Das Buch
In der chinesischen Millionenstadt Chengdu treibt ein kaltblütiger Killer sein Unwesen, der vor 18 Jahren die Polizei schon einmal zum Narren gehalten hat. Er nennt sich selbst Eumenides und tötet Menschen, deren Verbrechen von der Polizei nicht geahndet wurden. Mittels Todesanzeigen kündigt er an, wen er ermordet, wann er zuschlägt und warum das Opfer sterben muss. Damit verhöhnt er die zu seiner Verhaftung einberufene Sondereinsatzgruppe 18/4 und den brillanten Hauptmann Pei Tao. Bei jedem Mord ist Eumenides ihnen einen Schritt voraus. Zu spät erkennt Pei Tao, dass auch seine Geheimnisse und Vergehen vor dem Killer nicht sicher sind. Ein tödliches Katz-und-Maus-Spiel beginnt …
Der Autor
Zhou Haohui wurde 1977 geboren und lebt in Yangzhou in der Provinz Jiangsu. Seine 18/4-Trilogie ist die erfolgreichste chinesische Kriminalromanreihe aller Zeiten. Eine auf seinen Büchern basierende Webserie wurde mit über 2,4 Milliarden Aufrufen ihrerseits zu einer der erfolgreichsten chinesischen Online-Serien überhaupt.
Zhou Haohui
18/4
der
hauptmann und
der mörder
Aus dem Englischen von Julian Haefs
THRILLER
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe SI WANG TONG ZHI DAN: AN HEI ZHE erschien erstmals 2014 bei Beijing Times Chinese Press, Beijing.
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Copyright © 2014 by Zhou Haohui
German rights authorized by China Educational Publications Import & Export Corporation Ltd
Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO unter Verwendung von Shutterstock.com / matrioshka
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN: 978-3-641-24452-1
V002
www.heyne.de
INHALTSVERZEICHNIS
DRAMATIS PERSONAE
PROLOG
KAPITEL EINS: EIN DROHENDER STURM
KAPITEL ZWEI: EINE ACHTZEHN JAHRE ALTE TRAGÖDIE
KAPITEL DREI: ERSTE SCHACHZÜGE
KAPITEL VIER: PEIS GEHEIMNIS
KAPITEL FÜNF: ERBARMUNGSLOS
KAPITEL SECHS: ZWEI MINUTEN
KAPITEL SIEBEN: DIE TODESMINE
KAPITEL ACHT: ZWEIFEL ÜBER ZWEIFEL
KAPITEL NEUN: DEM KOKON ENTSCHLÜPFEN
KAPITEL ZEHN: DIE GEBURT DES EUMENIDES
KAPITEL ELF: DAS LETZTE GEFECHT
EPILOG
DRAMATIS PERSONAE
Die Einsatzgruppe 18 / 4
HAUPTMANN HAN HAO – Kriminalpolizei Chengdu, Leiter der neu gebildeten Einsatzgruppe 18 / 4
KRIMINALKOMMISSAR YIN JIAN – Hans Assistent
HAUPTMANN PEI TAO – Kriminalpolizei Longzhou
HAUPTMANN XIONG YUAN – Spezialeinheit der Polizei (SEP) von Chengdu
KRIMINALKOMMISSAR LIU SONG – SEP Chengdu
MU JIANYUN – Psychologin, Dozentin an der Polizeiakademie von Sichuan
KRIMINALHAUPTKOMMISSAR ZENG RIHUA – Kriminalpolizei Chengdu, Leiter des digitalen Überwachungssystems
KRIMINALKOMMISSAR ZHENG HAOMING – Kriminalpolizei Chengdu, Mitglied der ursprünglichen Einsatzgruppe 18 / 4 von 1984
PROLOG
Erinnerst Du Dich nicht mehr an mich, Student 8102?
Sobald die Ouvertüre verklungen ist, muss der erste Akt folgen.
Die Ouvertüre ist schon viel zu lange verhallt … aber endlich ist der Tag gekommen.
Ich kann meine Begeisterung kaum im Zaum halten, wenn ich an den wundervollen Tanz denke, der bald beginnt. Willst Du Dich mir nicht anschließen, alter Freund? Ich weiß, Du sehnst Dich schon ewig danach.
Ich sehe Dich dasitzen und diesen Brief lesen. Du zitterst vor Aufregung, nicht wahr? Dein Blut lodert auf, ein unaufhaltsamer Druck schwillt in Dir an. Mir geht es nicht anders.
Ich rieche Deine Ungeduld. Deine Wut. Sogar Deine Furcht.
Beeile Dich. Ich warte.
KAPITEL EINS
EIN DROHENDER STURM
19. OKTOBER 2002, 15 : 45 UHR
CHENGDU, PROVINZ SICHUAN
Während der Feierlichkeiten zum Mondfest im September hatte sich die erste Kälte in die Luft geschlichen und in den folgenden Wochen umso tiefer eingenistet. In den letzten Tagen hatte es ununterbrochen geregnet, die Temperaturen waren endgültig in den Keller gefallen. Ein von Nebelschwaden durchsetzter Wind peitschte um die Hochhäuser der Stadt, heulte durch die Straßen und sättigte die Luft mit eisiger Trübsal. Es mochte in Chengdu gerade Samstagnachmittag sein, aber das finstere Wetter hatte die Provinzhauptstadt ihrer charakteristischen Tatkraft beraubt.
Zheng Haoming spurtete aus dem Taxi und vergaß den Regenschirm, der im Fußraum des Wagens lag. Er rannte über den Bürgersteig und hechtete in eine Türöffnung, über der INTERNETCAFÉ SKYLINE stand.
Anders als die verwaisten Straßen draußen war das Internetcafé brechend voll. Der Laden hatte sich immer stetiger Kundschaft erfreut, da er in fußläufiger Entfernung von mehreren Universitäten lag. Hinter dem Empfangstisch stand der pummelige Besitzer, flankiert von zwei Mitarbeitern, beide Anfang zwanzig. Die letzte Überprüfung der Registrierkasse hatte ein Minus offenbart, und solange er nicht das gesamte Material der Überwachungskameras für den letzten Monat gesichtet hatte, war dieser Mann mit dem hochroten Kopf entschlossen, jeder Transaktion, die in seinem Geschäft vonstatten ging, persönlich beizuwohnen. Mit erhobener Augenbraue sah er Zheng zur Tür hereinstürzen. Männer mittleren Alters waren hier ein seltener Anblick.
Zheng war vollkommen durchnässt, seine Haare zottelig verknotet. Er stellte eine Tasche auf der Theke ab, fischte ein Stück Papier aus einem der Seitenfächer und reichte es dem Besitzer. In seiner rauen Stimme schwang ein Hauch von Erschöpfung mit.
»Überprüfen Sie diese Adresse«, befahl Zheng. »Sagen Sie mir, zu welchem Computer sie gehört.«
Der untersetzte Besitzer erkannte die Zahlenfolge auf dem Zettel. Sie gehörte zu einer Reihe von IP-Adressen, die das Café für seine Endgeräte benutzte. Trotzdem maß er den Zettel mit einem gleichgültigen Blick.
»Warum sollte ich?«, antwortete er mit verächtlicher Miene.
»Halten Sie den Mund und geben Sie mir die gesuchte Information!«
Der Besitzer schrak vor Zhengs wildem Blick zurück. Auch eine Netzwerkadministratorin in der Nähe wurde von dem Gefühlsausbruch des älteren Mannes aufgeschreckt; die leuchtend schwarzen Augen der jungen Frau richteten sich auf den Unruheherd. Der Besitzer spürte eine offene Wunde an der Stelle klaffen, wo einst sein Stolz gesessen hatte.
Zheng schien kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Er zückte einen Gegenstand, der wie eine Brieftasche aussah, klappte ihn auf und klatschte ihn auf die Theke.
»Ich bin Polizist«, zischte er.
Der Besitzer senkte den Blick und holte unwillkürlich schmatzend Luft. In der oberen Lasche steckte eine Dienstmarke in Rot, Blau und Gold. Darunter prangte hinter einer schützenden Plastikschicht eine Karte, die Lichtbild, Namen und Rang des Trägers preisgab. Er schluckte verbittert und reichte dem Mädchen an seiner Seite den Zettel weiter.
»Lin, überprüf das hier für Kommissar Zheng.«
Das Mädchen verglich die Adresse mit den anderen auf dem Kontrollmonitor des Servers. »Zweite Reihe«, verkündete sie einen Moment später. »Sechster Platz von links.«
Zheng warf einen heimlichen Blick auf den jungen Mann, der am fraglichen Computer saß. Er schien um die zwanzig, seine Haare waren rot gefärbt.
»Wie lange ist er schon hier?«
»Seit heute Mittag. Also fast fünf Stunden ohne Unterbrechung.«
Zheng holte eine Digitalkamera aus der Tasche, richtete sie auf den Kunden und drückte auf den Auslöser, bis er zehn Bilder geschossen hatte. Trotz der Lautstärke im Café war der junge Mann so tief in seiner virtuellen Welt versunken, dass er den Fremden nicht bemerkte, der ihn fotografierte.
Die Digitalkamera piepste. Der Polizist überprüfte das Gerät und sah, dass die Speicherkarte voll war.
Ein leises erleichtertes Seufzen entfuhr ihm, als habe er gerade eine wichtige Aufgabe erledigt. Im Lauf der letzten zwei Wochen hatte er sämtliche Internetcafés der Stadt abgeklappert und mehr als dreihundert Bilder von verschiedenen Kunden gemacht. Trotzdem hatte er keine Ahnung, ob seine Anstrengungen irgendetwas ändern würden.
Komm schon, geh und sprich mit ihm. Es ist achtzehn Jahre her, dachte Zheng. Es wird Zeit.
Er verließ das Internetcafé Skyline und stapfte den Bürgersteig entlang, ein neues Ziel vor Augen. Der Wind verbiss sich in seinen Wangen, bis er in den Kragen seiner dünnen Jacke abtauchte. Von einem nahen Wan-Tan-Büdchen ergoss sich eine würzige Dampfwolke in sein Gesicht und bot willkommene Abwechslung.
Zum ersten Mal fiel ihm deutlich auf, wie leer die Straßen der Innenstadt von Chengdu im Lauf der letzten Wochen geworden waren. Er kam sich schutzlos vor. Verletzlich. Das Gefühl war so ungewohnt wie verstörend. Ein paar kalte Regentropfen landeten in seinem Nacken. Erfolglos versuchte er, ein Schaudern zu unterdrücken.
Ich warte.
Bei dem Gedanken gefror Zheng Haoming das Blut in den Adern. Er hatte geglaubt, diesem Albtraum vor achtzehn langen Jahren entkommen zu sein. Jetzt fragte er sich, ob er überhaupt jemals aufgewacht war.
*
22 : 17 UHR
Über dem Nordeingang des Wohnblocks flackerte eine Straßenlaterne und erhellte die etwa drei Meter breite Öffnung zwischen zwei Betonwänden. Das große Metalltor stand offen. Zheng hatte es zuerst am Osteingang versucht, aber das Tor dort war durchgerostet und versperrt. Er richtete seine Taschenlampe auf die linke Wand. In den Beton waren drei Schriftzeichen eingeritzt.
»Meiyuan Cun«, murmelte Zheng.
Das Pflaumengarten-Dorf. Es klang sehr beschaulich, aber Zheng, der in dieser Stadt aufgewachsen war, kannte die Wohngegend unter einem anderen Namen – Touyoupo Cao, wie sie im lokalen Sichuan-Dialekt hieß. Das Kakerlakennest.
Nach zwei Minuten in den engen Gassen zwischen den verschachtelten Gebäudekomplexen fühlte Zheng sich wie eine Ratte im Labyrinth. Zu allen Seiten pferchten ihn halb verfallene, eingeschossige Wohnblöcke ein. Die zersprungenen Straßenlaternen sonderten ein schwaches, kränkliches Glühen ab, die Luft war erfüllt von unangenehm schwärendem Schimmelgeruch.
Es regnete noch immer. Die Pflastersteine waren von einer matschig glitzernden Schicht bedeckt. Vielleicht ungeklärte Abwässer, vielleicht Erbrochenes. Zheng gab sich Mühe, die ekelerregende Umgebung zu ignorieren, und ging auf ein gedrungenes Gebäude zu. Er überprüfte die Adresse und klopfte dreimal mit den Knöcheln an die Holztür.
»Wer ist da?« Aus der Wohnung schabte eine schwache Stimme über Zhengs Trommelfell und jagte ihm einen prickelnden Schauer über die Kopfhaut.
Kurz ging er seine Optionen durch, dann entschied er sich für den direkten Weg.
»Polizei.«
Leise Schritte erklangen. Ein paar Sekunden später öffnete sich die Holztür. Im Dämmerlicht der Wohnung stellte sich eine grausige Gestalt in den Türrahmen.
Der Polizist war auf diesen Moment vorbereitet gewesen, trotzdem fühlte er, wie sich seine Gesichtsmuskeln vor unterdrückter Abscheu verspannten. Er hatte einen menschlichen Wasserspeier vor sich. Und natürlich hatte er in einer solchen Nacht herkommen müssen.
Über den kahlen Schädel des Mannes zogen sich schlammfarbene Narben. Zheng betrachtete die zerklüfteten Gesichtszüge und konnte nicht einen Flecken heiler Haut entdecken. Der Mann schielte, und seiner Nase fehlte ein großes Stück. Seine Oberlippe war in der Mitte gespalten, was ihm ein kaninchenartiges Aussehen verlieh.
Zheng holte tief Luft. »Huang Shaoping.«
Der knorrige Mann zitterte und starrte seinen Besucher an.
»Sind Sie … Kommissar Zheng?« Die Stimme des Mannes schien durch zerfetzte Stimmbänder zu rasseln, als müsste er gleichzeitig nach Atem ringen.
Zheng hob die Augenbrauen. »Nach all den Jahren erinnern Sie sich noch an mich.«
»Wie könnte ich das vergessen?« Huang biss die Zähne zusammen. Seine Stimme rief in Zhengs Kopf das Bild einer rostigen Säge hervor, was den Polizisten allerdings nicht davon abhielt, vor Erregung zu beben.
»Ich habe Bilder, die ich Ihnen zeigen will. Neue Bilder.« Zhengs Hände zitterten so sehr, dass er um ein Haar die Kamera fallen ließ. Er stopfte das Gerät zurück in die Tasche. »Ich habe es auch nicht vergessen, nicht eine Sekunde.«
»Kommen Sie rein.«
Huang stützte sich auf einen Gehstock. Als er sich abwandte, um Zheng tiefer in seine Wohnung zu führen, fiel dem Polizisten auf, wie schlecht seine Wunden verheilt waren. Huangs Beine waren gekrümmt wie verbrannte Äste, die aus dem qualvoll aussehenden Buckel auf seinem Rücken nach unten wuchsen. Die Wohnung war klein, kaum zehn Quadratmeter. Direkt neben der Tür war eine winzige Kammer abgetrennt; Zheng lugte hinein und sah auf einer schmalen Küchenzeile einen Topf mit verkrusteten Essensresten stehen. Er ging einen Schritt weiter in die Wohnung und wischte sich Spinnweben aus dem Gesicht. Es gab ein Bett, einen Tisch und mehrere Stühle. Der einzige Gegenstand in dieser Wohnung, der ein wenig Leben zu verbreiten schien, war ein altertümlicher 20-Zoll-Fernseher. Er stand auf einem vergilbten Holzstoß und gab scheppernd eine Nachrichtensendung von sich.
Zheng empfand stechendes Mitleid für diesen Mann. Huang hätte niemals so enden sollen. Auch früher war sein Leben keineswegs luxuriös verlaufen, aber ohne das niederträchtige Verbrechen vor achtzehn Jahren könnte er sich zumindest noch auf die Straße trauen, ohne unablässig Blicken und Geflüster ausgesetzt zu sein.
Nachdem der humpelnde Mann seinem Gast einen Stuhl angeboten und sich auf der Bettkante niedergelassen hatte, vergeudete er keine Zeit mit weiteren Höflichkeiten.
»Ich verstehe das nicht. Es ist so lange her. Ich habe nie etwas gehört.«
»Das stimmt, aber ich habe nie aufgehört zu suchen. Und ich glaube, er ist wieder da.« Zheng zückte die Digitalkamera und rief die Bilder auf, die er früher am Abend geschossen hatte. »Da. Sagen Sie mir, ob Ihnen irgendjemand auffällt.«
»Die sind alle so jung.« Huang beugte sich vor und starrte auf das Display. Dann ließ er den Kopf hängen. »Das ist achtzehn Jahre her – die meisten dieser Kinder waren da noch nicht mal geboren.«
»Bitte, schauen Sie noch einmal ganz genau hin«, sagte Zheng mit finsterer Miene. »Ich habe Jahre auf solch eine Spur gewartet. Ich darf nichts übersehen. Selbst wenn es nicht die Person ist, die Sie vor achtzehn Jahren gesehen haben, könnte trotzdem ein Zusammenhang bestehen. Konzentrieren Sie sich. Wenn Sie auch nur einen Hauch von Zweifel haben, auf keinen Fall ignorieren.«
Der vernarbte Mann sah Zheng verwirrt an, schien sich aber wirklich zu bemühen. Sorgfältig betrachtete er die Bilder auf der Kamera und nahm sich für jedes mehrere Sekunden Zeit. Sobald er bei der letzten Aufnahme angekommen war, schüttelte er den Kopf.
»Mehr haben Sie nicht?« Vielleicht wollte er seinen Besucher nicht enttäuschen, denn er schob hinterher: »Was sind das überhaupt für Leute?«
Zheng antwortete nicht. Wenn es sich nicht einmal um dieselbe Person handelte, woher sollte Huang dann wissen, ob ein Zusammenhang bestand? Zhengs Bitte war alles andere als einfach, streng genommen sogar absurd. Er steckte die Kamera ein und seufzte missmutig. Huang wusste nichts. Er hatte in dieser achtzehn Jahre andauernden Tragödie nie mehr als die Rolle des Opfers gespielt.
Huang kicherte plötzlich, als hätte er Zhengs Gedanken erraten. Der Polizist konnte nicht einschätzen, wem das Lachen galt. Die gespaltene Lippe des Mannes wölbte sich nach oben und legte eine Reihe schneeweißer Zähne frei.
Zheng legte die Stirn in Falten. »Können Sie diesbezüglich keinen Arzt konsultieren?« Sobald die Worte seinen Mund verlassen hatten, zuckte er innerlich zusammen.
»Klar, ich werde gleich mal meinen Schönheitschirurgen anrufen.« Huang schnaubte, auch wenn es eher wie ein Röcheln klang. »Sehen Sie sich doch hier um. Ich kann von Glück sagen, dass ich überhaupt bis jetzt mit ein bisschen Sozialhilfe und Schrottsammeln durchgekommen bin. Lassen Sie diesen alten Mann einfach in Frieden sterben.«
»Gut, die Bilder haben Sie ja gesehen«, sagte Zheng schroff. »Rufen Sie mich auf der Stelle an, falls Ihnen irgendetwas einfallen sollte. Vielleicht komme ich bald noch mal vorbei, um Ihnen weitere Fragen zu stellen.«
Huang stemmte sich auf seinen Gehstock und erhob sich von der Bettkante. Die Enttäuschung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Da gab es nichts mehr zu sagen.
*
ZWEI TAGE SPÄTER: 21. OKTOBER, 10 : 52 UHR
HAUPTQUARTIER DER KRIMINALPOLIZEI VON CHENGDU
Im Büro von Hauptmann Han Hao war die Anspannung so groß, dass man daran hätte ersticken können. Han schlug mit der Faust auf den polierten Eichentisch und erhob sich aus seinem Sessel. Seine breiten Schultern wölbten sich unter dem himmelblauen Uniformhemd.
»Erzählen Sie mir alles!« Seine Tonlage lag knapp unterhalb eines Brüllens.
Ihm gegenüber saß Kriminalkommissar Yin Jian. Yin war ohnehin nicht hochgewachsen, unter Hauptmann Hans wütendem Blick kam er sich aber geradezu kleinwüchsig vor. Unwillkürlich zuckte er ein wenig zusammen.
»Wir haben gerade einen Anruf von der Nancheng-Wache erhalten«, sagte Yin. »Kriminalkommissar Zheng Haoming wurde ermordet.«
»Einzelheiten bitte!« In Hans Wange zuckte ein Muskel. Seine Worte jagten seinem Untergebenen einen Schauer über den Rücken.
»Vor zehn Minuten hat die Wache einen Anruf wegen eines Mords entgegengenommen. Fünf Minuten später waren die ersten Beamten vor Ort. Sie haben das Opfer als einen der Unseren identifiziert und uns umgehend informiert. Mehr weiß ich nicht. Sie sind immer noch dabei, weitere Details zusammenzutragen.«
»Dann los!« Han warf sich die Uniformjacke über und marschierte aus seinem Büro.
Yin rannte ihm hinterher. »Bei der Sache gibt es noch einen höchst ungewöhnlichen Aspekt. Der Mann, der den Mord gemeldet hat, ist ebenfalls Polizist.«
»Von der Nancheng-Wache?«
»Nein. Er sagt, er sei der Leiter der Polizei von Longzhou.«
»Longzhou?«
Han rümpfte die Nase. Longzhou war ein kleines Kaff, mit dem Auto mindestens zwei Stunden von Chengdu entfernt. Was hatte der Polizeichef eines abgelegenen Städtchens in seinem Revier zu schaffen?
Momentan blieb ihm allerdings nicht die Zeit, sich über ziellose Fragen den Kopf zu zerbrechen. Auf dem Weg von seinem Büro zum Parkplatz führte er mehrere Telefonate. Er trommelte den besten Forensiker, den besten Ermittler und die kompetenteste Suchmannschaft seiner Abteilung zusammen – alle wurden angewiesen, sich so schnell wie möglich am Tatort einzufinden.
Die Nachricht vom Mord an Kommissar Zheng hatte Schockwellen durch die Belegschaft der Polizei von Chengdu gejagt. Jeder Mord an einem Polizisten löste einen Schock aus, aber Zheng Haoming war eine lebende Legende gewesen.
Im Alter von achtundvierzig Jahren war Kriminalkommissar Zheng gestorben, nach einem Vierteljahrhundert Dienst bei der Polizei von Chengdu. Sein Talent für den Polizeidienst hatte sich unmittelbar zu Beginn seiner Karriere gezeigt. Obwohl ihm ein Abschluss der Polizeiakademie fehlte – was mittlerweile in seiner Abteilung vorausgesetzt wurde – und er daher nicht weiter hatte befördert werden können, war er zu einem Idol der Belegschaft geworden. In letzter Zeit hatte er mehr Zeit am Schreibtisch verbracht als früher, aber noch immer war die Abteilung voll von Beamten, die er persönlich in den aktiven Dienst eingeführt hatte. Selbst der cholerische Hauptmann Han war in seiner Gegenwart immer ein wenig sanftmütiger geworden.
Seine Ermordung war wie ein Dolch ins Herz jedes einzelnen Polizisten gefahren. Bei Han saß er besonders tief.
Sobald er den Dienstwagen bestiegen hatte, richtete Han seine Aufmerksamkeit auf den Beamten hinterm Steuer.
»Geben Sie Gas!«
Das Auto raste als blau-weiß blitzender Wirbelwind mit gellender Sirene die Straße hinunter.
Zwei Jahre zuvor war Zheng mit seiner Familie aus der alten Polizeibehausung in eine neue ruhige Wohnung gezogen, fernab vom Trubel der Innenstadt. Und um die verblühte Polizeibehausung nicht leer und ungenutzt herumstehen zu lassen, hatte er weiterhin die Nächte dort verbracht, in denen er Überstunden schob. So blieb er mit den Kollegen in engem Kontakt und musste Frau und Tochter nicht mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißen. Er hatte die alte Wohnung als sein Zweitbüro bezeichnet.
Jetzt lag Zheng tot in seinem Zweitbüro, beinahe in Rufweite der Polizeistation. Mit dem Bleifuß seines Fahrers erreichte Hauptmann Han die Wohnung in unter zehn Minuten.
Sie lag in einem verkehrsberuhigten Viertel in einer Ansammlung kleiner, in die Jahre gekommener Häuser aus Betonziegeln. Vor dem Hauseingang stand ein junger Polizist Wache. Han öffnete die Tür und sprang heraus, noch bevor der Wagen zum Stehen gekommen war. Sekunden später joggte er schon die Treppe hinauf.
Als er den dritten Stock erreichte, sah er zwei weitere Polizisten vor dem Eingang zur Wohnung stehen. Beide erkannten den Hauptmann sofort und begrüßten ihn respektvoll.
»Wieso stehen Sie beide hier draußen?« Han bedachte sie mit ernster Miene. »Was ist los?«
Die jungen Polizisten schauten betreten drein. Einer der beiden kratzte sich am Kopf.
»Wir sind uns auch nicht sicher. Da drin ist ein Kollege, der uns nicht reinlassen will. Er hat gesagt, dass wir draußen Wache schieben müssen.«
Sie erzählten Han, dass sie in höchster Eile zur Wohnung gefahren seien und sich der Mann, der die Notrufzentrale verständigt habe, bereits im Innern befunden habe. Beide seien sie schockiert gewesen, als er mit einer Dienstmarke gewedelt und ihnen den Zutritt verweigert habe. Da hätten sie keinen anderen Weg gesehen, als das Hauptquartier zu verständigen und vor der Tür auszuharren.
Han fletschte die Zähne. Statt die Beamten weiter zu verhören, betrat er die Wohnung, um sich selbst ein Bild zu machen.
Die Unterkunft war ein Paradebeispiel für Zweckmäßigkeit. Im Wohnzimmer standen ein Sofa, ein hölzerner Beistelltisch und ein dunkler Fernseher. Er betrat die Küche zu seiner Rechten und nahm beiläufig von den leeren Instantnudelpackungen Notiz, die sich auf der Anrichte häuften. Dann traf ihn der Geruch wie ein Schlag.
Es stank bestialisch nach Blut, nicht zuletzt dank der unzureichenden Luftzirkulation im Haus. Zheng Haoming lag im Wohnzimmer auf dem Rücken. Er musste schon seit mehreren Stunden tot sein, nach der ausgedehnten Blutlache um seinen Hals zu urteilen. Neben der Leiche kniete ein Mann auf einem Bein. Er untersuchte ein Hackmesser, das ebenfalls auf dem Boden lag.
»Sie sind der Kollege aus Longzhou?«, fragte Han.
In dem Moment betrat auch Yin Jian die Wohnung und postierte sich hinter dem Hauptmann.
Der Fremde bedachte die beiden Polizisten mit einem schneidenden Blick. Er trug eine eng anliegende Windjacke und schien um die dreißig zu sein.
Er hob die Linke und streckte Han und Yin die Handfläche entgegen. Gleichzeitig zog er mit der Rechten die Dienstmarke aus seiner Brusttasche und warf sie Han zu, der sie aus der Luft fischte.
»Hauptmann Pei Tao«, sagte Han. »Kriminalpolizei Longzhou.«
Nach einem knappen Blick auf den Ausweis des Mannes reichte er die Dienstmarke an Yin weiter. »Ausweis überprüfen«, befahl er.
Pei kniff die Augen zusammen und musterte die Kollegen.
»Einer von Ihnen ist der Leiter dieser Untersuchung, nehme ich an?«
Yin deutete auf seinen Vorgesetzten. »Hauptmann Han Hao, Kriminalpolizei Chengdu.«
Pei nickte. »Dann bin ich mir sicher, Sie haben schon eine Menge Tatorte wie diesen hier untersucht. Achten Sie einfach darauf, keine möglichen Spuren rings um die Leiche zu verwischen.«
Hans Miene verfinsterte sich. Mit einer wegwerfenden Handbewegung war Yin entlassen, der kopfschüttelnd die Wohnung verließ. Bei der Kriminalpolizei von Chengdu gab es eine unausgesprochene Regel: Niemand erteilte Hauptmann Han Befehle.
Han zeigte mit dem Finger auf den jüngeren Beamten. »Hauptmann Pei, was genau machen Sie hier?«
Pei erstarrte. Sein Gesichtsausdruck machte deutlich, dass ihm soeben aufgegangen war, wie Han seine bisherigen Bemerkungen aufgefasst haben musste. Sofort stand er auf.
»Ich bin hergekommen, um mich in einer Privatangelegenheit mit dem Kommissar zu treffen. Ich hatte keine Ahnung, dass er …«
»Da Sie aus persönlichen Gründen hergekommen sind«, unterbrach Han ihn kalt, »werden Sie den Tatort auf der Stelle verlassen. Melden Sie sich draußen bei Kommissar Yin. Er wird Ihre Zeugenaussage aufnehmen.«
Pei heftete seinen Blick an den großen, athletischen Polizeihauptmann. Han starrte eiskalt zurück. Auf dem Gang wurden Stimmen laut; kurz darauf ergossen sich Forensiker und weitere Ermittler in einem Strudel aus Uniformen und Ausrüstung in die Wohnung.
»Los jetzt«, sagte Han. »Ich will nicht, dass Sie uns bei der Arbeit dazwischenfunken.«
Pei nickte knapp, entfernte sich von der Leiche und blieb direkt vor Han stehen.
»Ich habe bereits ein paar Hinweise gesammelt. Vielleicht sollten wir unsere Theorien bezüglich des Mordmotivs austauschen.«
»Täuschen Sie sich nur nicht, Hauptmann Pei. Als Zeuge und als derjenige, der dieses Verbrechen gemeldet hat, sind Sie gesetzlich dazu verpflichtet, im Zuge der Ermittlung mit uns zu kooperieren. Aber das wissen Sie sicher. Sie haben ja bestimmt schon viele Tatorte wie diesen untersucht.« Die fernen Ausläufer eines Grinsens stahlen sich in Hans Gesicht.
Yin steckte den Kopf zur Tür herein. »Bitte hier entlang, Hauptmann Pei.« Sein Verhalten kontrastierte angenehm mit dem seines Vorgesetzten. Pei sah seine Chance, sich aus dieser unschönen Situation zu befreien, nickte und verließ die Wohnung. Han begann mit seiner Untersuchung des Tatorts.
*
Yin begab sich mit Pei in einen ruhigeren Abschnitt des Hausflurs. Sein Blick blieb an einem faustgroßen Blutfleck hängen, der Peis linkes Hosenbein verklebte.
»Das gehört alles zum normalen Betriebsablauf. Zunächst hätte ich gerne Ihren genauen Bericht über das, was passiert ist, angefangen bei Ihrer Ankunft am Tatort.« Yin holte Stift und Notizblock hervor.
Durch die Fenster kroch das Heulen nahender Sirenen, dann sahen die beiden Männer mehrere Einsatzwagen vor dem Gebäude halten. Hans Verstärkung war eingetroffen.
Pei bedachte Yin mit einer wegwerfenden Geste. »Wir haben später alle Zeit der Welt, um zu diskutieren, was passiert ist. Im Moment gibt es etwas Wichtigeres zu sortieren. Haben Sie Befehlsgewalt über die Kollegen, die gerade eingetroffen sind?«
Yin schüttelte den Kopf. »Hauptmann Han ist drüben in der Wohnung. Warum sollten sie auf mich hören statt auf ihn?«
»Wenn das so ist, teilen Sie dem Hauptmann bitte mit, dass er auf der Stelle eine stadtweite Fahndung nach unserem Mörder in die Wege leiten muss. Er ist männlich, schlank und um die eins fünfundsechzig groß. Er könnte an einer Hand eine Verletzung von einem Messer davongetragen haben. Und er war irgendwann zwischen elf Uhr gestern Abend und zwei Uhr heute Morgen in dieser Gegend.« Seine Augen funkelten, während er die Details herunterleierte.
Yin wand sich unruhig. »Ausgeschlossen, dass der Hauptmann dem einfach so zustimmt.«
»Sie wissen, dass ich recht habe.« Pei klang entschlossen und selbstbewusst, das war nicht zu bestreiten.
Yin rang sich ein Lächeln ab. »Nein, ich fürchte, Sie verstehen nicht. Ob ich Ihnen glaube oder nicht, spielt keine Rolle. Sie müssen tun, was der Hauptmann sagt, nicht andersrum.«
Erschöpfung stahl sich in Peis Gesichtszüge.
»Von mir aus. Dann halten Sie genau fest, was ich jetzt sage. Mein Besuch hier war privater Natur. Heute Morgen um 9 : 52 Uhr habe ich Kommissar Zheng in seinem Büro angerufen. Er hob nicht ab. Ich bin mit einem Ihrer Kollegen verbunden worden, der mir Zhengs Handynummer gab. Abermals keine Reaktion. Schließlich habe ich eine seiner Tanten erreicht, die mir sagte, er übernachte oft in dieser Wohnung, wenn er länger arbeiten muss. Um 10 : 37 Uhr bin ich hier angekommen.
Ich habe geklopft. Wieder keine Reaktion, aber ein starker Geruch hatte sich bis auf den Gang ausgebreitet. Die Tür war nicht abgeschlossen. Ich habe sie geöffnet, die Leiche gesehen und sofort die Kollegen verständigt. Dann habe ich eine erste Untersuchung des Tatorts vorgenommen. Die Kollegen von der zuständigen Wache trafen um 10 : 49 Uhr ein – zwölf Minuten nach meinem Anruf. Um den Tatort ungestört zu belassen, habe ich ihnen verboten, die Wohnung zu betreten. Um fünf nach elf sind Sie dann mit dem Hauptmann eingetroffen.«
Pei rezitierte seine Informationen fließend wie ein Schauspieler, der seinen Text auswendig gelernt hat.
»9 : 52 Uhr. Ihre Zeitangaben sind überaus … präzise«, sagte Yin mit merklichem Zweifel.
Der Mann aus Longzhou sah ihn grimmig an. »Die Zeitangaben stimmen – verlassen Sie sich drauf. Meine Uhr geht immer genau.«
Nachdem er alles, was er niedergeschrieben hatte, noch einmal durchgegangen war, hob Yin den Kopf und sah Pei an.
»Kannten Sie Kommissar Zheng?«
Zu Yins Verblüffung schüttelte Pei den Kopf. »Nein.«
»Was hatten Sie dann Persönliches mit ihm zu regeln?«
Pei zögerte. »Es ging um Einzelheiten in einem ganz anderen Fall. Einem Fall, für den Kommissar Zheng zuständig war.«
»Ein Fall?« Yin kratzte sich die Nasenspitze. Diese Antwort verwirrte ihn nur noch mehr. »Wäre es dann nicht doch eine offizielle Angelegenheit?«
Pei schwieg eine ganze Weile. Dann antwortete er wesentlich bedächtiger als zuvor. »Der Fall liegt achtzehn Jahre zurück. Ich war eine der involvierten Personen – vor meiner Zeit als Polizist.«
»Also alles Schnee von vorgestern. Was hat Sie dazu gebracht, diese Angelegenheit all die Jahre später wieder aufzurollen?« Yin schürzte die Lippen. »Aber bleiben wir bei der Sache. Beschreiben Sie bitte möglichst exakt, wie Sie den Tatort vorgefunden haben.«
Pei sah ihn entgeistert an. Sein Tonfall wurde frostig.
»Ich würde nicht sagen, dass die beiden Fälle nichts miteinander zu tun haben.«
Yin wand sich unter Peis starrem Blick. »Von welchem Fall reden wir denn hier, bitte?«
Pei begriff, dass sein Kollege nervös und unberechenbar war. Er zwang sich, einmal tief durchzuatmen, und fragte dann so ruhig wie möglich: »Wie lange sind Sie schon bei der Polizei?«
»Knapp zwei Jahre«, antwortete sein Gegenüber wahrheitsgemäß.
»Mit Abschluss der Polizeiakademie von Sichuan?«, fragte Pei. Es war die renommierteste Polizeischule der Provinz.
»So ist es. Master in Strafrechtliche Ermittlungen.«
»Dann sind wir mehr oder weniger Klassenkameraden.« Pei lächelte Yin an, seine Augen blitzten fröhlich. »Ich habe dort 84 meinen Abschluss gemacht. Gleicher Master wie Sie. Unterrichtet Wei immer noch?«
»Absolut!« Der junge Beamte nickte begeistert. »Ich hatte bei ihm eine Vorlesung über Beweisfindung.«
»Wei und ich waren zusammen auf der Akademie«, sagte Pei und klopfte Yin auf die Schulter. »Sie können sämtliche alten Ausbilder in unserer Abteilung fragen, die erinnern sich bestimmt alle noch an mich.«
»Was sagt man dazu!« Yin gab sich keine Mühe, sein Gefühl frisch erwachter Kameradschaft zu verbergen.
Peis Gesichtszüge verhärteten sich wieder. »Ich hoffe, ich habe deutlich gemacht, wie ernst es mir ist. Gehe ich recht in der Annahme, dass ich Ihnen vertrauen kann? Ich brauche nämlich Ihre Hilfe.«
Yin nickte ohne Zögern. Peis Ausstrahlung war ansteckend. Er hatte die Zweifel des jungen Beamten mit beinahe brüderlicher Zärtlichkeit zerstreut.
»Ausgezeichnet.« Pei rieb sich zufrieden das Kinn. Seine Lippen verzogen sich zu einem verhaltenen Lächeln. »Sie brauchen mir über diesen alten Fall nicht allzu viele Fragen zu stellen. Zumindest jetzt nicht. Erst habe ich selbst ein paar Fragen. Hat sich Kommissar Zheng in den letzten Tagen irgendwie komisch benommen? Hat er irgendetwas Ungewöhnliches gesagt oder getan?«
Yins Brauen zerfurchten sich vor Konzentration, während er seine Schuhe betrachtete. »Etwas Ungewöhnliches? Er hat die letzten Tage größtenteils im Außendienst verbracht und war kaum auf der Wache, aber das ist nicht ungewöhnlich. Ich bin mir sicher, Sie verbringen auch viel Zeit im Einsatz.«
»An wie vielen Fällen hat er gleichzeitig gearbeitet?«
Yin schüttelte den Kopf.
»An keinem. Na ja, Zheng war eindeutig kein junger Hüpfer mehr. Die Abteilung hat ihn schon seit einiger Zeit nicht mehr mit der Leitung neuer Fälle betraut. Seine Arbeit drehte sich hauptsächlich um Analyse und Überwachung. Trotzdem war er ständig beschäftigt. Selbst wenn er keine festen Aufgaben zugeteilt bekommen hat, war er meist draußen unterwegs. Wollte ›den Puls der Stadt fühlen‹«, sagte Yin. Plötzlich leuchteten seine Augen auf. »Da fällt mir etwas ein! Ich glaube, seine Arbeit in den letzten paar Tagen hatte hauptsächlich mit irgendeiner vorläufigen Überwachung zu tun.«
Pei lupfte eine Braue. »Woher wissen Sie das? Hat er mit Ihnen über seine Arbeit gesprochen?«
»Nein, der Kommissar war immer recht zugeknöpft. Kein besonders geselliger Mensch. Ich gehe aber davon aus, dass er irgendwen observiert hat, weil er jeden Tag eine Digitalkamera dabeihatte.«
»Eine silberne Nikon?«, fragte Pei sofort.
»Ja, genau. Unsere Kameras sind alle das gleiche Modell. Woher wissen Sie das?«
»In der Wohnung liegt so eine Nikon. Auf dem Beistelltisch im Wohnzimmer.«
Pei schaute an Yin vorbei. Zwei der Neuankömmlinge bewachten mit ernster Miene die Tür. Peis Chancen darauf, die Wohnung noch einmal zu betreten, standen gleich null. Die einzige Aussicht auf Erfolg bestand darin, sich der Hilfe seines neuen Kameraden zu versichern.
»Ich muss so schnell wie möglich sehen, was sich auf der Kamera befindet«, flüsterte er. »Glauben Sie, Sie könnten sie mir besorgen?«
Yin zögerte. »Na gut … ich werd’s versuchen. Aber der Hauptmann hat das letzte Wort.«
Pei nickte. Das schmeckte ihm zwar gar nicht, aber er wusste, dass Yin die Hände gebunden waren. Der Beamte war schließlich Hans Untergebener.
Zum Glück enttäuschte Yin ihn nicht. Kurze Zeit später trat er wieder aus der Wohnung und hielt eine mattsilberne Kamera in den frisch angelegten Latexhandschuhen.
»Ich kann Ihnen die Fotos auf der Speicherkarte zeigen, aber Sie dürfen die Kamera nicht selbst berühren. Befehl des Hauptmanns.«
Pei verfolgte aufmerksam, wie Yin die Bilder durchging, die Zheng in letzter Zeit geknipst hatte. Sein Blick klebte am Display. Hin und wieder verzog er das Gesicht und bat Yin, auf einem bestimmten Bild zu verharren. In jedem dieser Fälle zückte er Stift und Notizblock, um hastig ein paar Stichworte niederzuschreiben. Eine halbe Stunde später war Yin endlich beim letzten der dreihundert Bilder auf der Speicherkarte angekommen.
Pei stieß einen langen Atemzug aus. »Alles klar. Diese Bilder folgen einem festen Muster. Allerdings gibt es ein paar verdächtige Details, die man sich merken sollte. Das Wichtigste ist aber, dass wir jetzt eine vielversprechende Spur in der Hand halten.«
»Ich will versuchen, das Muster zu begreifen, von dem Sie reden. Die Bilder wurden in verschiedenen Internetcafés gemacht. Zheng hat jeweils aus einer versteckten Position geknipst, will sagen, die Zielpersonen haben nicht bemerkt, dass sie fotografiert wurden. Ich habe insgesamt siebenundfünfzig Personen gezählt, in erster Linie Teenager und junge Erwachsene. Allerdings scheinen sie abgesehen vom Alter nichts gemeinsam zu haben. Ich frage mich also, was Zheng damit bezwecken wollte, diese Leute zu fotografieren.« Yin hatte ein eifriges Funkeln in den Augen. »Habe ich irgendwas vergessen?«
Ohne es zu merken, hatte er Pei die Zügel ihrer Unterhaltung übergeben.
»Ihre Zählung lag um eins daneben. Wenn Sie die Bilder noch mal durchgehen, werden Sie feststellen, dass Zheng insgesamt achtundfünfzig Personen abgelichtet hat.« Pei ließ seinen Kugelschreiber zwischen den Fingern zwirbeln.
»Soll das heißen, ich habe mich verzählt?« Yin sah Pei verdutzt an.
»Nein, Sie haben richtig gezählt. Auf den Bildern sind siebenundfünfzig verschiedene Personen zu sehen. Ist Ihnen aufgefallen, dass jedes Bild einzeln benannt ist?«
Yin fummelte an der Kamera herum. »Stimmt. Sie sind durchnummeriert.«
»Die Bilder werden automatisch der Reihe nach benannt«, sagte Pei. »Der springende Punkt ist aber – die sechs Bilder, die mit 280 bis 285 benannt sein sollten, fehlen.«
»Tatsache«, sagte Yin. Auf einmal schien er zu verstehen. »Da kann es sich kaum um ein Fehler handeln. Auf diesen Bildern könnte eine achtundfünfzigste Person zu sehen gewesen sein.«
»Aber wer hat sie gelöscht? Und weshalb?«, murmelte Pei. »Die Sache ist nicht so einfach, wie sie aussieht.«
»Sie meinen, es hat etwas mit dem Mord an Zheng zu tun?«, fragte Yin. »Ob der Kommissar versucht hat, diese achtundfünfzigste Person ausfindig zu machen? Und sind wir in dem Fall nicht ein bisschen spät dran? Der Täter hat unseren wichtigsten Hinweis bereits vernichtet. Ich wette, die restlichen Leute auf diesen Bildern haben absolut nichts mit dem Fall zu tun.«
»Wir haben trotzdem noch ein paar andere Hinweise. Wir können zumindest versuchen herauszufinden, wonach der Kommissar überhaupt gesucht hat.«
»Wie sollen wir das anstellen?«, fragte Yin mit unverhohlener Neugier.
Pei deutete auf eine der Notizen, die er sich während der Sichtung der Bilder gemacht hatte: Internetcafé Skyline, 19. Oktober, 15 : 47 Uhr.
»Auf den letzten paar Bildern«, sagte Pei, »sind hinter der Zielperson die Scheiben des Cafés zu erkennen. Auf dem Aufkleber steht eindeutig ›Internetcafé Skyline‹. Und laut Zeitstempel der Dateien sind die Bilder vor zwei Tagen am Nachmittag geschossen worden.«
»Das leite ich sofort an den Hauptmann weiter«, sagte Yin mit Bewunderung.
»Falls der zuhören will. Jetzt muss ich erst mal einem eigenen Hinweis nachgehen.« Pei riss eine Seite aus seinem Notizblock und kritzelte eine Telefonnummer darauf. »Bitte melden Sie sich bei mir, sobald irgendwas passiert.«
Pei gab Yin noch einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, dann verschwand er die Treppe hinab.
*
Zwei Stunden später fand sich die Kriminalpolizei von Chengdu zu einer Einsatzbesprechung ein. Die ranghöchsten Offiziere jeder Wache und Nebenstelle auf Stadtgebiet waren vertreten. Die Stimmung im Raum war beinahe feierlich. Alle Blicke ruhten auf Hauptmann Han. Der Mann war aschfahl.
»Wie Ihnen sicher allen bekannt ist, gab es heute Morgen einen brutalen Mord.« Hans Stimme versagte, während er sich verzweifelt bemühte, die Trauer und die Wut zu zügeln, die in seinem Herzen kochten. »Auf die Identität des Opfers muss nicht weiter eingegangen werden. So, nun zum Tatort.«
Neben Han stand sein Assistent Yin, der auf ein Zeichen des Hauptmanns den unter der Decke montierten Projektor einschaltete. Die breite Leinwand füllte sich mit Fotografien des Tatorts.
»Die Leiche weist drei große Messerverletzungen auf: eine Stichwunde im Bauch, einen Einschnitt im rechten Oberarm und eine tiefe Schnittwunde in der Kehle. Letztere war die Todesuhrsache. Die Klinge hat die Halsschlagader durchtrennt und zu massivem Blutverlust geführt, dem er kurz darauf erlegen ist. Laut der gerichtsmedizinischen Untersuchung ist der Tod zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens eingetreten.«
Eine Reihe von Detailaufnahmen erschien auf der Leinwand, um Hans Ausführungen zu untermalen. Die Menschen in diesem Raum waren mit Gewalt wohlvertraut, trotzdem ließen die Fotos von dunklem Blut um den Leichnam eines gefallenen altgedienten Kameraden niemanden kalt.
Zheng Haoming hatte die Augen geschlossen, sein Mund jedoch war aufgerissen, als hatte er schreien wollen. Eine Nahaufnahme der brutalen Schnittwunde in seinem Hals. Darunter ein Lineal, das die Länge der Wunde präzise mit sechs Komma neun Zentimeter bemaß.
»Ausgehend von diesen Wunden hat der Mörder eine kleine, rasiermesserartige Waffe benutzt. Des Weiteren wurde ein Hackmesser am Tatort zurückgelassen. Die Nachforschungen unserer Techniker haben ergeben, dass die Fingerabdrücke an Griff und Klinge zum Opfer gehören. Es scheint also, als habe das Opfer versucht, sich damit zu verteidigen. Anhand dieses Befunds und weiterer Hinweise können wir mit Sicherheit sagen, dass das Opfer vor seinem Tod in eine gewalttätige Auseinandersetzung mit dem Mörder verstrickt war.«
Han gab Yin ein Zeichen. Bilder aus anderen Bereichen von Zhengs Wohnung blitzten über die Leinwand.
»Diese Kerbe in der Platte des Beistelltischs im Wohnzimmer ist erst vor Kurzem entstanden. Sie lässt auf den Aufprall eines scharfkantigen Objekts schließen. Möglicherweise Zhengs Hackmesser. Die Gegenstände in der Vitrine waren vollkommen durcheinander, offenbar ist die Vitrine also ebenfalls getroffen worden. Hier finden sich eine Menge Blutspritzer. Wie es aussieht, hat das Opfer seine tödliche Wunde in unmittelbarer Nähe erlitten …«
Eumenides
EIN AUFRUF ZU GERECHTIGKEIT
Diese Welt wird von befleckten Seelen bewohnt. Die Polizei sollte das Werkzeug sein, mit dem die Gesellschaft gereinigt wird, aber die Polizei ist schwach.
Menschen begehen Verbrechen, die aber viel zu oft nicht in den Zuständigkeitsbereich der Polizei fallen. Oder die Polizei ist nicht in der Lage, ausreichend Beweise für eine Verurteilung zu finden. Zu häufig sind Missetäter in der Lage, sich ihrer gerechten Strafe durch Bestechung zu entziehen.
Die Gesellschaft braucht eine andere Art von Gerechtigkeit.
Ich werde Gerechtigkeit herstellen.
Ich werde die Welt vom Bösen befreien.
Nur ist die Liste der Missetäter noch nicht geschrieben.
Ihr habt die Chance, sie zu schreiben.
Sagt mir, wer es verdient hat, auf dieser Liste zu stehen.
Sagt mir, wer es nicht verdient hat, länger auf dieser Erde zu leben.
Sagt mir, wer sich dem Einfluss der Polizei entzogen hat.
Nennt mir ihre Namen.
Erzählt mir, was sie getan haben.
Ich werde über sie richten.
Euch bleiben zwei Wochen, dann werde ich die endgültige Fassung meiner Liste veröffentlichen.
»Es könnte sich schlicht um einen blöden Streich handeln.« Han schüttelte unentschlossen den Kopf. »Solche Sachen liest man im Internet doch ständig.«
»Einen Streich?« Pei stieß ein bitteres Lachen aus und beugte sich sichtlich empört über Hans Schreibtisch. »Das ist doch ungeheuerlich! Zheng hat wegen dieser Sache sein Leben verloren. Und er war auch nicht der Erste, der deswegen gestorben ist. Vor achtzehn Jahren …«
Han hakte sofort nach: »Was ist vor achtzehn Jahren passiert?«
Pei richtete sich auf und schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht.«
Han schlug mit der flachen Hand auf seinen Schreibtisch und starrte Pei an.
»Das ist alles unter Verschluss«, sagte Pei mit ernster Miene.
»Sie können mir wirklich gar nichts darüber sagen?«
»Vor achtzehn Jahren gab es hier in Chengdu eine Ermittlung. Die Hintergründe dieses Falls waren derart verstörend, dass man ihn auf höchster Ebene zur Geheimsache erklärt hat, um keine Panik zu verbreiten.
Alle Ermittlungen in diesem Fall sind im Geheimen durchgeführt worden, und zwar von einer Sondereinsatzgruppe, die genau für diesen speziellen Fall zusammengestellt wurde. Nur haben sie die Ermittlungen nie abgeschlossen.« Pei maß Han mit einem widerwilligen Blick. »Tut mir leid, aber mehr kann ich darüber im Moment nicht sagen.«
»Der Fall ist unter Verschluss, aber trotzdem scheinen Ihnen sämtliche Details vorzuliegen.«
In Peis Augenwinkel zuckte es. Die Aussage schien einen Nerv getroffen zu haben. Seine Stimme klang jetzt fast wie ein Knurren.
»Ist das so schwer zu begreifen? Ich war … involviert. Dieser Fall war der Grund dafür, dass meine Karriere in die Brüche gegangen ist. Ich wurde von einem der Mitglieder dieser Einsatzgruppe verhört. Von Kommissar Zheng.«
Der Hauptmann riss die Augen auf. Endlich fügten sich die Fakten zu einem schlüssigen Bild. Ursache und Wirkung.
Pei Tao war von Anfang an in diesen Fall verstrickt gewesen. Achtzehn Jahre nach der ursprünglichen Untersuchung hatte er einen seltsamen Brief bekommen und war nach Chengdu zurückgekehrt. Dann hatte man Zheng ermordet. Ein neues Kapitel der alten Tragödie hatte begonnen.
Aber was genau hatte Zheng vor so vielen Jahren untersucht?
Als Han Pei endlich wieder ansah, war sein Gesichtsausdruck unergründlich. Er gab sich Mühe, so gelassen wie möglich zu wirken. »Wenn Sie mir nichts darüber verraten können, warum sind Sie dann hier?«
Pei starrte dem Hauptmann fest in die Augen und wählte seine Worte mit Bedacht. »Um Sie dringend darum zu bitten, auf der Stelle ein Gesuch an Ihre Vorgesetzten zu stellen. Ich bin hergekommen, damit Sie den Fall freigeben lassen und die Einsatzgruppe 18 / 4 wieder ins Leben rufen!«