DAS BUCH
Die alten Heldenlieder sind gesungen, und eine neue Zeit bricht an. Eine Zeit, in der neue Kriege drohen, neue Bündnisse geschmiedet und alte Feindschaften erneuert werden. Die Niederbrenner haben das Königreich der Union in eine blutige Revolution gestürzt. Jetzt werden die Schicksalskarten neu gemischt – für den abgesetzten König, der nun Bürger Orso genannt wird, genauso wie für Bürgerin Savine und für Rikke, der im Norden die Verbündeten ausgehen. Eine neue Ordnung bricht an, in der Silber wichtiger ist als Stahl …
DER AUTOR
Joe Abercrombie arbeitet als freischaffender Fernsehredakteur und Autor. Mit seinen weltweit erfolgreichen »Klingen«-Romanen hat er sich auf Anhieb in die Herzen aller Fans von packender, düsterer Fantasy geschrieben und schafft es regelmäßig auf die internationalen Bestsellerlisten. Joe Abercrombie lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Bath.
Mehr über Autor und Werk auf: joeabercrombie.com
JOE ABERCROMBIE
Silberklingen
Roman
Aus dem Englischen
von Kirsten Borchardt
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der Originalausgabe:
THE WISDOM OF CROWDS
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Deutsche Erstausgabe 11/2021
Redaktion: Joern Rauser
Copyright © 2021 by Joe Abercrombie
Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design,
unter Verwendung von Motiven von shutterstock
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-16475-1
V001
@HeyneFantasySF
FÜR LOU,
MIT EINER »GRIMMIG-DUNKLEN« UMARMUNG
ERSTER TEIL
»Die Großen erscheinen nur groß, weil wir auf Knien liegen. Lasst uns aufstehen!«
ELYSÉE LOUSTALLOT
Wissen Sie was, Tunny?«
Die leicht blutunterlaufenen Augen des Korporals glitten zu Orso hinüber. »Euer Majestät?«
»Ich muss zugeben, dass ich gerade ziemlich zufrieden mit mir bin.«
Die Standhaften-Standarte mit dem sich aufbäumenden weißen Pferd und der glitzernden, goldenen Sonne flatterte leise in der leichten Brise; den Namen Stoffenbeck hatte man bereits als jüngsten der ruhmreichen Siege in Stickerei darauf verewigt. Wie viele Hochkönige waren schon triumphierend unter diesem Tuchfetzen dahingeritten? Und nun zählte Orso, obwohl er zahlenmäßig unterlegen, viel geschmäht und allgemein abgeschrieben gewesen war, zu ihnen. Der Mann, den die Pamphlete gern als Hurenprinz bezeichnet hatten, war wie ein herrlicher Schmetterling aus einer ekligen Larve gekrochen und stand nun da wie der neue Kasamir! Das Leben nahm schon seltsame Wendungen. Vor allem das Leben von Königen.
»Sie sollten auch verdammt noch mal zufrieden mit sich sein, Euer Majestät«, tönte Marschall Rucksted, und das kam aus berufenem Mund; mit Selbstzufriedenheit kannte er sich bestens aus. »Sie haben Ihre Feinde abseits des Schlachtfelds mit kluger Strategie und auf dem Schlachtfeld in mutigem Kampf überwältigt und den schlimmsten Verräter gefangen genommen!« Und er warf einen selbstzufriedenen Blick über seine Schulter.
Leo dan Brock, jener Held, der noch vor wenigen Tagen so groß erschienen war, dass ihm die Welt zu klein gewesen wäre, steckte jetzt in einem elenden Wagen mit vergitterten Fenstern, der hinter Orsos Tross hergezuckelt kam. Aber inzwischen war auch weit weniger an ihm dran als früher. Sein zertrümmertes Bein war, ebenso wie sein zertrümmerter Ruf, auf dem Schlachtfeld zurückgeblieben.
»Sie haben gesiegt, Euer Majestät«, piepte Bremer dan Gorst, der dann schnell den Mund wieder zuklappte und grimmig zu den Türmen und Schornsteinen Aduas hinübersah, denen sie sich unaufhaltsam näherten.
»Das habe ich, nicht wahr?« Ein ungezwungenes Lächeln glitt ganz von selbst über Orsos Züge. Er konnte sich kaum an das letzte Mal erinnern, dass er ganz spontan gelächelt hatte. »Der Junge Löwe, blutig geschlagen vom Jungen Lamm.« Sogar seine Kleidung schien besser zu sitzen als vor der Schlacht. Er rieb sich das Kinn; in den letzten Tagen hatte er vor lauter Aufregung vergessen, sich zu rasieren. »Sollte ich mir einen Bart wachsen lassen?«
Hildi schob sich das übergroße Käppi ein wenig in den Nacken und warf einen zweifelnden Blick auf seine Stoppeln. »Können Sie das denn?«
»Ganz richtig, in der Vergangenheit ist mir das oft nicht gelungen. Aber das könnte man von ziemlich vielen Dingen sagen, Hildi. Die Zukunft sieht plötzlich völlig anders aus!«
Zum ersten Mal in seinem Leben war er gespannt darauf, was ihm die Zukunft bringen mochte – ja, er freute sich sogar darauf, mit ihr zu ringen und sie in eine Form zu pressen, die ihm gefiel. Aus diesem Grund hatte er auch Marschall Forest zurückgelassen, um die schwer mitgenommene Kronprinz-Division mit viel Gebrüll wieder in Schwung zu bringen, und hatte sich schon einmal mit hundert Berittenen nach Adua aufgemacht. Er musste in die Hauptstadt zurückkehren und das Staatsschiff auf Kurs bringen. Nun, da die Rebellen geschlagen waren, konnte er endlich zu seiner großen Rundreise durch die Union aufbrechen und sich seinen Untertanen als königlicher Sieger präsentieren. Und dabei herausfinden, was er für sie tun und wie er Dinge verbessern konnte. Lächelnd dachte er darüber nach, welche Namen ihm die begeisterte Menge zurufen würde. Orso der Standhafte? Orso der Entschlossene? Orso der Unerschrockene, der Steinerne Wall von Stoffenbeck?
Er lehnte sich zurück, ließ sich leicht im Sattel schaukeln und atmete die kühle Herbstluft ein. Da ein frischer Wind aus Norden die Rauchnebel von Adua zum Meer blies, musste er anschließend nicht einmal husten.
»Jetzt endlich begreife ich, was die Leute meinen, wenn sie sagen, dass sie sich wie ein König fühlen.«
»Oh, darüber würde ich gar nicht so lange nachgrübeln«, sagte Tunny. »Ich bin mir sicher, Sie werden ruckzuck wieder das Gefühl haben, hilflos und verwirrt zu sein.«
»Ohne Zweifel.« Unwillkürlich sah Orso noch einmal zum Ende seiner Kolonne hinüber. Der verwundete Lord Gouverneur von Angland war nicht ihr einziger bedeutender Gefangener. Hinter dem Gefängniswagen ratterte die Kutsche dahin, in der Brocks hochschwangere Frau saß. War das Savines blasse Hand, die sich da an der Fensterfüllung festhielt? Beim bloßen Gedanken an ihren Namen zog sich in Orso alles zusammen. Als die einzige Frau, die er je geliebt hatte, erst einen anderen Mann heiratete und ihn dann betrog, hatte er sich nur zu gern der Vorstellung hingegeben, dass er sich niemals noch elender fühlen würde. Bis er dann herausgefunden hatte, dass sie seine Halbschwester war.
Der Geruch der Elendsquartiere, die sich planlos vor den Stadtmauern Aduas ausbreiteten, trug auch nicht gerade dazu bei, die Übelkeit zu vertreiben, die ihn plötzlich überkam. Er hatte sich vorgestellt, von lächelnden Bürgern begrüßt zu werden, von sommersprossigen Kindern, die kleine Unionsflaggen schwenkten, und von hübschen Frauen, die parfümierte Blütenblätter von Balkonen warfen. Zwar hatte er über derartige patriotische Gesten gern die Nase gerümpft, wenn sie für andere Sieger inszeniert wurden, aber nun hatte er sich doch darauf gefreut, selbst damit bedacht zu werden. Stattdessen jedoch blickten ihm zerlumpte Gestalten grimmig aus den Schatten hinterher. Eine Hure, die an einem Hühnerbein kaute, lachte aus einem schiefen Fenster. Ein schlecht gelaunter Bettler spuckte demonstrativ auf die Straße, als Orsos Pferd vorübertrottete.
»Es wird immer Unzufriedene geben, Euer Majestät«, raunte Yoru Sulfur. »Fragen Sie nur meinen Meister. Niemand dankt ihm je für die vielen großen Anstrengungen, die er unternimmt.«
»Hmmm.« Obwohl Bayaz, soweit Orso sich erinnerte, stets mit äußerst unterwürfigem Respekt behandelt worden war. »Und wie geht er damit um?«
»Er ignoriert das.« Sulfur warf einen unbeteiligten Blick auf die Bewohner des Elendsviertels. »Als wären sie Ameisen.«
»Richtig. Lassen wir uns davon nicht die Laune verderben.« Aber dafür war es nun ein wenig zu spät. Der Wind schien plötzlich kühl zu sein, und Orso spürte schon wieder das vertraute, nervöse Kribbeln im Nacken.
Im Wagen wurde es sogar noch düsterer. Das Klappern der Räder entwickelte ein hallendes Echo. Hinter dem vergitterten Fenster sah Leo behauene Steine vorübereilen und erkannte, dass sie gerade durch eines der Stadttore Aduas fuhren. Er hatte davon geträumt, an der Spitze eines Triumphzugs wieder in die Hauptstadt zurückzukehren. Und nun nahm er diesen Weg in einem Gefängniswagen, der nach fauligem Stroh, Wunden und Schande roch.
Der Fußboden erzitterte und versetzte seinem Beinstumpf einen schmerzhaften Stich, der ihm die Tränen in die entzündeten Augen treten ließ. Was war er nur für ein Narr gewesen! Wie viele gute Gelegenheiten hatte er ausgeschlagen. Wie viele Chancen vertan. In wie viele Fallen war er gestolpert.
Als dieser verräterische Feigling Ischer anfing, von Rebellion zu quatschen, hätte er ihm gleich sagen sollen, dass er ihn am Arsch lecken konnte. Noch besser wäre es gewesen, er wäre sofort zu Savines Vater marschiert und hätte dem Alten Humpelfuß die Geschichte erzählt. Dann wäre er immer noch der meistgefeierte Held der Union gewesen. Der Kämpe, der den Großen Wolf besiegt hatte! Und nicht der Holzkopf, der sich dem Jungen Lamm geschlagen geben musste.
Er hätte gegenüber König Jappo seinen Stolz herunterschlucken sollen. Er hätte katzbuckeln und flirten und den Diplomaten spielen, ihm mit leisem Lachen Westport anbieten und diesen wertlosen Wurmfortsatz der Union gegen den ganzen Rest eintauschen sollen, um dann mit Unterstützung styrischer Truppen in Midderland anzukommen.
Er hätte seine Mutter mitbringen sollen. Wenn er daran dachte, wie sie ihn am Hafen angefleht hatte, dann hätte er sich jetzt am liebsten die Haare ausgerissen. Sie hätte dieses fürchterliche Durcheinander am Strand in Ordnung gebracht, nach einem ruhigen Blick auf die Landkarten das Terrain sondiert und die Männer zügig nach Süden gesandt, damit sie Stoffenbeck als Erste erreichten und den Feind zu einer Schlacht zwangen, die er doch nur hätte verlieren können.
Er hätte Orsos Einladung zum Dinner am Ende einer Lanze zurücksenden sollen, vor Sonnenuntergang mit allen Kräften angreifen und diesen lügnerischen Drecksack von dem höher gelegenen Gelände hinwegfegen sollen, um dann sofort, als sie sich zeigte, dessen Verstärkung zu vernichten.
Selbst dann, als Leos Streitkräfte am linken Flügel mit ihrem Kanonenangriff scheiterten und der rechte Flügel überrannt wurde, hätte er diesen letzten Angriff noch abbrechen können. Dann wären ihm wenigstens Antaup und Jin geblieben. Und sein Bein und sein Arm. Vielleicht hätte Savine irgendeine schlaue Vereinbarung aushandeln können. Immerhin war sie die ehemalige Geliebte des Königs. Nach dem, was Leo bei seiner eigenen Hinrichtung gesehen hatte, war sie wahrscheinlich sogar die jetzige. Und er konnte es ihr nicht einmal verübeln. Sie hatte ihm das Leben gerettet, oder etwa nicht? Was auch immer sein Leben noch wert sein mochte.
Schließlich war er ein Gefangener. Ein Verräter. Nur ein Krüppel.
Die Fahrt hatte sich holpernd verlangsamt. Von vorn hörte er Stimmen, Parolen wurden gerufen, erregte Rufe wurden laut. Mochten das König Orsos treue Untertanen sein, die erschienen waren, um seinen Sieg zu feiern? Nach einer Feier klang es allerdings nicht gerade.
Früher war der Übungsplatz Leos Tanzfläche gewesen. Jetzt war es eine Qual, das eine Bein, das ihm noch verblieben war, überhaupt nur auszustrecken, sodass er mit der gesunden Hand die Gitter am Fenster packen und sich daran emporziehen konnte. Als er den kühlen Wind auf dem Gesicht fühlte und auf eine Straße hinausspähte, die durch den Rauch der Gießereien in der Nähe düster verhangen war, kam der Wagen ruckelnd zum Stehen.
Seltsame Einzelheiten prägten sich ihm ein. Eingeschlagene Ladenfenster, aufgebrochene Türen, die in ihren Angeln hingen, und dann all der Abfall, der auf der Straße verteilt lag. Er vermutete, dass es sich bei dem Lumpenbündel in einem Hauseingang um einen schlafenden Obdachlosen handelte. Mit wachsender Sorge, die ihn die eigenen Schmerzen kurz vergessen ließ, kam ihm dann der beklemmende Verdacht, dass es sich vielleicht um eine Leiche handelte.
»Bei den Toten«, flüsterte er. Ein Lagerhaus war ausgebrannt, die verkohlten Dachsparren ragten wie die Rippen eines abgenagten Kadavers in die Höhe. Über die geschwärzte Häuserfront zog sich in drei Schritt hohen Buchstaben eine Parole:
Die Zeit ist reif.
Er drückte das Gesicht gegen das Gitter und versuchte, mehr von der Straße zu erhaschen. Hinter den Offizieren, Bediensteten und Rittern der Wacht auf ihren unruhigen Pferden drängten sich Gestalten vor einer Mauer, die mit stählernen Dornen besetzt war, und Banner erhoben sich über dem Pöbel wie Standarten über einem Regiment. Darauf prangten weitere Parolen: Faire Bezahlung für faire Arbeit und Nieder mit dem Geschlossenen Rat und Erhebt euch! Sie strömten der Kolonne des Königs bereits entgegen, begleitet von dem düsteren Grollen unterdrückten Zorns, Buhrufen und lauten Gehässigkeiten. Waren das … Maschinenstürmer?
»Bei den Toten«, flüsterte er wieder. Jetzt sah er auch Leute eine Seitenstraße hinunterkommen. In Arbeiterkleidung, mit geballten Fäusten. Sie rannten, offenbar jagten sie jemanden. Als sie die Flüchtigen erwischten, hagelte es Tritte und Schläge.
Weiter vorn erscholl ein bellender Ruf. Möglicherweise war das Rucksted. »Macht Platz, im Namen Seiner Majestät!«
»Mach gefälligst selbst Platz, du Wichser!«, fauchte ein halsloser Mann mit dichtem Bart.. Die Leute strömten jetzt aus den umliegenden Gässchen heran und vermittelten das beunruhigende Gefühl, die Kolonne werde eingekreist.
»Das ist der Junge Löwe!«, schrie jemand, und Leo hörte halbherzige Jubelrufe. Sein gutes Bein, das vor wenigen Tagen noch sein schlimmes Bein gewesen war, brannte zwar wie Feuer, aber er klammerte sich weiter an die Gitterstäbe, während sich die Menschen um den Wagen drängten und ihm ihre Hände entgegenstreckten.
»Der Junge Löwe!«
Völlig hilflos sah Savine durch das Kutschenfenster zu, hatte eine Hand auf ihren enormen, gewölbten Bauch gelegt und hielt mit der anderen Zuris Finger umklammert, während sich Gesindel um Leos Gefängniswagen scharte wie Schweine um einen Trog. Sie konnte kaum einschätzen, ob sie ihn befreien oder ermorden wollten. Wahrscheinlich wussten sie das selbst nicht.
Ihr wurde bewusst, dass sie sich nicht mehr erinnern konnte, wie es sich anfühlte, keine Angst zu haben.
Wahrscheinlich hatte es mit einem Streik begonnen. Savine kannte jede Fabrik in Adua, und das hier war die Papiermühle von Foss dan Harber, ein Unternehmen, in das zu investieren sie schon zweimal abgelehnt hatte. Die Profite waren zwar verlockend, aber Harber stand in einem üblen Ruf. Er war einer von diesen brutalen, ausbeuterischen Fabrikbesitzern, die es allen anderen schwer machten, ihre Arbeiter anständig auszunutzen. Wahrscheinlich hatte es mit einem Streik begonnen, der sich dann offenbar, wie es bei Streiks so schnell geschah, in etwas wesentlich Hässlicheres verwandelt hatte.
»Zurück!«, brüllte ein junger Offizier und schlug mit der Reitgerte in die Menge. Ein berittener Gardist riss einen Mann an der Schulter beiseite und schlug einem weiteren seinen Schild über den Kopf. Rot leuchtendes Blut schimmerte, als der Getroffene stürzte.
»Oh«, sagte Savine, deren Augen sich weiteten.
Jemand schlug den Offizier mit einem Stock und schubste ihn fast aus dem Sattel.
»Warten Sie!« Sie glaubte, dass es Orsos Stimme war. »Warten Sie!« Aber es half nichts. Der König der Union war plötzlich ebenso machtlos wie sie. Von allen Seiten drängten Menschen heran, ein Meer wütender Gesichter, geschwenkter Plakate und geballter Fäuste. Der Lärm ließ sie kurz an Valbeck denken, an den Aufstand, aber die schreckliche Gegenwart war schlimm genug, auch ohne dass sie sich an die schreckliche Vergangenheit erinnern musste.
Weitere Soldaten trieben ihre Pferde auf die Leute zu. Ein Schrei erstarb, als jemand niedergeritten wurde.
»Arschlöcher!«
Dann erklang ein leises, metallisches Klingen, als ein Säbel gezogen wurde.
»Schützt den König!«, ertönte Gorsts quiekender Schrei.
Ein Soldat schlug mit dem Knauf seines Säbels zu, dann mit der flachen Klinge, riss dabei einem Mann die Mütze vom Kopf und stieß ihn aufs Pflaster. Einer der anderen Ritter der Wacht war weniger achtsam. Stahl blitzte auf, ein heller Schrei erklang. Jetzt sah Savine die Klinge niederfahren; sie hinterließ eine klaffende Wunde in der Schulter eines Mannes. Etwas prallte gegen die Seitenwand der Kutsche, und sie fuhr zusammen.
»Gott steh uns bei«, flüsterte Zuri.
Savine starrte sie an. »Tut Er das denn jemals?«
»Ich gebe die Hoffnung nicht auf.« Zuri legte Savine schützend den Arm um die Schultern. »Kommen Sie vom Fenster weg …«
»Wohin denn?«, flüsterte Savine, die sich an ihre Zofe drückte.
Draußen herrschte nun völliges Chaos. Ein berittener Soldat und eine rotgesichtige Frau rangen um das eine Ende eines Banners, auf dem Alle gleich zu lesen war, während das andere Ende in einem Durcheinander aus Armen und Gesichtern verschwand. Ein Ritter der Wacht wurde vom Pferd gezogen und ging in der Menge unter wie ein Matrose in stürmischer See. Sie waren überall, drängten sich zwischen die Pferde, schubsten, krallten sich fest und kreischten.
Mit einem Krachen barst das Kutschenfenster, und Savine fuhr zurück, als Glassplitter ins Innere prasselten.
»Verräter!«, schrie jemand. War sie damit gemeint? Oder Leo? Ein Arm schob sich hindurch und angelte nach irgendetwas, das sich greifen ließ. Ungeschickt schlug Savine mit ihrer Faust danach, wobei sie sich nicht sicher war, was schlimmer sein würde – vom Pöbel aus der Kutsche gezerrt oder von der Inquisition ins Haus der Befragungen verschleppt zu werden.
Zuri wollte gerade aufstehen, als draußen etwas aufblitzte. Tropfen klatschten auf Savines Wange. Rote Flecken auf ihrem Kleid. Der Arm rutschte weg. Feuer flammte plötzlich hinter dem Fenster auf, und sie krümmte sich zusammen, beide Arme um den Bauch geschlungen, als ein scharfer Schmerz durch ihre Eingeweide fuhr.
»Gott steh uns bei«, hauchte sie. Würde sie hier ihr Kind gebären, auf dem mit Glassplittern bestreuten Boden einer Kutsche mitten in einem Aufstand?
»Ihr Arschlöcher!« Ein großer Mann mit einer Schürze hatte die Zügel des Pferdes gepackt, auf dem das blonde Mädchen saß, das Orso als Dienerin beschäftigte und ihr früher seine Botschaften überbracht hatte, vor tausend Jahren. Der Kerl umklammerte ihr Bein, und sie trat nach ihm, spuckte und fauchte. Savine sah, wie Orso sein Pferd umwandte und dem Mann auf die beginnende Glatze schlug. Er fasste nach Orso, wollte ihn aus dem Sattel ziehen. »Ihr …«
Sein Schädel zerplatzte, und Rot spritzte zu allen Seiten. Savine sah mit starrem Blick zu. Sie hätte schwören können, dass dieser Sulfur den Angreifer mit der offenen Hand berührt und ihm dabei halb den Kopf abgerissen hatte.
Gorst sprengte an ihnen vorüber, bleckte die Zähne, schlug links und rechts mit dem Säbel nach dem Pöbel und fällte einen nach dem anderen. »Der König!«, quiekte er. »Der König!«
»Zum Agriont!«, bellte jemand. »Auf keinen Fall anhalten, für nichts und niemanden!«
Mit einem Ruck setzte sich die Kutsche in Bewegung. Savine wäre vom Sitz gefallen, hätte Zuri nicht schnell den Arm ausgestreckt. Sie klammerte sich verzweifelt an den leeren Fensterrahmen und biss sich auf die Lippe, als wieder ein Stich durch ihren schweren Bauch ging.
Sie sah, wie die Leute auseinanderstoben. Hörte entsetzte Schreie. Die Kutsche streifte einen Menschen und schleuderte ihn gegen die Tür, bevor er stürzte und unter die Hufe eines vorüberpreschenden Heroldsritters geriet. Einige Strähnen blonden Haars blieben an dem zerstörten Rahmen hängen.
Wagenräder rumpelten über ein zertrampeltes Schild, fuhren über Pamphlete, die mit flatternden Ecken im Matsch der feuchten Straße klebten. Der Gefängniswagen, dessen Räder Funken auf den Pflastersteinen schlugen, ratterte voran, um ihn herum panische Pferde, peitschende Mähnen, schnalzende Geschirre. Etwas stieß klappernd gegen die andere Seite der Kutsche, und dann waren sie vorüber, ließen Harbers Fabrik und die revoltierenden Arbeiter hinter sich zurück. Kalter Wind fasste ins Kutschenfenster. Savines Herz hämmerte. Ihre Hand, die immer noch am Fenster lag, war eiskalt, aber ihr Gesicht brannte, als hätte jemand sie geohrfeigt. Wie konnte Zuri neben ihr so ruhig bleiben? Das Gesicht der Zofe war derart gefasst, ihr Arm lag so fest um Savine. Das Kind trat, während die Kutsche schaukelte und ruckelte. Immerhin lebte es. Ja, es lebte.
Vor dem Fenster sah sie Lordkanzler Hoff, der sich an die Zügel klammerte; seine Amtskette hatte sich verwickelt und fest um den roten Hals geschlungen. Sie sah den alten, grauhaarigen Standartenträger des Königs, der die Fahnenstange umklammerte, damit die Sonne der Union über ihnen flatterte, mit einem fettigen Fleck auf dem goldenen Tuch.
Straßen glitten vorüber, so vertraut, und doch so fremd. Diese Stadt hatte einmal ihr gehört. Niemand war so bewundert, so beneidet worden wie sie. Oder so sehr gehasst, was sie immer als das einzig ehrliche Kompliment betrachtet hatte. Gebäude zogen vorbei. Gebäude, die sie kannte. Die ihr zum Teil sogar gehörten. Oder einmal gehört hatten.
Das würde jetzt alles vorbei sein.
Sie kniff die Augen zusammen. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie es sich anfühlte, keine Angst zu haben.
Noch wusste sie, wie es gewesen war, als sie Leos Ring angenommen hatte, und wie sich der Agriont mit all seinen kleinen Menschen zu ihren Füßen ausgestreckt hatte. Ihnen hatte die Zukunft gehört. Wie war es ihnen nur gelungen, das alles so gründlich zu zerstören? Sein Leichtsinn oder ihr Ehrgeiz hätten das allein nicht bewerkstelligen können. Aber wie zwei Chemikalien, die für sich genommen allenfalls ein wenig giftig gewesen wären, hatten sie zusammen eine schwer berechenbare Sprengkraft entwickelt, die sowohl ihr Leben wie auch das Tausender anderer in Stücke gerissen hatte.
Die Schnittwunde auf ihrer Kopfhaut juckte unaufhörlich unter dem Verband. Vielleicht wäre es gnädiger gewesen, wenn das Metallstück, das sie gestreift hatte, ein wenig niedriger geflogen wäre und ihr den Schädel sauber gespalten hätte.
»Langsam!« Gorsts quäkende Stimme. »Langsam!« Sie überquerten eine der Brücken, die in den Agriont hineinführten, und die großen Festungsmauern ragten vor ihnen auf. Früher einmal hatte sie sich darin so sicher gefühlt wie in einer elterlichen Umarmung. Jetzt sahen sie wie Gefängnismauern aus. Jetzt waren es Gefängnismauern. Noch hatte sie den Hals nicht aus der Schlinge gezogen, ebenso wenig wie Leo.
Nachdem man ihn vom Schafott geholt hatte, hatte sie die Verbände an seinem Bein gewechselt. So wurde es wohl von der Frau eines Verwundeten erwartet. Zumal dann, wenn sie an seinen Wunden zumindest zum Teil schuld war. Sie hatte geglaubt, stark sein zu können. Schließlich war sie für ihre kühle Unbarmherzigkeit berüchtigt. Aber dann hatte sie die Verbände in einem obszönen Akt des Entkleidens abgewickelt, erst braun gefleckt, dann rosa, dann schwarz. Der Stumpf kam zum Vorschein. Grobe Nähte, der Albtraum einer jeden geschickten Schneiderin. Gezackte Wundränder, lilarot und nässend. Und dann das entsetzliche, bizarre, irgendwie verkehrt wirkende Fehlen des restlichen Beins. Der Gestank nach billigem Fusel und Metzgerei. Sie hatte sich die Hand vor den Mund gehalten. Es fiel kein Wort, aber sie hatte ihm ins Gesicht gesehen und dort ein Spiegelbild ihres eigenen Entsetzens wahrgenommen, und dann hatten die Wachen sie weggeführt, und dafür war sie dankbar gewesen. Von der Erinnerung wurde ihr übel. Übel vor Schuldgefühl. Übel vor Ekel. Übel vor Schuldgefühl wegen ihres Ekels.
Sie merkte, dass sie zitterte, und Zuri drückte ihr die Hand. »Alles wird gut«, sagte sie.
Savine starrte in ihre dunklen Augen und flüsterte: »Wie denn?«
Die Kutsche kam zum Stehen. Als ein Offizier die Tür öffnete, fielen Glasscherben klimpernd aus dem Fensterrahmen. Es dauerte einen Augenblick, bis sie es fertigbrachte, ihren Griff zu lockern. Sie musste die Finger einzeln aufbiegen, wie bei einem totenstarren Leichnam. Hatte sie sich schon in die Hose gepinkelt?
Der Marschallsplatz. Früher hatte sie ihren Vater einmal im Monat auf den breiten Steinplatten ums Karree geschoben, und sie hatten über das Unglück anderer gelacht. Sie war zu den Versammlungen des Offenen Rats im Fürstenrund gegangen, um aus alldem Geschwätz herauszufiltern, welche Gelegenheiten sich künftig boten. Sie hatte mit Geschäftspartnern darüber verhandelt, wen man aufbauen, wen man zerstören, wen man auszahlen und wem man die Kosten dafür aufbürden würde. Sie kannte die markanten Gebäude, die sich hinter den rußgeschwärzten Dächern erhoben – den schlanken Finger des Kettenturms, das Haus des Schöpfers mit seinem dräuenden Umriss. Aber sie gehörten zu einer anderen Welt. In ein anderes Leben. Um sie herum glotzten die Menschen sie ungläubig an. Menschen mit abgeschürften Gesichtern, die schönen Uniformen waren zerrissen, die gezogenen Schwerter rotbefleckt.
»Ihre Hand«, sagte Zuri.
Sie war blutverschmiert. Savine drehte sie verständnislos um und entdeckte eine Glasscherbe, die sich in ihre Handfläche gebohrt hatte, als sie sich am Fensterrahmen festgeklammert hatte. Sie hatte den Schmerz kaum gefühlt.
Als sie den Kopf hob, fingen ihre Augen Orsos Blick. Er wirkte bleich und mitgenommen, sein goldener Stirnreif saß schief, und er hatte den Mund geöffnet, als wollte er etwas sagen, und sie hatte ihren Mund geöffnet, als wollte sie etwas darauf entgegnen. Aber eine Weile sagten sie beide nichts.
»Finden Sie eine Unterkunft für Lady Savine und ihren Ehemann«, krächzte er schließlich. »Im Haus der Befragungen.«
Savine schluckte, als er davonging und sie ihm hinterherblickte.
Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie es sich anfühlte, keine Angst zu haben.
Orso marschierte über den Marschallsplatz in ungefähr die Richtung, in der sich der Palast befand, und er ballte die Fäuste. Ihr Anblick hatte ihm irgendwie den Atem verschlagen. Doch es gab drängendere Probleme als die rauchenden Trümmer seines Liebeslebens.
Beispielsweise, dass aus seiner triumphalen Rückkehr erst eine veritable Enttäuschung und dann ein Blutbad geworden war.
»Die Leute hassen mich«, murmelte er. Natürlich war er daran gewöhnt, verachtet zu werden. An verleumderische Pamphlete, infame Gerüchte und verächtliche Blicke im Offenen Rat. Dass ein König hinter seinem Rücken höflich verabscheut wurde, war in einer Gesellschaft normal. Dass ein König aber offen von einer Menschenmenge angegriffen wurde, bedeutete: Man befand sich kurz vor einem Aufstand. Vor dem zweiten binnen eines Monats. Adua – der Mittelpunkt der Welt, der Zenit der Zivilisation, die leuchtende Fackel von Fortschritt und Wohlstand – war in gesetzloses Chaos abgeglitten.
Es war eine schockierende Enttäuschung. Als hätte man sich eine verlockende Süßigkeit in den Mund gesteckt und beim Kauen festgestellt, dass es sich um ein Stück Scheiße handelte. Aber solche Erfahrungen machte man als Monarch andauernd. Ein enttäuschender Bissen Scheiße nach dem anderen.
Lord Hoff schnaufte bei dem Bemühen, mit Orso Schritt zu halten. »Es gibt ja immer … irgendwelche Beschwerden …«
»Die Leute hassen mich, verdammt noch mal! Haben Sie gehört, wie sie nach dem Jungen Löwen gerufen haben? Seit wann ist denn dieser privilegierte Arsch je ein Mann des Volkes gewesen?« Vor Orsos Sieg hatte man ihn allgemein als verachtenswerten Feigling und Brock als den großen Helden betrachtet. Es wäre wohl nur recht und billig gewesen, wenn sich diese Einschätzung jetzt ins Gegenteil verkehrt hätte. Aber nun sah man in ihm den verachtenswerten Tyrannen und bejubelte den Jungen Löwen als zwar bemitleidenswerten, aber edlen Unterlegenen. Wenn Brock auf offener Straße gewichst hätte, wäre ihm der donnernde Jubel der Menge sicher gewesen.
»Verdammte Verräter!«, grollte Rucksted, ballte eine behandschuhte Hand zur Faust und schlug damit in die andere. »Wir sollten diese ganze verdammte Bande aufknüpfen!«
»Sie können nicht jeden hängen«, sagte Orso.
»Mit Ihrer Erlaubnis kehre ich gern sofort in die Stadt zurück und sehe dann zu, wie weit ich komme.«
»Ich fürchte, unser Fehler war bisher, eher zu viele als zu wenige Menschen gehängt zu haben …«
»Euer Majestät!« Ein einschüchternd hochgewachsener Heroldsritter stand wartend, den Flügelhelm unter den Arm geklemmt, auf dem Weg der Könige neben der Statue von Harod dem Großen. »Ihr Geschlossener Rat erbittet dringend Ihre Anwesenheit in der Weißen Kammer.« Er schloss sich Orso an und ging neben ihm her, wobei er seine Schritte beträchtlich verkürzen musste. »Dürfte ich Ihnen zu Ihrem beeindruckenden Sieg in Stoffenbeck gratulieren?«
»So, wie es sich anfühlt, ist das schon fast verjährt«, erwiderte Orso und ging weiter. Inzwischen trieb ihn die Sorge, dass er, wenn er stehen blieb, wie der Bauklotzturm eines Kindes in sich zusammenfiele. »Mir wurde bereits die Gratulation einer recht großen Gruppe von Aufrührern auf dem Weg der Könige überbracht.« Damit sah er zu der hoch aufragenden Statue von Kasamir dem Standhaften auf und fragte sich, ob der jemals vom eigenen Volk durch die Straßen seiner eigenen Hauptstadt gejagt worden war. In den Geschichtsbüchern stand davon jedenfalls nichts.
»In Ihrer Abwesenheit ist es hier ein wenig … unruhig gewesen, Euer Majestät.« Orso gefiel nicht, wie der Mann unruhig sagte. Es klang nach einem Euphemismus für etwas wesentlich Schlimmeres. »Kurz nachdem Sie die Stadt verlassen hatten, kam es zu Unmutsäußerungen. Über die steigenden Brotpreise. Wegen der Rebellion und des schlechten Wetters wurde nicht genug Mehl in die Stadt geliefert. Eine große Gruppe Frauen brach in einige Bäckereien ein. Sie verprügelten die Besitzer. Einen bezeichneten sie als Spekulanten und … ermordeten ihn.«
»Das ist bedenklich«, sagte Sulfur mit bemerkenswerter Untertreibung. Orso bemerkte, dass er sich mit einem Taschentuch sorgfältig etwas Blut von der Handkante tupfte. Von dem überlegenen Grinsen, das er während der Exekution von zweihundert Menschen vor den Toren von Valbeck gezeigt hatte, war nichts mehr zu sehen.
»Am Tag darauf gab es einen Streik in der Gießerei an der Bergstraße. Und am Tag darauf drei weitere Arbeitsniederlegungen. Einige Wachleute weigerten sich, dort zu patrouillieren. Andere stellten die Aufrührer.« Der Heroldsritter bewegte betreten seine Gesichtsmuskeln. »Es hat Tote gegeben.«
Orsos Vater war der letzte in der Prozession verewigter Monarchen, und seine Statue blickte über den verlassenen Park mit einer befehlsgewohnten, entschiedenen Miene, wie er sie zu Lebzeiten nie gezeigt hatte. Ihm gegenüber dräuten in etwas weniger monumentalem Format der berühmte Kriegsheld Lord Marschall West, der berüchtigte Folterknecht Erzlektor Glokta und der Erste der Magi, der mit gekräuselten Lippen auf sie hinuntersah, als seien für ihn tatsächlich alle Menschen Ameisen, die sich bei ihm beschweren wollten. Orso hatte sich oft gefragt, welche Berater auf der anderen Seite seiner eigenen Statue stehen würden, wenn die Zeit gekommen war. Jetzt fragte er sich zum ersten Mal, ob er überhaupt eine Statue bekommen würde.
»Bald wird wieder Ordnung herrschen!« Hoff gab sich alle Mühe, die niedergedrückte Stimmung zu heben. »Sie werden sehen!«
»Das hoffe ich, Euer Ehren«, sagte der Heroldsritter. »Einige Gruppen von Maschinenstürmern haben Fabriken besetzt. Sie marschieren ganz offen durch Drei Höfen und verlangen die … na ja, die Abdankung des Geschlossenen Rats Eurer Majestät.« Orso gefiel nicht, wie er Abdankung sagte. Es klang nach einem Euphemismus für etwas wesentlich Endgültigeres. »Die Menschen sind aufgebracht, Euer Majestät. Die Leute dürsten nach Blut.«
»Nach meinem Blut?«, fragte Orso, der erfolglos versuchte, seinen Kragen zu lockern.
»Nun ja …« Der Heroldsritter grüßte recht nachlässig zum Abschied. »Nach Blut jedenfalls. Ich bin mir nicht sicher, ob ihnen wichtig ist, von wem es stammt.«
Es war ein stark reduzierter Geschlossener Rat, der sich mit altersschwachen Knien erhob, als Orso klappernd Einzug in die Weiße Kammer hielt. Lord Marschall Forest war mit den traurigen Resten des Heeres in Stoffenbeck geblieben. Erzlektor Pike war damit beschäftigt, den stets aufrührerischen Bewohnern Valbecks genug Angst und Schrecken einzujagen, damit sie sich erneut unterwarfen. Für Kronrichter Bruckel war noch immer kein Ersatz gefunden worden, seit ihm bei einem früheren Anschlag auf Orsos Leben unglücklicherweise der Kopf gespalten worden war. Bayaz’ Stuhl am Fuß des Tisches war – wie die meiste Zeit in den vergangenen Jahrhunderten – leer. Und der Generalinspektor war vermutlich wieder einmal ausgetreten, nachdem ihn ein natürliches Bedürfnis überkommen hatte.
Lord Schatzmeister Gorodets’ Stimme klang recht schrill. »Dürfte ich Eurer Majestät zu Ihrem ruhmreichen Sieg in Stoffenbeck gratulieren …«
»Vergessen Sie das.« Orso ließ sich auf seinen unbequemen Stuhl fallen. »Habe ich auch schon.«
»Wir wurden angegriffen!« Rucksted marschierte mit klingenden Sporen an seinen Platz. »Der königliche Tross!«
»Aufständische in den Straßen von Adua, aufsässig bis aufs Blut!«, schnaufte Hoff, der auf dem Stuhl zusammensank und sich mit dem Ärmel seiner Amtsrobe den Schweiß von der Stirn wischte.
»Bis aufs Blut, tatsächlich«, murmelte Orso, fuhr sich über die Wange und zog dann die Fingerspitzen leicht rotverschmiert wieder zurück. Bei Gorsts Säbelhieben hatte er von oben bis unten Spritzer abbekommen. »Gibt es Neuigkeiten von Erzlektor Pike?«
»Haben Sie es noch nicht gehört?« Gorodets, der früher die Angewohnheit gehabt hatte, sich den langen Bart endlos zu zausen und wieder glatt zu streichen, raufte ihn sich jetzt mit klauenartig gekrümmten Fingern. »Valbeck ist von Aufständischen erobert worden!«
Das Gluck, mit dem Orso schluckte, hallte hörbar von den nackten, weißen Wänden zurück. »Erobert?«
»Schon wieder?«, quiekte Hoff.
»Von seiner Eminenz dem Erzlektor haben wir nichts gehört«, sagte Gorodets. »Wir befürchten, dass er ein Gefangener der Niederreißer ist, wie sich die Maschinenstürmer jetzt nennen.«
»Ein Gefangener?«, wiederholte Orso leise. Der Raum wirkte noch beengter als sonst schon.
»Aus ganz Midderland kommen Nachrichten von Aufständen und Aufruhr!«, entfuhr es dem Hochkonsul, in dessen Stimme aufkommende Panik mitschwang. »Wir haben keine Verbindung mehr zu den Behörden in Keln. Auch aus Holsthorm berichtet man Besorgniserregendes. Überfälle. Lynchmorde und … Säuberungen.«
»Säuberungen?«, hauchte Orso. Offenbar war er dazu verdammt, einzelne Worte in entsetzter Erregung endlos zu wiederholen.
»Gerüchteweise ziehen ganze Banden dieser Niederreißer plündernd durchs Land!«
»Riesige Banden«, ergänzte Lord Admiral Krepskin. »Und sie ziehen zur Hauptstadt! Die Dreckskerle nennen sich inzwischen Volksheer.«
»Verdammte Verräterbrut«, hauchte Hoff, dessen Blick starr auf den leeren Platz am Ende des Tisches gerichtet war. »Können wir Lord Bayaz eine Nachricht zukommen lassen?«
Orso schüttelte wie betäubt den Kopf. »Nicht schnell genug, dass es etwas nützen würde.« Ohnehin vermutete er, dass der Erste der Magi sich hübsch aus allem heraushalten würde, bis er herausgefunden hatte, wie er am besten von den Ereignissen profitieren konnte.
»Wir haben alles getan, was in unserer Macht stand, damit die Nachrichten nicht an die Öffentlichkeit dringen …«
»Um Panik zu vermeiden, verstehen Sie, Euer Majestät, aber …«
»Sie könnten binnen weniger Tage vor unseren Toren stehen!«
Eine lange Stille folgte. Das Triumphgefühl, mit dem sich Orso der Stadt genähert hatte, war nur noch ein verblassender Traum.
Falls es das genaue Gegenteil davon gab, sich wie ein König zu fühlen, dann wusste er jetzt, wie das war.