DAS BUCH
Wie ihre jüngere Schwester Suda Kaye bekommt auch Evie Ross regelmäßig Briefe ihrer verstorbenen Mutter Catori. Jedes Jahr weigert sie sich, den Wunsch ihrer Mutter zu erfüllen. Catoris Streben nach Freiheit und Abenteuer hat Evie nie nachvollziehen können. Für sie bedeutet Glück, abgesichert zu sein und mit beiden Beinen fest auf dem Boden zu stehen. Als sie unerwartet weitere Briefe entdeckt, die auf ein großes Familiengeheimnis hindeuten, beginnt Evie darüber nachzudenken, was sie sich selbst für ihr Leben wünscht. Zum Glück ist da Milo, der sie besser versteht als jeder andere – und der eine unglaubliche Anziehungskraft auf sie ausübt. In ihn könnte sie sich verlieben. Aber das würde bedeuten, sich fallenzulassen, verletzbar zu sein. Kann Evie über ihren Schatten springen und das Abenteuer Liebe eingehen?
DIE AUTORIN
Audrey Carlan schreibt mit Leidenschaft prickelnd-romantische Unterhaltung. Ihre Romane veröffentlichte sie zunächst als Selfpublisherin und wurde daraufhin bald zur internationalen Bestseller-Autorin. Ihre Serien Calendar Girl und Trinity stürmten in Deutschland die SPIEGEL-Bestsellerliste. Audrey Carlan lebt gemeinsam mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern im California Valley.
AUDREY
CARLAN
My Wish
Strahle wie
die Sonne
ROMAN
Aus dem Amerikanischen
von Nicole Hölsken
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe TO CATCH A DREAM erschien erstmals 2021 bei Harlequin Enterprises ULC.
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Deutsche Erstausgabe 02/2022
Copyright © 2021 Audrey Carlan, Inc.
Published by Arrangement with AUDREY CARLAN, INC.
Dieses Werk wurde im Auftrag
der Jane Rotrosen Agency LLC vermittelt durch
die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Anita Hirtreiter
Umschlaggestaltung: bürosüd, www.buerosued.de
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-26527-4
V001
www.heyne.de
Für Gabriela McEachern,
denn genau wie Evie machst du die Welt
um so vieles heller. Möge dein Licht
auch weiterhin leuchten.
Anmerkung für die Leser
Hallo, meine neuen Freunde,
Strahle wie die Sonne ist ein vollkommen eigenständiger Roman. Doch wer das erste Buch der Wish-Serie, Breite deine Flügel aus, gelesen hat, der kennt bereits die Geschichte von Suda Kaye. Im vorliegenden Band geht es um ihre Schwester Evie. Wie ich schon im Vorgängertitel erwähnte, hat mich die Familiengeschichte meiner lieben Freundin und langjährigen persönliche Assistentin Jeananna zu diesen Romanen inspiriert. Ihre Mutter ist in weiten Teilen das Vorbild für Suda Kaye, deren Schicksal im ersten Roman geschildert wird, während ihre Tante mir die Vorlage für Evie geboten hat. Dennoch weise ich darauf hin, dass sämtliche Geschehnisse in diesem Roman ausschließlich meiner Fantasie entsprungen und somit Fiktion sind.
Die Hauptfiguren dieser Serie sind zur Hälfte amerikanische Ureinwohner – Native Americans. Trotz Jeanannas Bericht über die bewegte Historie ihrer Mutter sowie ihrer Familie, die ihre Wurzeln sowohl bei den Comanchen als auch bei den Wichita hat, konnte ich nicht widerstehen. Ich musste einfach meine eigene Geschichte darüber erfinden, wie das Leben für eine Frau sein könnte, die ihre Jugend zu einem großen Teil in einem Reservat amerikanischer Ureinwohner verbracht hat.
Vieles ist das Ergebnis stundenlanger Recherche, zu der auch die intensive Beschäftigung mit der Sprache der Comanchen und der Navajos gehörte, um bei den wenigen Worten, die ich benutzt habe, so genau wie möglich zu sein. Außerdem flossen auch persönliche Erfahrungen von Jeanannas Familienmitgliedern mit ein, wodurch ich einen Roman geschaffen habe, der hoffentlich Frauen auf der ganzen Welt zu berühren vermag.
Doch als Autorin habe ich mir natürlich auch diverse Freiheiten erlaubt und möchte keinesfalls irgendjemanden verletzen. Ich weiß, wie reichhaltig und vielschichtig die Kultur der Native Americans und ihrer Stämme ist, und ich freue mich wahnsinnig, dass ich diese wunderbaren Menschen ein wenig näher beleuchten durfte.
Ich bin davon überzeugt, dass viele von uns genau wie Evie Angst haben, ihre Flügel allzu sehr auszubreiten. Chancen zu ergreifen, bei denen wir womöglich zu viel aufs Spiel setzen. Ich hoffe, ihr lernt durch die Welt meiner Romane, dass Risiken sich oft lohnen und dass man nie zu alt oder zu jung ist, um seine Träume zu verfolgen.
Was Schwestern angeht, nun ja, ich selbst habe drei mit mir blutsverwandte und ein paar seelenverwandte. Ich stamme von einer sehr großen italienischen Familie ab, in der Schwestern stets zu jeder Facette des Lebens dazugehören, also ein ähnlich inniges Verhältnis haben wie Suda Kaye und Evie.
Ich hoffe zutiefst, dass ein kleiner Teil der Erfahrungen von Evie, Suda Kaye, Milo, Camden, Toko oder anderer Figuren in euch nachhallen und ihr am Ende dieser Geschichte überlegt, welchen Traum ihr in eurem Leben noch verwirklichen wollt. Vielleicht gibt euch diese Geschichte den letzten Anstoß, den ihr benötigt, um alle Vorsicht in den Wind zu schlagen und euch auf das zu fokussieren, was ihr euch vom Leben wünscht.
Denn eins kann ich euch versprechen … Es ist niemals zu spät.
Mit all meiner Liebe
Audrey
Prolog
Vor zehn Jahren …
Tränen laufen mir über die Wangen, als Tahsuda, mein Toko, was auf Comanche so viel wie »Großvater« heißt, mir einen dicken Stapel rosafarbener Umschläge reicht, die von einem Satinband zusammengehalten werden. Obenauf erkennt man die wunderschöne Handschrift meiner Mutter. Einen weiteren Stapel reicht er meiner achtzehnjährigen Schwester, Suda Kaye.
»Von meiner Catori für ihre taabe und ihre huutsuu«, beginnt er, wobei er die Comanche-Kosenamen benutzt, die meine Mutter uns einst gab. »Damit sie an jedem ihrer Geburtstage ein Stück von ihr haben. Einen für heute, und einen für jeden Geburtstag und wichtigen Augenblick eures zukünftigen Lebens. Ich lasse euch jetzt erst einmal allein, aber ihr sollt wissen, dass ich immer für euch da bin.« Tahsuda legt die Hände unter seinem abgetragenen rot-schwarzen Poncho zusammen und neigt den Kopf. Sein seidenglattes rabenschwarzes Haar schimmert im Licht der Sonnenstrahlen, die durch unser Schlafzimmerfenster hereinfallen, in tiefem Mitternachtsblau. Wie sehr sein Haar dem meiner Mutter ähnelt! Ich muss schlucken, denn ein Schluchzen sitzt schmerzhaft in meiner Kehle und will sich in einer Flut aus Kummer und Trauer seinen Weg nach oben bahnen.
Kummer, weil ich so wütend auf sie bin wegen all der Zeit, die wir zusammen sein hätten können. Trauer, weil sie diese Welt vor sechs Monaten verlassen hat und wir jetzt – ich mit zwanzig und Suda Kaye mit achtzehn – dem Leben allein gegenüberstehen. Diesmal ist sie nicht zu einem ihrer zahllosen Abenteuer aufgebrochen. Daran waren wir seinerzeit gewöhnt. Wenn das Fernweh sie packte, pflegte sie, im Haus herumzuwuseln, ihren ramponierten Koffer zu packen und uns davon vorzuschwärmen, was sie auf ihren Reisen tun und sehen wollte. Während sie in fremden Ländern unterwegs war, wohnten wir auf unbestimmte Zeit im Reservat bei unserem Großvater und gingen weiterhin zur Schule. Monate später kehrte sie dann mit einem Lächeln auf den Lippen und einem Lied im Herzen wieder in unser Leben zurück, als sei sie niemals fort gewesen.
Aber wenigstens kam sie damals noch zurück!
So verhasst es mir auch war, dass unsere Mutter uns ständig verließ, um auf Reisen zu gehen, so wusste ich doch immer, dass ich sie irgendwann wiedersehen würde. Mit vom Wandern müden Füßen tänzelte sie dann in Tokos Haus zurück und erzählte uns jede Menge großartige Geschichten aus einer Welt, an der ich selbst eigentlich gar kein Interesse hatte. Ich hatte nicht das Bedürfnis zu verreisen, auf und davon zu fliegen. Denn dafür müsste ich in Kauf nehmen, von meiner Familie mehrere Monate am Stück getrennt zu sein, die sich dann bestimmt ständig fragte, wo ich war, mit wem ich zusammen war und ob es mir gut ging oder nicht.
Keinesfalls. Das war nicht meine Art. Und würde es auch nie sein.
Ich befühle das Satinband, das die Umschläge zusammenhält, und nehme den meinen mit zu dem Papasansessel in der Ecke unseres gemeinsamen Zimmers. Suda Kaye streckt sich auf ihrem Doppelbett aus. Wir wohnen in einer Zweizimmerwohnung in Pueblo. Meine Schwester hat gerade ihren Highschoolabschluss gemacht, und ich gehe auf das örtliche College.
Catori Ross hätte nie damit gerechnet, krank zu werden. Auf all ihren Reisen und bei all ihrem Erlebnishunger nahm sie sich nie die Zeit für regelmäßige Gesundheitschecks. Da sie wie das blühende Leben war, hatte sie geschlagene zehn Jahre lang keinen Arzt mehr aufgesucht, bevor sie begann, sich unwohl zu fühlen. Nach drei ganzen Monaten der Lethargie und Niedergeschlagenheit – zwei Eigenschaften, die meiner Mutter sonst völlig fremd waren – versetzten uns die ersten Tests den ersten Schlag.
Krebs.
Im Endstadium.
Sie war fest davon überzeugt, ihn besiegen zu können, aber wie hat Toko es so treffend formuliert? Der Krebs sollte ihm sowohl seine Frau als auch seine Tochter nehmen. Seiner Ansicht nach war es von Anfang an vorherbestimmt. Das war der Grund, warum er Mom nie die Hölle heißmachte, wenn sie herumreiste und uns bei ihm zurückließ. Er fand, dass jeder auf die Stimme seines Herzens hören solle, dass Träume nicht nur für die Schlafenden da seien. Man sollte ihnen folgen und sie einfangen.
Unsere Mutter hatte gelebt. War jedem Traum mit unstillbarem Hunger hinterhergejagt. Ich fürchte, meine Schwester wird in ihre Fußstapfen treten.
Suda Kaye sitzt an das Kopfteil ihres Bettes gelehnt, während ich mich in den Papasansessel kuschele. Ich öffne das Satinband und lege sämtliche Briefe bis auf den obersten zur Seite. Auf dem Umschlag stehen das heutige Datum und der Kosename, den sie für mich hatte. Taabe, was auf Comanche so viel heißt wie »Sonne«.
Mom nannte mich ihre Sonne, weil ich ein ganz und gar heller Typ bin, während sie dunkelhäutig war, wie es meine Schwester auch ist. Mom war eine reine Native American genau wie Toko. Suda Kaye und ich sind nur zur Hälfte Ureinwohner und haben außerdem verschiedene Väter. Ich komme äußerlich nach meinem Vater Adam Ross. Wie Dad habe ich blondes Haar und blaue Augen. Doch die hohen Wangenknochen, die mandelförmigen Augen und die vollen rosigen Lippen habe ich von meiner Mutter geerbt. Suda Kayes Haar hingegen ist von einem dunklen Kaffeebraun. Außerdem hat sie bernsteinfarbene Augen und wird eines Tages einen atemberaubenden Körper haben. Schon jetzt weist er die weiblichen Rundungen auf, die für eine Sanduhrfigur charakteristisch sind – volle Büste, schmale Taille, breite Hüften. Ich hingegen bin groß, schlank und athletisch gebaut. Doch trotz des Farbenspiels von Hell und Dunkel können wir unsere Abstammung beide nicht leugnen.
Wir sind Catoris Töchter, eine lebendige Mischung aus ihr und unseren leiblichen Vätern. Obwohl Suda Kaye und ich nicht allzu viel über ihren tatsächlichen Dad wissen. Wir wissen nur, was Mom uns später berichtete – dass sie mit ihm einen Fehler begangen habe. Sie und ihr Ehemann, mein Vater Adam, hatten eine Krise gehabt und waren sogar ein Jahr lang getrennt gewesen. In dieser Zeit war sie auf Reisen gegangen und von diesem Abenteuer schwanger mit meiner Schwester zurückgekehrt. Ich war erst zwei, als sie zur Welt kam, weshalb diese Vorgeschichte für mich nie auch nur die geringste Rolle gespielt hatte. Mein Vater behandelte Suda Kaye beinahe genauso wie mich, was allerdings ebenfalls kein besonders großes Thema war, denn auch er war nicht oft da. Er war beim Militär und häufig im Ausland stationiert.
Ich fahre mit dem Daumen über den Umschlag und die wunderschöne Handschrift meiner Mutter.
Ich vermisse dich, Mom.
Dann hole ich tief Luft, lehne mich in meinem Sessel zurück und öffne den ersten Brief.
Evie, meine goldene taabe,
nie und nimmer hätte ich gedacht, einmal in diese Lage zu geraten. Dass ich Dich und Deine Schwester verlassen müsste, ohne jemals zurückkehren zu können. Ich weiß, Du hast meine Ruhelosigkeit immer gehasst, da sie mich von Dir und Suda Kaye fortführte, aber innerlich war ich ständig bei Euch. Du warst ununterbrochen in meinen Gedanken und in meinem Herzen. Und ich habe Dich stets geliebt.
Ich musste meine Träume verfolgen, taabe. Eines Tages wirst Du das verstehen.
Ich hoffe sehr, dass Du eines weißt: Meine Liebe zu Dir transzendiert jegliche Wirklichkeit, Raum und Zeit, und auch unsere endgültige Bestimmung. Sie ist wie die Sonne und scheint jeden Tag hell und klar. Sie endet nie, ist immer warm und wird Dir und Deiner Schwester Euer Leben lang Licht spenden.
Nun, da ich fort bin und Du nicht mehr die schwere Bürde trägst, sowohl für mich als auch für Suda Kaye sorgen zu müssen, möchte ich, dass Du Dir intensiv Gedanken darüber machst, was genau Du Dir vom Leben wünschst. Nur Du selbst. Stecke Dir hohe Ziele. Lebe aus vollem Herzen.
Was willst Du da draußen noch erforschen?
Welche Orte auf der Welt willst Du sehen?
Welche Reisen möchtest Du unternehmen?
Denk an all die Schönheit, die ich im Laufe der Jahre durch meine Geschichten und Fotos mit Euch geteilt habe. Diese Erfahrungen sind ein Riesenteil von mir geworden. Und ich bin so dankbar, dass ich sie machen durfte. Sie haben mir die Fähigkeit verliehen, Euch die Augen dafür zu öffnen, dass im Leben alles möglich ist.
Ich bedaure nur eines: dass ich Dich und Deine Schwester immer zurücklassen musste. Doch jetzt hoffe ich, dass Du Dir ebenfalls die Zeit nehmen wirst, die Welt zu erkunden.
Evie, Du stehst mit beiden Beinen fest auf Gottes grüner Erde, bist fest verwurzelt darin. Diese Wurzeln musst Du herausziehen, mein liebes Mädchen. Sprenge sämtliche Fesseln und mache Erfahrungen, die ihresgleichen suchen. Vielleicht wirst Du mein Fernweh dann ja verstehen. Ich wollte fort, den Wind in meinen Haaren spüren, den Sand zwischen meinen Zehen, den Kies unter meinen Schuhen. Ich habe jeden Augenblick meines Lebens ausgekostet, und das wünsche ich mir von Herzen auch für Dich.
Bitte nimm das Erbe, das ich Dir hinterlassen habe, und gönne Dir damit etwas Schönes.
Schau Dir die Welt an, mein Schatz.
Mit all meiner Liebe
Mom
Ich beiße die Zähne aufeinander und wische mir mit dem Handrücken über die Nase. Anschließend falte ich meinen Brief wieder dreifach zusammen und schiebe ihn in den Umschlag zurück. Ich räuspere mich, streiche mit der Hand darüber. Dann halte ich ihn mir an die Nase und atme den vertrauten Duft nach Zitrus, Patschuli und einem Hauch Erde ein.
»Riecht nach ihr.« Ich räuspere mich ein zweites Mal, doch mir läuft bereits eine verräterische Träne über die Wange.
Suda Kaye schnüffelt ebenfalls an ihrem Brief und lächelt traurig. »Mom hat immer gesagt, wenn man schon nach irgendwas duften muss, dann wenigstens nach etwas Natürlichem. Fruit and spice.«
»And everything nice!« Ich lache leise, dann seufze ich, weil die Worte aus ihrem Brief in meinem Herzen und meiner Seele schwären und sich mit dem intensiven Kummer vermischen, den ich in den sechs Monaten seit ihrem Tod noch kein Stück überwunden habe.
»Ich vermisse sie. Manchmal stelle ich mir vor, dass sie sich nur wieder auf ein weiteres Abenteuer eingelassen hat, weißt du? Dann darf ich stinksauer sein und mir all die gehässigen Dinge ausdenken, die ich zu ihr sagen werde, wenn sie endlich mit einem Koffer voller schmutziger Klamotten und Mitbringsel zurückkehrt, mit denen sie versucht wiedergutzumachen, dass sie uns alleingelassen hat.«
Meine Schwester schnappt nach Luft, und ihre atemberaubenden bernsteinfarbenen Augen füllen sich mit noch mehr Tränen. »Evie, sie wollte nicht gehen …«
Ich balle die Hände zu Fäusten, und der Zorn über die vielen verlorenen Jahre, die wir mit ihr hätten haben können, erwacht aufs Neue. »Diesmal nicht, Suda Kaye, aber was ist mit den ganzen anderen Malen? So viel verlorene Zeit. Und wofür?« Ich schnaube und stehe auf. Wandere ruhelos im Zimmer auf und ab, die Briefe fest an meine Brust gepresst wie einen geliebten Teddybären. »Spaß. Wilde Erfahrungen. Abenteuer! Das hat sie umgebracht. Dieses Bedürfnis, immer woanders zu sein, weil sie dachte, sie könnte etwas verpassen.« Mit verbitterter Miene deute ich auf sie. »Na ja, mein Weg ist das jedenfalls nicht. Auf gar keinen Fall. Unter keinen Umständen. Ich stehe mit beiden Füßen fest im Leben. Ich werde mein Studium beenden, werde erst den Bachelor in Finanzwirtschaft machen und anschließend den Master und etwas aus meinem Leben machen. Und ich werde glücklich werden!«
Nur dass ich keine Ahnung habe, wie ich das ohne meine Mutter je schaffen soll. Ich hatte ja schon früher keine Ahnung, wie ich die Leere füllen sollte, die sie mit jeder ihrer Abenteuerreisen in mir hinterließ. Es kam mir so vor, als würde sie immer noch größer. Aber meine Mutter … sie war so eine wunderbare Frau. Wenn sie da war, hatte sie eine unglaubliche Präsenz. Mit jeder Rückkehr schien sie die klaffende Wunde meines Herzens wieder zu schließen.
Hin und her zu laufen reicht mir nicht mehr. Also werfe ich den Briefstapel auf einen Stuhl und lasse mich auf das Bett neben meine Schwester fallen, das Gesicht dramatisch in der Armbeuge vergraben, sodass meine Nase die Matratze berührt. Ich atme tief ein und aus in dem Bemühen, nun vor meiner kleinen Schwester nicht zusammenzubrechen.
Langsam und beruhigend streichelt sie mir übers Haar. Nachdem ich mich wieder gefangen habe, zumindest vorläufig, drehe ich mich um.
»Was stand in deinem Brief?«, frage ich.
Suda Kaye benetzt die Lippen und blickt zur Seite. Wir haben keinerlei Geheimnisse voreinander, ich merke allerdings, dass sie mir das jetzt doch lieber verheimlichen würde. Aber letztlich knickt sie ein und gibt mir den Brief. Ich richte mich auf, setze mich im Schneidersitz aufs Bett und lese laut.
»Suda Kaye, huutsuu.« Ich halte mir die Hand vor den Mund und schließe die Augen. »Kleiner Vogel«, stoße ich die Bedeutung des Kosenamens heiser hervor. Meine Schwester ist ebenfalls immer für ein Abenteuer zu haben. Mit ihrer dramatischen Aura und ihrer glühenden Begeisterung für alles Mögliche konnte sie sogar den Großeinkauf im Supermarkt für jedermann zum Highlight der Woche machen. Das Gleiche gilt für den Waschsalon, die Autowaschanlage, einen Spaziergang durch die Nachbarschaft. Immer gibt es etwas zu erleben, zu sehen, zu hören, zu fühlen. Meine Schwester saugt das Leben in sich auf wie ein Schwamm. Und sobald sie ausgetrocknet ist, fängt sie wieder von vorn an. Auch wenn es mir nicht passt, muss ich mir eingestehen, dass sie ganz nach unserer Mutter kommt.
Sie schenkt mir ein breites Lächeln. »Bis in alle Ewigkeit, taabe«, antwortet sie.
Bevor Suda Kaye ihren Gefühlen noch mehr nachgeben kann, überfliege ich jetzt schnell ihren Brief. Mit jedem Satz wird es mir immer schwerer ums Herz. Im Grunde rät Mom meiner Schwester, ihr Zuhause zu verlassen. Sich in ihr Auto zu setzen und die Welt zu bereisen, wobei sie mit den Staaten anfangen soll. Mich zu verlassen, um mir die Möglichkeit zu geben, dem Ruf meines Herzens zu folgen, ohne dass die Sorge um meine kleine Schwester mich zurückhält. Mir dreht sich der Magen um, und Säure steigt in meiner Kehle empor, während ich die letzten paar Sätze lese. Wenn ihr langjähriger Freund Camden sie wirklich liebe, so ist darin zu lesen, dann wird er sie freilassen.
Mit zitternden Händen gebe ich ihr den Brief zurück. Mein ganzer Körper ist völlig steif. Ich habe das Gefühl, als habe man mir das Herz durchbohrt und mich sterbend am Wegesrand zurückgelassen.
Meine Mutter will, dass meine Schwester – meine beste Freundin – mich verlässt.
Dass sie fortgeht, womöglich genauso lang wie Mom. Auf jeden Fall aber lange genug, um sich selbst zu finden.
»Das machst du nicht wirklich, oder?«, frage ich mit eindeutig angstvoller Stimme.
Sie beißt sich auf die Innenseite ihrer Wange und nickt.
»Suda Kaye … das darfst du nicht tun. Was ist mit Camden? Er wird es nicht verstehen. Ein Typ wie er. Das Leben, das er dir bieten will. Keinesfalls. Du musst einfach …« Ich atme scharf aus, ergreife die Hände meiner Schwester und drücke sie in dem Versuch, ihr stumm all die Sorge und all die Angst zu übermitteln, die mich befallen werden, wenn sie mich zurücklässt. Aber ich sage kein Wort. In diesem Augenblick muss sie diejenige Entscheidung treffen, die für sie die richtige ist.
Also schlucke ich den Kloß in meinem Hals herunter und flüstere: »Was wirst du tun?«
Sie sieht mir in die Augen, schaut mir geradezu in die Seele und spricht jene drei Worte aus, die ich niemals von ihr hören will. »Ich werde davonfliegen.«
Ich schließe die Augen, beuge mich vor und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ich hab’ dich lieb, Suda Kaye.« Mehr fällt mir nicht ein. Die Worte sind ursprünglich, ehrlich und lebensverändernd.
»Du könntest doch mitkommen, oder nicht?« Ihre Stimme ist plötzlich voller Hoffnung. Aber dass ich sie weiter an mich binde oder gar versuche, ihr Leben zu organisieren, ist wohl kaum Sinn der Sache. In ihrem Brief an sie hat Mom keinen Zweifel daran gelassen. Und in meinem eigenen verdammt noch mal auch nicht.
Ich schüttele den Kopf und lege meine Hand auf ihre weiche Wange. »Du musst deinen eigenen Weg gehen.«
Sie nickt, faltet ihren Brief zusammen und steckt ihn wieder in den Umschlag. Dann bindet sie ihre Briefe wieder zum Bündel zusammen.
Meine Schwester gehört nicht zu den Menschen, die irgendetwas auf die lange Bank schieben. Also holt sie den großen Koffer unter ihrem Bett hervor, den Mom ihr zum Abschluss geschenkt hat, und hebt ihn auf die Decke. Schweigend helfe ich meiner Schwester, ihre Sachen zu packen, wobei wir systematisch vorgehen. Das Letzte, was sie obenauf legt, ist ein Foto von Mom, mir und ihr selbst, das im vergangenen Jahr aufgenommen wurde, bevor unsere Mutter zu krank dafür wurde. Es war ein schöner Tag gewesen, und wir hatten im Park gepicknickt. Wir hatten gelacht, etwas gegessen und zugehört, wie Mom eine Geschichte nach der anderen zum Besten gab.
Damals wusste ich, dass die guten Tage gezählt sein würden, also ermutigte ich sie beim Erzählen, während Suda Kaye förmlich an ihren Lippen hing.
Hand in Hand gehen meine Schwester und ich zum Auto und verstauen ihr Gepäck im Kofferraum.
»Weißt du schon, wohin du fährst, nachdem du dich noch mal mit Camden getroffen hast?«, frage ich, denn ich weiß, dass sie nicht abreisen würde, ohne ihn noch einmal zu sehen.
Sie lächelt und zuckt mit den Schultern. »Wir sind hier in Mittelamerika. Ich werde einfach irgendeine Richtung einschlagen und so lange fahren, bis ich zu müde bin. Dann halte ich an und entscheide, wo es als Nächstes hingehen soll.«
»Ruf mich an. Ich komme überallhin, um dich abzuholen. Egal, w-wohin.« Meine Stimme zittert. Traurig nehme ich Suda Kaye in die Arme und atme ihren Duft ein – Kirschshampoo und Körperlotion. Ich präge mir den Duft tief ein, damit ich in den einsamen Monaten, vielleicht sogar Jahren, die vor mir liegen, davon zehren kann. Ich weiß, dass ich es brauchen werde.
Suda Kaye umrundet ihren Wagen und öffnet die Fahrertür. »Vermiss mich«, sagt sie, und nun strömen die Tränen wie ein Sturzbach über meine Wangen.
»Vermiss du mich noch mehr!«, flüstere ich und halte die Hand in die Höhe.
Sie tut es mir gleich und legt ihre Handfläche auf meine. »Immer.«
Lange blicke ich den immer kleiner werdenden Rücklichtern hinterher, bis sie schließlich in der schwarzen Nacht verschwunden sind. Bald darauf schaue ich zum Himmel hinauf, zu der Unzahl funkelnder Sterne, die sich wie eine Flut von Diamanten über schwarzen Samt ergießt.
Ich wähle mir einen Stern aus und schicke den gleichen Wunsch zum Himmel, den ich schon seit meiner Kindheit bestimmt tausendmal hinaufsandte.
»Ich wünschte, irgendwann würde jemand, den ich liebe, bei mir bleiben.«