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Stuttgarter
Biblische Beiträge 78

Herausgegeben von
Barbara Schmitz und Michael Theobald

Annemarie Frank

Asaf, Juda, Hatifa

Namen und Namensträger
in Esra/Nehemia

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© Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2020

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg

Druck und Bindung: Sowa Sp. z o.o., ul. Raszynska 13,

05-500 Piaseczno, Polska

Printed in Poland

www.bibelwerk.de

ISBN 973-3-460-00781-9

eISBN 978-3-460-51089-0

Der Generation meiner Großeltern

Else
Hans
Resi
Otto
Wilhelm

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

I.Vorgehen und Zielsetzung

II.Hermeneutische Skizzen

1.»Der nützliche Autor«

2.»Text« und »Werk«

3.Autor und Redaktor

4.Fazit

III.Analyse der Namen

IV.Zusammenfassende Darstellung der Strukturen der Esra/Nehemia-Namen

1.Hebräische Namen

1.1.Die theophoren Elemente

1.1.1.YHWH

1.1.2.ʾl

1.1.3.Weitere theophore Elemente

1.2.Verbalsatznamen

1.2.1.VSI: Zustand

1.2.2.VSII: Ergehen

1.2.3.VSIII: Fortbewegen

1.2.4.VSIV: Machen, Handeln an

1.2.5.VSV: Versehen mit

1.2.6.VSVI: Geben, Mitteilen, Setzen

1.2.7.Imperativnamen

1.3.Nominalsatznamen

1.3.1.NSI.2: Klassifizierende Nominalsätze

1.3.2.NSII: Nominalsätze mit Präposition

1.3.3.NSIII: Nominalsätze mit prädikativem Adjektiv

1.3.4.NSIV: Nominalsätze mit prädikativem Partizip

1.4.Wortgruppennamen

1.4.1.Constructusverbindung

1.4.2.Präpositionalverbindung

1.5.Einwortnamen – Aussagen über den Namensträger

1.6.Formation

1.6.1.Suffixkonjugation

1.6.2.Präfixkonjugation

1.6.3.Verbale Kurzformen

a.Direkte Kürzungen

b.Kurzformpattern

1.6.4.Rudimentäre Formen

a.Rudimentäre Kurzform-Pattern

b.Rudimentäre Vollformen

1.6.5.Abgeleitete Stämme

a.H-Stamm

b.D-Stamm

c.Übersicht: G für D-/H-Stamm

d.N-Stamm

1.6.6.Mit Partizipien gebildete Namen

1.6.7.QaTūL-ā und QaTīL-ā

1.6.8.Fugen-i

1.6.9.Namen mit enklitischem Personalpronomen

1.7.Das Problem der Ersatznamen

1.8.Die sog. künstlichen Personennamen

1.9.Benennung nach literarischen Figuren

1.10.Feminine Namensträger

2.Namen nichthebräischen Ursprungs

2.1.Aramäische Namen

2.2.Akkadische Namen

2.3.Vom Akkadischen beeinflusste Namen

2.4.Iranische Namen

2.5.Ägyptische Namen

2.6.Arabische Namen

2.7.Fazit

3.Ursprüngliche Orts- bzw. Landschaftsnamen

4.Unsichere Namen

5.Unerklärte Namen

6.Varianten bei Namensträgeridentität

7.Textfehler

8.Fazit

V.Analyse der Listen in Esra/Neh

1.Begriffsklärungen

2.Esra 2: Rückkehrer aus dem Exil unter Serubbabel

2.1.Kontext

2.2.Beschreibung

2.3.Die Listen Esra 2 und Neh 7 im Vergleich

2.4.Die Aufzählung vor der Liste

2.4.1.Inter- und intratextuelle Bezüge

2.4.2.Namen

2.4.3.Fazit

2.5.»Die Zahl der Männer des Volkes Israel« (Esra 2,2)

2.5.1.Inter- und intratextuelle Bezüge

2.5.2.Exkurs 1: Die Orte

2.5.3.Namen

a.Volk, Priester, Leviten, Sänger und Torwächter

b.נְתִינִים und שְׁלֹמֹה עַבְדֵי בְּנֵי

2.5.4.Zwischenfazit zu den נְתִינִים und den שְׁלֹמֹה עַבְדֵי בְּנֵי

2.6.Die ihre Abstammung aus Israel nicht beweisen konnten

2.6.1.Beschreibung und inter- und intratextuelle Bezüge

2.6.2.Namen

2.7.Fazit

3.Exkurs 2: Die Gegner der Esra/Nehemia-Gruppe

3.1.Bischlam, Rehum und Tattenai

3.2.Sanballat

3.3.Geschem

3.4.Tobija

3.5.Fazit

4.Esra 7: Esras Stammbaum

4.1.Kontext

4.2.Beschreibung

4.3.Inter- und intratextuelle Bezüge

4.4.Schema zu den zu Esra 7,1–5 parallelen Hohepriesterlisten

4.5.Namen

4.6.Fazit

5.Esra 8: Rückkehrer aus dem Exil unter Esra

5.1.Kontext

5.2.Beschreibung

5.3.Priester und Volk

5.3.1.Inter- und intratextuelle Bezüge

5.3.2.Namen

5.4.Das Problem der fehlenden Leviten

5.4.1.Inter- und intratextuelle Bezüge

5.4.2.Namen

5.5.Fazit

6.Esra 10: Die Auflösung der Mischehen

6.1.Kontext

6.2.Beschreibung

6.3.Inter- und intratextuelle Bezüge

6.4.Namen

6.5.Fazit

6.6.Exkurs 3: Zum Mischehendiskurs

7.Neh 3: Gemeinsame Verantwortung für die Stadtmauer

7.1.Kontext

7.2.Epigraphische Zeugnisse für Bauinschriften

7.3.Beschreibung

7.4.Inter- und intratextuelle Bezüge

7.5.Namen

7.6.Exkurs 4: Die Stadtmauer

7.7.Fazit

8.Neh 7: Kontext

9.Neh 10: Die Verpflichtung auf die Thora

9.1.Kontext

9.2.Beschreibung

9.3.Inter- und intratextuelle Bezüge

9.3.1.Priester

9.3.2.Leviten

9.3.3.Volk

9.4.Namen

9.5.Fazit

10.Neh 11: Die heilige Stadt Jerusalem und ihre Medina

10.1.Kontext

10.2.Beschreibung

10.3.Das Verhältnis zu 1Chr 9

10.4.Inter- und intratextuelle Bezüge

10.5.Namen

10.6.Fazit

11.Neh 12,1–26: Die Einführung der Dienstklassen am Tempel

11.1.Kontext

11.2.Beschreibung

11.3.Inter- und intratextuelle Bezüge

11.4.Namen

11.5.Fazit

12.Neh 12,27–13,3: Die Mauereinweihung

12.1.Kontext

12.2.Beschreibung

12.3.Inter- und intratextuelle Bezüge

12.4.Namen

12.5.Fazit

VI.Gesamtfazit

1.Der Ertrag einer onomastischen und prosopographischen Analyse für Esra/Nehemia

2.Funktionen der Listen in Esra/Nehemia

VII.Ausblick: Esra/Nehemia als Text des 2. Jh.

VIII.Register der Namen

IX.Stellenregister zu Kap. V

X.Abkürzungen

1.Allgemeine Abkürzungen

2.Abgekürzt zitierte Literatur und Reihen

XI.Literaturverzeichnis

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2019/2020 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg unter dem Titel »Asaf, Juda, Hatifa – Namen und Namensträger in Esra/Nehemia« als Dissertationsschrift angenommen und für die Publikation leicht überarbeitet.

Diese Arbeit entstand parallel zu meiner Mitarbeit im DFG-Projekt »Althebräische Personennamen« der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg und der Ludwig-Maximilians-Universität München. In den vielen Projekttreffen mit Prof. Hans Rechenmacher und Prof. Viktor Golinets konnte ich auch meine Ergebnisse bezüglich der Esra/Nehemia-Namen vorstellen und profitierte so von zahlreichen fruchtbaren Diskussionen mit den beiden Onomastikexperten.

Den entscheidenden Hinweis auf die Esra/Nehemia-Listen gab mir Prof. Hans Rechenmacher, Würzburg. Ich danke ihm nicht nur für die Betreuung und für die Anfertigung des Erstgutachtens, sondern auch und vor allem für seine Förderung schon in den ersten Semestern meines Theologiestudiums und für das geschenkte Vertrauen in all den Jahren, als ich seine Mitarbeiterin im DFG-Projekt war.

Prof. Maria Häusl übernahm von Dresden aus nicht nur die Erstellung des Zweitgutachtens. Ich danke ihr vor allem für die Betreuung aus der Ferne und für viele anregende Diskussionen über die Esra/Nehemia-Listen.

Dem Verlag Katholisches Bibelwerk danke ich für die gute Zusammenarbeit, den Herausgebern Prof. Barbara Schmitz und Prof. Michael Theobald für die Aufnahme in die Reihe der Stuttgarter Biblischen Beiträge. Ein besonderer Dank gilt Dr. Michael Hartmann, der von Seiten des Katholischen Bibelwerkes das Lektorat übernahm, und Dr. Jean Urban Andres und dem Team von SatzWeise, die die Herausforderung angenommen und aus dem Manuskript eine hervorragende Druckvorlage erstellt haben.

Herr M.A. Hannes Leonhardt hat meine Erwartungen an das Korrekturlesen übertroffen. Ich danke ihm für sein überaus gründliches Korrekturlesen von Kap. III sowie für die vielen Anmerkungen, Einfälle und langen schriftlichen Diskussionen.

Herr Mag. theol. Sebastian Walter nahm es schließlich auf sich, den gesamten Text Korrektur zu lesen. Ich danke ihm nicht nur für gründliches Lesen und gute Anmerkungen, sondern auch für seine Motivation, sich von der Onomastik- und Listenfaszination anstecken zu lassen. Herr Maximilian Häberlein las die Endfassung schließlich noch einmal Korrektur.

Frau B.A. Selina Schulz danke ich für die Korrektur der ägyptischen Transkriptionen, Herrn PD Dr. Claus Ambos für das Anbieten einer Veranstaltung zur altpersischen Sprache und Literatur, deren Inhalte mir für die persischen Namen sehr weiterhalfen.

Sebastian Walter und Ignaz Hetzel danke ich für bereichernde Diskussionen über Esra/Nehemia und andere Dinge.

Und zuletzt: Christoph, ich danke dir für alles. Ohne deine Unterstützung wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen.

Würzburg, im März 2020

Annemarie Frank

I. Vorgehen und Zielsetzung

»Chapters like Ezra 2 are among the most uninviting portions of the Bible to the modern reader both because of their tedious nature and because of their overtones of racial exclusivism and pride.«1

WILLIAMSON sieht die Schwierigkeiten, die moderne Leser mit den Listen im Esra/Nehemia-Buch haben, auf doppelte Weise begründet: Sie seien »tedious« – langweilig und ermüdend – und würden vor ethnischer Überheblichkeit strotzen. Entsprechend werden die Listen beim Lesen oft überblättert und auch in der Forschung übergangen: Bis heute ist das Fehlen einer systematischen Untersuchung der Namen und Listen in Esra/Neh als Desiderat zu bezeichnen.2 Aus diesem Grund soll die Bedeutung der Listen im Esra/Nehemia-Buch – die ihnen schon allein aufgrund des enormen Textumfanges zukommen muss – neu herausgestellt werden: Welche Funktionen nehmen sie in der Erzählung ein? Sind sie Beiwerk oder integraler Bestandteil des Buches? Aus welchen Zeiten stammen sie? Schöpfen sie aus Quellen? Diese Herausstellung der Bedeutung der Listen in Esra/Nehemia ist das Ziel der vorliegenden Arbeit. Grundlage für eine solche Untersuchung muss die onomastischsprachwissenschaftliche Analyse aller Namen sein. Denn nur durch die Einordnung jedes Namens in die Strukturen des onomastischen Gesamtkorpus kann eine Aussage über die Gruppierung bestimmter Namen, ihre zeitliche Einordnung und Herkunft gemacht werden. Ein zentraler Faktor für die Interpretation des Esra/Nehemia-Buches ist seine Datierung, für die hier die Erkenntnisse der onomastischen Analyse fruchtbar gemacht werden sollen. Durch die Einbeziehung der Onomastik inklusive des epigraphischen Materials und im Vergleich mit dem Gesamt des biblisch-onomastischen Korpus können nämlich textexterne Verankerungen für eine Datierung erhoben werden.

Nach hermeneutischen Vorbemerkungen (Kap. II) setzt diese Untersuchung mit der Ebene der Namen ein (Kap. III–IV). Dabei werden alle Namen im Esra/Nehemia-Buch onomastisch und prosopographisch analysiert (Kap. III). In der Onomastik ist der Bezug zur Epigraphik nicht nur zur Erhebung der Etymologie der Namen wichtig, sondern auch für ihre chronologische Einordnung. Die Ermittlung der Prosopographie dient vor allem dem Aufzeigen von inter- und intratextuellen Zusammenhängen. Sie führt direkt zur nächstgrößeren Ebene der Listen (Kap. V). Dort ist von Bedeutung, welche Namen in welchen Listen auftreten, ob es Gruppierungen gibt und wie sich die einzelnen Listen zueinander verhalten. Dies führt zur obersten und letzten Ebene der Komposition Esra/Nehemia: Welche Funktion erfüllen die Listen auf Buchebene (Kap. VI)? Die Blickrichtung geht damit nicht von der Erzählung um die Rückkehr aus dem Exil aus, sondern von den Namen und Listen selbst. Dadurch, so die Hoffnung, kann das gesamte Buch in einem neuen Licht gelesen werden.

1WILLIAMSON (1985), 38 f.

2Vgl. KALIMI (2012), 5: »Nehemiah is relatively rich in lists. Their updated reassessment is a desideratum.« Zu nennen ist einzig Rudolf SMEND, der 1881 eine Broschüre zu allen Listen verfasste (vgl. auch die Bemerkung von HÄUSL (2016), 129).

II. Hermeneutische Skizzen

Zu Beginn sollen dieser Untersuchung hermeneutische Skizzen zum Verständnis der Begriffe Autor, Text, Werk und Redaktor vorangestellt werden.3

1.»Der nützliche Autor«4

Grundlage der vorliegenden Untersuchung ist die Annahme eines Autors. Während in der Exegese das Ringen um den Autor und damit auch eine Sensibilisierung für Autorkonzepte erst im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen diachronen und synchronen Methoden in den Fokus gelangte, breitete sich in den modernen Literaturwissenschaften schon seit rund 50 Jahren eine gewisse Resignation aus: Hatte doch allen voran Roland BARTHES 1968 mit seinem Aufsatz »La mort de l’auteur5« – der Tod des Autors – eine Krise des Sprechens von einem Autor, der ein literarisches Werk mit einer bestimmten Intention schafft, verursacht. Demgegenüber wird seit den 1990er Jahren um eine »Rückkehr des Autors«6 gerungen. Im deutschen Sprachraum ist besonders der von Fotis JANNIDIS, Gerhard LAUER, Matias MARTINEZ und Simone WINKO herausgegebene Aufsatzband aus dem Jahr 1999 zu nennen.7 Für die Rede eines Autors in der alttestamentlichen Exegese besonders aufschlussreich zeigt sich ein darin enthaltener Aufsatz von JANNIDIS mit dem Titel »Der nützliche Autor. Möglichkeiten eines Begriffs zwischen Text und historischem Kontext«8, dessen Ausführungen schon SCHMITZ in ihrer Habilitationsschrift für die Exegese fruchtbar gemacht hat.9 JANNIDIS geht dabei nicht von der Autorintention, sondern von verschiedenen Funktionen aus, die ein Autorkonzept in der Interpretation von historischen Texten erfüllen kann.

JANNIDIS benennt sieben Funktionen des Autorkonzepts:10

1.Grundlegende Funktion ist die raumzeitliche Fixierung des Textes. SCHMITZ setzt diese Funktion in ihrer narratologisch-historischen Methodologie bewusst an die letzte und siebte Stelle der Aufzählung, weil »Informationen zur raum-zeitlichen Fixierung eines biblischen Textes nicht vorliegen«11. Stattdessen geht sie vom Text und seiner Autorfiguration aus und schließt davon ausgehend auf eine raumzeitliche Verortung des Textes – Autorfiguration und die Funktion der raum-zeitlichen Fixierung werden gegenübergestellt. Dabei wird jedoch übersehen, dass auch die Annahme, dass es sich um biblische bzw. alttestamentliche Texte handelt, schon eine raum-zeitliche Fixierung voraussetzt, die durch die Auseinandersetzung mit dem Text zwar erweitert oder modifiziert werden muss, aber ihr schon zugrunde liegt.

2.Die Selektionsfunktion beinhaltet die »Zuschreibung der Auswahl der Textelemente aus dem historisch jeweils präsenten Vorrat an Textelementen«12. Dabei wählt der Autor aus einer Menge von möglichen Textmerkmalen aus, die durch den historischen Kontext limitiert wird. Andererseits kann die Art und Weise der Auswahl Rückschlüsse auf eine genauere Kontextualisierung des Autors geben.

3.Die Gestaltungsfunktion ergibt sich notwendig aus der Selektionsfunktion: Der Autor muss nicht nur Entscheidungen bezüglich der Auswahl, sondern auch bezüglich der Anordnung und Gestaltung der Textmerkmale treffen.

4.Die Funktion der Selektion von Kontexten wird von JANNIDIS nicht weiter ausgeführt.13 SCHMITZ versteht darunter den »erzählerischen Kontext, der zwar fiktional ist, aber über eine wie auch immer geartete Schnittmenge mit der Lebenswirklichkeit verfügen muss, um von den Rezipierenden, ihrem Weltwissen und ihrer Imaginationsfähigkeit verstanden zu werden«.14

5.Selektion und Gestaltung schließlich führen zur Zuschreibung der Textbedeutung an den Autor. Die Bedeutungsfunktion soll dabei nicht intentionalistisch verstanden werden. Hilfreich hat sich hier die von William TOLLHURST getroffene Unterscheidung zwischen »utterance meaning« und »utterer’s meaning« erwiesen. Während letztere die vom Autor tatsächlich intendierte Intention bezeichnet, holt erstere den Leser mit ins Spiel und verbindet damit Rezeption und Autorintention – allerdings in historischer Sicht. TOLHURST definiert die utterance meaning wie folgt:

»What we now argue is that utterance meaning is best understood as the intention which a member of the intended audience would be most justified in attributing to the author based on the knowledge and attitudes which he possesses in virtue of being a member of the intended audience. Thus utterance meaning is to be construed as that hypothesis of utterer’s meaning which is most justified on the basis of those beliefs and attitudes which one possesses qua intended hearer or intended reader.«15

Der Blick geht also über den bloßen Text hinaus und umfasst die gesamte Kommunikationssituation zwischen Autor und von ihm intendierten Leser. Zur Erhebung der utterance meaning, der Bedeutung des Werkes ist es deshalb unerlässlich, die zugrunde liegende Kommunikationssituation so genau wie möglich zu eruieren.

6.Auf der Bedeutungsfunktion fußt die sog. Erkenntnisfunktion, die der »Zuschreibung der Erkenntnis, die in einem Text formuliert wird«16, dient. »Über das hinaus, was zur Bedeutungsfunktion bereits gesagt wurde, kann der Beobachter mittels der Erkenntnisfunktion den Text in ein umfassenderes historisches Modell einbinden. Der Text kann mehr oder weniger Erkenntnis aufweisen, kann eine lange verschüttete und sogar geheime oder eine offensichtliche Erkenntnis formulieren: Stets wird die Erkenntnis, diese besondere Form der Bedeutung, einem Erkennenden als Leistung zugeschrieben.«17

7.Zuletzt ist die Zuschreibung der innovatorischen Leistung eines Textes als Funktion zu nennen (Innovationsfunktion). Sie ist ähnlich wie die Bedeutungsfunktion nicht nur an den Autor gebunden, sondern auch an den Beobachter, der im Vergleich mit anderen Texten bzw. seinem Wissen herausstellt, ob etwas neu oder alt ist.

JANNIDIS resümiert schließlich: Diese sieben Funktionen »bilden in dem oben vorgeschlagenen Sinne eine Autorfiguration und sind zusammen kennzeichnend für historische Interpretationen.«18 Weil die Funktionen gemeinsam die Autorfiguration bilden, in engem Bezug zueinander stehen und oft nicht eindeutig voneinander getrennt werden können,19 sollte man die Funktionen nicht als nacheinander folgende Methodenschritte verstehen.20 Aus der Sicht des Literaturwissenschaftlers erfolgt die Eruierung der Funktionen vielmehr in einem hermeneutischen Zirkel. Er schreibt die Autorfiguration zwar dem realen Autor zu, jedoch ist, zumindest mangels geeigneter Quellen für antike Texte, keine absolute Sicherheit bezüglich dieser Zuschreibung zu gewinnen: Der reale Autor bleibt verborgen, nur die Autorfiguration, die der Wissenschaftler aufgrund des Textes und seines Wissens über andere Texte, Geschichte, Archäologie usw. erschließt, ist ihm, gleichsam wie der Schatten des realen Autors, zugänglich.

Wenn vom Begriff des Autors gesprochen wird, müssen unvermeidlich auch die Begriffe Autoren- und Traditionsliteratur fallen. Die inhaltliche Füllung beider Begriffe fällt unterschiedlich aus. DOHMEN sieht den Unterschied zwischen Autoren- und Traditionsliteratur im Autorverständnis: »Dort, im alten Vorderen Orient, haben wir es nicht mit Autorenliteratur, sondern mit sogenannter Traditionsliteratur zu tun. Das soll nicht heißen, daß es keine Autoren gibt, sondern daß im Zusammenhang mit Literatur nicht das uns so selbstverständliche Interesse an denen zu finden ist, die sie produzieren.«21 Vollkommen richtig ist, dass für antike Autoren nicht das gleiche Selbstverständnis, das wir vielen modernen Autoren zuschreiben, pauschal vorauszusetzen ist: Laut VAN DER TOORN kennzeichnen sich antike Autoren eher durch Anonymität, die Verwendung von Quellen, Pseudepigraphie und Auftragsarbeiten aus, der moderne Autor hingegen durch Originalität.22 DieFrage ist hier also nicht, ob es in der Antike einen Autor gab, sondern wie das Autorkonzept zu denken ist.23 Im Hinblick auf Begriffe wie Anonymität und Verwendung von Quellen geht es besonders um das Selbstverständnis, das dem Autor zugeschrieben wird.

Daneben finden sich aber auch Deutungen der Begriffe Autoren- und Traditionsliteratur, die dem Begriff des Autors die Entstehungsgeschichte des Textes entgegensetzen, so als könnte es entweder eine »komplizierte Wachstumsgeschichte«24 oder einen Autor geben: »Bei Traditionsliteratur ist z. B. mit logischen oder stilistischen Brüchen im Text als Spuren des Traditionsprozesses zu rechnen, während bei Autorenliteratur von einer größeren Geschlossenheit in Bezug auf Sprache, Stil, Inhalt und Intention auszugehen ist.«25 ZIEMER kritisiert zu Recht die dort aufgestellte Dichotomie zwischen einem solchen Autorenbegriff und den Annahmen, die der Entstehung von Texten zugrunde liegen.26 Die Gegenüberstellung von Autoren- und Traditionsliteratur ist deswegen zu problematisieren, weil es erstens nicht um den Autor an sich, sondern um das dem Autor zugeschriebene Selbstverständnis geht, und weil die Begriffe zweitens die Gefahr in sich bergen, als materialistischer Fehlschluss (die Aufnahme von Traditionen ist keine Autorschaft, s. u.) missverstanden zu werden.27 Der hier vorgeschlagene Begriff des Autors im Sinne der Autorfiguration hat demgegenüber den Vorteil, dass die Verwendung von Quellen (Traditionsliteratur) in die Autorfiguration integriert ist (v. a. in der Selektions- und Gestaltungsfunktion) und dass aber das Selbstverständnis des Autors sowie seine Persönlichkeit als Individuum, Gruppe oder Sonstiges keine Determinanten der Autorfiguration sind. Die Autorfiguration (nicht Autorfigur!) ist ein abstraktes hermeneutisches Konstrukt, das für die Arbeit mit literarischen Texten, wie JANNIDIS gezeigt hat, nützlich ist.

2.»Text« und »Werk«

Nach der Reflexion über den Autor sind noch einige Gedanken zu der Frage notwendig, worin der Text bzw. das Buch Esra/Nehemia besteht. JAPHET beschreibt die Willkürlichkeit in der Zuschreibung folgendermaßen: »Thus the ›Book‹, the final outcome of this process is not the planned result of a premeditated action. It is not a coherent composition whose plan was determined in advance so that a structural logic is reflected in it, but rather the result of a literary process, parts of which were quite coincidental. In reconstructing this process, a scholar may define its ›final‹ point anywhere along the extended line, and, according to his or her inclinations, ignore everything that came afterward.«28

Hilfreich ist hier die von MARTINEZ getroffene Unterscheidung zwischen »materiellen« und »ästhetischen« Eigenschaften eines Werkes. Die Nichtunterscheidung zwischen beiden Kategorien bezeichnet er als »materialistische[n] Fehlschluss«.29 Als Beispiel nennt er u. a. Peter HANDKEs Gedicht »Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. 1. 1968«:30

Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg
vom 27. 1. 1968

WABRA
LEUPOLDPOPP
LUDWIGMÜLLERWENAUERBLANKENBURG
STAREKSTREHLBRUNGSHEINZMÜLLERVOLKERT

Spielbeginn:
15 Uhr

Aus dem Beispiel wird ersichtlich, dass die »künstlerische Konzeption«31 einen Text zur Literatur macht, auch wenn er hinsichtlich der Form – ein Plan über die Aufstellung des 1. FCN – mit einem nichtliterarischen Text identisch ist. Diese künstlerische Konzeption wiederum ist »unauflösbar mit dem Autor verbunden«32, sodass die Identifikation eines Textes als literarisch nur mit Bezug zu einem Autor möglich ist. MARTINEZ unterscheidet dabei zwischen »Werk« und »Text« – letzterer ist die rein linguistische Repräsentation des Werkes.33 Angewandt auf Esra/Nehemia bedeutet das Folgendes: Selbst wenn eine der Listen des Werkes mit einem Text, wie er sich auch in einer ›realen‹ Liste finden würde, identisch wäre – was ohne entsprechende Funde nicht mit Sicherheit nachzuweisen ist –, so wäre die Liste im Esra/Nehemia-Buch Teil eines Werkes, das einer künstlerischen Konzeption unterliegt. Zur Aufdeckung dieser künstlerischen Konzeption ist das Verhältnis von Werk und Text zu betrachten, auch wenn sie sich, wie in unserem Fall, darauf beschränken muss, ob das Werk bzw. ein bestimmter Teil desselben – eine Liste – rein theoretisch mit einem weiteren Text identisch sein könnte. Die Unterscheidung zwischen »Erscheinungsform«34 und Werk hat weitere Konsequenzen: Ein Literaturwissenschaftler muss vorweg definieren, wessen künstlerische Konzeption er eruieren möchte: Die des Autors oder seine eigene. Wenn nämlich die Erscheinungsform auch bei unterschiedlichen Werken gleich sein kann, kann der Literaturwissenschaftler ganz ohne Bezug auf den Autor und dessen Zeit seine eigenen Gedanken und Vorstellungen mit dem Text verbinden und dadurch ein durch eine andere künstlerische Konzeption definiertes Werk schaffen.35 Hier zeigt sich, dass ein Bezug zum Autor und seiner Zeit unabdingbar ist für die Unterscheidung zwischen Werk und Text und damit für die Unterscheidung zwischen dem Versuch, die künstlerische Konzeption des Autors aufzudecken oder den Text mit einer eigenen künstlerischen Konzeption zu versehen – beides hat seine Berechtigung. Ich selbst möchte das Esra/Nehemia-Buch als Werk ansehen. Trotz guten Willens ist jedoch der Literaturwissenschaftler nicht davor gefeit, das Werk doch als Text zu lesen und eigene künstlerische Konzeptionen als die des Autors anzusehen. Der Reduzierung dieser Gefahr dienen die zahlreichen Methoden, die das Werk historisch einordnen, der Autorfrage nachgehen und Objektivität und Nachvollziehbarkeit herstellen wollen.

MARTINEZ trifft noch eine weitere Unterscheidung: Die zwischen »Urheber des Textes« und »konzeptuelle[m] Schöpfer des Werkes«.36 Gerade im Fall von Intertextualität fließen beide Funktionen nicht in einer Person zusammen. Um ein Werk als solches zu verstehen, ist der Rückgriff auf den Autor im Sinne des Schöpfers des Werkes notwendig.

Das Fehlen einer Unterscheidung zwischen Urheber und Schöpfer, zwischen Text und Werk lässt sich auch bei JAPHETs Beschreibung von literarkritischen Ansätzen beobachten, wenn sie in Bezug auf Esra/Nehemia feststellt: »The view of the book as a combination, in one or several stages, makes the question of authorship insignificant, leaving no good reason for seeking traces of the author in the creation of the book«.37 Die obige Beschreibung der Autorfiguration im Sinne des Schöpfers eines Werkes lässt es nicht nur zu, sondern fordert geradezu, die Buchkomposition in Bezug zu einem in der Geschichte verwurzelten Schöpfer zu setzen. Den von JAPHET beschriebenen literarkritischen Ansätzen ist zuzustimmen, wenn sie sich auf den Urheber der Texte beziehen, die, wenn es sich nicht gerade um andere alttestamentliche Bücher handelt (Intertextualität), uns nicht vorliegen und sich damit unserer Kenntnis entziehen.

Neben den zugrundeliegenden Methoden muss deswegen auch das jeweilige Ziel der Untersuchung genau bestimmt werden, denn unter einer »Interpretation« des Textes subsumieren sich viele verschiedene Vorstellungen, die es zu unterscheiden und zu definieren gilt.38

3.Autor und Redaktor

Neben das oben skizzierte Bild eines Autors – besonders der Selektions- und Gestaltungsfunktion – lässt sich von empirischer Seite die Studie von Benjamin ZIEMER stellen, der in seiner Habilitationsschrift mit dem Titel »Die Grenzen des Wachstumsmodells« (2017) anhand einer repräsentativen Textauswahl untersuchte, wie Autoren mit den ihnen schriftlich vorliegenden Quellen umgehen. Im Hinblick auf 1/2Chr beschreibt ZIEMER die Ergebnisse seiner Untersuchungen folgendermaßen:

»Ein Redaktor, der nicht nur ein vorgegebenes Werk kopieren, sondern etwas Neues einbringen möchte, wird, wenn er schriftliche Vorlagen benutzt, diese seinem Anliegen dienstbar machen wollen. Das heißt, er wird das auswählen, was zu seinem Plan passt, er wird das unveränderlich lassen, was er sich zu eigen machen kann und er wird für das, was er neu einbringen will, einen angemessenen Platz suchen. Er ist weder gezwungen, seine Vorlage vollständig zu übernehmen, noch, alles neu zu formulieren.«39

Hier lässt sich die Autorfiguration von JANNIDIS empirisch wiederfinden: Der Autor ist die Instanz, der die Auswahl und Gestaltung von – in diesem Fall schriftlich – vorliegenden Texten zugeschrieben wird. Dabei zeigen Formulierungen ZIEMERs über das Vorgehen des Autors wie etwa »was zu seinem Plan passt […], was er neu einbringen will«,40 dass dem Autor daneben auch die Textbedeutung und die innovatorische Leistung zugeschrieben wird. Durch seine Untersuchung gelingt ZIEMER eine berechtigte Kritik am sogenannten Wachstumsmodell, das vielen literarkritischen Untersuchungen zugrunde liegt und im Wesentlichen auf den Annahmen beruht, dass Autoren bzw. Redaktoren die ihnen vorliegenden Texte nur erweitern, nicht aber kürzen oder umformulieren würden, und dass diese Erweiterungen im Text erkennbar seien.41 Im Umkehrschluss ließen sich dann aus dem masoretischen Text durch die Aufdeckung der Erweiterungen jeweils frühere Schichten erschließen – ganz ohne äußere Textevidenz. ZIEMER setzt diesem Modell seine empirischen Befunde entgegen:

»Bücher wachsen nicht wie ein Baum mit seinen Jahresringen, nicht wie ein Schneeball und nicht wie ein Tell. […] Kein einziges der von KRATZ genannten empirischen Beispiele für das ›Phänomen der Redaktion‹ entspricht den Axiomen des Wachstumsmodells, und in keinem einzigen Fall wäre eine Rekonstruktion der älteren Fassung allein durch die Analyse der jüngeren Fassung möglich. Das gilt für alle theoretisch denkbaren Abhängigkeitsrichtungen. In den meisten Fällen gehen Hinzufügungen mit Auslassungen und umfangreichen Textänderungen einher.«42

Diese Kritik am Wachstumsmodell darf nicht so verstanden werden, als dürfte ein Text keine Vorstufen haben oder als könnte er nicht aus ursprünglich selbstständigen Teilen bestehen. Die Existenz früherer Fassungen eines Textes soll keineswegs negiert werden. Aber bei der genauen Bestimmung dieser Vorformen ist ohne textuelle Evidenz Vorsicht geboten.

Dadurch wird dem antiken Verfasser/Redaktor eine eigene schriftstellerische Qualität zugestanden: Einerseits hat ZIEMER gezeigt, dass Hinzufügungen immer mit weiteren Änderungen einhergehen und so die tatsächlichen Quellenscheidungen in den uns vorliegenden Texten ohne äußere Evidenz nicht zu erkennen sind:43 Der Autor/Redaktor schafft auf der Grundlage seines Materials einen neuen Text und verwischt seine Spuren. Umgekehrt wurde auch aufgezeigt, dass vermeintliche Spannungen in den Texten nicht auf Quellenscheidungen zurückgeführt werden müssen. Vielmehr ist es Aufgabe des Exegeten, sich mit diesen für heutige Leser oft nur schwer zu verstehenden Textpassagen auseinanderzusetzen und sie vor dem Hintergrund einer synchronen Lesart verständlich zu machen. Damit wird dem antiken Verfasser nicht nur eine schriftstellerische Fertigkeit, sondern auch die Alterität seiner geographischen und zeitlichen Umwelt gegenüber der unseren zugestanden. Mit dem Verzicht auf die Rekonstruktion mehrerer rein hypothetischer Schichten und der Fokussierung auf den uns vorliegenden Endtext gewinnt man auch ein Weiteres: Der Autor-Redaktor, der eben jene uns vorliegende Komposition verfasste, rückt wieder in den Mittelpunkt, indem er von zum Teil mehreren hypothetischen Redaktoren befreit wird. Das gibt uns die Möglichkeit, das vorliegende Buch als das literarische Produkt eines Autors (oder Autorenkollektivs) anzusehen, das zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Umfeld für ein bestimmtes Publikum verfasst worden ist. Dem Verfasser und seiner Zeit werden damit Rechnung getragen. Die Entscheidung, von der Rekonstruktion mehrerer literarischer Schichten ohne äußere Evidenz abzusehen,44 hat zur Folge, dass auf den Begriff Redaktor in vielen Fällen verzichtet werden kann. Dies bietet sich auch auf der Grundlage von JANNIDIS’ Autorfiguration und MARTINEZ’ Unterscheidung zwischen Text und Werk bzw. Urheber und Schöpfer an: Denn wenn die Autorfiguration auch die Selektion und Gestaltung fremder Texte beinhaltet und wenn selbst in dem extremen Fall, dass der Text zweier Werke identisch ist (vgl. das Beispiel von Peter HANDKE), ein Autor als Schöpfer am Werke ist, dann muss die Instanz, die in vielen Fällen als Redaktor bezeichnet wird, Autor im obigen Sinne genannt werden. Dies entspricht auch dem Selbstverständnis, das VAN DER TOORN antiken Autoren zuschreibt: »The author, in our mind, is the intellectual source of the text, whereas an editor merely polishes; the former is the creative genius, the latter merely the technician. The distinction was obviously less important to the ancients. They did not place the same value on originality. To them, an author does not invent his text but merely arranges it.«45 Der Verzicht auf die Unterscheidung zwischen Autor und Redaktor in den meisten Fällen ist damit nicht nur hermeneutisch sinnvoll, sondern könnte auch dem antiken Verständnis von Autorschaft entsprechen.

4.Fazit

Exegese, also der Versuch der Interpretation biblischer Texte, ist damit immer historisch, weil die zur Diskussion stehenden Texte in einem enormen zeitlichen Abstand zu den heutigen Wissenschaftlern stehen. Es gilt, diese historische Situation so gut wie möglich zu erheben und für die Interpretation des Textes zu berücksichtigen. Sie ist aber auch kritisch in dem Sinne, dass der Exeget wissenschaftlich arbeitet, um wahrscheinliche von weniger wahrscheinlichen Interpretationen zu unterscheiden. Diese so verstandene historisch-kritische Methode besteht ihrerseits aus verschiedenen Methodenschritten, die je nach Text mehr oder weniger gewinnbringend sein können, aber die je für sich genommen nicht zur Erschließung eines Textes ausreichen.46 Hier kommen die bekannten Methodenschritte der Textkritik, Gattungskritik, der Inblicknahme der religiösen, sozialen und historischen Umwelt, der narratologische Analyse u. s. w. ins Spiel. Diese Methodenschritte dienen dem Ziel der historischen Interpretation unserer biblischen Texte. Sie müssen stets evaluiert werden im Hinblick auf die Frage, ob sie diesem Ziel tatsächlich förderlich sind.

Im Übrigen ist auch das Hinzuziehen onomastischer Erkenntnisse ein Methodenschritt. Reine Onomastik ist eine Disziplin der Sprachwissenschaft, die für sich genommen keine Exegese darstellt, weil der Bezug auf die biblischen Texte als Ganzes fehlt. Ihre Erkenntnisse können – und müssen – aber in Bezug zu den biblischen Texten gesetzt werden. Sie kann, wie auch Ergebnisse archäologischer Untersuchungen, im Bereich des Methodenschritts angesiedelt werden, der die Umwelt der biblischen Texte eruiert. Ein gutes Beispiel sind die in Personennamen enthaltenen theophoren Elemente, die Aufschluss darüber geben können, welche Gottheiten zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Gegend verehrt worden sind. Wichtig ist dabei besonders das außerbiblische und hier noch einmal das epigraphische Material, da es, wieder analog zur Archäologie, unmittelbarer von der Umwelt erzählt. Ein Beispiel: Der Name Mtnyh auf einem Siegel impliziert (sofern man eine Fälschung ausschließen kann), dass der Name Mtnyh zu der Zeit und in der Gegend, in die das Siegel aufgrund archäologischer und paläographischer Kenntnisse eingeordnet wurde, tatsächlich in Gebrauch war. Bei literarischen Texten hingegen kann keine sichere Aussage getroffen werden, ob der Name zur Zeit des Autors tatsächlich noch in Gebrauch war oder ob der Name bereits als antiquiert galt. Es kann lediglich gesagt werden (sofern der Name nicht in die Kategorie »Rotkäppchen« fällt und rein literarisch ist),47 dass der Name mindestens zur Zeit des Autors als solcher schon bekannt und für mindestens eine reale Person in Gebrauch war. Damit bietet die Onomastik die Möglichkeit, einen Terminus post quem, also einen Zeitpunkt, ab dem ein Text wegen der Verwendung bestimmter Namen frühestens verfasst worden sein kann, zu bestimmen.

3Für die Forschungsgeschichte zum Esra/Nehemia-Buch und zur Onomastik verweise ich auf meine Lizentiatsarbeit (FRANK (2016)).

4JANNIDIS (1999a), 353.

5Vgl. BARTHES (1968), 12–17; FOUCAULT (1969) bzw. die von FOUCAULT leicht überarbeite Fassung inklusive der sich an den Vortrag anschließenden Diskussion, die in DEFERT ET AL. (2003) in deutscher Übersetzung vorliegt.

6JANNIDIS ET AL. (1999b).

7JANNIDIS ET AL. (1999b).

8JANNIDIS (1999a), 353–89.

9Vgl. SCHMITZ (2008), 58–108. Dort findet sich auch eine Aufarbeitung von verschiedenen Autorkonzepten, die an dieser Stelle unterbleiben kann. Betont werden muss, dass JANNIDIS in seinen Ausführungen ausgerechnet von FOUCAULT ausgeht und damit eine vermittelnde Position einnimmt: »Aus dem poststrukturalistischen, eigentlich autorkritischen Konzept leitet er ein Untersuchungsmodell des ›nützlichen‹ Autors ab.« (HARTLING (2009), 127).

10Das ursprüngliche System von fünf Autorkonzepten (JANNIDIS (1999a)) erweiterte JANNIDIS auf insgesamt sieben (JANNIDIS (2013), 47 f.). Die Funktionen fnden sich auch in der narratologisch-historischen Methodologie bei SCHMITZ (2008), 86–94.

11SCHMITZ (2008), 94.

12JANNIDIS (2013), 47.

13Vgl. JANNIDIS (2013), 47.

14SCHMITZ (2008), 87.

15TOLHURST (1979), 11.

16JANNIDIS (2013), 47.

17JANNIDIS (1999a), 387. Mit »Beobachter« bezeichnet JANNIDIS den modernen Literaturwissenschaftler (JANNIDIS (1999a), 358).

18JANNIDIS (1999a), 388.

19Vgl. HARTLING (2009), 130.

20SCHMITZ scheint mindestens die raumzeitliche Fixierung des Textes als Methodenschritt zu verstehen, wenn sie diese an die letzte Stelle der Funktionen stellt und sie durch ein »Rückschlussverfahren am Ende der Analyse« (SCHMITZ (2008), 94) auf Grundlage der Autorfiguration ermittelt.

21DOHMEN (2006), 12. Ähnlich SCHMID (2011), 243: »Die zentrale Figur hinter den Texten ist nicht der Autor, sondern der Tradent, der sich literarisch produktiv, aber zumeist anonym oder pseudonym in den Traditionsprozess einbringt.«

22Vgl. VAN DER TOORN (2007), 46 f.

23Vgl. VAN DER TOORN (2007), 45 f.: »It is up to us to try to elucidate their ideas on authorship from the disparate data at our disposal«.

24BECKER (2015), 1.

25DOHMEN (2006), 16. Vgl. auch SCHMID (2014), 34 f.; BERGES (2011), 29 f.: »So handelt es sich bei den Schriften des Alten Testaments um eine vielschichtige Traditionsliteratur von priesterlichen, levitischen, prophetischen und weisheitlichen Schreibergilden, also nicht um Autorenliteratur.«

26ZIEMER (2020), 32.

27ZIEMER (2020), 43 kritisiert außerdem zurecht »die pauschale Bezeichnung des Alten Testaments als ›Traditionsliteratur‹«.

28JAPHET (1994), 197 f. Ähnlich ZIEMER (2020), 713: »Durch den Subtraktionsvorgang entsteht auf dem Schreibtisch des Redaktionskritikers eine neue Buchgestalt.«

29MARTINEZ (1999), 469.

30HANDKE (2018), Nr. 16.

31MARTINEZ (1999), 470.

32MARTINEZ (1999), 472.

33MARTINEZ (1999), 473.

34MARTINEZ (1999), 474.

35In diesem Sinne kann der Leser auch zum Autor werden, wenn er ein Werk eben nicht (nur) als Werk, sondern (auch) als Text liest und ihm eine eigene künstlerische Konzeption gibt – hier lassen sich rezeptionsästhetische Ansätze anschließen.

36MARTINEZ (1999), 474.

37JAPHET (1994), 191.

38Vgl. KINDT (2008), 11: »Die vermeintlich homogene Aufgabe der Bedeutungsbestimmung erweist sich bei genauerem Hinsehen vielmehr als Platzhalter für eine Vielzahl recht heterogener Vorhaben, die bei der professionellen oder privaten Betrachtung literarischer Werke verfolgt werden.« Deswegen unterscheidet DANNEBERG zwischen der »Bedeutungskonzeption«, in der festgelegt wird, welcher Typ von Textbedeutung überhaupt verfolgt wird, und der »Interpretationskonzeption« bzw. »Methodologie« (DANNEBERG (1999), 101 f.; vgl. KINDT (2008), 12). Mit Christian FREVEL gesprochen: »Es ist höchste Zeit, dass die Zunft der Frage ›Was ist ein Text?‹ mehr Aufmerksamkeit schenkt!« (FREVEL (2014), 136).

39ZIEMER (2020), 267.

40ZIEMER (2020), 267.

41Vgl. ZIEMER (2020), 25–30. BLUM (1991), 50 weist zudem darauf hin, dass (scheinbare) Widersprüche im Text vom Autor bewusst konstruiert sein können: »Für gewöhnlich zielt Deutung auf Konsistenzstiftung und basiert deshalb auf dem sinnvollen Vorurteil, daß die Texte eine konsistente Bedeutung haben. Sowohl der traditionellen wie der historisch-kritischen Exegese dient es als hermeneutisches Apriori. Nur ist es für die eine der Anlaß, die Defizite beim Ausleger zu suchen, für die andere der methodische Hebel zur Bildung eigener konsistenter Einheiten. Wie gesagt, das Vorurteil hat seinen guten kommunikativen Sinn. Was aber, wenn Inkonsistenzen unter Umständen gar nicht ausgeglichen werden wollen, sondern die Diskontinuität intendiert ist?«

42ZIEMER (2020), 700. Speziell zu Auslassungen vgl. PAKKALA (2013). Zur Kritik an den Ausführungen PAKKALAs vgl. ZIEMER (2020), 110–12.

43Vgl. ZIEMER (2020), 713.

44Vgl. ZIEMER (2020), 713: »Es muss darum gehen, sich zu bescheiden und auf mehrstufige Vorlagenrekonstruktionen zu verzichten.«

45VAN DER TOORN (2007), 47.

46Erst durch die Anwendung mehrerer Methoden wird etwa ersichtlich, ob dem Text eine bestimmte Gattung zugrunde liegt, ob die Form durch die Kategorien Ort und Zeit gegliedert ist oder ob der Form in diesem Text nur eine untergeordnete Rolle zukommt, vgl. RICHTER (1971), 33.

47Zu Unterscheidung zwischen literarischen Namen und literarischer Namensgebung vgl. Kap. IV.1.8.

III. Analyse der Namen

Im Folgenden werden alle Personennamen aus Esra/Nehemia onomastisch-sprachwissenschaftlich und prosopographisch analysiert.48 Als Personennamen gelten alle die Namen, die primär der Personennamengebung – seien sie durch die Eltern oder durch andere später gegeben – entspringen. Daneben werden aber auch solche Namen beachtet, die zwar Personen bezeichnen, aber ursprünglich einer anderen Namenskategorie – etwa Orts- oder Kollektivnamen – angehören. Unterschieden werden muss deswegen zwischen der ursprünglichen und späteren Verwendungsweise eines Namens.

Die Einträge sind folgendermaßen aufgebaut: Zuerst ist der Name in der masoretischen Schreibung genannt, dann folgt als deutsche Wiedergabe die Schreibung der revidierten Elberfelder Übersetzung (2006). Pausalformen sind durch »i. p.« angezeigt, in Klammern steht die jeweilige Kontextform (falls sie sonst nicht belegt ist, mit *), z. B. חֶלְקָי i. p. (*חֶלְקַי). Namen, die nur orthographische Varianten zu bereits analysierten PN sind (v. a. Wechsel von He/Aleph, Waw/Yod, Plene-/Defektivschreibung), erhalten einen um die Analysezeile verkürzten Eintrag. Zu jedem Namen sind, sofern vorhanden, weitere alttestamentliche Varianten zur Verbal- oder Nominalwurzel aufgeführt.49 Nach dem gleichen Verfahren folgen außerbiblische, besonders epigraphische Varianten. Die Angabe der Quellen erfolgt hier direkt im Text, nicht in Fußnoten, damit die Verbreitung der außerbiblischen Namen leichter ersichtlich ist. Neben der chronologischen Einordnung sind epigraphische Belege auch für die Bestimmung von onomastischen Analysekriterien (z. B. NS oder VS) von Bedeutung. Aufgeführt werden nicht nur hebräische, sondern auch aramäische Varianten, weil die Unterscheidung beider besonders in der unvokalisierten Epigraphik bisweilen schwer zu realisieren ist und weil Esra/Neh sich durch den Wechsel von hebräischer und aramäischer Sprache im Text selbst als sprachlich hybrid ausweist. Folgende Korpora wurden berücksichtigt:50

HAE (10. bis beginnendes 6. Jh.): RENZ, Johannes; RÖLLIG, Wolfgang (Hg.) (2016): Handbuch der althebräischen Epigraphik. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe 1995/2003 mit einem bibliografischen Nachwort. 3 Bände, Darmstadt.51

OAÄ (5.–4. Jh.): KORNFELD, Walter (1978): Onomastica Aramaica aus Ägypten (SÖAW.PH 333), Wien.

WD(SP) (375–322 v. Chr.):52 DUŠEK, Jan (2007): Les Manuscrits araméens du Wadi Daliyeh et la Samarie vers 450–332 av. J.-C. (CHANE 30), Boston, Leiden.

LJN (330 v. Chr.–650 n. Chr.): ILAN, Tal (2002–2012): Lexicon of Jewish Names in Late Antiquity. Part I-IV, Tübingen. Diese Bände enthalten neben vereinzelten epigraphischen Funden (z. B. aus Jericho)53 Ossuarien, von denen die meisten aus Jerusalem stammen,54 die Funde aus der judäischen Wüste (u. a. Wadi Murabaʿat, Nahal Heber, Qumran,55 Masada) und verschiedene literarische Quellen wie den Aristeasbrief,56 1/2 Makk, Josephus und das NT. Aufgenommen sind in dieser Arbeit jeweils nur Belege bis um die Zeitenwende. Weil sich die Datierung bei LJN v. a. bei den literarischen Quellen nicht an der Entstehungszeit des jeweiligen Werkes, sondern an den erzählten Ereignissen orientiert, werden die Belege – z. B. Jos, Arist etc. – jeweils kurz aufgeführt; auf die Angaben in LJN wird nur zusätzlich verwiesen. Auch die griechischen in LJN aufgeführten literarischen und epigraphischen Belege werden hier unter den außerbiblischen Varianten berücksichtigt, da es sich nicht um Transkriptionen der biblischen Texte wie LXX und Vg. handelt.

SPARIV (10.–3. Jh.): MARAQTEN, Mohammed (1988): Die semitischen Personennamen in den alt- und reichsaramäischen Inschriften aus Vorderasien (Texte und Studien zur Orientalistik 5), Hildesheim, Zürich, New York.

Daneben wurden folgende Einzelveröffentlichungen ergänzt:

Pers./Hell. Zeit: ARIEL, Donald T.; SHOHAM, Yair (2000): Locally Stamped Handles and Associated Body Fragments of the Persian and Hellenistic Periods. In: Qedem 41, S. 137–171.

1. Jh. v. – 1. Jh. n. Chr.: YARDENI, Ada (2013): Twelve Published and Unpublished Jewish Aramaic Ostraca written in the »Jewish« Cursive Script. In: In the Shadow of Bezalel. Aramaic, Biblical, and Ancient Near Eastern Studies in Honor of Bezalel Porten, Leiden, S. 209–243. Diese Ostraka werden von Yardeni mit ISAP (The Institute for the Study of Aramaic Papyri) zitiert.57

SC (375–332 v. Chr.): MESHORER, Yaʿaḳov; ḲEDAR, Shraga (Hg.) (1999): Samarian Coinage (Numismatic Studies and Researches 9), Jerusalem.