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Sequenzen der Wirklichkeit

Lyrik und Kurzprosa

 

Marie Döling

 

Vorwort

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

ich freue mich, dass du meinen zweiten Sammelband in deinen Händen hältst.

Wie schon in »Sequenzen der Wörtlichkeit«, thematisiere ich in diesem Werk aktuelle und relevante Inhalte.

Dies hat zur Folge, dass vier Gedichte und zwei Kurzgeschichten potentiell triggern und negative Erinnerungen hervorrufen könnten.

Aus diesem Grund findest du am Ende des Buches eine TRIGGERWARNUNG.

Bitte sei dir deiner eigenen Verantwortung bewusst.

 

Der Kampenwand-Verlag und ich wünschen dir das bestmögliche Leseerlebnis.

 

– Marie

Für Lesley.
Weil du Wirklichkeit für mich bist.
 

***

 

Wenn die Welt zu laut ist,

werde ich für dich

still sein.
 

Sequenz I

 

Von der Wahrheit und ihrer
Vergangenheit

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Für alle, die sprechen, wenn die Wahrheit gesagt werden muss.

Es sind die Wellen. Sie geben und nehmen.

Und sie erinnern.

 

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Nordlichter

 

Irgendwo in mir

ist deine Stimme versiegt.

Nur noch schabendes Sandpapier,

tosende Einsamkeit.

Mein Kompass hat den

N o r d e n

verloren.
Und dein Norden das
Licht.

 

Luftleere

 

Wir stecken fest in

sinnsuchenden Momenten des

Loslassens.

Nur du und ich,

während wir

V a k u u m

atmen.

 

Kraniche

 

Ich falte unsere

Liebe wie

O r i g a m i,

forme sie ganz sanft

und dennoch

zerreißen meine Finger

immer wieder das

Papier.

 

Kopfsprung

 

Ich sprang in das Wasser.

Wieder und wieder und

wieder,

doch ich schlug keine

W e l l e n.

Verzeihen

 

Siebenundvierzig.

Ich stehe vor siebenundvierzig Paar Schuhen und habe keine Ahnung, welches davon ich anziehen soll. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dass mir mein Schuhschrank ein spöttisches Lächeln entgegenwirft.

Seit zwei Wochen habe ich Nicholas nicht gesehen. Zwei Wochen, in denen wir uns eine Auszeit nahmen, weil vieles zwischen uns nicht mehr funktionierte. Als seine Nachricht mich gestern Abend erreichte, schlug mein Herz wild in meiner Brust.

Ich möchte diesen Neubeginn, von dem er spricht. Einen echten Versuch, unsere Fehler aus der Welt zu schaffen.

Meine Finger streichen über die Stiefeletten aus olivgrüngefärbtem Wildleder, die ich letzten Sommer in einer Strandboutique in Spanien entdeckt hatte. Unsere letzte große Reise, bevor alles aus dem Ruder lief. Nach diesem Urlaub habe ich sie nie wieder getragen.

Ein schlechtes Omen, denke ich und lasse meinen Blick über die gefüllten Regalbretter schweifen.

Rote Pumps? Zu aufdringlich. Weiße Sandalen? Zu sommerlich. Schwarze Chucks? Zu alltäglich. Florale Boots? Weshalb besitze ich so etwas überhaupt!

Genervt krame ich mein Handy aus der Hosentasche und prüfe die Uhrzeit. In spätestens zehn Minuten muss ich los.

Nicholas hasst es, zu warten. Bei der kleinsten Verzögerung wird er unruhig und beginnt, seine Umwelt zu verschmähen. Ungeduld ist sein konstanter Gemütszustand, Unpünktlichkeit ist leider meiner.

Das ist eines der Dinge, die zwischen uns stehen. Zugegeben – nur ein kleines. Dennoch möchte ich ihm unbedingt beweisen, wie wichtig mir unsere Aussprache ist.

Als wir entschieden, eine Pause zu benötigten, brach mir das Herz. Nach all der Zeit konnte ich mir unmöglich vorstellen, ohne ihn zu sein. Doch ich wusste, dass wir beide dringend nachdenken mussten, und willigte in seinen Vorschlag ein. An diesem Tag trug ich meine hellen Lieblingsturnschuhe.

Heute nicht, denke ich und greife stattdessen zu den beigen Korkabsatzsandalen. Mit meiner Jeans und dem sommerlichen Top werden sie gut harmonieren.

Hastig ziehe ich sie an, schnappe eine Übergangsjacke vom Kleiderhaken und eile aus der Wohnung.

 

Das Café, vor dem wir uns treffen, ist nur wenige Straßenblocks von meinem Appartement entfernt. Trotzdem habe ich das Gefühl, einige Kilometer hinter mich bringen zu müssen.

Ob das an meinen Nerven oder den unbequemen Schuhen liegt, kann ich nicht genau sagen.

Jeder Schritt ist schwer, jede Minute schmerzt und als ich Nicholas entdecke, tut mir das Atmen weh. Er hat die Hände in den Hosentaschen vergraben und starrt auf den Boden. Vermutlich ist er genauso nervös wie ich.

Als ich mich nähere, hebt er den Kopf und ein schwaches Lächeln bildet sich auf seinen Lippen. Zaghaft erwidere ich es.

Eigenartiger könnte dieser Moment nicht sein. Hier stehen zwei Menschen, die einander besser kennen als irgendjemanden sonst, und doch benehmen wir uns, als hätten wir uns nie getroffen.

An meinem rechten Fuß hat sich eine Blase gebildet, ich spüre sie sogar jetzt, als ich vor ihm stehenbleibe. Sie pocht unangenehm.