Andreas Reinhardt

 

 

 

Blutpharmazie

 

Im Bannkreis des Voodoo

 

 

 

Afrika-Thriller

 

 

Impressum

 

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Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Der Roman enthält darüber hinaus zahlreiche Bezüge zu realen gegenwärtigen und historischen Ereignissen und Gegebenheiten.

 

 

Inhaltsverzeichnis:

 

Vorwort

Seine Majestät Dadah Bokpe Houézrèhouêkê

Kapitel 1

Einführende Worte eines Griot

- Uraltes Afrika, ebenso stark wie gehemmt -

Kapitel 2

Wahrheit oder Albtraum?

- Von Hexen und Amazonen -

Kapitel 3

Hexen, Hexen

- Ein Freund in den Bergen -

Kapitel 4

Verdächtige Seuche in Benin

- Wächter der Schöpfung -

Kapitel 5

Ankunft in Cotonou

- Dr. Djayéola Biassou -

Kapitel 6

Harte Fakten und mehr

- Die Abgründe des Voodoo -

Kapitel 7

Ein Pharmaunternehmen lässt bitten

- Freund oder Feind? -

Kapitel 8

Duell auf dem Dantopka-Markt

- Gegenwart trifft auf Vergangenheit -

Kapitel 9

Am Strand von Ouidah

- Sklavenhandel, Fluch, Seuche -

Kapitel 10

Café du Monde

- Wo die Weltpresse tratscht -

Kapitel 11

Anschlag im Hotel

- Ein Strohhalm namens Djimon Boukman -

Kapitel 12

Katz und Maus

- Kongresspalast und Volk lassen grüßen -

Kapitel 13

Reise an die Quelle

- Die Rache des Azetogan -

Kapitel 14

Eine Spur aus Brotkrumen

- Die drei Musketiere -

Kapitel 15

Operation „Minvoul“

- Die Büchse der Pandora -

Kapitel 16

Ein Voodoo-Tempel in Ouidah

- Wer ist Dah Agbo? -

Kapitel 17

Fährte nach Ganvié

- Von einer mystischen Schlacht -

Kapitel 18

Unsägliche Wahrheiten

- Hinter den Kulissen der Macht -

Kapitel 19

Operation „Götterdämmerung“

- Phase 1 -

Kapitel 20

Operation „Götterdämmerung“

- Phase 2 -

Kapitel 21

Wo die Seele zuhause ist

- Zeit der Besinnung -

Kapitel 22

Schlusswort des Griot

- Von der Selbsterkenntnis zum Licht für die Welt -

 

 

Vorwort

Seine Majestät Dadah Bokpe Houézrèhouêkê

 

Verehrte Leser,

 

der Mensch sucht nach dem Reichtum in Raum und Zeit hier auf Erden. Doch der größte Reichtum liegt in ihm selbst. Nur er selbst trägt die Macht in sich, alles gleichzeitig zu erbauen und zu zerstören in seiner Welt. Ein jeder Mensch wählt dort zu jeder Tageszeit welchen Teil von sich er manifestieren will in diesem Universum. Dadurch wird Gutes oder Böses erschaffen in der Welt. Kein anderes Wesen in dieser Welt hat diese Macht über das Sein.

 

Es gibt keine Handlung vom Menschen ohne Verantwortung. Das Licht der Verantwortung ist der erste Schritt auf dem Weg der Erkenntnis. Solange der Mensch seine Verantwortung vor den Mitmenschen und der Natur ablegt, wird er nicht voranschreiten in seiner Entwicklung in welche Richtung es sein mag.

 

Da die Menschen bis heute ihre Macht und ihre Verantwortung unterschätzen, entstehen Streit, Krieg, aber manchmal auch Frieden. So wollen wir hoffen, dass dieser Roman den Menschen hilft, die Macht, die sie selbst in sich tragen, ob wissentlich oder unwissentlich, zu verstehen und zu gebrauchen zum rechten Pfad. Nur durch das Licht der Liebe und des Mitgefühls kann das Licht entstehen in dieser Welt, was den Menschen dort erhebt. So möge der Mensch das Licht verstehen, um das hohe Licht, was ihm offenbart werden kann, zu gebrauchen.

 

Der Voodoo ist einer dieser Wege der Selbsterkenntnis und des Gottesdienstes, um sich zum Göttlichen zu erheben. Es kommt immer darauf an, welche Absicht der Mensch selbst dabei trägt. Wenn der Mensch sich bemüht die Tugenden in sich lebendig werden zu lassen, dann wird er damit die Unreinheiten in seiner Wesenheit vertreiben.

So ist der Pfad dorthin, wo das Glück sich befindet. Nur durch die Erhebung unserer Seele, welche sich in Arbeit manifestiert, kann das Licht des Wohlstandes für den Menschen entstehen.

 

Was ist aber das Licht des Wohlstandes?

Der Wohlstand ist das Licht der Harmonie mit sich selbst und mit dem Göttlichen. Manchmal ist dies mitgebracht aus früheren Leben und manchmal ist dies erarbeitet in diesem Dasein hier. Doch wenn ein jeder Mensch sich in seinem alltäglichen Verhalten genau beobachtet, so wird er erkennen und eine gewisse Harmonie in sich vorfinden. Wenn diese Harmonie dort fehlt, so entzieht sich dieses Licht erneut und die Arbeit beginnt von Neuem.

 

Möge das göttliche Licht die Menschen dort erleuchten, damit sie ihr wahres Licht erkennen, verstehen und anwenden können.

So möge es sein.

 

Unterschrift

Seine Majestät

 

Dr. h.c. Dipl. Ing.

Dadah Bokpe Houézrèhouêkê

Prinz von Allada (Republik Benin)

König zu Ouidah (Republik Benin)

Ehrenpräsident der Vereinigung

der gekrönten Familienoberhäupter

von Ouidah (ACCO)

 

 

Kapitel 1

Einführende Worte eines Griot

- Uraltes Afrika, ebenso stark wie gehemmt -

 

Ich bin ein Griot, Verkünder des Gegenwärtigen und Vergangenen, Produkt einer langen Ahnenreihe und eines Kontinentes, dessen Osten und Südosten als die Wiege der Menschheit gelten, wenn man von den ältesten Knochenfunden ausgehen darf. Eben dieses Afrika hat seinen Menschen seit Anbeginn ihrer Existenz mehr als anderswo alles abverlangt. Die Erde war in weiten Teilen wenig fruchtbar, dafür überreich an Mineralien. Und bei all dem, was die wechselvolle Geschichte noch bereithalten sollte, müsste sich die Frage aufdrängen, ob mehr fruchtbares Land und dafür weniger Mineralien nicht segensreicher gewesen wären. Doch es wäre auch eine blasphemische Frage. Warum? Weil Afrikaner dank des göttlichen Geschenkes der Intelligenz zwar immer in der Lage gewesen sind, aus dem Schicksal heraus selber zu gestalten, die Härten der Natur als feststehendes Schicksal aber nun einmal vorgegeben waren. Früh haben die besonderen klimatischen Bedingungen Krankheitserreger, Parasiten und Seuchen hervorgebracht, welche die Menschen entweder dahinsiechen oder sie im Laufe vieler Generationen zu unvergleichlich widerstandsfähigen Individuen reifen ließen. Malaria, Schlafkrankheit, Pocken, Hakenwurmanämie oder der sogenannte Guinea-Wurm zum einen, eine Vielfalt lebensbedrohender wilder Tiere zum anderen – Regenwälder und Busch wurden zum Inbegriff des Bösen. Lang anhaltende Dürreperioden kamen hinzu, wie etwa in Westafrika zwischen 1.100 bis 1.500 n.Ch. oder 1640 bis 1840 n.Ch.

Dieses Afrika formte Menschen, wie sie leidensfähiger und genügsamer nicht sein konnten. Reproduktion und Abgrenzung der Zivilisation vor der Natur wurden zu obersten Geboten.

In der westafrikanischen Savanne, wo sich aufgrund der trennenden Sahara die zivilisatorische Entwicklung lange Zeit eigenständig vollzog, entstanden immer neue Siedlungszentren. Im Norden von Trockenheit bedroht, schoben sich diese in den Süden vor, was mit beschwerlicher Waldrodung einherging. Dabei gab insbesondere erfolgversprechender Ackerbau die Standorte der Erschließung vor. Ein Siedlungskern war jeweils von Grenzlandsiedlungen umgeben. Konzentrische Kreise von brachliegenden und bewirtschafteten Feldern umgaben Häusergruppen und Dörfer. Zwischen den Siedlungszentren lag Wildnis.

Die Ursachen für neue Siedlungsgründungen waren vielfältig, reichten von Überbevölkerung über Dürre und Hexerei bis hin zu äußeren Feinden. Da Siedlungen Schutz und Zivilisation bedeuteten, wuchsen sie durch ständige Zuwanderung aus allen Himmelsrichtungen. Neue Sprachen und Dialekte, aber auch abweichende Traditionen hielten Einzug. Immer komplexere Erdwälle trennten Kulturlandschaft von unerschlossenem Waldland, das immer weiter Richtung Küste zurückgedrängt wurde. Im Verlauf des ersten Jahrtausends n.Ch. schlossen sich Dörfer und Siedlungen zu Kleinstaaten zusammen, aus denen mächtige Königreiche und Hochkulturen wie das Reich Mali vom heutigen Senegal bis nach Burkina Faso, das Edo-Reich von Benin im heutigen Nigeria oder das Akan-Reich im heutigen Ghana erwuchsen. Dabei war die Staatenbildung unter den gegebenen Umständen durchaus eine Herausforderung. Man hatte es mit einer hemmenden Unterbevölkerung zu tun. Die Siedlungen waren außerdem von hohem Freiheitswillen und Vielfalt in Traditionen und Zugehörigkeitsgefühl bestimmt, repräsentiert und geführt von gewählten Oberhäuptern.

Erfolgreich waren jene königlichen Herrscher und Reichsgründer, welche Mittel und Wege fanden, daraus belastbare Gemeinsamkeiten zu schmieden. Ein Sprichwort aus der Akan-Kultur beschreibt das Dilemma so: ‚Die Macht ist wie ein Ei in der Hand. Drückt man es zu fest, zerbricht es. Hält man es zu locker, fällt es zu Boden.‘ – Erfolgsgaranten waren militärische Stärke, Sklavenwirtschaft und ein florierender Außenhandel. Hinzu kam ein hoher Grad religiöser Homogenität der Bantu-Völker in Westafrika. Ihre Vorstellungen von einem Schöpfergott, Ahnenkult, Naturgeistern, der Kraft von Amuletten, Hexerei oder einer rituellen Priesterschaft waren vergleichbar, was die Entwicklung einer einenden Kultur vereinfachte. Damit einher gingen Medizin und Naturheilverfahren. Blut Schröpfen, Geburtshilfe oder frühe Chiropraktiker gehörten ebenso dazu, wie Kräuterkunde und Heilsalben sowie Exorzismus und komplexe magische Rituale.

 

Im Zusammenhang mit der Geschichte Afrikas steht immer auch der transatlantische Sklavenhandel im Mittelpunkt des Diskurses. Dann ist vom Dreieckshandel die Rede, weil sich Händler von Europa aus nach „Guinea“ aufmachten, um Waffen aller Art, Tuch oder Alkohol gegen westafrikanische Sklaven zu tauschen. Diese Sklaven wurden dann auf den Karibischen Inseln oder dem amerikanischen Festland zum Einsatz auf Plantagen verkauft. Der Erlös wiederum wurde in Produkte wie Zucker, Baumwolle und Tabak investiert, welche nach einer weiteren Atlantiküberquerung in Europa zu noch mehr Geld gemacht wurden. Natürlich entspricht diese Darstellung der historischen Wahrheit und muss erzählt werden. Aber man dient der Wahrheit nicht, wenn die Geschichte der afrikanischen Sklavenwirtschaft nur derart verengt dargestellt wird. Die Vorliebe zur Selbstgeißelung, wie sie in Ländern Europas oder in den USA zu beobachten ist, treibt auf die Art leider auch falsche Blüten, denn selbstverständlich waren afrikanische Gesellschaften niemals nur Opfer. Sklavenwirtschaft und Sklavenhandel waren dort vielmehr schon vor Ankunft der Muslime und Christen ein Übel. Und ohne Billigung sowie Beteiligung dortiger Herrscher wäre letztlich auch der transatlantische Sklavenhandel mit über elf Millionen Verschleppten nicht möglich gewesen, oder dass arabische Kaufleute bereits siebenhundert Jahre zuvor afrikanische Sklaven durch die Sahara in islamische Länder am Mittelmeer und am Roten Meer geführt haben, insgesamt über drei Millionen.

Natürlich widersetzten sich auch einzelne Völker der aktiven Sklaverei, wie die „Baga“ im heutigen Guinea oder die „Kru“ im heutigen Liberia. Doch wurden nicht staatlich organisierte Völker und freie Siedlungen bevorzugte Ziele von Beutezügen. Entführt oder als Kriegsbeute wartete ein unfreies Leben auf Plantagen, in Sklavenheeren oder als Haussklave, nicht zuletzt infolge der Unterbevölkerung, falls es nicht zu einem Weiterverkauf nach São Tomé, Madeira, Südeuropa, Amerika oder in die Karibik kam. Beim Verbleib in Westafrika bestand zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs, zum Beispiel als königliche Leibwache oder Regierungsbeamter.

Südeuropa lechzte bereits seit Mitte des 14. Jahrhunderts nach den robusten afrikanischen Sklaven, hatten doch Kriege und die Pest schwer gewütet. Felder für den Nahrungsmittelanbau konnten dort nicht mehr ausreichend bewirtschaftet werden. Besonders der von den Muslimen erlernte Zuckeranbau im Mittelmeerraum, in Portugal und auf den portugiesischen Atlantikinseln nahm zu und verschlang Arbeitskräfte. Portugiesen waren es auch, die um 1471 erstmals bis an die Küste des Akan-Reiches vorstießen – des Goldes wegen. Innerhalb von nur dreißig Jahren kontrollierten sie die Hälfte aller Goldexporte Westafrikas. Und sie bezahlten das von der portugiesischen Krone so heißbegehrte Edelmetall mit Sklaven, welche man im Königreich Benin, im Königreich Kongo oder über den Handelsstützpunkt in Loango an der Küste der heutigen Republik Kongo erwarb. Es waren auch portugiesische Sklavenhändler, die eine etwa sechstausend Kilometer lange Küstenlinie vom Senegal bis nach Angola „Guinea“ oder genauer „Oberguinea“ und „Unterguinea“ tauften – ein Begriff aus der Berbersprache, der so viel bedeutet wie „Land der schwarzen Menschen“. Entsprechend dem jeweiligen Hauptexportgut folgte eine weitere Unterteilung in „Korn-“ oder „Pfefferküste“, „Elfenbeinküste“, „Goldküste“ und „Sklavenküste“. Aber für die Europäer barg diese Küste von Guinea nicht nur finanziellen Segen, sondern auch einen Fluch. So viele von ihnen verstarben an ortstypischen Tropenkrankheiten, dass man schnell vom „Grab des weißen Mannes“ sprach.

Um das Jahr 1700 traten an die Stelle des Goldes als dem wertvollsten Exportgut des westafrikanischen Küstengebietes endgültig Sklaven.

 

Warum ich euch dies alles vortrage, wo es doch längst vergangen ist? Nun, all das macht die Seele Afrikas und der Afrikaner aus. Und nichts ist vergangen, was auch die Gegenwart bestimmt und genauso Vorbote wie Warnung für die Zukunft ist.

Das Abenteuer des „Wächters der Schöpfung“ Bonifacius Kidjo in diesem Buch ist getränkt von der Vergangenheit. Wieder sind Afrikaner genauso Ausgebeutete wie Kollaborateure. Ihre Leidensfähigkeit, körperliche Robustheit aber auch fehlende Solidarität sowie Machtgier sind entscheidende Elemente, von denen geschäftstüchtige Weiße aus europäischer Blutlinie unverändert profitieren wollen.

Einst waren es eine „böse“ Natur, bedrohliche Krankheiten, Sklavenhandel und tiefe Spiritualität, heute sind es eine geheimnisvolle Epidemie, ein US-Pharmakonzern und die Kräfte des Voodoo. – Wo also hört Vergangenheit auf und fängt Gegenwart an, endet Unschuld und beginnt Schuld, grenzt sich Fiktion von Realität ab?

Lest und Ihr werdet vielleicht zu der Erkenntnis gelangen, dass dazwischen gar keine Grenzen zu finden sind und genau mit dieser Erkenntnis auch die Eigenverantwortung beginnt …

 

 

Kapitel 2

Wahrheit oder Albtraum?

- Von Hexen und Amazonen -

 

Hoch oben tauchte die tatendurstig aufgehende Sonne Gipfel und Grade der umliegenden Berglandschaft in verheißungsvoll warme Farben, wurde dafür von einem mehrstimmigen Chor verschiedenster Singvögel freudig willkommen geheißen. Nur widerwillig lüftete der geisterhafte Nebel an den Hängen und auf den Wiesen seine Schleier. Der Frühlingsmorgen in der andalusischen Sierra Nevada folgte damit einem gewohnten Ritual seit Menschengedenken, wie es trotzdem nie zur Gewohnheit werden konnte, sofern es ein Mensch verstand, aus dem tiefen Frieden jenseits zivilisierten Wahnsinns Kraft zu schöpfen.

Doch im Hintergrund wich etwas von jener eingeschworenen Harmonie ab, ohne dabei als störend ins Gewicht zu fallen – ein eigenwilliges Klangmuster, nicht aufdringlich, aber doch rhythmisch. Bei näherer Betrachtung war es eine schnelle Abfolge dumpfer Krafteinwirkung. Die Quelle wurde vom Nebel eifersüchtig gehütet, so als ginge es um ein Geheimnis. Doch während das zu Hörende – immer wieder variiert und von gelegentlichen Pausen begleitet – sich fortsetzte, gewann die wärmende Sonne immer mehr die Oberhand, gab schließlich den Blick frei auf saftiges Grün.

Der hochgewachsene, muskulöse Mann von Anfang dreißig bearbeitete einen Sandsack abwechselnd mit Fäusten, Ellenbogen, Knien und Fußtritten. Die Schlag- und Trittkombinationen gegen das robuste Leder mit wohlverdienter Alterspatina erfolgten geschmeidig, koordiniert, auf den Punkt, wodurch selbst dieses vom Ast eines altehrwürdigen Laubbaumes hängende schwere Trainingsgerät in Bewegung versetzt wurde. Der Schweiß lief in Strömen, nährte den Stoff des ärmellosen Sportshirts, während der dunkelhäutige Athlet mit den feinen Gesichtszügen irgendwo zwischen Konzentration und Geistesabwesenheit gefangen zu sein schien.

Die vierhundert Jahre alte Korkeiche mutete in ihrer Erscheinung – mit der nie geernteten zerfurchten Rinde und den weit ausladenden verknöcherten Ästen – wie ein betagter und vom Leben gepeinigter Boxtrainer an, der seinem Schützling wild gestikulierend Anweisungen zurief. Und tatsächlich begegnete Bonifacius Kidjo diesem Wunder der Natur mit tiefem Respekt, teilte mit ihm seine Gedanken und Sorgen. Genau genommen handelte es sich auch nicht um eine ordinäre Korkeiche von vielen, schon deshalb nicht, weil das Überleben einer solchen in dieser Höhenlage an ein botanisches Wunder grenzte. Ganz alleine stand sie da, getrennt von ihresgleichen. Das Wirken spiritueller Urkräfte stand für den Deutschen außer Frage – einer der Gründe, die ihn vor Jahren zum Kauf des Grundstückes bewogen hatten. Und wenn dieser Methusalem der andalusischen Bergwelt dazu imstande gewesen wäre, so hätte er dem geneigten Beobachter zweifelsohne davon berichten können, was den Schützling unter seinem Blätterwerk zu solch entfesseltem Training anstachelte.

Bonifacius wurde getrieben von einem Albtraum, einer Vision oder Vorankündigung, die ihn in der vergangenen Nacht ereilt hatte. Nie zuvor hatte er solche Schreckensbilder empfangen, derart surreal und doch irgendwie real. – Während der Journalist seinen Körper weiter forderte, stellte sich sein Verstand nochmals der Ursache für die innere Unruhe:

 

Atemlos hetzt der Träumende durch einen düsteren Wald, während feuchtkalter Wind ihm den morbiden Geruch von Krankheit und Tod in die Nase treibt. Unablässig raschelnd regnet es verdorrte Blätter, und substanzlose Schatten scheinen danach zu trachten, den einzigen Menschen an jenem unheilvollen Ort einzukreisen. Bonifacius will umkehren, will entkommen. Doch es liegt nicht in seiner Macht. Der Körper gehorcht nicht mehr dem Überlebenstrieb. Plötzlich sind es schwärzeste Dunkelheit und tropische Pflanzenriesen, welche sich auf ihn zubewegen, dass es ihm die Kehle zuschnürt. Eine Eule überfliegt die Szenerie rückwärts, und eine unsichtbare Macht zwingt ihn, zum dichten Blätterdach emporzuschauen. Die Dunkelheit hat mittlerweile alles zwischen Himmel und Boden in ein alles verzehrendes Schwarz getaucht, hat es geradezu verschlungen. Dann sieht er sie, rot funkelnde Augenpaare. Erst wenige, dann immer mehr. Von weit oben starren sie ihn an – lüstern, bösartig, blutdürstig. Alles an diesem Ort scheint verkehrt zu sein, widernatürlich und feindselig, aus dem göttlichen Gleichgewicht geraten. Wieder versucht Bonifacius in panischer Verzweiflung zu entkommen, sich der Blicke dieser Kreaturen zu entziehen. Doch je größer die Verzweiflung, desto mehr rote Lichtpunkte werden es – ein Sternenzelt direkt aus der Hölle. Er weiß, es geht um ihn. Schließlich fügt er sich in sein Schicksal, stellt jede Anstrengung ein, erwartet das Unvermeidliche. Jetzt erst werden die Lichtpunkte größer, immer größer. Was auch immer sich hinter ihnen verbirgt, es kommt langsam aber unaufhaltsam näher. Ohne die Chance auf Flucht erwacht der Kampfgeist in dem Gefangenen des eigenen Traumes. Sein entschlossener Blick fällt auf die gesichtslosen Kreaturen, die augenblicklich innehalten. Deren Augenpaare verschwinden so spurlos, wie sie zuvor erschienen sind.

Als wäre im Bruchteil einer Sekunde eine neue Theaterkulisse aufgezogen worden, präsentiert sich im Wald ein gänzlich neues Schauspiel, wenngleich nicht weniger surreal und verstörend. Im Schein brennender Scheiterhaufen werden viel zu große Geier sichtbar, die zwischen den Bäumen kreisen. Ihr ohrenbetäubendes Kreischen wirkt wie das scharfe Kratzen auf einer Maltafel – schmerzvoll und nervenzerfetzend. In ihren Klauen halten sie nackte Menschen gepackt, die sich aus Furcht und Entsetzen winden. Die durchweg dunkelhäutigen Opfer scheinen dem Wahnsinn nahe, als sie nacheinander über einer Grube voller zuckender Leiber fallengelassen werden. Selbst die Flammen der Scheiterhaufen verstoßen gegen alle Gesetze der Natur, so wie diese sich dem Boden anstatt dem Himmel entgegenstrecken und die Umgebung dabei in ein intensives grünes Licht tauchen.

Eine weibliche Gestalt mit bis zum Weiß der Augäpfel verdrehten Augen und dem zu einer grinsenden Fratze verzerrten Gesicht, kopuliert völlig enthemmt mit einem Wildschwein. Wenige Meter weiter verspeist eine andere entmenschlichte Gestalt, die einmal eine Frau gewesen sein mag, das abgerissene Bein eines Kleinkindes. Gierig beißt sie große Stücke heraus und verschlingt diese, während blutiger Speichel spritzt und am verschmutzten Körper herab auf den Boden tropft.

Bonifacius verspürt den Drang, in die wieder sichtbaren Baumkronen hinauf zu schauen. Eine Heerschar weiterer Hexen hängt reglos mit den Köpfen nach unten in den Bäumen, nackt, ihre blutunterlaufenen Augen starr auf ihn gerichtet. Erst eine Bewegung in unmittelbarer Nähe erlöst den zentralen Protagonisten aus seiner Erstarrung. Ein älterer Schwarzer mit weißem Vollbart und gütigen Gesichtszügen, außerdem in edlem Gewand, reicht ihm die Hand. Doch noch bevor der Träumende zugreifen kann, wird er von neuem abgelenkt. Nahe der mit gequälten Menschen gefüllten Grube manifestiert sich eine Gestalt – verhüllt von einem dunklen Umhang mit Kapuze – die mit ausgestreckten Armen gegen die Opfer gerichtet offensichtlich magische Formeln spricht. Von unbeschreiblichen Krämpfen erfasst, zucken und winden sich die Leiber umso mehr. Doch damit nicht genug. In einer steigenden Spirale des Entsetzens muss Bonifacius hilflos mitansehen, wie der Peiniger feierlich zwei transparente Behälter mit unterschiedlichen Flüssigkeiten hochhält. Daraufhin überschlagen sich die Ereignisse. Die verhüllte Gestalt wendet sich in einer abrupten Drehung ihm zu, mit schrillem Kreischen, welches dem der Geier entspricht. Anstelle eines Gesichtes verbirgt die Kapuze nichts als Finsternis. Der vermeintlich zu Hilfe geeilte ältere Mann – kurzzeitig in Vergessenheit geraten – ist ebenfalls nicht, was er vorgab zu sein. Die Verwandlung in eine riesenhaft bedrohliche Schlange hält den Träumenden in Schach. Zu allem Überfluss beginnen die Hexen, sich von den Bäumen zu lösen und nach unten zu schweben. Dort angekommen, kreisen sie ihren auserkorenen Feind ein – nach wie vor lüstern, bösartig und blutdürstig.

Das verhüllte Schattenwesen widmet sich derweil wieder seiner eigentlichen Aufgabe. Es hält die beiden Behälter über sich, und die enthaltenen Flüssigkeiten entströmen nach oben. Über der Grube vereinigen sie sich schließlich, werden zu einer gasförmigen Wolke, die niedergeht. Die gefangenen Menschen beginnen aus den Körperöffnungen zu bluten. Ströme roten Lebenssaftes tränken den Boden. Als nächstes bilden sich am ganzen Körper Geschwüre, die zu offenen Wunden aufplatzen, welche wiederum schnell größer werden und unaufhörlich eitriges Sekret freisetzen. Noch bei vollem Bewusstsein zersetzen sich die Körper der Sterbenden unter Verlust aller Körpersäfte.

Potenziert um den beißend süßlichen Gestank, der sich schnell ausbreitet, ist dem Brechreiz kaum noch Herr zu werden. Verhindert wird es einzig durch den Umstand, dass der hilflose Zeuge des Geschehens eine neue Präsenz wahrnimmt. Jemand hat sich die ganze Zeit über abseits des hellen Widerscheins der Feuer verborgen gehalten und den geeigneten Augenblick abgewartet. Und selbst jetzt tritt dieser Jemand nur so weit ins Licht, dass sich eine menschliche Silhouette erkennen lässt. Gleichwohl sind die Reaktionen darauf erheblich. Hexen wie Schlange weichen angstvoll vor Bonifacius zurück. Selbst das verhüllte Schattenwesen lässt von seinem blutigen Ritual ab, schaut stattdessen gebannt in Richtung eines großen Objektes, das zwischen Unterholz und Baumwurzeln im Verborgenen steht.

Zuerst ist es nur die anwachsende Erschütterung des Erdbodens. Es folgen das rhythmische Schlagen von Metall gegen Metall und wütende Schlachtrufe wie aus hundert Kehlen. Als die Atmosphäre längst zum Bersten gespannt ist, blitzen Waffen und Zierrat auf. Unerschrockene Kriegerinnen fallen über die Hexen her. Die Amazonen bieten einen furchterregenden Anblick. Ihr Körperharnisch besteht aus mehreren Schichten dicken Leders über einer Tunika. Er ist reich mit Goldplättchen und magischen Amuletten besetzt. Von der Hüfte abwärts bieten dicht aneinander gereihte und gestärkte Lederstreifen einen knielangen Schutz. Feindesblut aus unzähligen Schlachten hat das Leder des Körperschutzes dunkel verfärbt. Unterarme und Unterschenkel sind von goldenen Schienen, Hals und Fußgelenke von massiven Ringen verdeckt, was gleichermaßen ziert, einschüchtert und Verletzungen vorbeugt. Gekrönt wird die Pracht von einer goldenen Haube, die die Kurzhaarfrisur komplett bedeckt. Sie umrahmt schöne, wenn auch wild herbe Gesichtszüge. All das brennt sich Bonifacius unauslöschlich ins Gedächtnis ein. Auch, dass die afrikanischen Kriegerinnen hochgewachsen, athletisch und mit langen dolchartigen Fingernägeln bewaffnet sind, entgeht ihm nicht. Mit eben diesen sowie mit Kampfstöcken, langen Messern und Speeren bringen sie die Hexen wie entfesselt und auf kürzestem Weg zu Tode. Ihre Augen wirken dabei hypnotisch und im Stande, jeden Widerstand zu brechen, was angesichts ein- und abgeschlagener Köpfe, abgetrennter Gliedmaßen und durchbohrter Körper seinen routinierten Lauf nimmt.

Einem inneren Impuls folgend, eilt Bonifacius auf das vom Schattenwesen nach wie vor angestarrte Objekt zu, dabei schützend flankiert von drei Amazonen. Auf nähere Distanz erkennt er endlich deutlich, worum es sich dabei handelt – um einen blutverkrusteten Schrein in der Form eines Kessels und der Höhe eines Kindes. Zwei der Kriegerinnen halten die nun verstärkt auf ihn einstürmenden Hexen auf Distanz, die dritte übergibt ihm einen kunstvoll gearbeiteten massiven Langstock. Sie deutet auf den Schrein. Unter dem panischen Geschrei der mystischen Feinde schlägt der Auserwählte kurzentschlossen zu. Als das Behältnis zerbricht, ist es auch um die verbliebenen Hexen geschehen, die scheintot zu Boden fallen. Der Umhang des Schattenwesens fällt in sich zusammen. Nichts ist übriggeblieben außer einem Amulett inmitten des Stoffes. Bonifacius will es an sich nehmen. Doch die näher stehende Amazone kommt ihm zuvor, wirft das Symbol dunkler Macht ins Feuer.

Die Flammen verlieren ihren unnatürlichen grünen Schimmer, verhalten sich wieder den Naturgesetzen entsprechend. Bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht getötete Opfer der blutigen Zeremonie genesen noch im selben Moment. In Ehrerbietung senken die Amazonen ihre Waffen und neigen ihre Häupter vor dem Auserwählten. Der Schutzengel im Hintergrund ist verschwunden. Am Boden sucht eine Schlange ängstlich das Weite – kaum noch einen Meter lang …

 

Der Deutsche mit ebenso kongolesischen Wurzeln beendete das Training. Mit freiem Oberkörper verharrte er inmitten seines weitläufigen Grundstückes, während der Schweiß sich langsam verflüchtigte und die klare Bergluft der Mattheit des Körpers entgegenwirkte. Es war eine hohe Kunst, den eigenen Geist von allem zu befreien was diesen beschäftigte, ganz besonders jetzt, wo es aufwühlende Traumbotschaften betraf. Von Zeit zu Zeit gelang es selbst ihm – Bonifacius Kidjo – nicht, egal wie unerbittlich er zuvor den Sandsack malträtiert hatte. So wandte er sich also erneut der Korkeiche zu, suchte den direkten Kontakt mit Stirn und beiden Händen. Kaum waren die Augen geschlossen, versank er in einer Art Meditation, die eigentlich mehr das Zwiegespräch mit einem vertrauenswürdigen Freund war.

 

Meinst du nicht auch, dass der Traum ein Zeichen ist? Nicht nur ein verstörender Albtraum, sondern eine Vision voller vielschichtiger Botschaften? Ich denke, dass es so ist. Und es betrifft nicht meine vordergründige Arbeit als Journalist, oh nein. Es geht um die anstehende Geheimmission, da bin ich sicher. Meine Reise nach Afrika, Westafrika, zu einer Urquelle des afrikanischen Mystizismus. Passt doch. – Wir werden sehen, was ich dazu in Berlin erfahre. Aber klar ist wohl, das wird wieder eine beinharte Angelegenheit.

Ihr Ahnen, ich lege mein Schicksal in eure Hände.

 

 

Kapitel 3

Hexen, Hexen

- Ein Freund in den Bergen -

 

Das eigenhändig restaurierte Bauernhaus inmitten ungezähmt anmutender Kulturpflanzen empfing ihn in der einladenden Atmosphäre, die ihm so wichtig war. Ob Steinwände, Kamin oder Mobiliar, alles atmete Natur und Harmonie. Der Weltbürger in ihm war unverkennbar, fanden sich doch auf den ersten Blick rituelle Masken, Figuren und Stoffe aus West- und Zentralafrika genauso, wie traditionelle Waffen und Keramiken aus China oder Japan. Zügig nahm Bonifacius die Holzstufen ins Obergeschoss, wo eine erfrischende Dusche auf ihn wartete. Viel Zeit blieb nicht, hatte sich doch ein väterlicher Freund zum Frühstück angemeldet.

Der sympathische Duft frisch gemahlenen spanischen Kaffees zog durchs ganze Haus und wies dem Gastgeber schließlich den Weg zurück und in die gemütliche Küche, wo Pablo gerade das gemeinsame Frühstück vorbereitete. Es gehörte zum gewohnten Ritual der so unterschiedlichen Männer, mehrmals in der Woche zum Essen zusammenzukommen, sofern sich der umtriebige Weltenbummler in seiner Wahlheimat aufhielt. Selbstredend wusste der in die Jahre gekommene Bergbauer nichts vom Doppelleben des Anderen, und vermutlich hätte auch das nichts an ihrer besonderen Beziehung geändert. Dass Pablo hier so frei ein und aus gehen konnte, sprach jedenfalls eine deutliche Sprache. Natürlich blieb zu erwähnen, dass zwischen den vergleichsweise wenigen Menschen in den andalusischen Bergen generell großes Vertrauen herrschte und Haustüren selten abgeschlossen wurden. Die Begrüßung fiel wie immer herzlich aus, ohne überschwänglich zu sein. Wie auf Kommando stürmte allerdings der riesige ungarische Hirtenhund Pablos herbei, um ungleich aufgeregter seinen Anteil an der Wiedersehensfreude einzufordern. In aller Ruhe wurden die Frühstücksutensilien nach draußen gebracht, um einen rustikalen Holztisch vor dem Haus zu decken.

Die beiden saßen bereits eine Weile in geselliger Stille beisammen, und Pablo goss gerade Kaffee nach, als Bonifacius nachdenklich das Gespräch suchte: »Was weißt du über Hexen?«

Der Angesprochene schaute ihn einige Sekunden stirnrunzelnd an – nicht etwa aus Überraschung wegen der Frage, sondern weil er über eine gehaltvolle Antwort nachdachte. »Zu dem Thema gibt es viel zu sagen und viel zu wissen. Hexen kennt man ja auf der ganzen Welt. Bestimmt haben sie ihren Platz in jeder Kultur von Grönland bis Japan. Und in früheren Zeiten hätte wohl niemand ihre Existenz geleugnet. Aber in der Welt von heute, mit moderner Wissenschaft und Technik-Hokuspokus, werden Hexen lieber als Ammenmärchen abgetan. Wie sie aussehen, was sie bezwecken oder wie groß ihre magischen Kräfte sind, das wissen wir nur noch aus Gruselfilmen.«

Daraufhin beugte sich der alte Mann der Berge ein Stück weit über den Tisch, so als war das Folgende nicht für jedermanns Ohren bestimmt: »Lange bevor kultureller Austausch zwischen den Völkern dieser Welt stattfand, gab es schon übereinstimmende Hexenbeschreibungen. Wenn die also nie existiert haben, wie ist dann so etwas möglich?«

Betrübt ließ er sich zurücksinken und streichelte den noch jungen Hütehund, der ihm nur selten von der Seite wich. »So oder so, „Hexe“ ist ein missbrauchter Begriff.«

Eine Feststellung, die unbedingt eine Nachfrage lohnte: »Was meinst du?«

Pablo trank seinen Kaffee und lächelte bitter. »Menschen tun alles, um nur nicht die Verantwortung für eigene Taten übernehmen zu müssen. Sie brauchten schon immer einen Sündenbock für ihre Verfehlungen und Ängste. 'Ich wurde versucht', 'etwas hat mich gezwungen' oder 'sie hat meinen Mann verhext'. Die beschuldigten Frauen waren angeblich unmoralisch, böse und wollten die Menschen verderben. Wo immer ein ungewöhnlicher Todesfall auftrat, eine Epidemie ausbrach oder Felder verdorrten, mussten der Teufel und seine Hexen am Wirken sein. Aber in Wahrheit liegt alles, was der Mensch Hexen je an Grausamkeiten und Perversionen angedichtet hat, in seiner eigenen Seele begründet. Und sollte es tatsächlich Hexen geben, also Frauen mit magischen oder übersinnlichen Fähigkeiten – woran ich persönlich nicht zweifle – werden sie aus guten Gründen nicht in Erscheinung treten. Wie viele Frauen sind alleine schon deshalb als Hexe gequält, verstümmelt und verbrannt worden, weil sich Männer von ihrer Schönheit angezogen fühlten und Ehefrauen aus Eifersucht zur Anklägerin wurden. Andere landeten auf dem Scheiterhaufen, nur weil ihr Umgang mit Kräutern Kranke heilte. Mit der Inquisition in Europa hat die christliche Kirche jedenfalls so viel unschuldiges Leben vernichtet, wie es tatsächliche Hexen sicher nie getan hätten oder hätten tun können.«

Für Bonifacius war es an der Zeit, nachdenklich zu nicken. »Einverstanden, aber nehmen wir mal an – rein hypothetisch – es würde Hexen geben, ein Teil von denen wäre den Menschen feindlich gesonnen und würde ihnen Schaden zufügen wollen. Aus welchem Grund?«

Ihn traf ein argwöhnischer Blick. »Danach will ich aber wissen, weshalb dich das Thema so interessiert. - Also gut, in dem Fall wäre es wahrscheinlich Daseinszweck der Hexe, die menschliche Moral, gesellschaftliche Regeln und Tabus in Frage zu stellen – ja selbst die Naturgesetze. Sie würde Unruhe stiften, um Menschen auf die Probe zu stellen, um sie vom rechten Weg abzubringen. Es geht um das ewige Spiel Gut gegen Böse. Vermutlich wären solche Hexen nur die Handlanger und Vollstrecker noch mächtigerer dunkler Kräfte, so wie Soldaten politischen Zielen dienen und Staatsräson auf Kommando durchsetzen. – So, mein Freund, jetzt bist du dran«, endete Pablo fordernd.

»Mir geht es um die Hexe als Symbol. Ich hatte letzte Nacht einen heftigen Traum. Hexen spielten darin eine wichtige Rolle. Sie haben mich attackiert. Ich will wissen, was dahintersteckt.«

Der Gast hatte begonnen, eine frisch abgeschnittene Scheibe Bauernbrot üppig mit Schinken, Käse, Tomate und Kräutern zu belegen, wobei er an jeder einzelnen Zutat genüsslich roch. »Ich bin ja kein Traumdeuter, aber die über Jahrhunderte hinweg weitergegebenen Ammenmärchen vom Bösen und Schlechten in der Gestalt von Hexen sind tief in unser Unterbewusstsein eingegraben. Schau dir die hysterische Angst vor dem Wolf an. Nicht anders. Träumt man also von Hexen und Wölfen, stehen die für Bedrohung, Ängste, Gefahr. Für einige Menschen sollen Träume ja wie ein mystisches Tor über Zeit und Ort hinweg sein. Manche Leute behaupten sogar, es sind komplexe göttliche Botschaften.«

Das animierte den Gastgeber zu einem befreienden Auflachen: »Also zu denen gehöre ich.«

Pablo ließ sich anstecken: »So wie ich.«

Der Tisch war so reich mit appetitlichen Lebensmitteln der Region gedeckt, dass das Gelage bis in den Vormittag hinein andauerte. Man sprach über Gott und die Welt, was für beide Seiten einmal mehr erquicklich war. Ein Fremder mochte den Spanier aufgrund der mangelnden Schulbildung vielleicht für einen unwissenden Bauern mit Viehbestand halten, doch sein um zwei Generationen jüngerer Freund wusste es besser. Der wusste um die Lebensweisheit und kannte die anspruchsvolle Büchersammlung des Ehrenmannes – gelesen, verstanden und um umfassende Kommentare bereichert.

Und eben dieser Mann formulierte einen ergänzenden Gedanken: »Was ich nicht weiß ist, wann und unter welchen Umständen die Hexenverfolgung in Europa genau endete. Auch ein spannender Punkt.«

Der geschichtsinteressierte Journalist war gerne bereit für Aufklärung zu sorgen, wobei der Begriff „Aufklärung“ ihm ein wohliges Lächeln entlockte: »Den Anfang vom Ende dieser menschenverachtenden Barbarei verdankt Europa wohl dem preußischen König Friedrich Wilhelm I. Im Geiste der „Aufklärung“ und seines frühen Verständnisses für Rechtsstaatlichkeit, musste ihm ab 1714 jedes Gerichtsurteil zur Bestätigung vorgelegt werden, das auf Hinrichtung und Folter – auch wegen Hexerei und Ketzerei – lautete. Er widerrief die meisten dieser Urteile. Sein Sohn Friedrich II. schaffte bei Amtsantritt 1740 nicht nur Hinrichtung und Folter bei zunächst noch wenigen Ausnahmen ganz ab, auch Hexenprozesse wurden verboten. Damit bezog er als erster christlicher Herrscher in Europa eindeutig Stellung für religiöse Toleranz und gegen die gewalttätige Dogmatik der Kirche. Preußen setzte fortan auf die angeborene Fähigkeit zur Vernunft und zum Verständnis für Sitte und Ethik, aber auch auf die Verpflichtung zum verantwortungsvollen Handeln gegenüber der Gemeinschaft. Davon sollte das preußische Menschenbild geprägt sein.«

»Das wird die anderen gekrönten Häupter und Päpste aber gar nicht amüsiert haben«, feixte Pablo, »der drohende Verlust wichtiger Machtinstrumente.«

»Nicht amüsiert?«, kam Bonifacius erst so richtig auf Betriebstemperatur, »das dürfte den edlen Herren den puren Angstschweiß auf die Stirn getrieben haben. Neid und Missgunst waren zweifellos auch im Spiel, denn der preußische Staat bot eine beispiellose Alternative an – einen modernen Verwaltungs- und Rechtsstaat, der jedem seiner Bürger die selben Rechte wie Pflichten zugestand und auferlegte.«

Die Augen seines Gegenübers wurden zu lauernden Schlitzen: »Und wie passt dieses preußische Menschenbild zu Begriffen wie „Obrigkeitshörigkeit“ oder „Kadavergehorsam“?«

»Gar nicht«, kam die prompte Antwort, »gern bemühte Propagandabegriffe, die der Realität nicht gerecht werden. Alles hatte sich dem Gesetz und den sittlichen Geboten Gottes unterzuordnen. Selbst die Könige hatten sich dem zu unterwerfen. Befehlsverweigerung aus Gewissensgründen war in der preußischen Armee durchaus keine Seltenheit. Und Obrigkeitshörigkeit traf auf die preußische Gesellschaft nicht mehr oder weniger zu, als auf andere Mächte in Europa und anderswo zu jener Zeit.«

»Warum legt ein Mann deiner Generation so viel Wert auf diese Dinge?«, wollte Pablo unbedingt wissen, den die wissende Leidenschaft beeindruckte.

Wieder folgte die Erklärung ohne Zögern: »Um es mit den Worten eines deutschen Historikers zu sagen: 'Es geht um Gerechtigkeit, es geht um die Einübung von Respekt. Ein humanes Verhalten gegenüber Mitmenschen schließt auch ein humanes Verhalten gegenüber den Toten, gegenüber unserer Vergangenheit ein'. – Meine Mutter war Kongolesin, aber mein Vater war Deutscher. Ich bin es mir und meinen Ahnen schuldig. Preußen und das Deutsche Kaiserreich waren weit ab von gesellschaftlicher und politischer Perfektion, keine Frage. Aber man muss diese beiden Staaten in ihrer Gesamtheit und mit gebührendem Respekt betrachten, so wie man es auch anderen Nationen und deren Geschichte zugesteht. Das ist meine feste Überzeugung.«

»Die Bürde des Verlierers zweier Weltkriege. Die Wahrheit wird vom Sieger diktiert«, kommentierte der Zuhörer nicht ohne Mitleid.

Kompromissloser Ernst ersetzte endgültig die Leichtigkeit: »Interessiert mich nicht, ich ziehe Tatsachen vor. Wie hast du so treffend gesagt, die Wahrheit wird schließlich vom Sieger diktiert. Es reicht schon ein kompetent wirkender Erzähler, der nicht den Fehler begeht, zu sehr ins Detail zu gehen. Dann muss nur noch an einen anerzogenen Schuldkomplex appelliert werden. Unter solchen Umständen überlässt der Mensch das Denken schnell anderen. Stimmungsmache und Meinungsdoktrin aus der Feder von Vormündern im Deutschland des 21. Jahrhunderts, nicht etwa Ende des 18. Jahrhunderts in Preußen.«

»Siehst du, deshalb liebe ich es hier in den Bergen, fernab von Propaganda und einer beliebigen Welt der Verschwendung. Hier hat alles noch einen Sinn. Die Nachbarn werden mit Respekt behandelt, es gibt keine geistlose Hektik, und man lebt von und mit der Natur.«

Bonifacius hatte seinen entspannten Gesichtsausdruck derweil zurückgewonnen: »Meiner Meinung nach können wir die Herausforderungen der Zukunft nicht dadurch meistern, dass wir eine globalisierte Industrie- und Informationsgesellschaft verteufeln oder vor ihr zurückschrecken. Aber die Menschen müssen lernen, sie ernsthaft zum Wohle aller und in besserem Einklang mit der Natur zu nutzen. Denn ohne Vernunft und Weisheit richtet es uns seelisch und körperlich zugrunde.«

»Na genau aus dem Grund machst du dich morgen als investigativer Journalist auf den Weg in die Welt, richtig?«, gab Pablo in rhetorischer Manier zurück, während er vom Tisch aufstand und noch einige Oliven als Wegzehrung an sich nahm.

Sein Augenzwinkern signalisierte ein Hintergrundwissen, dass er nicht im Entferntesten besaß. Er wusste nicht, dass Bonifacius in geheimer Mission ins Voodoo-Land Benin fliegen würde, um die Hintergründe einer geheimnisvollen Seuche zu untersuchen, die jüngst im Norden des Landes ausgebrochen war. Auch wusste er nicht, dass sein Freund es im Auftrag einer Geheimgesellschaft namens „Wächter der Schöpfung“ tun würde. Primär ging es nicht darum zu recherchieren, zu befragen und die erhaltenen Informationen in erhellenden Artikeln aufzubereiten. Die Umstände rund um diese humanitäre Katastrophe waren sehr viel komplexer als offiziell verlautet. Womöglich war das Szenario gezielt herbeigeführt worden. Also würde der Mann, welcher Pablo gerade so vertraut gegenübersaß, dessen Codename „Shango“ lautete, die Hintergründe aufdecken, alle Verantwortlichen entlarven und sie ihrer gerechten Strafe zuführen. So lautete die Mission. Dies war das Credo der „Wächter der Schöpfung“.

 

 

Kapitel 4

Verdächtige Seuche in Benin

- Wächter der Schöpfung -

 

Der Konstantin Verlag hatte seinen Hauptsitz am Rande Berlins, in einem mehrstöckigen Gebäude, das der Fassade nach eine spätmittelalterliche Burg hätte sein können. Tatsächlich aber war die Anmutung einem prägenden Baustil der wilhelminischen Zeit geschuldet – dem romantischen Historismus, sandsteingewordene Verehrung eines vermeintlich helden- und tugendreichen Zeitalters. Ursprünglich das Zuhause der öffentlichen Verwaltung in Deutschem Kaiserreich, Weimarer Republik und Drittem Reich, ging das imposante Bauwerk schließlich in das Eigentum des unabhängigen Konstantin Verlages über. Wie zuvor auch, war ein romantischer Anspruch vor allem auf die Fassade beschränkt. Im öffentlichen Tagesgeschäft erschloss sich das am ehesten im faktenbasierten investigativen Arbeiten der Journalisten für die verschiedenen Redaktionen im Hause sowie in der allgemeinen Immunisierung gegen äußere Einflussnahme. Das damit verknüpfte inoffizielle Tätigkeitsfeld hingegen spielte sich entsprechend der Aktivitäten in geheimen Stockwerken unterhalb des Verlagshauses ab. Dort hatte die Geheimgesellschaft der „Wächter der Schöpfung“ ihren Mittelpunkt.