend an seine Geltung.
–pädagogisch-vorbereitend: Das Zugehen der Bundespartner aufeinander in Ex 19 ermöglicht und motiviert den Gehorsam gegenüber den rechtlichen Vorschriften.
–einbeziehend und charakterisierend: Das Volk wird hineingenommen in eine Bindung mit Gott, der in der Weise seines Erscheinens sich mitteilt und darin Menschen anzieht. Wie Gott mit Israel umgeht, deutet aus, wie seine Rechtsbestimmungen zu verstehen sind.
Ex als Ganzes weist darüber hinaus eine Reihe spezifischer Ausrichtungen auf. Es ist nicht nur theologisch, indem es von Gott redet, sondern sogar „theozentrisch“, weil er der entscheidende Handlungsträger ist, sich selber kundtut und alles sich auf ihn fokussiert. Dazu ist Ex ein „kulturelles Dokument“ (C. Meyers), insofern es die Entstehung wichtiger Institutionen und Überzeugungen schildert bzw. in der Vergangenheit verankert. Diese beiden Momente geben dem Buch auch bekenntnishafte („kerygmatisch“, T.E. Fretheim) und lehrhafte (N. Sarna) Züge.
Im Detail zeigen sich viele innere Verklammerungen, welche die einzelnen Abschnitte von Ex zusammenhalten und dem Buch Kohärenz verleihen. Zu ihnen zählen z.B. Ankündigungen Gottes wie Ex 3,12 „ihr werdet Gott an diesem Berg verehren“ oder 3,20 „und danach wird er euch entsenden“ – in diesen Fällen Vorverweise auf die Ereignisse ab Ex 19 bzw. die Entlassung durch den Pharao in 12,31f, nach dem Schema von Ansage und Erfüllung.
Manche dieser göttlichen Vorhersagen gehen über das Buch hinaus und nehmen zukünftiges Geschehen in den Blick, so die Rede vom ‚Land‘ (Ex 3,8 und öfter), die Anweisungen bezüglich des dort zu beachtenden Mazzot-Festes (13,4-7) oder die Anfertigung des ‚Goldenen Kalbes‘ (Ex 32; vgl. 1 Kön 12,28). Sie machen, ebenso wie die in der Genealogie in Ex 6,20-25 erwähnten und später wiederkehrenden Personen, deutlich, dass Ex nicht nur intern, sondern auch mit den folgenden Büchern intensiv verflochten ist.
Das Exodus-Buch ist doppelt in der Geschichte verankert. Zum Einen ist es zu einer bestimmten Zeit geschrieben worden, die deutlich nach den in ihm geschilderten Ereignissen liegt – wann genau, darauf wird gleich weiter unten noch zurückzukommen sein. Zum Anderen berichtet es von Geschehnissen aus der Frühzeit des Volkes. Nach heutiger Einschätzung, und ebenso nach der Einordnung des Buches in den Gesamtzusammenhang der Tora (nach Genesis, und vor dem Aufbruch vom Sinai Richtung Land in Numeri 10), sind diese auf die späte Bronzezeit (ca. 1550–1200 v. Chr.), evtl. auch auf die Zeit kurz danach zu datieren.
Tatsächlich spiegelt Exodus reale Verhältnisse, auch aus dem Ägypten der Pharaonen, allerdings gebrochen durch einen enormen Abstand von mehreren Jahrhunderten und zudem beeinflusst durch die Interessen zur Zeit der Abfassung. N. Sarna hat in seinem Kommentar und mehr noch in seinem Buch „Exploring Exodus“ auf mögliche historische Bezüge hingewiesen; sein Werk ist wohl das Informativste in dieser Hinsicht und gibt viele wertvolle Aufschlüsse über damalige Verhältnisse aus den Erkenntnissen der Archäologie, z.B. zu Sklavenarbeit, Vorratsstädten, Aufenthalt von Semiten in Ägypten, usw. Weiterführende Hinweise bieten ebenso C. Houtman in §11 seiner Einleitung (S. 171–190) und andere Autoren. Auch deshalb geht dieser Kommentar nur wenig darauf ein.
Trotz dieser Spiegelung früherer Zustände ist zu sehen, dass das Hauptinteresse der Exodus-Rolle in anderer Richtung liegt. Sie will eine Botschaft von Jhwh, dem einen, gemeinsamen Gott vermitteln, zum Glauben an ihn führen und konkrete Lebensanweisungen dafür geben. Theologische Anliegen dominieren ganz deutlich gegenüber der Beschreibung der historischen Situation.
Versucht man nach heutigem Stand der Exegese eine Zeit für die Abfassung dieser Rolle anzugeben, so bietet sich am ehesten ein Bezug auf die vermutliche Proklamation der Tora durch Esra um das Jahr 398 v. Chr. an. Damals müsste Exodus, in Umfang und Form nahezu gleich mit dem uns heute vorliegenden Buch, abgeschlossen gewesen sein. Von daher ergibt sich für seine Anfertigung das fünfte vorchristliche Jahrhundert als wahrscheinlichster Zeitpunkt, und eher gegen dessen Ende. Die Exodus-Rolle begleitete damit den Prozess der Ausbildung einer neuen Identität Israels als Gemeinschaft von an Jhwh Glaubenden während der Perserherrschaft.
Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist es mehr und mehr üblich geworden, in der Tora verschiedene Quellenschriften zu entdecken und literarkritisch zu unterscheiden. Diese Zugangsweise nahm u.a. angebliche Doppelungen oder Spannungen zum Anlass, eine zweite Schicht und damit einen anderen Autor zu postulieren. In der klassischen Ausgestaltung rechnet diese Theorie mit vier verschiedenen und zu unterschiedlichen Zeiten entstandenen Textschichten, mit den Bezeichnungen Jahwist (wegen der Verwendung des Gottesnamens Jhwh, weitgehend in den Erzählungen von Ex), Elohist (vom hebr. ᵓelohim für Gott, wie in Ex 2,23-25), Deuteronomist (aufgrund der Nähe zu Sprache und Themen des Buches Deuteronomium, z.B. in Ex 13,14-16) und Priesterschrift (späteste Schicht, Interessen der Priesterschaft vertretend, so deutlich in den Heiligtumstexten ab Ex 25).
Zeittafel
ca. 1550–1200 v. Chr. |
Spätbronzezeit |
1295-1188: |
19. Dynastie in Ägypten, u.a. mit Ramses II. (1279–1213; s. Ex 1,11) |
|
Aufenthalt von Semiten und Halbnomaden dort |
um 1200: |
Zug der „Seevölker“ in den südöstlichen Mittelmeerraum (aus ihnen gehen auch die Philister hervor, vgl. Ex 15,14) |
ca. 1200–587 v. Chr. |
Eisenzeit |
12./11. Jh.: |
sogenannte ‚Landnahme‘ (angespielt in Ex 3,8 u.ö.) |
etwa 955: |
Salomo vollendet den Bau des Tempels (Bezug darauf in Ex 15,17) |
932: |
Reichsteilung zwischen Rehabeam und Jerobeam I.; Letzterer errichtet goldene Stierbilder in Bet-El und Dan (s. Ex 32,4) |
587–539: |
Jerusalem ist zerstört, die Oberschicht des Südreiches Juda im Babylonischen Exil |
539–331: |
Perserreich; Erlaubnis von Rückwanderung und Tempel-Neubau (vgl. Ex 25-31 und 35-40) |
ca. 5. Jh.: |
Sammlung der Traditionen und Ausbildung der Tora (inkl. Buch Exodus), als Entwurf für die Gemeinschaft der Jhwh-Gläubigen |
398: |
Verkündigung des „Buches der Tora“ durch Esra (Neh 8) |
In den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts haben die verschiedenen Spielformen dieser Hypothese sowohl massive Veränderungen als auch grundsätzliche Kritik erfahren. Der Jahwist als ursprünglich früheste, aus dem 10. Jh. stammende Quelle, trat bei Manchen ganz ans Ende, in die (Nach-)Exilszeit. Die anfänglich vier Quellenschriften wurden von E. Blum auf nur noch zwei „Kompositionsschichten“ reduziert (eine deuteronomistische und eine priesterschriftliche). Zudem differieren die einzelnen Autoren bezüglich der Zuordnungen zu den jeweiligen Schichten und ihrer Interpretation teils beträchtlich.
Noch tiefer gehend aber stellen B. Jacob, C. Houtman, C. Dohmen und Andere überhaupt diese Modelle und die literarkritische Vorgehensweise in Frage. Nicht nur beim Buch Exodus, auch in den anderen Schriften des AT und der Bibel scheinen die Vorannahmen für solche Quellenscheidungen bedenklich. Angesichts dessen, dass diese Texte innerlich ganz stark verflochten sind und auch gezielt als einheitliches Ganzes präsentiert werden (s. dazu oben 7a, Einheit in Vielfalt), und angesichts der mehr als 130 Jahre währenden vergeblichen intensiven Bemühungen um eine akzeptable Deutung müssen wir heute eingestehen, dass alle Versuche, die Entstehung dieser Texte zu erklären, zu keinem überzeugenden Ergebnis geführt haben.
So bleibt als einziger verantwortlicher Weg, ohne Voraussetzungen bezüglich des historischen Werdens des Buches auf den Text selbst zu hören und ihn zu verstehen zu versuchen. Das bedeutet nicht, dass es keine Vorgeschichte gegeben hat. Es wäre naiv anzunehmen, die verschiedenen Materialien (Dekalog, Bundesbuch, Anweisungen bezüglich des Heiligtums …) und Motive bzw. Traditionen (Unterdrückung in Ägypten, Auszug, Gottesbegegnung am Sinai, usw.) entstammten allesamt einem Autor – doch sind diese Vorformen bzw. der Werdegang bis zur Endfassung des Buches für uns mit den heutigen Mitteln der Exegese nicht mehr mit Sicherheit zu erheben. In diesem Sinn lesen wir Exodus als beabsichtigte, spannungsvolle Einheit.
Angesichts der überragenden Bedeutung, die dem Buch Exodus durch seine Inhalte zukommt (s.o. 3 und 6), sind seine außergewöhnliche Wirkung und die vielfache Aufnahme in späteren Texten verständlich. Nur kurz seien hier drei Bereiche angesprochen.
a) Unmittelbar naheliegend ist der Einfluss der Exodus-Rolle auf die Schriften des AT (s. dazu, u.a., S. u. C. Paganini / D. Markl). Massiv greifbar wird dies im Deuteronomium, das weitgehend auf die Darstellung in ihr zurückgreift, sie voraussetzt und auf eine neue Lage hin aktualisiert. Die Bezüge zum deuteronomistischen Geschichtswerk sind unterschiedlich stark; doch stehen Berichte wie die Errichtung des Heiligtums in Bet-El und Dan (1 Kön 12) oder Elijas Aufsuchen des Gottesbergs (1 Kön 19) in direkter Verbindung mit Exodus-Texten.
Spätere Propheten verwenden den Auszug aus Ägypten gar als Modell für die Befreiung aus dem Exil (z.B. Jes 43,14-21; Ez 20,33-38; Jer 16,14f). Eine ganze Reihe von Psalmen nimmt Exodus-Motive auf (vor allem Ps 77f; 80f; 105f; 114; 135f). Unter den griechischen Büchern des AT ist das Buch der Weisheit hervorzuheben, dessen zweite Hälfte (11,2-19,22, sowie schon einführend ab 10,15) intensiv Exodus als Vorlage verwendet (s.u. bei den Zeichen in Ex 7-11, S. 129) und von daher zu einer neuen Erkenntnis von Gottes mildem Vorgehen gelangt.
b) Auch das Neue Testament greift öfter auf Exodus zurück. Paulus (1 Kor 10) nimmt ebenso wie Lukas (z.B. in der Stefanus-Rede, Apg 7,17-44) oder Johannes (Joh 6,30-51; Motiv des Manna) Themen daraus auf. Dies gilt gleichfalls für weitere Schriften des NT (1 Petr 2,9, im Rückgriff auf Ex 19,5f; Offb 15,3f, wohl Anspielung auf Ex 15), aber auch für die folgende Zeit, und zwar sowohl für die jüdische als auch die christliche Tradition, wie u.a. an der Exodus-Typologie bei den Kirchenvätern (vgl. J. Daniélou sowie T. Heither) deutlich wird. Mehr zur Wirkungsgeschichte folgt in Teil 3.
c) Abschließend ist zu sehen, dass die in Exodus geschilderten Ereignisse, insbesondere der Auszug aus einer Herrschaft der Unterdrückung, eine tiefe symbolische Bedeutung haben und sich durch die Geschichte hindurch mehrfach wiederholen. Was Israel in der Befreiung aus Ägypten erfahren hat, kehrte in ähnlicher Weise wieder in
–dem Ende des Frondienstes für das Nordreich unter Salomo, mit Jerobeam I. (1 Kön 4; 11f; vermutlich im Hintergrund der Zwangsarbeit in Ex 1)
–dem Untergang des Assyrerreiches, mit der Einnahme Ninives 612 v. Chr., welche jahrzehntelange assyrische Bedrückung und Grausamkeit beendete
–der Ablösung der neubabylonischen Herrschaft durch die Perser 539 v. Chr., als Übergang zu einer milderen Form von Abhängigkeit
–den dann möglichen Rückwanderungen aus dem Exil, als Parallele zum früheren Weg aus der Fremde in die Heimat
–dem Abschütteln des Joches der Seleukiden im 2.Jh. v. Chr. durch die von Mattatias ausgelöste Widerstandsbewegung, usw.
Die Erfahrung solcher göttlicher Rettung ist nicht auf Israel beschränkt, sondern begegnet ebenfalls in späteren Zeitepochen und bei anderen Gemeinschaften. Um dieses Handeln Gottes angemessen zu erfassen und mit menschlichem Einsatz zu begleiten, bedarf es je neu einer „Theologie der Befreiung“, die zuläuft auf eine enge, bleibende Beziehung mit ihm, wie sie im Buch Exodus beispielhaft in der Begegnung und im Bund mit ihm am Sinai vorliegt.
Vom Anfang eines Buches ist zu erwarten, dass er in es einführt und zu wichtigen Themen hinleitet. Ex 1-2 erfüllt diese Aufgabe, als eine Art Präludium (C. Isbell). Ex 1 schildert die allgemeine Lage der im Blickfeld stehenden Menschen, Ex 2 Geburt und erstes Auftreten der Schlüsselfigur, Mose. Zudem weist dessen Errettung aus großer Gefährdung Ähnlichkeiten mit jenem Geschehen auf, das später das Volk bei seinem Auszug aus Ägypten erleben wird (Ex 13f).
Die einzelnen kleinen Abschnitte von Ex 1-2 bilden ein zusammengehöriges „Netz“ (G. Davies). Sie sind intensiv miteinander verwoben, u.a. durch die dominante Rolle von Frauen, deren mutiges Auftreten und durch den Stellenwert, welcher der Vermehrung und Kindern zukommt (I. Willi-Plein). Mit Letzterem beginnt gleich der erste Abschnitt.
„Und dies sind die Namen …“ lautet wörtlich der Beginn des Buches. Das anfängliche „Und“ verbindet mit dem voraus liegenden Buch Genesis (so schon Ibn Esra) und weist damit bereits auf die vielfachen engen Bezüge zwischen beiden Büchern hin. Tatsächlich setzt das Buch Exodus die Erzählungen der Genesis als Grundlage voraus. Im Hebräischen trägt das Buch Exodus nach dem hier in v1 vorkommenden ersten Hauptstichwort die Bezeichnung „Namen“ (schemot).
Die beiden Namen „Israel“ (in der Wendung „Kinder Israels“) und Jakob referieren auf dieselbe Person; die Spannung zwischen ihnen macht zwei Dimensionen des Geschehens bewusst. Der Name Jakob steht für den Patriarchen als „leiblicher Vater“ (B. Jacob); für ihn als Segensgestalt (vgl. Gen 32,27-29) wird dagegen „Israel“ verwendet. Auch unsere Kulturen kennen die Verwendung verschiedener Namen für dieselbe Person, je nach Kontext, z.B. im Gebrauch von Vor- und Nachnamen, von Tauf- und Rufnamen, von Hof- und Familiennamen.
Das Kommen (zweimal, betont) der ganzen Sippe nach Ägypten nimmt Gen 46,1-27 auf. Dahinter verbirgt sich ein schweres Schicksal, das Analogien heute hat: Jakobs Großfamilie musste aufgrund drückenden Hungers auswandern. Die Erfahrung der Fremde und der Rolle, „Ausländer“ zu sein, prägt seither ihr Leben.
Die Aufzählung der Kinder Jakobs in V.2-4 erwähnt zuerst die sechs Söhne Leas, der älteren Frau Jakobs (Gen 29,31-35; 30,16-20). Dann folgt Benjamin, der zweite Sohn Rahels, und anschließend je zwei Kinder von Bilha und Silpa, den Mägden Rahels bzw. Leas. Diese Anordnung stellt die zeitliche Reihenfolge der Geburten zweifach um. Issachar und Sebulon werden vor die Söhne der Mägde gereiht, und Benjamin (seine Geburt wurde erst in Gen 35,16-20 berichtet) wird weit vorgezogen. Mit dieser veränderten Reihung erfolgt auch eine Wertung.
Außerdem fehlt Josef, was seinen Grund aber darin hat, dass er zu diesem Zeitpunkt schon lange in Ägypten war (V.5). Die ihm zukommende Schlüsselrolle scheint in den insgesamt drei Erwähnungen in V.5f.8 durch; zugleich machen die damit verbundenen Bemerkungen „sterben; nicht kennen“ deutlich, dass nun eine Ära zu Ende geht.
V.5 spricht von „70 Personen“, die von Jakob abstammen. Es greift dabei die in Gen 46,27 genannte Zahl für die mit ihm nach Ägypten ziehende Großfamilie auf. Dabei sind er selber, Josef und dessen beide Söhne Manasse und Efraim mitgezählt. Angesichts dessen, dass in der kurzen Zeitspanne bis zu dieser Auswanderung nach Ägypten nicht die in Gen 46 auch noch erwähnten Großenkel geboren sein konnten (C.F. Keil), empfiehlt es sich, die Zahl „70“ symbolisch zu verstehen, als vollkommene Fülle, in der Multiplikation der beiden schon für sich Ganzheit andeutenden Zahlen 7 und 10.
Die Todesnotiz in V.6 für die gesamte erste Generation nach Jakob könnte ein Ende markieren. Doch das Gegenteil ist der Fall: V.7 schildert eine außergewöhnliche Vermehrung dieser Großfamilie. Dafür stehen gleich fünf Verben, was für die Bibel einmalig ist. Sie belegen, dass in diesen Menschen die früheren Segensverheißungen sich in überreichem Maß erfüllen; Bezüge bestehen dabei zum Schöpfungsauftrag Gen 1,28 und seinen Wiederholungen nach der Sintflut in Gen 8,17; 9,1.7 sowie zum Segen Isaaks an seinen fortziehenden Sohn in Gen 28,3. Letzterer erscheint hier mehr als eingetroffen.
Die hebr. Formulierung für „überaus“ greift zudem auf Gottes Zusagen an Abraham in Gen 17,2.6.20 zu und stellt ihre einzige Erfüllung dar. In der hier erfolgenden Zunahme realisieren sich Gottes Pläne. Sein Schöpfungs- und Segnungshandeln zieht weiter (T.E. Fretheim), sogar in der Fremde. Zugleich kommen dabei die Menschen dem ihnen erteilten Auftrag nach.
Raschbam, ein mittelalterlicher jüdischer Ausleger, versteht die ersten vier Verben überdies auf menschliche Lebensphasen hin. Er ordnet „fruchtbar sein“ der Empfängnis, „wimmeln“ der Geburt, „vermehren“ (hebr. auch „groß, viel werden“) dem Aufwachsen in der Kindheit und „stark werden“ dem Kraftgewinnen in der Jugend zu. Diese Deutung gibt der Vermehrung der Sippe Jakobs noch eine weitere Nuance.
weit größere Gruppe