DAS BUCH
Los Alamos, USA, 1945: Der Elektroingenieur David Adler stößt zum Manhattan-Projekt, in dem die größten Forscher seiner Zeit an der Entwicklung der Atombombe arbeiten. David ist mit Niels Bohr verwandt, was ihm Zugang zu dieser Gruppe außergewöhnlicher Männer verschafft, zu der auch J. Robert Oppenheimer und Klaus Fuchs gehören. So wird David zu Bohrs persönlichem Assistenten, kann dessen Forschung auskundschaften und dokumentieren. Denn was niemand weiß: David ist ein Spion.
Je mehr David von der verheerenden Waffe weiß, an der getüftelt wird, desto weniger will er damit zu tun haben. Niemand sollte seiner Meinung nach so viel Zerstörungsmacht in Händen halten. Doch für Moral ist kaum Zeit. Trinity, der erste Atombombentest, rückt immer näher, Kurjakin macht Druck, und David entdeckt, dass er nicht der Einzige ist, der eine geheime Agenda verfolgt.
DER AUTOR
Steffen Jacobsen, 1956 geboren, lebt mit seiner Frau und seinen fünf Kindern in Kopenhagen. Seine Bücher wurden unter anderem in den USA, England und Italien veröffentlicht. Bei Heyne ist seine Thrillerreihe um die Kommissarin Lene Jensen und den Ermittler Michael Sander erschienen.
STEFFEN
JACOBSEN
SCHACH MIT
DEM TOD
AUS DEM DÄNISCHEN
VON MAIKE DÖRRIES
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel DA BLEV JEG DØDEN bei Lindhardt og Ringhof Forlag, Kopenhagen.
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Copyright © 2017 by Steffen Jacobsen
Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Werner Wahls
Herstellung: Mariam En Nazer
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel|punchdesign, München, unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com (Reddavebatcave, Ysbrand Cosijn, oOhyperblaster, Photo Oz, Wilqkuku)
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-23573-4
V002
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Mir scheint, Bohr sollte eingesperrt oder jedenfalls zu der Einsicht gebracht werden, dass er sehr nah am Rand todeswürdiger Verbrechen ist.
Winston Churchill an Lord Cherwell, oberster wissenschaftlicher Fachmann und Berater der Regierung
Eine solche Initiative, deren Ziel es ist, den zukünftigen Wettstreit um den Besitz einer solchen Superwaffe zu verhindern, darf in keiner Weise die sofortige militärische Anwendung hemmen.
Niels Bohr in einem Memorandum an den Schatzkanzler im Kabinett Churchill und verantwortlichen Minister für das britisch-kanadische Atomwaffenprogramm Tube Alloys
FAKTEN
Abgesehen von einer Handvoll Politiker, einer Gruppe Wissenschaftler und Einheiten der amerikanischen Streitkräfte, befand sich der Rest der Menschheit in seliger Ahnungslosigkeit, als im Nuklearlabor der amerikanischen Armee in Los Alamos eine neue Ära der Ausübung militärischer Konflikte anbrach und am 16. Juli 1945 in der Wüste Jornada del Muerto, New Mexico, getestet wurde. Das Testgelände befand sich auf prähistorischem, vulkanischem Meeresgrund. Das einzige zivile Gebäude dort war die Ranch der Familie McDonald, die 1942 von der Armee enteignet und verstaatlicht wurde. Das Testgelände bekam den Codenamen Trinity. Der Name ist wie alles andere in dieser Geschichte mehrdeutig. Vielleicht bezieht er sich auf die drei Berggipfel in der näheren Umgebung, die von den ersten spanischen Besiedlern Trinität genannt wurden, vielleicht wurde der Ort aber auch nach einem Gedicht von John Donne benannt. Möglicherweise ist das alles auch nur eine nachträgliche Interpretation.
Um 05:29:45 SMT (Standard Mountain Time) hatte der Physiker Sam Allison auf null runtergezählt, und die erste Atombombe der Welt – »Gadget« genannt – explodierte mit einer Sprengkraft, die 22 000 Tonnen TNT entsprach.
Die Plutoniumbombe schlug mit einem Dröhnen auf den Amboss der Geschichte ein, das bis heute nachhallt.
Das war ein Morgen mit zwei Sonnenaufgängen.
Die atomare Ära wurde eingeläutet mit einem Zitat des wissenschaftlichen Direktors des Projekts, J. Robert Oppenheimer, aus der hinduistischen Schrift Bhagavad Gita (Sanskrit: Gesang des Erhabenen): »Jetzt bin ich der Tod geworden, Zerstörer der Welten.«
Wie es der Physiker Kenneth Bainbridge nicht ganz so pathetisch, aber deutlich präziser ausdrückte: »Jetzt sind wir alle Hurensöhne geworden.« Dieser Kommentar spiegelte die Zweifel wider, die von den Verantwortlichen für die Entwicklung der Atombombe nach der Probesprengung genährt wurden. Sie hatten, angespornt vom Patriotismus und von der Befürchtung, die Achsenmächte könnten vor ihnen Atomwaffen entwickeln, zugestimmt, ihre Arbeitskraft in Los Alamos, New Mexico, zur Verfügung zu stellen – über Jahre hinweg und in völliger Isolation.
Als im Mai 1945 die letzten deutschen Streitkräfte kapitulierten, wurde offenbar, dass die Kernphysiker des Dritten Reiches nicht einmal in die Nähe einer anwendbaren Atombombe gekommen waren. Adolf Hitlers Interesse an Atomwaffen war nicht sehr groß gewesen, denn er hatte deren Fertigstellung in absehbarer Zukunft für unerreichbar gehalten. Trotzdem wurde das amerikanische Atomwaffenprogramm, das Manhattan-Projekt, auch nach Ende des Krieges unverdrossen weitergeführt.
In einem unwirklich kurzen Zeitraum, nämlich zwischen März 1943 und Juli 1945, wurde das Manhattan-Projekt einzigartig erfolgreich in Los Alamos, New Mexico, Hanford, Washington State, und Oak Ridge, Tennessee, vorangetrieben. Für das Projekt wurden genauso hervorragende wie exzentrische Talente aus dem naturwissenschaftlichen Bereich rekrutiert. Auf anscheinend harmonische Weise trugen diese ausgeprägten Individuen in einer fieberhaften Kreativität zu revolutionären Erkenntnissen und neuen technologischen Errungenschaften bei, wie die Welt sie noch nicht gesehen hatte. Unübertrefflich. Das zumindest glaubten alle Beteiligten.
Die Wissenschaftler in Los Alamos hatten eine Massenvernichtungswaffe mit einer bis dahin nicht bekannten destruktiven Kapazität entwickelt, die sie dem amerikanischen Militär überantworteten. Am 6. August 1945 wurde eine uranbasierte Atombombe, »Little Boy«, über Hiroshima abgeworfen. Drei Tage später eine Plutoniumbombe, »Fat Man«, über Nagasaki. Die Zahl der Todesopfer belief sich auf über 100 000. Vor diesen Angriffen waren durch konventionelle Bombardierungen mit Brandbomben, ausgeführt von B-29-Superfortress-Langstreckenbombern von den Marianen im Pazifik aus, 67 japanische Städte ausgelöscht und 400 000 Zivilisten getötet worden.
In den Jahren nach Trinity setzten sich der dänische Atomphysiker und Nobelpreisträger Niels Bohr und Professor J. Robert Oppenheimer für wissenschaftliche Offenheit, Transparenz und Kooperation der Nationen ein, um unverrückbare Grenzen für die militärische und zivile Nutzung der neuen Technologie zu setzen. Dabei betonten sie immer wieder, dass ein Atomwaffenwettlauf zwischen den westlichen Alliierten und der Sowjetunion um jeden Preis verhindert werden müsste. Sie schlugen die Einrichtung einer einflussreichen, internationalen Kontrollbehörde durch die Vereinten Nationen vor, um die grenzenlose Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern.
Wie die Geschichte gezeigt hat, hatten Bohr und Oppenheimer indes einen nicht neu verhandelbaren Vertrag mit dem Schicksal unterschrieben. Von 1945 bis 1953 führte das amerikanische Militär weitere 42 atomare und thermonukleare Testsprengungen durch. 1955 umfasste das atomare Waffenarsenal der Vereinigten Staaten 2422 Sprengköpfe. Während ich das hier schreibe, verfügen zehn Nationen über Atomwaffen, von denen einige ihre Arsenale weiter aufstocken und entwickeln.
Zum Entsetzen der Alliierten wurde am 29. August 1949 in Semipalatinsk, Kasachstan, die erste sowjetische Atombombe erfolgreich gezündet. Der Bauplan für die Bombe mit dem Spitznamen »Tatjana« war eine exakte Kopie der Konstruktion von »Fat Man«.
Eine amerikanische B-29 Superfortress, die am gleichen Tag den Nordpol überflog, sammelte radioaktives Beweismaterial ein.
Diese sowjetische Probesprengung war der Auftakt zum Kalten Krieg. Churchills Eiserner Vorhang zog sich durch das alte Herz Europas.
Die sowjetischen Wissenschaftler und Ingenieure waren in viel zu kurzer Zeit zu erfolgreich, womit rückblickend klar war, dass der Vorläufer des KGB, das NKWD, und dessen militärische Schwesterorganisation GRU das Manhattan-Projekt von Anfang an infiltriert hatten. Spione leiteten die Informationen über die neuen Entdeckungen so schnell nach Moskau weiter, wie sie gemacht wurden. Einige wenige Agenten wurden enttarnt, die bekanntesten von ihnen waren der britisch-deutsche Atomphysiker Klaus Fuchs, der englische Physiker Allan Nunn May und die amerikanischen Physiker Theodore Hall und Bruno Pontecorvo. Darüber hinaus wurden mehrere ihrer Kuriere enttarnt: Harry Gold, David und Ruth Greenglass und Ethel und Julius Rosenberg.
Es gibt unzählige Theorien über die Protagonisten des Diebstahls des bisher größten Militärgeheimnisses überhaupt. NKWD und GRU hatten nicht einfach nur umfassendes Wissen über die Herstellung atomarer Waffen erworben, sie hatten sich Skizzen angeeignet, Fotos und Formeln für jedes noch so kleine Detail der extrem komplizierten Konstruktion der Plutoniumbombe.
1995 gab die NSA Tausende Dokumente frei, die in irgendeiner Form mit dem Manhattan-Projekt befasst waren und die aus überseeischen Rezidenturas nach Moskau weitergeleitet worden waren. Mit allergrößter Sorgfalt hatte das United States Army Signal Corps, die Fernmeldetruppe des US-amerikanischen Heeres (Vorläufer der NSA), die Dokumente dechiffriert, die später unter dem Namen VENONA-Papiere bekannt wurden.
Im Oktober 2014 folgte das amerikanische Energieministerium der Empfehlung seines eigenen Öffentlichkeitsausschusses und gab bis dahin streng geheime Dokumente frei, die sich mit den Anhörungen in Bezug auf die Geheimhaltung des Manhattan-Projekts beschäftigten – und der Nichteinhaltung derselben.
Die Dokumente deuteten an, dass die Enthüllung der Geheimnisse des Manhattan-Projekts das Werk eines einzigen Individuums war: Ein einzelner goldener Faden in dem Gespinst von Informanten, Spionen und Kurieren.
Unter den herausragenden Talenten, die in den Laboratorien von Los Alamos arbeiteten, gab es einen, der an der Berechtigung des Projekts zu zweifeln begann und am moralischen Format der Menschen dieser Zeit, mit den Instrumenten blinder Zerstörung umgehen zu können. Es gab einen – möglicherweise den Begabtesten von allen –, der die Verantwortung übernahm, die Geschichte zu verändern. Ein weiteres Mal.
Und er traf eine Entscheidung, die uns alle angeht.
Kernspaltung nach dem Aufeinanderprallen eines Neutrons und eines Uran-235-Atomkerns.
»The Gadget«. Probesprengung am 16. Juli 1945 auf dem Trinity-Testgelände in der Wüste Jornada del Muerto in New Mexico (Alamogordo).
PROLOG
Militärhospital Bordenko, Gospitalnya Ploshad, Moskau 16. September 1948
General Juri Pawlowitsch Kurjakin schob den Vorhang des Untersuchungsraums auf, knöpfte den oberen Hemdkragen auf, band seine Krawatte und zog die Uniformjacke an, die schwer dekoriert war mit Ordensbändern und Medaillen. Die maßgeschneiderte Jacke hing lose an seinem abgemagerten Körper. Obgleich gerade Anfang fünfzig, bewegte Kurjakin sich wie ein alter Mann. Sein sonst gesunder und sonnengebräunter Teint war in den letzten Monaten einer schlammigen Gesichtsfarbe gewichen, das blonde Haar fiel ihm büschelweise aus. Darüber hinaus litt der General an permanentem Nasenbluten.
Die Betriebsamkeit in der bekanntesten hämatologischen Klinik des Landes drang als das Hintergrundgeräusch klingelnder Telefone, klappernder Holzschuhe der vorbeieilenden Krankenschwestern, Gesprächsfetzen und knallender Türen in das abgelegene Büro des Oberarztes.
Er setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch des Klinikchefs Oberst Poljakow. Der Oberarzt war ein korpulenter, jovialer Mann mit einer schwarzen Hornbrille. Er hatte polierte, hellrosa Nägel und schlechte Zähne. Meist trug er ein Lächeln auf dem Gesicht, heute allerdings nicht.
Der General ließ seinen Blick über das nikotingelbe Skelett hinter Poljakows Schreibtisch schweifen, zur aufgesägten Granathülse, die als Aschenbecher diente, und zu einer schweren Rückenmarkskanüle in einer mit reinem Alkohol gefüllten Schale aus rostfreiem Stahl. Eine solche Kanüle hatte wenige Wochen zuvor – äußerst schmerzvoll – seinen Beckenknochen durchbohrt und in dem weichen, wehrlosen Knochenmark herumgestochert, geführt von Dr. Poljakows energischer und behandschuhter Hand. Vielleicht genau dieses Exemplar. Ein Tropfen Blut löste sich von der Nadelspitze und stieg in dem klaren Krankenhaussprit auf, und Kurjakin verzog sein Gesicht.
Der Arzt führte die Fingerspitzen über der Krankenakte zusammen.
»Und? Was sagen Sie, Doktor? Wie lautet Ihre Diagnose?«, fragte der General.
»Die Resultate sind nicht die erwarteten, unsere Lehrbücher helfen da im Moment leider nicht weiter.«
Kurjakins Blick wanderte von der Schale zu den hinter den dicken Brillengläsern verschwommenen braunen Augen.
»Aber ich bin im letzten halben Jahr, verdammt noch mal, jeden Monat mindestens einmal hier gewesen«, brauste er auf. »Mir wurden unzählige Blutproben entnommen, diese verfluchten Knochenmarksproben … Urin und Exkremente. Und Sie können mir nach wie vor keine vernünftige Antwort geben? Ich krepiere langsam, aber sicher, zum Teufel!«
Der Arzt wurde blass, gluckste aber besänftigend: »Nicht doch, nein, Genosse Kurjakin. Natürlich sterben Sie nicht. Aber es steht fest, dass Sie von einer Knochenmark-Depression befallen sind. Alle Blutzelllinien, von den Stammzellen über Blutplättchen und rote Blutkörperchen. Die Ursache der meisten Ihrer Symptome ist ganz simpel Blutmangel geschuldet. Erschöpfung … Atemnot … Impotenz …«
Mit einem Funken Zorn und Verdruss dachte der General an seine ein Vierteljahrhundert jüngere Geliebte, eine temperamentvolle und neurotische Tänzerin vom Bolschoi-Theater, die ihn erst in der vergangenen Nacht wegen seiner Leistungen im Bett verhöhnt hatte, was sie mit einem blauen Auge und einer geplatzten Lippe bezahlt hatte – und mindestens zwei Wochen Krankschreibung.
»Alle Blutzellen, sagen Sie?«
»Eine Art chronische lymphatische Leukämie … und doch nicht ganz. Atypisch.«
»Ich bin also sehr krank?«
Der Arzt befeuchtete seine Lippen mit der Zunge.
»Das sind Sie, und darum werden wir augenblicklich mit einer intensiven Therapie mit Bluttransfusionen, Vitamin- und Mineralinjektionen beginnen und …«
Der General hob abwehrend die Hände.
»Aber was zum Teufel passiert da gerade mit mir?«
»Da bin ich mir, wie gesagt, nicht hundertprozentig sicher, Genosse Kurjakin.«
»Wozu sind Sie dann überhaupt nütze?«
Der Arzt lächelte hilflos. Der General war bei der GRU, dem Militärnachrichtendienst, und hatte unbeschränkte Machtbefugnisse.
Kurjakin holte tief Luft und versuchte sich zu beherrschen.
»Und wie krank bin ich tatsächlich, Doktor? Sie brauchen es nicht hübsch zu verpacken oder mich schonen. Ich bin ein erwachsener Mann.«
»Sie meinen die Prognose?«
»Was sonst?«
Der Oberarzt legte die Handflächen aneinander und bedachte den General mit einem unsicheren Lächeln. »Es ist sicher kein Leiden, an dem Sie sterben werden. Aber ein Leiden, mit dem Sie sterben werden … zu seiner Zeit, natürlich.«
»Soll das ein Trost sein?«
Der Arzt begann zu schwitzen, obgleich es im Büro einigermaßen kühl war.
Der General grüßte die Wachposten der Roten Armee und schritt langsam die breite Treppe vor dem Hospital hinunter zu der wartenden Zil-Limousine. Auf der zweitletzten Stufe stolperte er und fluchte derb, worauf sein Adjutant, Hauptmann Kirill Gromow, besorgt zu ihm hochsah. Normalerweise war in Gromows Gesicht keine Gefühlsregung zu erkennen, falls er überhaupt welche hatte. Der Hauptmann war jung, seriös und tödlich effektiv. Er schloss die Autotür hinter dem General, ging hinten um die Limousine herum und nahm auf der Rückbank Platz. Der Wagen scherte vom Bordstein aus.
Der General lehnte sich zurück. Er befeuchtete die Zeigefingerspitze, tauchte sie in ein Depot groben Salzes in der Jackentasche und leckte das Salz ab.
Hauptmann Gromow tat, als hätte er es nicht gesehen.
Kurjakin rutschte irritiert auf dem Sitz vor. Er war nur noch Haut und Knochen, und alles tat weh. Alles.
»Der Arzt. Poljakow. Ich wünsche, dass er verschwindet«, sagte er. »Er ist komplett untauglich.«
»Verschwindet?«
In Gromows Welt hatte das Wort sehr unterschiedliche Bedeutungen.
»Die Minen in Kolyma«, entschied Kurjakin. »Außerdem ist er zu fett. Es wird ihm guttun, mit Hacke und Schaufel in einem Minenschacht zu arbeiten.«
»Wie Sie meinen.«
Kurjakin marschierte zwischen langen Reihen von Sekretärinnen und Schreibtischen durch das enorm große Vorzimmer. Mehrere Plätze waren leer. Den in der Sowjetischen Kommission für Kernphysik kursierenden Gerüchten zufolge wütete gerade eine bösartige Grippe-Epidemie im Hauptquartier.
Die Schreibmaschinen verstummten, eine nach der anderen.
»Lassen Sie sich nicht von der Arbeit abhalten, meine Damen. Machen Sie weiter …«
Der General schloss die gepolsterten Türflügel und lehnte sich dagegen, keuchend wie ein gerade noch einmal dem Jäger entkommenes Tier. Draußen war wieder das Klappern der Schreibmaschinen zu hören. Anfangs noch gedämpft wie der begleitende Trommelwirbel eines dreifachen Salto mortale am hohen Trapez. Dann lauter und hitziger, je mehr Maschinen den Chor verstärkten.
Kurjakins Privatbüro lag in permanentem Dämmerlicht. Er zog nur selten die Vorhänge vor den Fenstern auf. Die Wände waren mit hohen Holzpaneelen verkleidet. Vor einem der Fenster stand ein kleiner runder Tisch mit zwei Sesseln, und auf dem Tisch war ein Schachspiel mit wenigen Spielfiguren aufgebaut. Er hatte sie seit exakt einem Monat nicht mehr angerührt. Er fuhr sich mit einem Kamm durchs Haar und betrachtete missmutig die losen Haarbüschel. Danach inspizierte er seine Zähne und das Zahnfleisch in einem Wandspiegel und seufzte. Das Zahnfleisch blutete zwar nur leicht, aber chronisch.
Kurjakin hängte seine Uniformjacke über den Stuhlrücken und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Um Punkt 9 Uhr klopfte es an der Tür, und seine Privatsekretärin, Olesya Apalkowa, trat mit der Morgenpost auf einem silbernen Tablett ein. Sie lief schnellen Schrittes über den Parkettboden und blieb neben seinem Stuhl stehen. Er hatte immer, aus ehrbarem Abstand natürlich, die allergrößte Zuneigung für Olesya Apalkowa empfunden, die er an Stelle der unausstehlichen Ballerina als Geliebte hätte nehmen sollen. Sie stellte das Tablett mit einer anmutigen Bewegung ab, und er bewunderte nicht zum ersten Mal ihre wohlproportionierten Schenkel unter dem langweiligen grünen Uniformrock.
Sie nahm die Teekanne.
»Tee?«
Der General bemerkte mehrere lange, lose und dunkelbraune Haare auf der Schulter von Apalkowas grauem Cardigan, sagte aber nichts. Gewöhnlich war seine Sekretärin die personifizierte Makellosigkeit.
»Nein danke, Olesya Apalkowa. Heute ist der 16., nicht wahr? Ist es gekommen?«
Sie nickte.
»Es liegt zuunterst. Wie war der Besuch des Generals im Hospital?«
»… Ausgezeichnet … Vortrefflich …«
Er sah sie nicht an. Wusste, dass sie ihm nicht glaubte.
Die Sekretärin nieste in ein sauberes Stofftaschentuch. Kurjakin bemerkte winzige rostrote Flecken in dem weißen Stoff.
»Was ist nur mit den Leuten los? Das halbe Sekretariat steht leer!«
Apalkowa lächelte zurückhaltend. »Das ist die Grippe. Sie wird vorbeigehen, und die Leute werden zurückkommen.«
Die Tür schloss sich hinter ihr, und Kurjakin suchte das verhasste Telegramm aus dem Poststapel. Er öffnete das rot-weiße Kuvert und legte das dünne Blatt darin zu seinen fünf Geschwistern. Seit einem halben Jahr kam immer am 16. eines Monats diese persönlich an Kurjakin adressierte Nachricht. Die Telegramme wurden aus verschiedenen europäischen Hauptstädten abgeschickt, dieses Mal kam es aus Ankara. Der General hatte Spezialtruppen angesetzt, um den Absender zu identifizieren und zu liquidieren. Bis jetzt ohne Erfolg. Aber eines Tages würde es ihm gelingen. Es war nur eine Frage der Zeit.
Bevor er das Telegramm las, tippte er den befeuchteten Zeigefinger in eine Schale mit Salz und leckte ihn ab. In den letzten Monaten hatte er ein unerklärliches und unstillbares Bedürfnis nach grobkörnigem Küchensalz entwickelt.
BIST DU MÜDE ALTER FREUND STOP
O ja. Ja. Er war müde wie der Tod nach Stalingrad.
HAT DAS NASENBLUTEN BEGONNEN
Der General konnte sich nicht erklären, woher sein unbekannter, aber zutiefst verhasster Gegner von den Blutungen wusste.
BIST DU BEREIT
Ganz und gar nicht. Aber er hatte keine andere Wahl. Es war eine Frage der Ehre.
Er setzte sich an den Schachtisch. Die Figuren waren aus Ebenholz, kunstvoll und mit Liebe zum Detail geschnitzt. Kurjakin wischte mit seinem Taschentuch eine gräuliche Staubschicht vom Brett und schüttelte es aus.
Auf dem Brett standen nur noch der weiße König, ein weißer Läufer, der schwarze König und zwei schwarze Bauern. Seit sechs Monaten versuchte Kurjakin diese unbegreiflich komplizierte und frustrierende Schlusspartie zu lösen, die seinerzeit vom Schachgenie Richard Réti konstruiert wurde. Der General spielte schwarz, aber der unbekannte Gegenspieler war am Zug.
Kurjakin las die nächste Zeile des Telegramms:
WEISSER LÄUFER AUF D1X
Die Hand des Generals bewegte sich langsam über das Brett, als er einen der schwarzen Bauern mit dem weißen Läufer eliminierte. Jetzt war er dran. Seine Hand schwebte unentschlossen über dem schwarzen König. Eine Fingerspitze berührte die Krone. Er zog die Hand zurück, als hätte er sich verbrannt, legte die Stirn in Falten und knetete die Unterlippe zwischen zwei Fingern.
SCHWARZER KÖNIG AUF C3, ALTER FREUND? IN DEM FALL WEISSER LÄUFER AUF E1. STOP. SCHWARZER BAUER AUF D4? WEISSER KÖNIG AUF F6!!
Kurjakin lehnte sich zurück. Es war, als bewegten sich die Figuren aus eigener Kraft. Unmöglich. Er war schachmatt. Nach einem tiefen Atemzug sah er wieder auf das Telegramm.
DU WIRST DAS LICHT DER TAUSEND SONNEN NIEMALS ERBLICKEN STOP
Der General seufzte verbittert. Seine Finger schlossen sich um den besiegten schwarzen König. Als er die Hand wieder öffnete, blieb ein schwacher, gräulicher Abdruck in seiner Handfläche zurück. Er betrachtete den schwarzen König, als sähe er ihn zum ersten Mal. Er fühlte sich warm an der Haut an. Er schüttelte ihn vorsichtig. Dann ließ er ihn mit einem lauten Aufschrei fallen und sprang von seinem Stuhl auf. Der schwarze König rollte über den glänzenden Parkettboden.
Im Vorzimmer schreckten alle von ihren Schreibmaschinen hoch, als die Doppeltür mit einem Krachen aufflog, und es wurde schlagartig still wie in einer Bibliothek.
»Einen Geigerzähler, Herrgott noch mal! Besorgen Sie mir einen. Sofort!«
Die Sekretärinnen starrten unsicher den General an, der in der Türöffnung stand. Nicht seine Forderung war es, die sie so verstört starren ließ. Schließlich war der General der von der GRU eingesetzte Aufsichtsvorsitzende des sowjetischen Atomwaffenprogramms, und Geigerzähler und andere Messinstrumente in greifbarer Nähe waren nichts Ungewöhnliches.
Nein, es war die instinktive Anrufung einer verbotenen und belanglosen christlichen Gottheit, die ihre Verstörung und Bestürzung weckte.
Das Eismeer nördlich von Jan Mayen, 7. Februar 1945
Leichter Schnee fiel auf die Dünung und schmolz. Es waren nur wenige Wolken am Himmel, und David hatte das Gefühl, sich nur ein wenig ausstrecken zu müssen, um die Sterne vom Himmel zu pflücken. Der weißflorige Schleier der Milchstraße flirrte von Horizont zu Horizont, und der Mond war eine schmale goldene Sichel im Osten. Im letzten September hatte er vergeblich versucht, seiner fünfjährigen Tochter Sara die elementarsten Sternbilder beizubringen, aber sie hatte hartnäckig die Namensgebung der alten Astronomen abgelehnt. Der Große Bär wurde bei ihr zum Grashüpfer, der Hund zum Piepmatz und der Zwilling zu Mutter und Vater auf Schlittschuhen.
Das Stahldeck vibrierte monoton unter Davids Fußsohlen, in seinen Ohren pochte der ruhige Puls des Dieselmotors.
Er war der einzige Zivilist an Bord der Mary Jane, einem fünfzig Meter langen, aus Maine stammenden Bergungsfahrzeug. Das Schiff war drei Monate nach Pearl Harbor von der amerikanischen Flotte eingezogen und für Konvoidienste im Nordatlantik eingesetzt worden. Die Besatzung hatte eine Kurzausbildung in maritimer Kriegsführung durchlaufen und Uniformen und unterschiedliche Dienstränge bekommen. Algernon Hawke, der Kapitän der Mary Jane, wurde zum Fregattenkapitän ernannt. Die Mary Jane war mit 20- und 40-mm-Flakgeschützen ausgerüstet und besaß Heckrampen für die Wasserbomben.
In ihrer kurzen Karriere hatte die Mary Jane 17 alliierte Konvois zwischen Loch Ewe in Schottland und Murmansk in Russland eskortiert.
Der Geleitzug JW51B war am 26. Januar 1945 aus Murmansk ausgelaufen. Frachtschiffe und Tanker in der Mitte des Konvois wurden an den Flanken von Zerstörern und Torpedobooten geschützt. Der erste Reisetag war ereignisreich gewesen: Ein Tiefdruckgebiet von der Labrador-Küste war von Westen nach Osten über das Nordmeer gezogen und hatte seine geballte Wut an dem Konvoi ausgelassen. Wind von Sturmstärke, zehn Meter hohe Wellen, dichter Schneefall und Eisgestöber.
Inzwischen hatte sich das Meer wieder beruhigt und war jetzt glatt wie ein Spiegel, doch jetzt hätte der Konvoi dieses Ragnarök willkommen geheißen, da eine aufgewühlte See den Angriff von deutschen U-Booten unmöglich gemacht hätte. Obgleich die Angriffe der sogenannten Wolfsrudel so spät im Krieg eigentlich ein überstandenes Phänomen sein sollten.
David war aus seiner Koje neben dem Maschinenraum, wo er vergeblich versucht hatte einzuschlafen, geflüchtet. Jetzt schob er sich entlang der Backbordreling zum Steven vor, wo der Lauf einer Maschinenkanone auf einen Punkt zwischen Venus und Mars zielte.
Romeo, ein junger und immer gut gelaunter Kalifornier, begrüßte ihn mit einem Lächeln und einer Packung Lucky Strike. Romeos vorschriftswidrig lange Locken zeichneten sich deutlich vor der Milchstraße ab.
Sie standen schweigend nebeneinander und rauchten, bis Romeo dem Dänen den Rücken zukehrte und mit in den Nacken gelegtem Kopf zur Brücke über ihnen schaute, wo Kapitän Hawke im Schein der Funkanlage stand.
Romeo schnipste die Kippe über die Reling.
»Er empfängt Nachrichten …«, murmelte der Amerikaner nervös.
David konnte Romeos Befürchtungen nachvollziehen: Funkstille war das 11. Gebot des Geleitzugs. Einzig vom Flaggschiff des Konvois, dem schweren Kreuzer HMS Devonshire, weitergeleitete Eiltelegramme der britischen Admiralität waren erlaubt, und ein Eiltelegramm bedeutete normalerweise, dass die britischen Codebrecher in Bletchley Park Mitteilungen zwischen den U-Booten und dem deutschen Atlantik-Kommando in Norwegen dechiffriert hatten. »Soll ich ihn fragen?«, bot David an.
Romeo zuckte unentschlossen mit den Schultern. Kapitän Hawke konnte äußerst ungehalten auf Störungen reagieren und verabscheute überflüssige Fragen. Er war der reservierteste Mensch, dem David je begegnet war, eine magere Bronzesphinx, geboren in einer maritimen Gießerei irgendwo in New England.
Andererseits war David eine zivile Landratte ohne jede militärische Bedeutung: ein Passagier, schlicht und ergreifend. Er besetzte eine kleine, neutrale Zone an Bord der Mary Jane. Die Besatzungsmitglieder plauderten mit ihm über alles Mögliche, auch sehr Vertrauliches und Privates, was wahrscheinlich, wie David vermutete, an seiner Neutralität und der Tatsache lag, dass er niemandem von der Besatzung je wieder begegnen würde, nachdem er in Schottland von Bord gegangen war.
Kapitän Hawke behandelte ihn mit gleichbleibender Höflichkeit und Gastfreundschaft.
David sah Romeos weiße Zähne kurz aufblitzen.
»Okay. Fragen Sie ihn. Aber um Himmels willen vorsichtig.«
David hatte sich zu der Leiter umgedreht, die hoch auf die Brücke führte, als Romeo ihn mit einem Aufschrei an der Schulter packte und mit der anderen Hand nach Osten zeigte.
Das erste Schiff im Zug wurde von einem Torpedo getroffen. Sie sahen einen weißen, blendend grellen Lichtblitz und eine grün schimmernde Wassersäule, die zum Himmel emporstieg. Wenige Sekunde später erreichte sie das laute Grollen der Unterwasserexplosion auf einer Druckwelle heißer Luft.
»Das ist Clarence!«
Das amerikanische Tankschiff lag hoch im Wasser, nachdem es in Murmansk seine Tanks mit Tausenden Tonnen Flugbenzin entleert hatte. Die Treibstoffgase in den leeren Tanks entzündeten sich in einer Serie neuer, dumpfer Explosionen. Das Schiff stand still im Wasser, als wäre es auf einen Eisberg aufgefahren. Dann brach sein Rückgrat, und beide Steven richteten sich in einem grotesken Winkel auf.
Der Tag des Jüngsten Gerichts brach an.
Romeo lief nach achtern zu den Wasserbomben. Auf allen Schiffen des Geleitzugs heulten Sirenen. David sah, wie Kapitän Hawke sich über das Sprachrohr zum Maschinenraum beugte, um volle Kraft auf allen Maschinen zu beordern. Die Luken flogen auf, die Besatzung strömte aufs Deck und verteilte sich an die Kampfstationen. Sie trugen nur Unterwäsche, Rettungswesten und Helme, und ihre nackten Glieder leuchteten gespenstisch weiß vor dem schwarzen Meer. Zerstörer und Torpedoschnellboote fuhren Richtung Süden, dorthin, wo die Sonare ihnen die ungefähren Positionen der U-Boote angezeigt hatten. Der messerscharfe Steven drückte weiß schäumende Bugwellen hoch und an Deck. Die Suchscheinwerfer streckten ihre weißen Finger tief in die feindliche Dunkelheit.
David presste sich gegen die Reling, um nicht im Weg zu stehen. Weit über sich hörte er Kapitän Hawkes Kommandostimme und das Geräusch schwerer Schraubenschlüssel, die die Wasserbomben einstellten. Die Ketten am Ende der Rampe wurden entfernt, und die ersten rollten los und verschwanden im Kielwasser der Mary Jane.
Instinktiv und aus einer unheilschwangeren Vorahnung heraus wendete David seinen Blick nach Süden und sah unmittelbar an der Horizontlinie einen unnatürlich roten Punkt aufblitzen, wie eine aufflackernde rote Kerzenflamme … das rote Licht des Infrarot-Nachtsichtgeräts eines U-Bootes.
Hawke hatte oben auf der Brücke sein Nachtsichtgerät auf exakt den gleichen Punkt wie David gerichtet. Er setzte es ab und schaute runter zu dem Dänen.
Das Gesicht des Kapitäns war kaum zu sehen, aber in Davids Augen spiegelte sich pure Resignation darin.
»Torpedo! Hundertfünfundsechzig Grad …«
Hawkes Stimme schnitt klar durch den Tumult und die Betriebsamkeit an Deck. Alle unterbrachen ihre Unternehmungen und schauten auf. Der Kapitän lief zurück zur Kommandobrücke, und Mary Janes runder, solider Steven setzte zu einem Seitwärtsschwenk an.
David beobachtete mit angehaltenem Atem und um die Reling gekrümmten Fingern einen unheilverkündenden, quecksilberglänzenden Schimmer vielleicht vierhundert Meter entfernt auf die Backbordseite der Mary Jane zuschießen.
Mit reiner Willensanstrengung zwang er seine Hände aus der Umklammerung um die Reling und seine Füße, sich auf die Luke zum Decksaufbau zuzubewegen, wo er die steile Stiege zum Maschinendeck in Mary Janes Bauch hinunterrutschte. Während David durch den schmalen Korridor lief, begann ein nüchterner, mathematischer Bereich seines Gehirns die Geschwindigkeit des Torpedos zu berechnen und den geschätzten Zeitpunkt für die Kollision. Die Zahlen erschienen vor seinem inneren Auge wie auf einer Filmleinwand. Der deutsche T5-Zaunkönig-Torpedo hatte eine durchschnittliche Geschwindigkeit von 25 Knoten und führte eine Sprengladung von 540 Pfund TNT mit sich, mehr als genug, um einem kleineren Schiff als der Mary Jane die Eingeweide aus dem Leib zu reißen. Der Torpedo war vielleicht vierhundert Meter entfernt, als er ihn entdeckt hatte, was bedeutete, dass …
Während er Stoßgebete an alle Götter murmelte, die ihm in den Sinn kamen, von Jahwe bis Poseidon, riss er die Luke zu seiner kleinen privaten Kajüte auf, fiel auf die Knie und zog den kostbaren gelben Ölhautrucksack aus dem schmalen Hohlraum unter der Koje, warf ihn über die Schulter und rannte zurück an Deck.
Plötzlich kippte der Boden in einem jähen Ausweichmanöver abrupt unter seinen Füßen zur Seite. David knallte mit dem Kopf gegen ein Schott und stürzte. Blut tropfte aus einer Wunde an der Stirn, als er sich wieder aufrappelte und zur Reling lief.
Leidenschaftslos beschäftigte sich sein Hirn weiter mit den Zahlen: 400 Meter … Der Torpedo bewegte sich circa 13 Meter pro Sekunde durchs Wasser … Er stolperte an dem Handlauf entlang, brach sich einen Fingernagel ab … Sie hatten noch … wie viel? … Acht Sekunden! Er flehte die urzeitlichen Dieselmotoren der Mary Jane, die Antriebswellen und die gigantischen Bronzeschrauben an, ihre verdammte Pflicht zu tun und sie alle zu retten.
Er starrte aufs Wasser und entdeckte das todbringende Projektil nur zwanzig Meter entfernt. Der Torpedo schoss viel zu schnell in einer Hülle aus weißen Luftblasen durch das schwarze Wasser, und ihr Schiff war viel, viel zu langsam.
In buchstäblich letzter Sekunde vor dem Aufprall sprang David auf die leeren Kartoffelkisten, die akkurat für so eine Notsituation am Seitendeck des Schiffes angebracht waren: der gefürchtetste Schaden bei einem Torpedoangriff wurde durch den unmittelbaren senkrechten Anstieg verursacht, mit dem ein Schiff mit Mary Janes Tonnage auf einen Treffer reagierte. Das Schiff würde sich in weniger als einer Sekunde einen Meter heben. Wenn man in dem Augenblick auf einem unnachgiebigen Stahldeck stand, würden die Oberschenkelknochen sich, die Beckenknochen zerschmetternd, weit in die Bauchhöhle bohren.
Der Torpedo rammte das Schiff unmittelbar hinter der Schornsteinlinie.
Wie lange er unter Wasser gewesen war, wusste David nicht, aber er fühlte sich wie zwischen eiskalte Walzen geraten. Sein Schädel schrumpfte. Dann durchbrach er hustend und spuckend die Oberfläche. Er trat Wasser und sah sich panisch um. Das Wasser stand dem todgeweihten Bergungsfahrzeug bis an die Reling. Das sonore Vibrieren im Wasser, das er nicht nur hörte, sondern vor allen Dingen fühlte, bedeutete, dass die mächtigen Schiffsmaschinen nach wie vor arbeiteten. Darüber war ein wildes, unrhythmisches, metallisches Klopfen zu hören wie von einem im Schiffsbauch Gefangenen, der verzweifelt gegen eine Luke oder ein Schott hämmerte.
Plötzlich traf ihn von der Seite eine Hitzewelle, und die Dunkelheit verschwand wie bei einem jähen Sonnenaufgang. Die Luft um ihn herum war erfüllt von den Schreien der Männer und dem beißenden, bitteren Geruch brennenden Dieselöls. Die Flammen breiteten sich mit unfassbarer Geschwindigkeit auf dem Wasser aus. David holte tief Luft und tauchte unter. Über sich sah er die Flammenzungen auf dem brennenden Ölteppich und schwamm unter Wasser weiter.
Sein rechtes Bein fühlte sich ab dem Knie abwärts wie ein schmerzhaftes, fremdes Anhängsel an. Er hatte nicht mitbekommen, wo oder wie er sich verletzt hatte.
Seine Lunge begann zu brennen. Er würde nicht mehr viel länger durchhalten. Die Kälte tat ihr Übriges, seine Bewegungen wurden unkoordiniert und kraftlos. Er schluckte mit aufeinandergepressten Lippen, gierte nach dem erlösenden, kalten Atemzug, der sein letzter sein würde.
Er schwamm zur Oberfläche und durchbrach sie kurz vor den ausgestreckten Flammenfingern.
Er blinzelte das salzige Wasser aus seinen Augen und hörte jemanden schreien. Romeo war von Flammen eingekreist. Sein Körper schob sich aus dem Wasser, als würde er von unten hochgedrückt. Das Gesicht war unversehrt, aber der Mund war ein großes schwarzes Loch, das helle, spitze Schreie ausstieß. David konnte den Blick nicht losreißen von seinem gequälten Schiffskameraden und hoffte nur, dass Romeos junge Seele den brennenden, sich windenden Körper bereits verlassen hatte.
Der Kalifornier verschwand verkohlt unter der Oberfläche. Erst jetzt nahm David die Rufe hinter sich wahr, aber seine Kraft verließ ihn, und er sank.
Starke Hände packten ihn. Er knallte mit dem Kopf gegen das Rettungsfloß, als er aus dem Wasser gezogen wurde. In gewaltsamen Krämpfen spuckte er Galle und Meerwasser, und jemand schlug ihm kräftig zwischen die Schulterblätter.
Danach breitete sich Stille zwischen dem halben Dutzend Überlebender auf dem Floß aus. David stemmte sich auf die Knie hoch und schaute zur Mary Jane, die sich majestätisch in der flachen Dünung drehte. Die Schiffsunterseite war von schorfigen weißen Seepocken überzogen wie ein alter Wal. Dann verschwand sie, und das Meer schloss sich über ihr.
Erst in diesem Moment merkte David, dass etwas … etwas sehr Wichtiges fehlte. Er sah sich nach dem Rucksack um und entdeckte fünf, sechs Meter entfernt etwas Gelbes im Wasser.
David ließ sich zurück in das verhasste, feindliche Element gleiten. Die Männer schickten Flüche hinter ihm her.
Drei Meter. Zwei Meter. Seine Gliedmaßen waren entsetzlich schwer, das rechte Bein war nur noch Schmerz.
Der Rucksack verschwand aus seinem Sichtfeld.