Das Buch
Magie ist in Hallandren ein kostbares Gut, denn sie ist verbunden mit der Lebensenergie der Menschen, dem sogenannten Hauch. Eigentlich besitzt jeder Mensch nur einen solchen Hauch, doch die Magier unter den Bewohnern Hallandrens sammeln Hauche, um Macht zu gewinnen – und die Götter von Hallandren besitzen Tausende solcher Hauche. Für Siri, die junge Königstochter des Nachbarreiches Idris, ist das eine völlig neue Welt. Sie soll mit dem Gottkönig vermählt werden und muss dafür ihr altes Leben hinter sich lassen. Doch in der Hauptstadt T’Telir verdichten sich die Hinweise auf einen bevorstehenden Krieg zwischen Hallandren und Idris, und Siri muss erkennen, dass am Hof des Gottkönigs finstere Intrigen im Gange sind, denn einer der Unsterblichen verfolgt ganz eigene Pläne. Als sich Siris Schwester Vivenna aufmacht um sie zu retten, gerät auch sie plötzlich in höchste Gefahr, und der Krieg schein unausweichlich. Doch dann bekommen sie Hilfe von unerwarteter Seite …
»Das Wort ›episch‹ ist noch zu klein für Brandon Sandersons Fantasy!« Guardian
Der Autor
Brandon Sanderson, 1975 in Nebraska geboren, schreibt seit seiner Schulzeit fantastische Geschichten. Er studierte Englische Literatur und unterrichtet Kreatives Schreiben. Mit den »Sturmlicht-Chroniken«, seinem großen Epos um das Schicksal der Welt von Roschar, erobert er regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten und begeistert auch in Deutschland viele Zehntausende Fans. Er wird bereits als der J. R. R. Tolkien des 21. Jahrhunderts gepriesen. Brandon Sanderson lebt mit seiner Familie in Provo, Utah.
Mehr über Autor und Werk unter:
www.brandon-sanderson.de
BRANDON SANDERSON
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der Originalausgabe
WARBREAKER
Deutsche Übersetzung von Michael Siefener
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Copyright © 2022 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlagillustration: Federico Musetti
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Umschlagillustration: Viktor Fetsch
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-27795-6
V001
@HeyneFantasySF
Für Emily,
die mir ihr Jawort gegeben hat
Prolog
Es ist schon seltsam, wie vieles damit beginnt, dass ich ins Gefängnis geworfen werde, dachte Vascher.
Die Wächter lachten und schlugen die Zelltür mit lautem Getöse zu. Vascher stand da, klopfte sich den Staub ab, rollte mit der Schulter und zuckte zusammen. Während die untere Hälfte seiner Zellentür aus massivem Holz bestand, war die obere Hälfte vergittert. So konnte er sehen, wie die drei Wächter seinen großen Reisesack öffneten und seine Besitztümer durchstöberten.
Einer von ihnen bemerkte, dass Vascher sie beobachtete. Dieser Wächter war ein Stier von einem Mann mit kahl geschorenem Kopf und einer verdreckten Uniform, die kaum mehr das helle Gelb und Blau der Stadtwachen von T’Telir erkennen ließ.
Helle Farben, dachte Vascher. Ich werde mich wieder an sie gewöhnen müssen. In jedem anderen Land hätte das kräftige Blau und Gelb an einem Soldaten lächerlich gewirkt, doch das hier war Hallandren, das Land der zurückgekehrten Götter, der leblosen Diener, der biochromatischen Forschungen und – natürlich – der Farben.
Der riesige Wächter schlenderte zur Zellentür hinüber und überließ seinen Freunden den Spaß mit Vaschers Sachen. »Es heißt, du bist ein ziemlich harter Knochen«, sagte der Mann und musterte Vascher von Kopf bis Fuß.
Vascher erwiderte nichts darauf.
»Der Wirt hat gesagt, du hast in dem Handgemenge ungefähr zwanzig Männer niedergeschlagen.« Der Wächter rieb sich das Kinn. »Für mich siehst du gar nicht so hart aus. Wie dem auch sei, du hättest den Priester nicht schlagen sollen. Die anderen wandern für eine Nacht ins Gefängnis. Aber du … du wirst hängen. Farbloser Narr!«
Vascher wandte sich von ihm ab. Seine Zelle war zweckmäßig, aber nicht ungewöhnlich. Ein dünner Schlitz am oberen Ende einer der Wände ließ Licht herein, über die bemoosten Steinmauern tropfte das Wasser, und ein Haufen aus dreckigem Stroh faulte in der Ecke vor sich hin.
»Du wendest dich ab?«, fragte der Wächter und trat näher auf die Tür zu. Die Farben seiner Uniform wurden heller, als wäre er in stärkeres Licht getreten. Es war nur eine schwache Veränderung. Vascher hatte nicht mehr viel Hauch in sich, und daher konnte seine Aura bei den Farben, die ihn umgaben, nicht viel bewirken. Der Wächter bemerkte die farbliche Veränderung nicht – genauso wenig wie er es in der Taverne bemerkt hatte, als er und seine Kumpels Vascher vom Boden aufgesammelt und in den Karren geworfen hatten. Natürlich war die Veränderung für gewöhnliche Augen so gering, dass sie kaum zu erkennen war.
»Also, was ist denn das?«, fragte einer der Männer, die Vaschers Reisesack durchsuchten. Vascher hatte es stets bemerkenswert gefunden, dass die Männer, die in den Verliesen Wache standen, für gewöhnlich genauso schlimm oder gar noch schlimmer als die Gefangenen waren. Vielleicht war das Absicht. Die Gesellschaft schien es nicht zu kümmern, ob sich solche Menschen vor oder in den Zellen befanden, solange sie von den ehrlicheren Bürgern ferngehalten wurden.
Vorausgesetzt, es gab überhaupt ehrliche Bürger.
Der Wächter zog aus Vaschers Sack einen länglichen, in weißes Leinen eingewickelten Gegenstand hervor. Der Mann stieß einen Pfiff aus, als er den Stoff auswickelte und ein langes, dünnes Schwert in einer silbernen Scheide enthüllte. Der Griff war vollkommen schwarz. »Wo hat er das wohl geklaut?«
Der Hauptwächter sah Vascher an und fragte sich vermutlich, ob Vascher so etwas wie ein Adliger war. Auch wenn Hallandren keinen Adelsstand besaß, gab es in vielen angrenzenden Königreichen Grafen und Gräfinnen. Doch welcher Graf würde einen graubraunen Mantel tragen, der an vielen Stellen eingerissen war? Welcher Graf hatte Prellungen von einer Tavernenschlägerei, einen Stoppelbart und Stiefel, denen man den jahrelangen Gebrauch ansah? Der Wächter wandte sich ab; anscheinend war er davon überzeugt, dass Vascher kein Adliger war.
Er hatte Recht. Und gleichzeitig hatte er Unrecht.
»Ich will das sehen«, sagte der Anführer der Wächter und ergriff das Schwert. Er grunzte, denn offensichtlich überraschte ihn das Gewicht der Waffe. Er drehte es hin und her und bemerkte den Verschluss, der die Scheide mit dem Griff verband und ein Ziehen der Klinge verhinderte. Er öffnete den Verschluss.
Die Farben im Raum wurden kräftiger. Sie wurden nicht heller – nicht so wie die Weste des Wächters, als er an Vascher herangetreten war. Nein, sie wurden stärker. Dunkler. Rot wurde zu Weinrot. Gelb verhärtete sich zu Gold. Blau näherte sich Marineblau an.
»Sei vorsichtig, mein Freund«, sagte Vascher sanft. »Dieses Schwert ist gefährlich.«
Der Wächter schaute auf. Es war ganz still im Raum. Dann schnaubte der Wachmann und schritt von Vaschers Zelle fort; das Schwert hielt er noch immer in der Hand. Die anderen beiden folgten ihm mit Vaschers Reisesack; sie betraten die Wachkammer am Ende des Raumes.
Mit einem dumpfen Knall wurde die Tür geschlossen. Sofort kniete Vascher neben dem Strohbündel nieder und zog eine Handvoll kräftiger Halme heraus. Er zog am Saum Fäden aus seinem Mantel und band das Stroh zur Gestalt eines kleinen Menschen mit büscheligen Armen und Beinen von insgesamt etwa drei Zoll Länge zusammen. Er zupfte sich ein Haar aus seinen Brauen, befestigte es am Kopf der Strohpuppe, griff dann in seinen Stiefel und zog einen leuchtend roten Schal hervor.
Dann hauchte Vascher.
Es floss aus ihm heraus, trieb in der Luft, war durchscheinend und doch strahlend, wie die Farbe von Öl, das in der Sonne auf dem Wasser glitzerte. Vascher spürte, wie es aus ihm herausströmte: der biochromatische Hauch, wie ihn die Gelehrten bezeichneten. Die meisten Menschen nannten ihn einfach nur Hauch. Jeder Mensch hatte einen. Oder zumindest war es in der Regel so. Ein Mensch, ein Hauch.
Vascher hingegen besaß etwa fünfzig Hauche – gerade genug, um die Erste Erhebung zu erreichen. Er fühlte sich armselig, weil er nur noch so wenig hatte, aber die meisten Menschen würden dies als einen großen Schatz betrachten. Doch selbst das Erwecken einer so kleinen Figur aus organischem Material – das einen Teil seines eigenen Körpers als Konzentrationspunkt besaß – kostete ihn ungefähr die Hälfte seiner Hauche.
Die kleine Strohpuppe zuckte zusammen und saugte den Hauch in sich ein. Die Hälfte des leuchtend roten Schals verblasste und wurde grau. Vascher beugte sich hinunter, stellte sich vor, was er der Figur befehlen wollte, und beendete den letzten Schritt des Prozesses, indem er das Kommando gab.
»Hol die Schlüssel.«
Die Strohperson stand auf, sah Vascher an und hob die einzelne Braue.
Vascher deutete auf den Wächterraum. Von dort hörte er plötzliche Rufe des Erstaunens.
Es bleibt nicht mehr viel Zeit, dachte er.
Die Strohgestalt rannte über den Boden, sprang hoch und zwischen den Gitterstäben hindurch. Vascher zog seinen Mantel aus und legte ihn auf den Boden. Er bildete den vollkommenen Umriss eines Menschen, hatte dort Risse, wo sich an Vaschers Körper die Narben befanden, und Löcher in der Kapuze, so dass sie wie Vaschers Augen aussahen. Je näher ein Gegenstand der menschlichen Form kam, desto weniger Hauch benötigte man, um ihn zu erwecken.
Vascher beugte sich noch tiefer hinunter und versuchte dabei nicht an die Zeit zu denken, in der er genug Hauch in sich gehabt hatte, um etwas ohne Berücksichtigung der Form und ohne Konzentrationspunkt erwecken zu können. Das war eine andere Zeit gewesen. Er zuckte zusammen, riss sich ein Haarbüschel aus und verteilte es über der Kapuze des Mantels.
Erneut hauchte er.
Es bedurfte des gesamten Rests seiner Hauche. Als sie aus ihm gewichen waren – und der Mantel erbebte und der Schal den Rest seiner Farbe verloren hatte –, fühlte sich Vascher … unwirklicher. Es war nicht lebensbedrohlich, wenn man jeden Hauch verlor. Die überzähligen Hauche, die Vascher benutzt hatte, hatten früher anderen Menschen gehört. Vascher wusste nicht, wer sie gewesen waren; er hatte die Hauche nicht persönlich eingesammelt. Man hatte sie ihm gegeben. Aber so war es natürlich immer. Es war unmöglich, einen Hauch durch Gewalt an sich zu nehmen.
Als der letzte Hauch ihn verlassen hatte, veränderte er sich. Die Farben erschienen ihm nicht mehr so hell. Er konnte das geschäftige Treiben der Menschen in der Stadt über ihm nicht mehr spüren; normalerweise war die Verbindung mit ihnen etwas Selbstverständliches. Es war die Aufmerksamkeit, die jeder Mensch für den anderen empfand – das, was einem in der Benommenheit des Schlafes verriet, dass soeben jemand das Zimmer betreten hatte. Bei Vascher war dieser Sinn um das Fünfzigfache verstärkt gewesen.
Und nun war er verschwunden. Aufgesaugt von dem Mantel und der Strohgestalt, denen er Kraft verliehen hatte.
Der Mantel zuckte. Vascher beugte sich zu ihm herunter. »Beschütze mich«, befahl er, und der Mantel wurde reglos. Vascher stand auf und zog ihn wieder an.
Die Strohpuppe kehrte zum vergitterten Fenster zurück. Sie trug einen großen Schlüsselring mit sich. Die Strohfüße der Gestalt waren rot gefleckt. Die Scharlachfarbe des Blutes erschien Vascher nun sehr matt.
Er ergriff die Schlüssel. »Danke«, sagte er. Er bedankte sich immer bei ihnen. Er wusste nicht warum, vor allem in Anbetracht dessen, was er als Nächstes tat. »Dein Hauch zu meinem«, befahl er und berührte die Strohpuppe an der Brust. Sofort fiel sie von den Gitterstäben herunter – das Leben war ihr ausgesaugt worden –, und Vascher hatte seinen Hauch zurückerhalten. Das vertraute Gefühl der Achtsamkeit kehrte zurück – es war das Wissen der Verbundenheit und des Eingefügtseins. Er hatte den Hauch nur deshalb zurücknehmen können, weil er die Kreatur selbst erweckt hatte – Erweckungen dieser Art waren nur selten von langer Dauer. Er benutzte seinen Hauch wie eine Reserve; er teilte ihn aus und holte ihn wieder zurück.
Im Vergleich zu dem, was er früher besessen hatte, waren fünfundzwanzig Hauche eine lächerlich geringe Anzahl. Doch verglichen mit nichts schien es unendlich viel zu sein. Er zitterte vor Befriedigung.
Die Schreie aus dem Wachzimmer erstarben allmählich. Es wurde still im Verlies. Er musste in Bewegung bleiben.
Vascher griff zwischen den Stäben hindurch und benutzte die Schlüssel, um seine Zelle aufzusperren. Er drückte gegen die massive Tür, eilte hinaus in den Raum und ließ die Strohgestalt unbeachtet hinter ihm auf dem Boden liegen. Er ging nicht zum Wächterzimmer – und dem Ausgang dahinter –, sondern wandte sich nach Süden und drang tiefer in den Kerker ein.
Das war der unsicherste Teil seines Plans. Es war leicht gewesen, eine Taverne zu finden, in der die Priester der Schillernden Färbungen verkehrten. Genauso leicht war es gewesen, dort eine Schlägerei vom Zaun zu brechen und einige der Priester niederzuschlagen. In Hallandren wurden die Vertreter der Religion sehr ernst genommen, und daher hatte sich Vascher nicht die übliche Haftstrafe in einem örtlichen Gefängnis eingehandelt, sondern eine Reise in die Kerker des Gottkönigs.
Da er wusste, welche Art von Männern diese Kerker bewachten, war er davon ausgegangen, dass sie versuchen würden, sein Schwert Nachtblut blankzuziehen. Das hatte ihm die Ablenkung verschafft, die er benötigt hatte, um an die Schlüssel zu gelangen.
Doch nun kam der unvorhersehbare Teil.
Vascher blieb stehen; sein erweckter Mantel raschelte. Schnell hatte er die Zelle gefunden, die er suchte, denn um sie herum hatte sich ein großer Fleck ausgebreitet, aus dem alle Farbe gewichen war. Wände und Türen zeigten dort ein mattes Grau. Das war der rechte Ort, um einen Erwecker gefangen zu halten, denn das Fehlen aller Farben bedeutete die Unmöglichkeit jeglicher Erweckung. Vascher trat an die Tür heran und schaute durch die Gitterstäbe. Drinnen hing ein nackter, an den Armen angeketteter Mann von der Decke herunter. Seine Farben leuchteten grell in Vaschers Augen: die Haut ein reines Hellbraun, seine Blutergüsse grelle Flecken von Blau und Violett.
Der Mann war geknebelt. Eine weitere Vorsichtsmaßnahme. Zur Erweckung wurden drei Dinge benötigt: ein Hauch, Farbe und ein Befehl. Manche nannten es die Schwingungen und die Färbungen. Es waren die Schillernden Töne, die Beziehung zwischen Farbe und Klang. Der Erwecker musste einen klaren und deutlichen Befehl in seiner Muttersprache äußern. Jedes Stottern und jede falsche Betonung machte das Erwecken unwirksam; zwar würde dann der Hauch ausgesaugt werden, aber der Gegenstand war zu keinerlei Handlung imstande.
Vascher benutzte den Schlüsselring, um die Zellentür aufzusperren, und trat nach drinnen. Die Aura dieses Mannes machte alle Farben, die nahe an ihn herankamen, erheblich heller. Eine so starke Aura konnte jeder bemerken, auch wenn es für jemanden, der die Erste Erhebung erreicht hatte, viel leichter war.
Es war nicht die stärkste biochromatische Aura, die Vascher je gesehen hatte – diese besaßen die Zurückgekehrten, die hier in Hallandren als Götter verehrt wurden. Dennoch war das Biochroma des Gefangenen sehr beeindruckend und viel, viel stärker als Vaschers eigenes. Der Gefangene hatte noch ungeheuer viele Hauche in sich. Hunderte und Aberhunderte.
Der Mann schwang an seinen Fesseln herum und betrachtete Vascher. Der Wassermangel hatte seine Lippen blutig aufgerissen. Vascher hielt nur kurz inne, hob dann die Hand und zog dem Gefangenen den Knebel aus dem Mund.
»Du«, flüsterte der Eingekerkerte und hustete dabei leise. »Bist du hier, um mich zu befreien?«
»Nein, Vahr«, sagte Vascher gelassen. »ich bin hier, um dich zu töten.«
Vahr schnaubte verächtlich. Die Gefangenschaft hatte ihm schwer zugesetzt. Als Vascher ihn zuletzt gesehen hatte, war Vahr recht stämmig gewesen. Seinem inzwischen ausgemergelten Körper nach zu urteilen, war er schon seit einiger Zeit ohne Nahrung. Die Schnitte, Prellungen und Brandmale auf seiner Haut waren frisch.
Sowohl die Folter als auch der gehetzte Blick in Vahrs geschwollenen Augen bezeugten eine tiefe Wahrheit. Ein Hauch konnte nur durch freiwilligen, absichtlichen Befehl übertragen werden. Doch es gab gewisse Möglichkeiten, einen Mann zu einem solchen Befehl anzuspornen.
»Also richtest du mich genauso wie jeder andere auch«, krächzte Vahr.
»Mir geht es nicht um deine fehlgeschlagene Rebellion. Ich will nur deine Hauche haben.«
»Du und der ganze Hof von Hallandren.«
»Ja. Aber du wirst sie keinem der Zurückgekehrten geben. Du wirst sie mir übertragen. Im Austausch für deine Tötung.«
»Das scheint mir nicht gerade ein gutes Geschäft zu sein.« In Vahr steckte eine Härte – eine Gefühllosigkeit –, die Vascher nicht bemerkt hatte, als sie sich vor vielen Jahren zum letzten Mal begegnet waren.
Seltsam, dachte Vascher, dass ich nach all der Zeit etwas an dem Mann finde, womit ich mich identifizieren kann.
Vascher hielt vorsichtig Abstand zu Vahr. Nun, da der Mann reden konnte, konnte er auch den Dingen gebieten. Doch er berührte nichts außer den Metallketten, und Metall war nur sehr schwer zu erwecken. Es war nie lebendig gewesen und weit von der äußeren Gestalt eines Menschen entfernt. Selbst als sich Vascher auf der Höhe seiner Macht befunden hatte, war es ihm nur sehr selten möglich gewesen, Metall zu erwecken. Natürlich waren einige außerordentlich mächtige Erwecker in der Lage, auch Gegenstände lebendig zu machen, die sie nicht berührten, sondern nur mit dem Klang ihrer Stimme belegten. Doch dazu war die Neunte Erhebung nötig. Sogar Vahr hatte nicht so viele Hauche in sich. Vascher kannte nur eine Person, die dazu in der Lage war: Der Gottkönig persönlich.
Das bedeutete, dass Vascher vermutlich nichts zustoßen konnte. Vahr besaß einen großen Vorrat an Hauch, aber nichts, das er erwecken konnte. Vascher ging um den angeketteten Mann herum und empfand es als sehr schwierig, ihm so etwas wie Mitgefühl zu zeigen. Vahr hatte sein Schicksal verdient. Doch die Priester würden ihn nicht sterben lassen, solange er noch so viel Hauch in sich trug, denn dieser Schatz würde verloren sein, wenn Vahr starb. Verschwunden. Auf immer.
Nicht einmal die Regierung von Hallandren – die so strenge Gesetze über den Kauf und die Veräußerung von Hauch erlassen hatte – konnte sich einen solchen Schatz durch die Finger schlüpfen lassen. Sie gierte so sehr danach, dass sie dafür sogar die Hinrichtung eines derart berüchtigten Verbrechers wie Vahr aufschob. Im Nachhinein würden sich die Regierungsmitglieder vorwerfen, ihn nicht besser bewacht zu haben.
Doch schließlich hatte Vascher zwei Jahre auf eine solche Gelegenheit gewartet.
»Also?«, fragte Vahr.
»Gib mir deinen Hauch, Vahr«, sagte Vascher und trat vor.
Vahr schnaubte noch einmal. »Ich bezweifle, dass du genauso geschickt wie die Folterer des Gottkönigs bist, Vascher – und denen widerstehe ich jetzt schon seit zwei Wochen.«
»Du wärest überrascht. Aber das spielt hier keine Rolle. Du wirst mir deinen Hauch geben. Du weißt, dass du nur zwei Möglichkeiten hast. Entweder gibst du ihn mir, oder du gibst ihn den anderen.«
Vahr hing mit den Handgelenken in den Ketten und drehte sich langsam. Schweigend.
»Du hast nicht viel Zeit zum Nachdenken«, sagte Vascher. »Bald wird jemand herausfinden, dass die Wachen draußen tot sind. Dann wird man Alarm schlagen. Ich werde dich hier zurücklassen, du wirst wieder gefoltert werden und irgendwann deinen Widerstand aufgeben. Dann wird all die Macht, die du gesammelt hast, auf die Leute übergehen, die du unbedingt vernichten wolltest.«
Vahr starrte den Boden an. Vascher ließ ihn noch einige Augenblicke hängen und erkannte, dass ihm seine Lage durchaus bewusst war. Dann hob Vahr den Blick und sah Vascher an. »Das Ding, das du mit dir herumträgst … Ist es hier? Hier in der Stadt?«
Vascher nickte.
»Die Schreie, die ich vorhin gehört habe … Hat es sie verursacht?«
Vascher nickte abermals.
»Wie lange wirst du in T’Telir bleiben?«
»Einige Zeit. Ein Jahr vielleicht.«
»Wirst du es gegen sie einsetzen?«
»Meine Absichten gehen nur mich allein etwas an, Vahr. Kommen wir ins Geschäft? Ein rascher Tod für deine Hauche. Das verspreche ich dir. Deine Feinde werden sie nicht bekommen.«
Vahr wurde still. Schließlich flüsterte er: »Sie gehören dir.«
Vascher streckte den Arm aus und legte die Hand auf Vahrs Stirn. Er achtete sorgsam darauf, dass kein Teil seiner Kleidung die Haut des Mannes berührte, damit Vahr daraus keine Farbe zum Erwecken ziehen konnte.
Vahr bewegte sich nicht. Er wirkte benommen. Doch dann, als Vascher schon befürchtet hatte, der Gefangene könnte es sich anders überlegt haben, hauchte Vahr aus. Alle Farbe wich von ihm. Das wunderschöne Schillern, die Aura, die ihm trotz seiner Wunden und der Ketten eine so große Majestät verliehen hatte, floss aus seinem Mund, hing in der Luft und schimmerte wie Nebel. Vascher sog sie in sich ein und schloss dabei die Augen.
»Mein Leben zu deinem«, gebot Vahr mit einer Spur von Verzweiflung in der Stimme. »Mein Hauch werde zu deinem.«
Der Hauch strömte in Vascher, und alles erzitterte. Sein brauner Mantel schien nun von einer tiefen und vollen Farbe zu sein. Das Blut auf dem Boden war grellrot, als ob es in Flammen stünde. Sogar Vahrs Haut stellte nun ein Meisterwerk der Farben dar; ihre Oberfläche war durch tiefschwarze Haare, blaue Blutergüsse und leuchtend rote Schnitte gezeichnet. Es war viele Jahre her, seit Vascher sich zum letzten Mal so … lebendig gefühlt hatte.
Er keuchte, fiel auf die Knie, als es ihn überwältigte, und musste sich mit der einen Hand auf dem Steinboden abstützen, damit er nicht vornüberkippte. Wie habe ich nur ohne das leben können?
Er wusste, dass seine Sinne nicht wirklich schärfer geworden waren, doch er fühlte sich so viel wacher und reger. Er bemerkte die Schönheit der Gefühle. Als er den Steinboden berührte, wunderte er sich über dessen Rauheit. Und der Wind, der durch das schmale Kerkerfenster hoch droben blies – war er schon immer so melodisch gewesen? Wieso war Vascher das bisher entgangen?
»Halte deinen Teil des Abkommens ein«, sagte Vahr. Vascher bemerkte die Färbungen in seiner Stimme, die Schönheit jeder einzelnen davon. Wie nahe waren sie an der vollkommenen Harmonie! Vascher hatte das absolute Gehör erlangt. Das war eine Gabe, die jeder erhielt, wenn er die Zweite Erhebung erreicht hatte. Es war gut, sie wieder zu besitzen.
Natürlich hätte sich Vascher sofort zur Fünften Erhebung aufschwingen können, wenn er es gewünscht hätte. Doch das würde gewisse Opfer erfordern, die er nicht bringen wollte. Daher zwang er sich, es auf die altmodische Art zu tun, indem er Hauche von Menschen wie Vahr sammelte.
Vascher richtete sich auf und zog den farblosen Schal hervor, den er vorhin benutzt hatte. Er warf ihn über Vahrs Schulter und hauchte.
Er machte sich nicht die Mühe, dem Schal einen menschlichen Umriss zu geben, und er brauchte weder ein Haar noch einen Hautfetzen von sich, um einen Konzentrationspunkt zu schaffen – allerdings musste er die Farbe aus seinem Hemd ziehen.
Vascher blickte in Vahrs ergebene Augen.
»Erdrossele alles«, gebot Vascher und berührte den zitternden Schal mit den Fingern.
Sofort wand er sich, zuckte und sog eine große, jetzt aber unbedeutende Zahl von Hauchen aus Vascher. Rasch legte sich der Schal um Vahrs Hals, zog sich zusammen und erstickte ihn. Vahr kämpfte nicht, keuchte nicht, sondern beobachtete Vascher mit hasserfülltem Blick, bis ihm die Augen aus den Höhlen quollen und er starb.
Hass. Zu seiner Zeit hatte Vascher genug davon erfahren. Still streckte er den Arm aus, holte die Hauche aus dem Schal zurück und ließ Vahr in seiner Zelle baumelnd zurück. Leise lief Vascher durch das Gefängnis und wunderte sich über die Farbe der Hölzer und Steine. Nach einigen Augenblicken bemerkte er eine neue Farbe in dem Korridor. Rot.
Er schritt um eine Blutpfütze herum, die sich langsam den leicht geneigten Kerkerboden hinabbewegte, und betrat den Wächterraum. Die drei Wachen waren tot. Einer von ihnen saß auf einem Stuhl. Nachtblut, das größtenteils noch in seiner Scheide steckte, hatte sich durch die Brust des Mannes gebohrt. Über der silbernen Scheide war etwa ein Zoll der schwarzen Klinge sichtbar.
Vorsichtig schob Vascher die Waffe wieder ganz in die Scheide zurück. Dann sicherte er den Verschluss.
Heute war ich sehr gut, sagte eine Stimme in seinem Kopf.
Vascher gab dem Schwert keine Antwort.
Ich habe sie alle getötet, fuhr Nachtblut fort. Bist du nicht stolz auf mich?
Vascher nahm die Waffe an sich. Er war an ihr ungewöhnlich hohes Gewicht gewöhnt und trug sie mit nur einer Hand. Er holte seinen Reisesack und warf ihn sich über die Schulter.
Ich wusste, dass es dich beeindruckt, sagte Nachtblut und klang dabei sehr zufrieden.