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Zum Buch

Saras Kindheit ist geprägt von Gewalt. Ihre Mutter hat es nie geschafft, sich von ihrem cholerischen Mann zu trennen, obwohl er nicht nur ihr Leben, sondern auch das der kleinen Sara massiv gefährdete. Jahre sind seitdem vergangen. Als Sara das von der Großmutter geerbte Haus in direkter Nachbarschaft zu ihrem Vater bezieht, bemüht sie sich zunächst, ein halbwegs friedliches Verhältnis zu ihm aufzubauen. Aber irgendwann kommt es wegen einer Banalität zum Eklat: Der Vater schlägt seiner erwachsenen Tochter mit der Faust ins Gesicht. In Sara erwacht die Löwenmutter. Werden ihre Kinder die nächsten sein? Es muss doch jemanden geben, der dem Vater einen Denkzettel verpasst! Eine Zufallsbekanntschaft scheint vorerst zum gewünschten Ziel zu führen. Doch dann läuft alles aus dem Ruder. Sara steht ihrem Peiniger vor Gericht gegenüber, jedoch nicht als Opfer. Die Anklage gegen sie lautet: Versuchter Mord.

Zur Autorin

Hera Lind studierte Germanistik, Musik und Theologie und war Sängerin, bevor sie mit zahlreichen Romanen sensationellen Erfolg hatte. Seit einigen Jahren schreibt sie ausschließlich Tatsachenromane, ein Genre, das zu ihrem Markenzeichen geworden ist. Mit diesen Romanen erobert sie immer wieder die SPIEGEL-Bestsellerliste. Zuletzt stieg »Die Hölle war der Preis« direkt auf Platz 1 ein, gefolgt von »Die Frau zwischen den Welten« und »Grenzgängerin aus Liebe« jeweils auf Platz 2. Hera Lind lebt mit ihrer Familie in Salzburg.

HERA

LIND

Mit dem Rücken

zur Wand

Roman nach einer wahren Geschichte

Vorbemerkung

Dieses Buch erhebt keinen Faktizitätsanspruch. Es basiert zwar zum Teil auf wahren Begebenheiten und behandelt typisierte Personen, die es so oder so ähnlich gegeben haben könnte. Diese Urbilder wurden jedoch durch künstlerische Gestaltung des Stoffs und dessen Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus dieses Kunstwerks gegenüber den im Text beschriebenen Abbildern so stark verselbstständigt, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der Figuren objektiviert ist.

Für alle Leser erkennbar, erschöpft sich der Text nicht in einer reportagehaften Schilderung von realen Personen und Ereignissen, sondern besitzt eine zweite Ebene hinter der realistischen Ebene. Es findet ein Spiel der Autorin mit der Verschränkung von Wahrheit und Fiktion statt. Sie lässt bewusst Grenzen verschwimmen.

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Originalausgabe 12/2021

Copyright © 2021 by Diana Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagmotive: © plainpicture/Caterina Sansone; Shutterstock.com

(Anna Issakova; Tishchenko Dmitrii; pinkeyes)

Fotos der Autorin: © Erwin Schneider, Schneider-Press

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-24547-4
V002

www.diana-verlag.de

1

Großstadt, 21. Juni 2017

Nebenan laufen die Lokalnachrichten im Radio.

»Heute beginnt der Prozess gegen die drei Angeklagten, die Ende letzten Jahres einen einundsiebzigjährigen Senior gemeinschaftlich schwer körperlich verletzt haben. Die Anklage lautet »versuchter Mord«. Es handelt sich um eine Auftragstat, und eine der Angeklagten soll die Tochter des Opfers sein.«

Das Radio führt mir die Realität vor Augen.

Es ist so weit.

Der Prozess beginnt.

Der Prozess gegen drei Straftäter. Und einer davon bin ich. Ich bin die Tochter des »Opfers«.

Dabei bin ich, Sara, selbst das Opfer. Er war immer der Täter.

Meine beste Freundin Marea fährt uns nach Großstadt. Mein Lebensgefährte Daniel soll als Zeuge aussagen. Ist er überhaupt noch mein Lebensgefährte? So wie er sich aus der Affäre gezogen hat? Diese entsetzliche Tat hat nicht nur gerichtliche Folgen, viel schlimmer sind die emotionalen. Ich habe nicht nur meinen Vater verloren, sondern auch meine Schwester, meinen Freund, meine Würde.

Und jetzt betrete ich doch tatsächlich die große weiße Treppe des Gerichtsgebäudes in Großstadt.

Auf der anderen Seite der Treppe befindet sich ein Zimmer, eine Art Wartezimmer. Ich sehe Stühle, die sich die Wand entlangreihen. Auf einem von ihnen sitzt meine Schwester. Sie schaut mich nicht an. Schließlich handelt es sich bei dem lebensgefährlich verletzten Opfer um unseren Vater. Sie ist als zweite Zeugin geladen. Die Angst, hier und jetzt meinem Vater zu begegnen, überwältigt mich, und ich werfe einen Blick auf die große Wanduhr. Neun Uhr, es ist an der Zeit, in den großen Saal zu gehen. Ich nehme den Glücksbringer meiner Freundin Marea entgegen. Sie drückt mir fest die Hand und lächelt mir aufmunternd zu. Sie wird im Publikum sitzen. Es tut gut zu wissen, dass sie da ist. Der einzige Mensch, der noch zu mir steht. Außer meinen Kindern, aber die halte ich da raus. Im Moment sind sie bei Freunden.

Ein letztes Mal atme ich tief ich durch, genauso wie damals an jenem kalten Winterabend, bevor ich meine Zelle betrat. Als sie mich aus meiner Wohnung geholt und abgeführt hatten. Wegen des Verdachts auf Anstiftung zum Mord. An meinem Vater.

Mein Anwalt öffnet die Tür zum Verhandlungssaal, und wir gehen zusammen hinein.

Der Saal ist groß. Links befinden sich die Reihen für die Zuschauer. Vorne sehe ich die Plätze für die Richter auf einem Podest. Drei Richter und zwei Schöffen werden sich meiner Geschichte annehmen. Sie sind noch nicht da, die Stühle noch frei. Hoffentlich sind es nicht nur Männer. Hoffentlich sind Frauen dabei, die mich verstehen können.

Mein Herz setzt einen Schlag aus. Da sitzt er. Heinz Hartmann, mein Vater. Neben ihm sein Anwalt. Mit dem Rücken zu den riesigen Fenstern. Die Sonne taucht ihn in helles Licht wie einen Heiligen.

Dabei war er das nie. Im Gegenteil. Er war der Täter, und Mutter und ich die Opfer.

Doch ich, Sara, bin angeklagt. Und Helga, seine bisherige Lebensgefährtin. Wir beide haben das gemeinsam ausgeheckt. Und die Sache ist komplett aus dem Ruder gelaufen.

Rechts vor den Richtern befindet sich die Anklagebank. Helga und ihr Anwalt sitzen bereits. Die Anklagebank besteht aus zwei Reihen. Die hintere ist ebenfalls erhöht. Wir gehen zügig an allen vorbei, und ich sehe ein Schild mit meinem Namen. Helga und ich werden mit unseren Anwälten in der ersten Reihe sitzen, Marius hinter mir in der zweiten Reihe. Marius hat die Tat ausgeführt. Brutal und hinterhältig. Aber wir wollten das nicht. Nicht so. Sein Anwalt ist schon da. Hinter der Anklagebank befindet sich ein Aufzug. Gleich werde ich auf Marius treffen, der nur meinetwegen heute hier ist. Nur weil ich ihn in diese Situation gebracht habe. Er wollte mir einen Gefallen tun. Er wäre sonst längst auf seiner lang ersehnten Weltreise, mit dem Motorrad, auf das er so lange gespart hat. Nun drohen ihm viele Jahre Haft. Meinetwegen. Oder weil die Sache so aus dem Ruder gelaufen ist. Wegen meines Vaters!

Mein Anwalt tritt einen Schritt zur Seite und lässt mich auf meinen Platz. Er trägt einen schwarzen Talar, der ihm bis zu den Knien reicht. Darunter trägt er Jeans und ziemlich lässige Schuhe. Links sind zwei Plätze frei, dann kommt der Platz von Helgas Anwalt, dann ganz außen Helga. Sie hat verweinte Augen und weicht meinem Blick aus.

Mein Vater beobachtet das Geschehen seelenruhig. Wie er immer alles, das er angerichtet hat, seelenruhig an sich hat abprallen lassen. Als wohnte er einem interessanten Schauspiel und seinen überraschenden Folgen bei. Er spricht mit seinem Anwalt, der nickt. Ich hänge meine Jacke über die Stuhllehne. Ich trage ein weißes T-Shirt, eine Bluejeans und schwarze Stiefeletten. Ich werde etwas langsamer in meinen Bewegungen, um mich auf so viel wie möglich zu konzentrieren. Die Anwälte begrüßen sich mit Handschlag und ein paar launigen Bemerkungen, und meiner beginnt, sein mir bekanntes Köfferchen auszuräumen und seinen Laptop hochzufahren. Für ihn ist das ein Job. Für mich der Dreh- und Angelpunkt meines Lebens: Vielleicht komme ich ins Gefängnis.

Ich bin Mutter zweier kleiner Kinder. Sie haben nur noch mich. Ich will nicht ins Gefängnis!

Eher tue ich mir etwas an.

Und dann ist es endlich so weit. Hinter mir setzt sich ratternd der Aufzug in Bewegung. Mein Herz rast. Die Aufzugtüre gleitet auf. Marius wird von zwei Beamten hereingeführt. Er trägt Handschellen und schaut stur auf den Boden. Ich lasse ihn nicht aus den Augen. Marius, bitte schau mich an. Nur ein kurzer Blick, Marius. Ich weiß, dass du das, was du getan hast, nicht mit Absicht gemacht hast.

Die Beamten und die Anwälte begrüßen einander, und Marius schaut stur zu Boden. Ich bin nervös, ich möchte ihn ansprechen, aber ich weiß nicht, ob ich das darf, also bleibe ich stumm. Ich stehe da und starre ihn an, und plötzlich hebt er seinen Blick. Wir schauen uns in die Augen, und sofort senkt er die Lider wieder. Ich versuche zu verstehen, zu interpretieren, aber da gibt es nichts zu verstehen, nichts zu deuten. Wieder schaut er mir in die Augen und dann gleich wieder auf den Boden, wie ein kleines Kind, das man zur Strafe in eine Ecke verbannt hat. Oh, bitte, lass mich wissen wie es dir geht!, flehe ich innerlich. Ob du böse auf mich bist, ob du mich jetzt hasst, ob du es bereust, mich jemals kennengelernt zu haben, ob du mir insgeheim Rache schwörst.

Ein Beamter nimmt ihm die Handschellen ab, und Marius setzt sich neben seinen Verteidiger. Ich setze mich auch, direkt vor ihn. Wirst du mich jetzt mit Blicken erdolchen, Marius? Mein Anwalt setzt sich neben mich. Ich schaue geradeaus. Da sitzt er, mein Vater, mit verschränkten Armen. Vor und hinter mir sitzen die Täter, die mich selbst zur Täterin gemacht haben. Vorne haben zwei Männer Platz genommen. Das müssen die Gutachter sein. Behutsam überfliege ich die Zuschauerreihen. Ich sehe meine Marea. Ihre dunklen Haare glänzen im Neonlicht. Sie nickt mir unmerklich zu. Ich drücke ihren Glücksbringer. Weiter hinten sehe ich drei Männer aus dem Dorf. Sie sind mit meinem Vater befreundet. Einer von ihnen war sogar bei ihm zu Besuch, als er aus dem Krankenhaus kam. Er hat tatsächlich noch Freunde?

In der vordersten Reihe sitzen drei Leute von der Presse. Sie sind mit Zettel und Stift ausgestattet sowie mit einer Kamera. Hinter ihnen hat ein älteres Paar Platz genommen, das ich gar nicht kenne. Dann sehe ich noch zwei Frauen, die mir ebenfalls fremd sind.

Ich hole die Unterlagen aus meiner Tasche, die ich in den letzten Monaten angesammelt habe, und ein Päckchen Traubenzucker. Wie auf Kommando springen die drei von der Presse auf und fangen an, Fotos von uns zu machen. Mein Anwalt reicht mir ein Blatt Papier, das ich mir vors Gesicht halten soll. Mein Herz klopft stark. Solche Szenen kannte ich bisher nur aus dem Fernsehen, von Gerichtsverhandlungen, bei denen es um Mord oder Vergewaltigung ging. Ich sehe, dass Marius sich mit einem Heft behilft. Auch Helga hält sich ein Blatt Papier vors Gesicht.

»Warum hören die denn nicht auf?«, flüstere ich meinem Anwalt zu. »Die müssen doch merken, dass wir das alle drei nicht wollen!«

»Weil sie es dürfen.« Herr Wied bemüht sich um Gelassenheit. »Die dürfen jetzt so lange fotografieren, bis die Richter reinkommen.«

Die Penetranz der Fotografen macht mich wütend. Akzeptiert man es nicht, wenn jemand nicht fotografiert werden möchte? Als hätte ich nicht schon genug Adrenalin im Körper!

Plötzlich öffnet sich hinter den Richterstühlen eine Tür. Drei Richter, zwei Schöffen, der Staatsanwalt und eine Gerichtsschreiberin kommen herein und stellen sich an ihre Plätze. Die Fotografen sind in ihren Bereich zurückgeeilt, und alle erheben sich.

Es sind tatsächlich ausnahmslos Männer, bis auf die Protokollantin. Und die hat nichts zu entscheiden.

Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Werden die Männer mich verstehen?

»Guten Tag«, begrüßt uns der Vorsitzende Richter in der Mitte. Alle nehmen wieder Platz.

»Wir verhandeln heute die Strafsache gegen Marius Gersting, Sara Müller und Helga Bender wegen versuchten Mordes und/beziehungsweise Anstiftung zur gefährlichen Körperverletzung.« Er schaut in die Runde und kontrolliert die Anwesenden. Er beginnt mit den Richtern, den Schöffen, dem Staatsanwalt, der Nebenklage, nämlich meinem Vater und seinem Anwalt, erwähnt und begrüßt Marius, mich und Helga mit unseren jeweiligen Anwälten und stellt uns die beiden Herren vor, die vor meinem Vater sitzen, die beiden Gutachter, die zur Einschätzung der Schuldfähigkeit von Marius gekommen sind. Alles Männer!, hämmert es panisch zwischen meinen Schläfen. Wer von denen wurde jemals zusammengeschlagen?

Der Richter übergibt das Wort an den Staatsanwalt, der aufsteht und die gesamten siebzehn Seiten der Anklageschrift vorliest. Er ist etwa fünfundfünfzig Jahre alt und sieht nicht wirklich streng aus, was mich insgeheim leicht beruhigt. Ich kenne die Anklageschrift nahezu auswendig, so oft habe ich sie mir durchgelesen. Immer wieder habe ich sie zu Hause studiert, um zu verstehen, was geschehen ist. Ich schaue mir die Zuschauer an. Alle beugen sich auf ihren Plätzen nach vorn, um besser verstehen zu können, was der Staatsanwalt verkündet. Als er fertig ist, ergreift der Vorsitzende Richter wieder das Wort. Er wendet sich meinem Vater zu. Mein Vater ist Nebenkläger und gleichzeitig auch Zeuge. Es steht ihm somit frei, den Saal bis zu seiner Zeugenaussage zu verlassen oder zu bleiben. Er verlässt den Saal, was mich ein wenig erleichtert. Immer wenn er den Raum verließ, war ich erleichtert. Schon als kleines Kind.

Nun wendet sich der Richter Marius zu. Er soll sich vorstellen, von sich erzählen, wie er aufgewachsen ist, wie er von Hamburg in unsere Gegend kam und was er genau beruflich gemacht hat. Marius erzählt, dass sein Vater Seemann war und nur sehr selten zu Hause. Seine Mutter habe als Barfrau auf der Reeperbahn gearbeitet und hatte oft Herrenbesuch. Marius musste sich dann immer verstecken. Selbst als er krank war, hat sich die Mutter nur wenig um ihn gekümmert. Sein Vater versuchte später, ihm einen Job auf einem Frachtschiff zu vermitteln, mit dem Marius dann auch für ein paar Monate unterwegs war. Marius kam aber weder mit der harten Arbeit noch mit den Gezeiten zurecht. Unter Deck wurde ihm immer schlecht, und Alkohol vertrug er auch nicht. Er wurde ausgelacht und gemobbt, und es kam zu Schlägereien, bei denen er immer das Opfer war. Daraufhin begann er, regelmäßig in der Muckibude zu trainieren und verließ schließlich Hamburg, um woanders neu anzufangen.

Letztlich landete er als Gerüstbauer bei der Dachdeckerfirma, die mein Dach neu deckte. Um auf seinen großen Traum, einmal auf dem Motorrad die Welt zu umrunden, zu sparen. Und dann begegnete er mir. Sein Traum ist nicht nur geplatzt, er ist zum Albtraum geworden.

Die Atmosphäre im Saal ist recht entspannt. Einmal lachen die Leute sogar, als Marius von seiner Seekrankheit berichtet, und dass er keinen Alkohol verträgt. Der Richter scheint aufrichtig an Marius’ Geschichte interessiert zu sein. Er fragt, wie er mich kennengelernt hat und was für eine Art Beziehung wir zueinander gehabt haben.

Marius beantwortet seine Fragen gefasst. »Sie war freundlich und hat mir Tee angeboten. Morgens hat sie immer auf ihrem Balkon geraucht. Da haben wir uns ein paarmal flüchtig unterhalten.«

»Und wie kam es dann zu dem Plan? Wer hatte die Idee?«

Marius senkt den Blick.

Ich hatte die Idee!, möchte ich rufen. Aber mein Anwalt legt mir die Hand auf den Arm.

Alles war an diesem Morgen wie immer, nur ich nicht. Ich stand rauchend auf meinem Balkon, als Marius auf dem Gerüst auftauchte, um mir Hallo zu sagen. Angst, Verzweiflung, Demütigung, Zorn, Wut nahmen mir in diesem Moment die Luft zum Atmen. Wie konnte Marius das ahnen? Marius war der Unschuldigste von allen.

2

Großstadt, Juli 2008

»Nebenan wohnt mein Vater!« Mit gemischten Gefühlen starrte ich den Notar an, der mir soeben das Testament meiner jüngst verstorbenen Großmutter vorgelesen hatte.

»Meine Enkelin Sara ist Alleinerbin meines Hauses in Pützleinsdorf, Am Sonnigen Hügel 9«, zitierte er aus dem Dokument. Kopfschüttelnd zog ich am Kinderwagen meiner drei Wochen alten Tochter, um zu schauen, ob sie noch schlief. Mein kleiner Sohn, der noch nicht mal zweijährige Moritz, spielte mit einem mitgebrachten Plastiktrecker auf dem Boden des piekfeinen Notarbüros, auf dem sich gerade auch mein Hund Tommy ausgestreckt hatte.

»Aber das ist doch eine sehr hübsche Adresse!« Der ältere Notar zog eine seiner buschigen Augenbrauen hoch und lächelte mich gütig und irgendwie nachsichtig an. »Und dass Ihr Herr Vater in der Nähe wohnt, ist doch umso schöner!«

Mein Herr Vater!

Erinnerungen, die ich aus Selbstschutz längst verdrängt hatte, durchzuckten mich wie grelle Blitze. Ich sah, wie seine Faust auf mich niedersauste. Ich sah, wie seine Schuhe auf mich eintraten. Ich sah, wie er mit beiden Fäusten meine zarte blonde Mutter die steile Marmortreppe hinunterprügelte, bis sie winselnd vor der Haustür liegen blieb.

Kopfschüttelnd starrte ich ins Leere. Nein, nie wieder. Diesem Mann wollte ich nie mehr begegnen. Aber sollte ich seinetwegen auf das wunderbare Haus meiner Großmutter und die damit verbundene Lebensqualität verzichten? Ich hatte doch schon seinetwegen auf den Rest meiner Kindheit verzichten müssen. Er konnte so brutal sein, so aufbrausend, so gemein.

Andererseits sah ich ihn auch am Grab meiner Mutter bitterlich weinen. Er hatte seine Brigitte trotz allem geliebt. Mein Vater hatte zwei Gesichter, und man wusste nie, welches man gerade vor sich hatte.

Ich schluckte trocken und starrte geistesabwesend an die Wand. Das Einerseits verschwamm mit dem Andererseits. War er denn immer nur böse? Er hatte doch auch gute Seiten.

Als Mutter mit Krebs im Endstadium im Sterben lag, besuchte er sie jeden Tag und weinte an ihrem Bett. Nach ihrem Tod durfte im Haus nichts geändert werden. Sogar altmodische Deckchen auf dem Wohnzimmertisch durften nicht entsorgt werden: »Nein, das gehört der Brigitte.« Er hatte meine Mutter geliebt. Und mich wahrscheinlich auch. Aber eben auch wie Dreck behandelt.

Das gemütliche Haus meiner Großmutter nebenan, in dem Mutter und ich uns oft vor Vater versteckt hatten, sollte ich nun erben. Dort roch es nach frisch gebackenem Kuchen, nach tröstlichem Kakao, nach ihrem altmodischen Parfum, nach Beruhigungszigaretten. Und immer noch hörte ich Großmutters Worte, die sie nach jedem Angriff auf meine Mutter und mich gebetsmühlenartig wiederholte: »Halte durch. Du kannst ihn nicht verlassen. Eines Tages wird er milder werden.«

War er jetzt milder geworden? Konnte ich mit meinen zwei kleinen Kindern ins Nachbarhaus ziehen? Ich sehnte mich so nach Geborgenheit, Ruhe und Frieden!

Die beiden Häuser lagen auf zwei großen Grundstücken direkt nebeneinander. Mein ehemaliges Elternhaus, in dem sich die schrecklichsten Dramen abgespielt hatten, und das meiner Großmutter. Die Gärten grenzten aneinander, und meiner Erinnerung nach gab es nie einen Zaun. Ich war als Kind fröhlich spielend hin und her gelaufen. Das sollten meine Kinder doch auch dürfen! Auch für den Hund wäre ein Garten wunderbar.

Ich sah die vermeintliche Idylle wieder vor mir, als wäre ich erst gestern dort gewesen. Betrat man mein einstiges Zuhause durch die Garage, befand sich gleich rechts vom geräumigen Flur eine Treppe aus blauem Marmor. Während im Erdgeschoss Wohnzimmer, Küche, Bad, Schlafzimmer und das Büro lagen, waren oben die früheren Kinderzimmer, eine Hausbar, und das Bügelzimmer meiner Mutter. Es kam selten vor, dass mein Vater die zwölfstufige Marmortreppe hinaufkam, aber wenn, verhieß das nichts Gutes.

Die von Außenstehenden wahrgenommene heile Großfamilie war in Wirklichkeit ein grauenvolles Gefängnis gewesen, aus dem ich schließlich mit dreizehn Jahren ausgebrochen war. Das Jugendamt hatte mich abgeholt.

Und meine Mutter? War erst vor Kurzem elendiglich gestorben.

Im Dezember 2007 brachte ich meine Mutter ins städtische Klinikum Großstadt, mit dem Verdacht auf Burn-out. Sie schlief nur noch und hatte keine Kraft mehr. Wie sich herausstellte, war es Lungenkrebs im Endstadium und ein Gehirntumor.

Damals standen mein Vater und ich wortlos am Bett meiner armen Mutter, und alle drei hatten wir Tränen in den Augen. Sie würde entlassen werden, um zu sterben.

Damals starrte ich meinen Vater fassungslos an. Warum weinte er? Er hatte sie doch so oft schlecht behandelt, schikaniert, gequält und getreten!

Meine Gedanken überschlugen sich, während der Notar weiter die Erburkunde verlas.

»Frau Müller? Können Sie meinen Ausführungen noch folgen? Sie erben auch noch das Achtparteien-Mietshaus Ihrer Großmutter in Großstadt. Von den Mieteinnahmen können Sie und Ihre Kinder in Zukunft unbesorgt leben!«

Die Worte des Notars prallten an mir ab wie Tischtennisbälle an einer Wand.

Unbesorgt? Hatte er unbesorgt gesagt?

Vaters Unberechenbarkeit drohte stets über das Idyll unserer hügelig-sonnigen Wohnstraße in dem kleinen Dorf in Baden-Württemberg hereinzubrechen, wie ein Gewitter über die Weinberge. Niemand wusste, ob sich die Sonne doch wieder durch den Nebel seiner Launen kämpfen konnte, oder ob es mit Blitz und Donner zu einem entsetzlichen Desaster kommen würde. Dann gingen die Fäuste mit ihm durch, dann verlor er jede Selbstkontrolle, dann drosch und trat er auf uns ein, und es flossen Tränen, viele Schmerzens- aber auch Verzweiflungstränen. Aber er konnte eben auch nett und witzig, aufgeräumt und großzügig sein! Wenn es nach seinem Willen ging. Und den konnten wir oft nicht erahnen.

Ich knetete die Hände und starrte apathisch vor mich hin. Es würde mich viel Mut kosten, dieses Erbe anzunehmen. Denn ich erbte meinen Vater als Nachbarn mit.

Aber hatte ich denn eine Wahl? Ich stand inzwischen selbst kurz vor dem Burn-out.

Dieses Jahr war ein Jahr der Katastrophen gewesen.

Vor knapp zwölf Monaten war mein Mann bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Er hatte unsere einzige Angestellte dabeigehabt, die schwer verletzt überlebt hatte.

Ich fragte mich, ob zwischen den beiden mehr gelaufen war, was sich später bestätigte.

Jetzt war ich alleinerziehend, Ende zwanzig und selbst ein nervliches Wrack, am Rande meiner Kräfte. Zwei kleine Kinder, finanziell hoch verschuldet durch das geplatzte Restaurant-Projekt, das ich mit meinem Mann vor zwei Jahren so hoffnungsvoll begonnen hatte. Das konnte ich unmöglich alleine durchziehen. Das Erbe meiner Großmutter würde uns aus dieser unerträglichen Situation befreien … Aber wie frei konnte man sein, wenn man neben einem Menschen wie meinem Vater wohnte?

»Na, Frau Müller! Was grübeln Sie denn so lange? Wo drückt der Schuh?« Aufmunternd sah mich der Notar an.

»Für die Kinder wäre es das reinste Paradies, in einer verkehrsberuhigten Spielstraße, Kindergarten und Schule in der Nähe, mit großem Garten am Waldrand, dazu der herrliche Blick über die Hügel und die Nähe zu den Weinbergen …« Ich redete wie ein Wasserfall, um bloß nicht in Tränen auszubrechen. Ich spürte, wie mir das Kinn zitterte.

Nach außen hin war meine Kindheit paradiesisch gewesen.

Ich presste die Lippen zusammen. Mich an meine Kindheit zu erinnern, überforderte mich. Ich hatte nicht mit diesem Aufwallen von Erinnerungen gerechnet.

»Mein Vater kann sehr heftig reagieren, oft aus dem Nichts heraus, und ich habe Angst, meine Kinder solchen Situationen auszusetzen.«

Der Notar zögerte kurz, und ich registrierte das milde, professionelle Lächeln.

»Aber Ihr Herr Vater dürfte sich nach all den Jahren doch geändert haben? Wie alt ist er denn inzwischen?«

Ich rechnete. »Er müsste jetzt Anfang Sechzig sein … Moritz, bitte nicht in die Steckdose fassen.« Angespannt zog ich meinen herumkrabbelnden Sohn aus der Gefahrenzone. Noch nicht mal für diesen wichtigen Termin hatte ich einen Babysitter gefunden. Ich starrte meinen Zweijährigen an. Er wirkte etwas mitgenommen, ihm lief die Nase, und seine Haut war ganz blass. Das Schicksal hatte ihn schon genug gebeutelt: Als plötzlich die Polizei vor der Tür stand und seiner Mama vom Unfalltod seines Papas berichtete, war ich schon schwanger mit Romy und in tiefster Verzweiflung. Dann starb meine Mutter, und ich war erst recht in tiefer Trauer. Kurz darauf kam dann sein Schwesterchen auf die Welt. Und drei Wochen später sollte ich nun dieses wunderschöne Haus meiner Großmutter erben. War das nicht ein Geschenk des Himmels?

Ich musste dieses Erbe annehmen! Damit würde ich nicht mehr arbeiten müssen und mich rund um die Uhr um meine beiden Kinder kümmern können. Meine finanziellen Sorgen würden in weite Ferne rücken, und ich würde endlich wieder Zeit haben, zu mir zu kommen und den Kindern eine gute Mutter zu sein. Das schuldete ich ihnen!

»Sie wirken sehr besorgt.« Der ältere Notar legte seine Hand auf meine, die angefangen hatte heftig zu zittern. »Es kommt hier selten vor, dass jemand so panisch reagiert, wenn er zwei so prächtige Häuser erben soll!« Er zupfte sich die Krawatte gerade. »An Ihrer Stelle würde ich nicht lange nachdenken! Ihre Großmutter hätte es so gewollt.«

Er reichte mir seinen edlen Füllfederhalter, und ich unterschrieb.

Und dann fühlte ich nichts mehr. Keine Trauer, keine Angst. Nur Ruhe.

3

Pützleinsdorf, September 2008

»Ziehst du etwa hier ein?«

Meine zehn Jahre ältere Halbschwester Emma stand mit verschränkten Armen vor der Garageneinfahrt unseres Vaters und taxierte mich abwartend. Offensichtlich hatte sie ihn gerade besucht. Sie war wie ich zierlich und blond, trug aber im Gegensatz zu mir einen sportlichen Kurzhaarschnitt. Ich hatte meine langen Haare zu einem unordentlichen Knäuel hochgebunden. Einen Friseur hatte ich schon ewig nicht mehr gesehen. Und auch zu meiner Schwester hatte ich schon seit Langem den Kontakt verloren.

»Auch von meiner Seite schön dich wiederzusehen.« Eine etwas herzlichere Begrüßung hätte ich mir schon erwartet, schluckte meine Enttäuschung aber herunter. Harmonie und Frieden war alles, was ich mir wünschte. Emma hatte sich früh aus dem Dunstkreis unseres Vaters zurückgezogen; ihre Mutter hatte sich scheiden lassen, als Emma noch ganz klein war. Ob sie sich an seine Gewalttätigkeiten überhaupt noch erinnerte? Jedenfalls schaute sie ab und zu nach ihm. Vielleicht war er zu ihr ja gar nicht mehr böse? Vielleicht hatte er sich ja längst geändert? Plötzlich stieg eine jähe Freude in mir auf: Meine Schwester war da! Wir würden uns ganz neu kennenlernen, und gemeinsam würden wir das wilde Tier in meinem Vater bestimmt zähmen! Falls das überhaupt noch nötig sein sollte …

Ich balancierte die kleine Romy auf der Hüfte, während ich mit dem Fuß versuchte, Moritz mit seinem Bobbycar am Wegrollen zu hindern. »Vorsicht, hier ist es steiler, als du es gewöhnt bist. Nicht so schnell, mein Großer!«

Der aufgeweckte Zweijährige war begeistert von den Abenteuermöglichkeiten, die ihm die neue hügelige Landschaft bot. Endlich durfte er draußen spielen! Mit seinen kleinen Beinchen stieß er sich ab und sauste die Auffahrt hinunter. Auch wenn die Straße Zum Sonnigen Hügel nur noch zu wenigen benachbarten Häusern hinauf führte, war es doch nicht ungefährlich. Das Tempolimit dreißig wurde sicher nicht oft eingehalten und war immer noch viel zu hoch für so einen Dreikäsehoch, der plötzlich aus der Einfahrt schießen konnte. Besonders jetzt, wo der halb ausgepackte Umzugswagen hier stand und die Sicht verdeckte!

»Halt Romy mal schnell!«

Emma nahm mir das Baby ab, sodass ich hinter Moritz her hechten konnte. Ich ging in die Hocke und erklärte ihm geduldig, aber sehr ernsthaft, dass diese Linie hier für ihn eine rote Linie war. »Nicht auf die Straße, hörst du, Moritz?! Es könnte ein Auto kommen!«

Außerdem wollte ich ihm damit klarmachen, dass er auch nicht auf das Grundstück meines Vaters rollern durfte! Das war ebenfalls Sperrgebiet!

»Okay«, sagte er mit seinem hellen Stimmchen und strahlte mich an. »Noch maaal!«

Moritz bugsierte sein Bobbycar wieder hinauf, vor die Garagen, um erneut hinunter zu sausen. Mir zog sich das Herz zusammen vor Liebe.

Es ging ihm gut! Er blühte auf! Meine Entscheidung war richtig gewesen! Hier gehörten wir hin! Und das Grundstück meines Vaters war vielleicht gar nicht so gefährlich, wie ich dachte.

»Moritz, es würde mich beruhigen, wenn du hinten im Garten auf der Terrasse deine Runden drehst, wo auch Tommy in der Sonne liegt!« Energisch nahm ich meinen Sprössling auf den Arm und das Bobbycar in die Hand. »Emma, kommst du mit?« Mit einer Kopfbewegung lud ich meine Halbschwester samt Romy auf dem Arm ein, zu mir in unser neues Heim zu kommen.

Staunend schritt sie durchs Haus meiner Großmutter, das nun mir gehörte.

Es gab eine Einliegerwohnung und noch ein paar Kellerräume sowie eine Waschküche, die man über die Garage erreichen konnte. Eine helle Marmortreppe führte auch hier in die Wohnetage. Dort erstreckte sich ein riesiges helles Zimmer, in dem ich uns schon kuscheln und toben sah. Leider gab es nur ein Schlafzimmer, welches ich den Kindern überlassen wollte. An den Wohnbereich grenzte die Küche. Ein Badezimmer, eine Abstellkammer und eine kleine Gästetoilette komplettierten das Paradies. An der Nordseite befand sich eine ruhige und schattige Terrasse abseits der Straße und war somit nicht einsehbar. An der Südseite hingegen gab es einen Balkon über die komplette Länge des Hauses, mit einem atemberaubenden Ausblick über das ganze Dorf und die benachbarten Weinberge.

»Das ist dem Haus unseres Vaters ja sehr ähnlich.« Emma schaute sich interessiert um.

»Auch bei ihm führt eine Treppe neben der Garage hinauf zur Einliegerwohnung.«

»Ist die bewohnt?«

»Nein.«

»Meine auch nicht.«

»Aber du könntest dir jemanden reinnehmen«, schlug Emma vor.

»Ich wüsste nicht wen!«

»Vielleicht einen Mann?«, kokettierte sie.

»Danke, von Männern habe ich gründlich die Nase voll.«

Wir Schwestern nahmen mein neues Reich in Augenschein.

»Wow. Da habt ihr ja massenhaft Platz. Das musst du aber gründlich renovieren!«

»Habe ich vor.« Vorsichtig nahm ich ihr Romy ab und legte sie in ihr hastig aufgestelltes Bettchen, das neben meinem improvisierten Matratzenlager mitten im Raum stand. Noch hatten wir uns nicht häuslich eingerichtet. Aber ich hatte vor, mein Bett als eine Art Kuschelinsel in der Zimmermitte aufzustellen. Da blieb immer noch genug Platz für den Esstisch, meinen Kleiderschrank und die Schmink-Kommode. Keiner würde mir hier reinreden, das war das Beste!

»Schau, das Schlafzimmer kriegen vorerst die Kinder, und wenn später einer von ihnen die Einliegerwohnung will …«

»Na, du planst aber langfristig!« Emma grinste. »Noch tragen beide Windeln!«

Ich wechselte das Thema. »Wie findet denn unser Vater, dass wir nun Nachbarn sind?« Mein Herz klopfte, und einen winzigen Moment hoffte ich, Emma würde sagen: »Er freut sich! Endlich hat er wieder eine Familie! Er wartet nur auf eine Einladung zum Kaffee! Er ist wirklich ruhig geworden, Sara.«

Doch Emma stand mit verschränkten Armen da. Ihr Gesichtsausdruck war konzentriert. Sie suchte offensichtlich nach den richtigen Worten.

»Sara, bist du dir wirklich sicher, dass du hierher zurückkommen möchtest? Ich meine, es ging ja früher schon nicht gut mit euch beiden. Was ist, wenn es wieder knallt?«

Ich schluckte. Darüber wollte ich lieber nicht nachdenken. Es DURFTE nicht wieder knallen! Ich war erwachsen und Mutter seiner zwei Enkel! Warum hatte er mich nicht freudig begrüßt? Oder wenigstens nachbarschaftlich höflich? Andere Leute brachten ihren neuen Nachbarn Brot und Salz, selbst wenn sie sie noch nie gesehen hatten. Mit ein bisschen gutem Willen könnte doch alles so einfach sein!

»Andererseits ist er voll und ganz mit sich beschäftigt.« Emma zuckte mit den Schultern. »Zu mir ist er ja ganz nett, wir hatten jahrelang Abstand, und als meine Mutter ihn verließ, war ich noch sehr klein. Aber an dich hat er wohl nur unangenehme Erinnerungen, wie er immer wieder durchblicken lässt.«

Also doch. Die Wand der hässlichen Erinnerungen stand immer noch unüberwindbar zwischen Vater und mir, zwischen unseren Häusern. Mein Herz sackte eine Etage tiefer.

Wir standen unschlüssig im riesigen, uneingerichteten Wohnzimmer herum. Überall standen nicht ausgepackte Umzugskisten, passend zu meinem inneren Chaos. Meine Erinnerungen an all das Schlimme, das ich verdrängt hatte, waren noch lange nicht alle ausgepackt.

Aber ich wollte sie auch gar nicht mehr auspacken! Wenn er doch genauso dächte!

»Was hat er dir denn über mich erzählt?« Plötzlich wurde mir kalt. Ich zitterte.

»Dass du immer bockig und aufmüpfig warst. Ein schwieriges Kind, undurchschaubar und launisch. Du hast früh geraucht, dich herumgetrieben, Drogen genommen und warst schlecht in der Schule …«

»Aber das stimmt doch gar nicht.« Es tat mir weh, dass mein Vater vor Emma so über mich sprach. Ich war immer gut in der Schule gewesen, außer an den Tagen, an denen ich mit blauem Auge und Striemen am ganzen Körper in den Unterricht kam! Wer sollte mir das verdenken?

»Natürlich bin ich ihm aus dem Weg gegangen. Und ja, ich habe auch irgendwann mal geraucht, wie jede Jugendliche, die das mal ausprobiert.« Innerlich sah ich die grauenvolle Szene wieder vor mir, wie er mich damals windelweich geschlagen hatte.

Warum säte er denn gleich Streit? Warum gab er uns nicht eine neue Chance?

Ich war doch jetzt erwachsen und nicht mehr das verstörte Schulmädchen von damals!

»Ach komm Emma, lass uns von etwas anderem reden.« Ich versuchte, die Kränkung wegzustecken. Es würde nicht leicht werden mit meinem Vater, aber ich wollte ihm beweisen, dass ich heute eine erwachsene Frau war, die auf Augenhöhe mit ihm verkehrte. Selbst wenn wir nur höflich Abstand halten würden.

Wir Schwestern setzten uns auf die Terrasse. Moritz rollerte nun auf der ebenerdigen Fläche vor sich hin und war einfach nur zufrieden. Hauptsache, seine Mama war bei ihm und hatte endlich Zeit für ihn.

»Süßer Kerl, echt.« Emma lächelte mich zum ersten Mal warmherzig an. »Schade, dass sein Papa tot ist. Ich habe es in der Zeitung gelesen.«

»Es war ein fürchterlicher Unfall, aber wenigstens war er sofort tot.« Ich biss mir auf die Lippen. Das mit der Angestellten und der Affäre mit ihr wollte ich jetzt nicht sagen. So vertraut waren wir uns noch nicht.

Emma schaute mich sorgenvoll und mitleidig an. »Innerhalb eines Jahres drei Menschen zu verlieren, muss sehr schwer für dich sein. Erst dein Mann, dann deine Mama und jetzt auch noch deine Oma.«

Ich spürte Tränen in mir aufsteigen und kämpfte tapfer dagegen an. Wenn wenigstens mein Vater mich jetzt mit offenen Armen aufnehmen würde! Das hätte mir so gutgetan!

Aber immerhin hatte ich jetzt Emma. Ich hoffte so sehr, wir würden Freundinnen werden.

»Das ist wirklich ein herrliches Plätzchen!« Ich zeigte auf den verwilderten Garten, der allerdings auf beiden Seiten an Grundstücke grenzte, die meinem Vater gehörten. Nicht nur das Nachbarhaus rechts gehörte Vater, sondern auch das unbebaute Stück links! Hoffentlich würde er nicht ständig über meinen Grund latschen! Wenn er so abweisend war und so abwertend über mich sprach, sollte er lieber außenrum gehen.

»Ja.« Emma lächelte mich an. »Da können deine Kinder und der Hund ungestört spielen!«

»Ungestört?« Ich dehnte das Wort wie ein Gummiband und ließ den Blick zum Nachbargarten schweifen.

Wegen der Büsche, die beide Terrassen wenigstens optisch trennten, konnten wir nicht sehen, ob mein Vater auf seiner Seite saß. Er würde zumindest nicht jedes Wort mithören können. Es waren ungefähr zwanzig Meter von Terrasse zu Terrasse. Weit genug, um einander in Ruhe zu lassen?

»Sara, ich hoffe sehr, dass das eine gute Idee war, mit den Kindern hierherzuziehen.« Emma ließ diesen Satz zwischen uns stehen. »Hättest du das Haus nicht einfach verkaufen können?«

»Nein, warum denn?« In diesem Moment überkam mich ein wilder, aufsässiger Zorn.

»Es ist doch mein Recht, mein Erbe anzunehmen! Es ist doch mein Zuhause hier! Es gibt doch auch schöne Erinnerungen! Meine Oma hat mir das Haus bestimmt nicht vererbt, damit ich es verkaufe! Sie wollte, dass ich meinen Kindern die Geborgenheit gebe, die sie mir gegeben hat!«

Emma sah mich erschrocken an. »Reg dich nicht auf, Sara. Bestimmt geht alles gut. Vaters und mein Verhältnis ist zwar auch nicht sehr warmherzig, aber okay. Ich weiß, dass er ausrasten konnte, deswegen hat meine Mutter ihn ja auch verlassen, als ich noch ein Baby war. Wir haben erst später wieder zueinander gefunden, er ist schließlich mein Vater. Zu mir ist er ab und zu aufbrausend und eklig, aber dann haue ich sofort ab. Später tut er so, als wäre nichts gewesen. Er ist generell ruhiger geworden, denke ich. Sara, wenn ich dir einen Rat geben darf: Du musst von Anfang an Grenzen setzen und ihn spüren lassen, dass du keine Angst mehr vor ihm hast.« Emma lächelte mich aufmunternd an.

»Jetzt will ich erst mal abwarten. Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm.«

Emma trank einen Schluck Wasser. »Im Blumenladen habe ich gehört, dass er sich sehr auf seine Tochter und seine Enkel freut!«

Na, da war ich aber baff. »Und warum kommt er dann nicht rüber und sagt Hallo?«

»Du kennst ja seine zwei Gesichter. Nach außen hin tut er so, als wäre unsere Familie perfekt, und in unseren eigenen vier Wänden sät er Zwietracht. Sein Stolz verbietet es ihm, den ersten Schritt zu machen. Er erwartet, dass du rüberkommst und Hallo sagst.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Nicht nachdem ich weiß, wie er über mich redet.«

Emma sah mich nun wirklich ratlos an. »Wenn ich jetzt deine Version der Dinge höre, weiß ich gar nicht mehr, was ich glauben soll. Aufmüpfig, frech und drogensüchtig kommst du mir nicht gerade vor. Eher sehr vernünftig und abgeklärt.«

Meine Schwester wollte die Situation entschärfen, aber ich wurde richtig sauer:

»Seine Vorwürfe sind völlig aus der Luft gegriffen! Wie soll ich mit dreizehn hier in diesem verschlafenen Nest an Drogen gekommen sein!« Ich fühlte meine Halsschlagader pochen, so sehr regte ich mich schon wieder auf. »Und ich war viel zu eingeschüchtert und verstört, um jemals respektlos, laut und frech zu sein! Ich wäre viel lieber im Mauseloch verschwunden, als mich mit ihm anzulegen! Aber heute lasse ich mich nicht mehr so behandeln.«

»Manchmal verdreht er die Wahrheit, das stimmt.« Emma versuchte ein schwaches Lächeln.

»Manchmal?!« Ich starrte sie wütend an. »Hast du manchmal gesagt?«

»Jetzt geh nicht gleich an die Decke, Sara! Das Temperament hast du wirklich von unserem Vater geerbt!«

»Das kann ich einfach nicht auf mir sitzen lassen, Emma!« Damit hatte sie echt einen wunden Punkt getroffen. »Schon meiner Mutter hat er im Streit die absurdesten Vorwürfe gemacht! Er wollte den Streit regelrecht provozieren, bis er endlich einen Grund hatte, Gewalt anzuwenden.«

Emma nickte. »Meiner Mutter hat er damals ein paar Zähne ausgeschlagen, das weiß ich aus ihren Erzählungen.«

»Na toll.« Ich schnaufte. »Und dennoch kümmerst du dich um ihn?!«

»Das ist ja über vierzig Jahre her«. Emma lächelte mild. »Mich hat er noch nie angerührt. – Wie gesagt, er ist sehr mit sich beschäftigt … beziehungsweise mit seiner neuen Freundin«, ließ Emma die Bombe platzen.

Ich staunte. Andererseits: War das wirklich so verwunderlich? Menschen wie mein Vater konnten in ihrer manischen Sucht nach Bestätigung und Anerkennung gar nicht allein sein.

Ich lachte sarkastisch. »Wer findet denn diesen alten, dicken Mann noch toll? Sein Ruf müsste ihm doch inzwischen vorausgeeilt sein. Heinz Hartmann, der Schläger von Pützleinsdorf!«

»Psst, Sara!« Warnend schüttelte Emma den Kopf und zeigte auf die Nachbarterrasse. Bewegten sich dort die Büsche? Mir gerann das Blut in den Adern. Mein Mund war wie ausgedörrt. Ich war wieder das kleine Mädchen, das schon die schweren Schritte des Vaters kommen hörte! Unwillkürlich griff ich nach meinem Glas Wasser und merkte am Klirren der Eiswürfel, wie sehr meine Hand zitterte.

»Was ist das für eine Frau?« Erschrocken senkte ich die Stimme. »Vielleicht bringt sie ihn ja zur Vernunft?«

Emma flüsterte vielsagend: »Er kennt diese Helga von früher, wie das halt so ist hier auf dem Land, da kennt ja jeder jeden. Sie kommt aus dem Nachbarort und züchtet Hunde. Viel mehr weiß ich auch nicht. Ich möchte ihn nicht mit neugierigen Fragen provozieren, dann fühlt er sich in die Enge gedrängt und glaubt womöglich, ich kritisiere ihn.«

»Ja, das kenne ich. Kritik ist Gift für jemanden wie unseren Vater. Kritik ist für ihn ein Grund, in die Luft zu gehen.«

Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass eine fremde Frau unseren Vater noch attraktiv finden konnte. Er war wirklich kein schöner Mann, eher grobschlächtig und laut, ein fast primitiver Selbstdarsteller, der gern den Dorfsheriff herauskehrte und sich wichtigmachte.

»Wenn man im Ferrari- und Porsche-Club ist und am Wochenende in diesen Kreisen Rennen fährt, am Stammtisch eine Runde nach der anderen ausgibt, ist selbst unser Vater ein gern gesehener Mann«, sinnierte Emma laut. »Er kann sich ja auch zusammenreißen, wenn er will. Er kann sehr charmant und witzig sein. Am Anfang finden ihn die meisten toll.«

Gedankenverloren starrte ich vor mich hin. Auch ich hatte ihn als charmant und witzig erlebt und als Kind um seine Aufmerksamkeit und Liebe gebuhlt. Aber irgendwann zog ich mich in mein Schneckenhaus zurück und blendete meine Bedürfnisse aus.

Ich sah, wie er mit Tellern warf, erst gegen die Wand, dann gegen den Kopf meiner Mutter. Ich sah, wie er mein Kindergesicht in den nicht leer gegessenen Teller drückte, bis er zersprang.

Was war das für ein Geräusch? Was knallte da? Ah, das Garagentor meines Vaters.

Lautes Motorengeheul riss mich aus meinen Erinnerungen. Emma lächelte erleichtert.

»Wir können übrigens wieder lauter sprechen: Unser Vater ist gerade losgefahren. Soviel ich weiß, ist er mit seiner Helga zum Essen verabredet. Ich habe noch miterlebt, wie er sich im Badezimmer rasiert und mit Parfüm übergossen hat. Währenddessen durfte ich ihm sein bestes Hemd bügeln.« Sie versuchte ein schiefes Lachen, und plötzlich spürte ich, dass sie sich gleich zurücklehnen und entspannen würde. Er war ja weg. Ungläubig registrierte ich, wie sie genau das tat.

Wir sahen uns an. Wie konnte es sein, dass ich über so viele Jahre den Kontakt zu ihr verloren hatte? Ich hatte sie im Nu ins Herz geschlossen und Vertrauen zu ihr gefasst.

Überwältigt drückte ich den Arm meiner Schwester. Wir schwiegen. Moritz spielte inzwischen gedankenverloren auf der Terrasse mit seinen Matchboxautos.

Der Waldrand am Ende des Gartens war nun in wunderschönes, kräftiges Licht getaucht, und ich meinte, jede einzelne Baumrinde und jede Blattmaserung nachzeichnen zu können. Die Natur wirkte so, als sei sie gerade dem Schönheitsbad entstiegen und ließe sich nun noch einmal ausleuchten. Wie schön war es hier, wie ruhig!

Mitten in diese friedliche Stille hinein fing Romy an zu maunzen, wie ein kleines Kätzchen, das man vergessen hat.

Ich schob mein T-Shirt hoch und begann mein Baby zu stillen. Augenblicklich gluckste Romy zufrieden, und ihre kleinen Fäustchen ballten sich an meiner Brust.

»Gott, ist die süß«, entfuhr es Emma. »Die wird so etwas hoffentlich nie erleben müssen.«

Liebevoll strich sie meiner kleinen Tochter über das Köpfchen. »Ich wünsche euch von Herzen viel Glück. Und ich habe meine Meinung von vorhin geändert: Es war richtig von dir hierherzuziehen. Du kannst stolz auf dich sein, Sara. Du bist wirklich erwachsen geworden. Unser Vater wird die familiäre Nachbarschaft zu schätzen wissen, und wenn nicht, ist er selber schuld.«