DAS BUCH
Als Ice die wunderschöne Frau auf dem Las Vegas Strip sieht, wird er von ihrem Aussehen verzaubert. So sehr, dass er an nichts anderes mehr denken kann und nur noch Augen für sie hat. Er kann es selbst nicht glauben, dass er, der in seiner traumatischen Kindheit in einer russischen »Schule« zum Killer ausgebildet wurde, solche Gefühle überhaupt zu empfinden vermag. In diesem Moment vertreibt die junge Frau mit ihrer bloßen Anwesenheit die Kälte, die seit Jahren in seinem Herzen herrscht. Doch als ein anderer Mann die Frau an sich zieht, kehren die Dämonen seiner Vergangenheit zurück.
Ice weiß zu dem Zeitpunkt nicht, dass diese Schönheit, Soleil, sich von ihrem Verlobten trennen will, da dieser sich immer seltsamer verhält. Sie fürchtet um ihr Leben und flüchtet in eine Bar, direkt in Ices Arme. Sofort empfinden beide eine glühende Leidenschaft füreinander, doch ihr Glück ist nicht von langer Dauer, denn Soleils Entscheidung für Ice birgt gefährliche Konsequenzen in sich.
DIE AUTORIN
Christine Feehan wurde in Kalifornien geboren, wo sie heute noch mit ihrem Mann und ihren Kindern lebt. Sie begann bereits in jungen Jahren zu schreiben und hat seit 1999 mehr als siebzig erfolgreiche Romane veröffentlicht, die in den USA mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet wurden und alle auf die New-York-Times-Bestsellerliste gekommen sind. Auch in Deutschland ist sie mit den Drake Schwestern, der Sea-Haven-Saga, der Highway-Serie, der Schattengänger-Serie und der Leopardenmenschen-Saga äußerst erfolgreich.
Mehr Informationen über die Autorin und ihre Bücher finden sich im Anschluss an diesen Roman und auf ihrer Website www.christinefeehan.com.
CHRISTINE FEEHAN
HIGHWAY TO
DESIRE
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Almuth Reich
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe VENDETTA ROAD erschien erstmals 2020 bei Berkley, Penguin Random House LLC, New York
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Vollständige deutsche Erstausgabe 03/2022
Copyright © 2020 by Christine Feehan
Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Veröffentlicht in Zusammenarbeit mit The Berkley Publishing Group, an Imprint of Penguin Publishing Group, a Division of Penguin Random House LLC
Alle Rechte sind vorbehalten.
Redaktion: Birgit Groll
Umschlaggestaltung: © Nele Schütz Design unter Verwendung von © Shutterstock (CO Leong, Sergey Causelove, Volodymyr Tverdokhlib)
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-27257-9
V001
www.heyne.de

Für meine liebe Freundin Anne Elizabeth.
Ich danke dir für eine Freundschaft,
die alles Übliche weit übertrifft.
Du hast mir immer wieder Kraft gegeben.
1. Kapitel
Isaak Koval, den seine Torpedo-Ink-Brüder Ice nannten, ließ sich mit dem Strom der Touristen den Las Vegas Strip entlangtreiben. Er konnte sich überall anpassen. Er wusste, dies war eine Gabe, und er vervollkommnete diese Gabe bei jeder sich bietenden Gelegenheit weiter. Schon früh hatte er gelernt, dass er sich, wenn er es wollte, quasi unsichtbar machen, sich gleich einem Chamäleon in jede Umgebung einfügen konnte. Das hatte ihm bereits mehr als ein Mal das Leben gerettet.
Er passte sehr genau auf, immer eine Anzahl von Menschen zwischen sich und den beiden Männern zu haben, denen er folgte. Während er sich seinen Weg durch die Touristen bahnte, war er stets darauf bedacht, dass sein Spiegelbild nicht in den Fenstern und Türen erschien, die er passierte. Obwohl er den Kopf gesenkt hielt, hatte er dennoch die Menge, die Gebäude und sogar die Dächer im Blick.
Hitzewellen stiegen vom Gehsteig auf, trafen immer wieder direkt auf seine Brust. Zeitweise fühlte es sich an, als könne er nicht atmen, aber er hatte das schon seit einiger Zeit immer wieder gespürt, sogar zu Hause an der Küste.
Kurz vor der Tür eines Casinos blieben die beiden, denen er folgte, stehen, sodass auch er anhalten musste. Er konnte sie nicht überholen oder riskieren, ihnen dadurch aufzufallen, dass sie ihn mehr als ein Mal in der Menge sahen. Auf der anderen Seite der Casinotür stand eine aus Ziegeln gemauerte Säule; dort blieb er stehen, holte sein Handy heraus und sah sich Textnachrichten an, so wie es auch Dutzende anderer Leute machten. Er warf einen Blick über die Straße, wo Storm, sein Zwillingsbruder, dasselbe tat. Ice behielt die beiden Männer im Blick, während er auf sein Handy schaute, und bewegte sich dann im Schneckentempo mit einer Gruppe indischer Touristen weiter.
Die beiden Männer, denen sie folgten, diskutierten kurz über etwas, das sie auf ihren Handys gelesen hatten, und gingen dann weiter. Es sah aus, als wollten sie sich amüsieren; immer wieder blieben sie kurz vor einem der Striplokale stehen, als würden sie debattieren, ob sie hineingehen sollten. Doch das taten sie nicht, und Ice rechnete auch nicht damit. Sein Club wusste praktisch alles über die beiden, was es zu wissen gab. Und es war ganz klar, dass keiner von ihnen auf eine Nacht mit Stripperinnen, Prostituierten oder weiblichen Zufallsbekanntschaften aus war.
Sie näherten sich einer roten Ampel. Das war immer eine Gefahrenzone. Die beiden Männer, Russ Jarvis und Billy Kent, hatten die Angewohnheit, sich an einem Zebrastreifen immer umzusehen. An den Stopplichtern drängte sich die Menge zusammen, und dann drehten sich die beiden wie zufällig um und nahmen die Menschen neben und hinter ihnen in Augenschein. Oft schauten sie auch über die Straße auf diejenigen, die gegenüber auf Grün warteten.
Trotzdem hätte Ice ganz nahe an sie herankommen, sie, sobald die Ampel grün wurde, auslöschen und dann im Schutz der Menge die Straße überqueren können, noch bevor die Leichen zu Boden gingen. Er wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und schlenderte weiter. Sein Club brauchte die beiden lebend, damit sie sie zu dem Arschloch führen konnten, das sie eigentlich jagten. Also zwang er sich, einfach einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Er trug eine Jeans und Motorradstiefel. Viele Klamotten zum Wechseln hatte er nicht. Das enge T-Shirt spannte sich über seine Brust, verschwitzt wegen der unerbittlichen Hitze. Er hasste diesen Ort fast so sehr wie die beiden Männer, die er gerade verfolgte. Schlimmer noch, er konnte hier nicht sein Abzeichen tragen. Das fühlte sich an, als würde er nackt die Straße hinuntergehen, was tatsächlich besser gewesen wäre als ohne Abzeichen.
Manchmal, jetzt zum Beispiel, glaubte er, von dem Chaos in seinem Kopf noch wahnsinnig zu werden. Hin und wieder sagten der Zar – Präsident von Torpedo Ink, ihrem Motorradclub – und seine Frau Blythe, dass man über manche Dinge sprechen müsse, auch wenn es einem noch so schwerfalle. Das war Bockmist. Wem konnte einer wie er schon sein Herz ausschütten? Welcher bescheuerte Therapeut würde denn kapieren, was er durchgemacht hatte? Was jeder und jede seiner Brüder und Schwestern durchgemacht hatten?
Er konnte sie geradezu hören, diese Konversation. Wie viele, sagtest du, hast du umgebracht? Wie, sagtest du, hast du sie gekillt? Wie geht es dir damit? Was glaubten sie, wie es ihm damit ging? Es würde Knast oder eine Gummizelle bedeuten, aber er war die meiste Zeit seines Lebens eingesperrt gewesen, und das würde ihm nicht noch einmal passieren. Niemals mehr.
Ice nahm die blöde Baseballmütze ab, die er trug, um seine unverkennbaren Haare zu verbergen. Er war nicht einfach nur blond; seine Haare leuchteten in der Sonne – platin, golden, silber. Er trug sie ziemlich lang, aber nicht so lang wie einige der Brüder. Noch einmal wischte er sich den Schweiß ab und setzte die Kappe wieder auf. An der Ampel angekommen, griff er in die grellbunte, offene Einkaufstasche, die einladend am Arm einer Frau baumelte, nahm ein Päckchen heraus und ließ es vor sich auf den Gehsteig fallen.
»Ma’am.« Er bückte sich danach. »Sie haben etwas verloren.«
Die ältere Frau drehte sich um und bekam große Augen. »Oh. Vielen Dank. Das habe ich für meine Enkelin gekauft.«
Er richtete sich langsam, vom Licht abgewandt, wieder auf, darauf bedacht, dass möglichst viele Menschen zwischen ihm und denen waren, die er verfolgte, und warf ihr ein Lächeln zu. »Wie alt ist Ihre Enkelin denn, wenn ich fragen darf? Denn Sie sehen ganz bestimmt nicht aus, als ob Sie alt genug wären, um schon Großmutter zu sein.« Er meinte das wirklich, musste sich also gar keine Mühe geben, aufrichtig zu klingen.
Sie strahlte ihn an. »Na, das ist ja wirklich ein nettes Kompliment. Ich bin ganz sicher alt genug. Sie ist acht.« Sie ließ das Päckchen wieder in der Tasche verschwinden, zog diese jedoch fester an sich. »Ihr Tattoo gefällt mir sehr. Es ist ganz außergewöhnlich.«
Er hatte eine Menge Tattoos an den Armen, auf der Brust und dem Rücken, doch sie meinte die drei Tränen, die aus seinem linken Augenwinkel auf die Wange tropften. Diese Tränen erinnerten ihn jedes Mal, wenn er in einen Spiegel blickte, daran, dass er kein Mensch mehr war. Alles Menschliche war ihm genommen worden, er war nur mehr eine Hülle. Eine leere Hülle. Wieder machte ihm der Druck auf seiner Brust das Atmen schwer. Er berührte eine der Tränen, wie um sich daran zu erinnern, dass er sie hatte.
»Die habe ich schon seit Jahren. Sie wissen schon, was tut man nicht alles, wenn man jung ist.«
Wieder lächelte sie ihn an. »Für mich sehen Sie noch immer jung aus.«
Darauf wusste er nichts mehr zu erwidern. Sie war nett. Er aber lebte nicht in einer netten Welt und wusste sich auch nicht mit netten Leuten zu unterhalten. Er konnte für sie jemanden windelweich prügeln. Er konnte jemanden für sie töten, wenn sie das wollte. Verflucht, das konnte er beides, aber höfliche Konversation, das war nicht sein Ding.
Natürlich konnte er auch seine Waffe ziehen und die beiden Kerle vor aller Augen umnieten. Die Bullen würden kommen, und es käme zu einer irren Schießerei, aber am Ende hätte er vielleicht etwas Ruhe und Frieden. Vielleicht. Wahrscheinlich gab es für einen Mann wie ihn in der Hölle einen besonderen Platz.
Aber er konnte es sich nicht leisten, sich mithilfe eines Bullen selbst auszupusten, denn wenn er die beiden tötete, die er nun schon seit vier verdammten Tagen an diesem heißesten Ort der Erde verfolgte, dann würde er einen kleinen Jungen zu einem Leben in der Hölle auf Erden verdammen. Und er wusste, wie das war. Scheiße.
Die Frau redete mit ihm, doch er nahm nichts davon wirklich wahr. Die Menge bewegte sich, und er riskierte einen Blick über die Schulter. Die beiden Arschlöcher waren bereits auf der Straße. Er wandte sich um und ging neben der Frau her, hielt den gesenkten Kopf nahe an sie, als schenkte er jedem ihrer Worte Gehör.
Er hätte ihr vieles erzählen können. Vor allem, dass er so kaputt war, dass er in einem Raum mit einem ganzen Haufen heißer Frauen, die für ihn strippten, keinen hoch bekam, wenn er es sich nicht befahl. Das war er verdammt leid. Was machte es für einen Sinn, sich von einer Frau einen blasen zu lassen, wenn er seinen Körper zwingen musste, dabei mitzumachen? Ja, das würde ganz sicher eine irre Konversation werden. Vielleicht konnte er sie ja um Rat fragen.
Oder aber er könnte Blythe fragen und sie damit zu Tode erschrecken – allzu viel schockierte sie allerdings gar nicht. Sie hatte den Zar, und mit ihm den ganzen Club, wieder zu sich genommen wie eine Glucke. Er musste zugeben, dass er wirklich Zuneigung und Bewunderung für sie empfand, obwohl er ja schon lange glaubte, gar nicht mehr wirklich fühlen zu können. Blythe und ihre gestörten Kinder.
Er ging noch einen Block mit der älteren Frau mit und hörte ihrem Geplauder über ihre bewundernswerte Enkelin zu. Als sie eine Pause einlegte und er nicht umhinkonnte, das Schweigen zu füllen, redete er von seinen lieben »Nichten und Neffen«. Vermutlich war das nicht einmal gelogen. Sie mussten ja nicht gleich blutsverwandt sein. Alle Mitglieder des Torpedo-Ink-Clubs waren seine Brüder. Was bedeutete, dass deren Kinder zu seinem Leben dazugehörten, oder nicht? Als er um die Ecke bog und der älteren Frau noch kurz zuwinkte, erfasste sein Blick eine Bewegung. Ein weißes Kleid mit Blumen. Nicht irgendein Kleid. Ein leichtes Sommerkleid, wie es die Frauen in alten Kinofilmen trugen. Sie stand auf der anderen Straßenseite in der Sonne und hätte ebenso gut einen Heiligenschein tragen können, denn sie war so schön, dass sie ihm den Atem raubte. Er blieb wie angewurzelt auf dem Gehsteig stehen und starrte sie an – was gottverdammt verrückt war. Schließlich war er bei der Arbeit.
Das Oberteil des Kleides saß straff, und die Brüste der Frau füllten den Stoff perfekt aus, drückten gegen das Mieder, als würden sie gerne frei sein. Die Vorderseite des Kleids war eng, aber um das Dekolleté herum gerafft. Es juckte ihn sofort in den Fingern, ihr das Leibchen herunterzuziehen und diese wahnsinnig verlockenden Brüste zu befreien. Tatsächlich lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Er stellte sich vor, hinter ihr zu stehen und den Stoff langsam aufzuziehen, bis das Mieder unter die weichen Kurven glitt und ihre Brüste in seinen Händen lagen.
Für ein Gesicht wie das ihre hätten wohl die meisten Männer gekämpft und wären gestorben – zumindest er. Hohe Wangenknochen. Große Augen. Ein ausgesprochener Kussmund. Lippen, um ein männliches Glied fest zu umschließen. Sein verdammter Schwanz reagierte sofort – einfach so. Mitten auf der Straße. Beim Anblick einer vollständig angezogenen Frau. Das sprichwörtliche Mädchen von nebenan. Was zum Teufel war das?
Er legte die Hände über seine Jeans, nur um sicherzugehen, dass er nicht irgendeine Halluzination hatte. Er war geschockt, obwohl ihn doch nichts mehr schockieren konnte. Er hatte keine normalen Erektionen. Das war vor langer Zeit aus ihm herausgeprügelt worden. In Sachen Sex war nichts bei ihm normal. Absolut nichts.
Er zwang sich, die Hände von der Jeans zu nehmen, und warf noch einmal einen langen Blick auf die Frau. Das enge Mieder betonte ihren schmalen Brustkorb und die schlanke Taille. Der ausgestellte Rock lenkte den Blick auf die Beine. Fantastische Beine. Er konnte fast spüren, wie es war, von ihnen umschlungen zu werden. Zur Hölle, wenn er ihretwegen derartige Fantasien bekam, dann würde seine Erektion nicht gleich wieder weggehen.
Am Zebrastreifen zögerte sie und ging dann zurück, auf einen Mann zu, der ihr offenbar etwas zurief. Er hatte sich immer für einen Tittentyp gehalten, doch die Art und Weise, wie sie in dem geblümten weißen Kleid ihren perfekten Hintern schwang, reichte, um ihn umdenken zu lassen.
Ihr Haar glänzte so stark in der Sonne, dass ihm die Augen schmerzten. Es fiel dunkel und voll über ihren Rücken. Sie schüttelte den Kopf über etwas, das der Mann in seinem perfekten Anzug gesagt hatte, wandte sich von ihm ab und wieder der Straße zu. Daraufhin packte er sie am Arm und hielt sie zurück.
In diesem Augenblick spürte Ice ihn. Den Gletscher – tief in ihm, eisig kalt, so kalt, dass es brannte. Da war ein Verlangen – das Verlangen zu töten. Es war … überwältigend. Es kam über ihn wie eine Sturzflut, doch tief in seinem Inneren war er erstarrt. Erfroren. Er tat einen Schritt auf den Rand des Gehsteigs zu. Autos brausten vorüber, doch er bemerkte sie kaum. Er war an einen kalten, dunklen Ort geraten, den er nur allzu gut kannte.
Ein Pfiff durchdrang den Gletscher, ließ einen langen, gezackten Riss im Eis entstehen, bohrte sich durch dieses tiefe, intensive Blau. Warf ihn aus den Gedanken und Bildern in seinem Kopf heraus, und er wandte den Blick von dem Paar ab. Sein Zwillingsbruder auf der anderen Straßenseite war bereits am Zebrastreifen und kam auf ihn zu, als die Ampel auf Grün sprang. Scheiße. Er hatte sich gerade zum größten Idioten in der Geschichte der Menschheit gemacht. Sein Bruder sorgte sich bereits um ihn, und dieser kleine Zwischenfall würde den Druck bestimmt nicht verringern.
Die beiden, die sie verfolgten, waren ihnen schon einen ganzen Block voraus. Storm war zurückgefallen, um ihm Deckung zu geben. Er deutete auf die zwei und lief los, konnte jedoch nicht umhin, einen kurzen Blick auf das Paar zu werfen. Sie schüttelte noch immer den Kopf, der Anzugträger war aufgebracht und starrte sie wütend an. Stellte Forderungen. Sie lehnte ab. Gut für sie. Geld konnte einen Mangel an Charakter nicht kompensieren. Das hätte er wissen sollen. Er hatte so viel Geld, dass er nicht wusste, was er damit anfangen sollte, aber Charakter? Wohl weniger.
»Was zur Hölle ist denn?«, zischte Storm und fasste neben ihm Tritt. »Wir dürfen sie nicht verlieren!«
Sie erhöhten das Tempo, wanden sich durch die Menge, um wieder näher an die beiden Kerle heranzukommen.
»Ich hatte nicht vor, sie zu verlieren«, murrte Ice und zog sich die Mütze tiefer ins Gesicht. »Ich wusste ja, dass du an ihnen dran warst.«
Ice blickte seinen Bruder direkt an, nur um ihn erkennen zu lassen, wie nah er daran war, die Beherrschung zu verlieren.
Storm schüttelte mit verächtlichem Blick den Kopf. »Du gehst, ich gehe. Das war schon immer unser Deal.«
»Als wir den machten, waren wir sieben Jahre alt«, erinnerte Ice ihn ruhig. Er riskierte einen weiteren Blick auf ihre Zielpersonen. Zwischen ihnen und den beiden waren genügend Passanten. Eine Gruppe Touristen blieb immer wieder mitten auf dem Gehsteig stehen, und die Menge bewegte sich um sie herum. Da sie nahe dran waren und sich sehr ähnlich sahen, wurde Ice wieder langsamer und hielt sich hinter den fotowütigen Urlaubern. »Keiner von uns dachte damals, dass wir älter als zehn würden.«
»Du gehst, ich gehe. Das ist der Deal«, beharrte Storm.
»Warum bist du bloß so gottverdammt stur?«, fragte Ice leise.
»Ich bin immer deinem Beispiel gefolgt, und du würdest das auch tun«, erwiderte Storm mit einem gleichgültigen Achselzucken.
Dagegen konnte Ice nichts sagen. Er hätte es genauso gemacht. »Ich weiß auch nicht, Storm, wenn ich so weitermache, werde ich noch für alle zur Gefahr.«
»Savage ist eine Gefahr, nicht du. Du entscheidest dich immer für das Richtige. Und zu sterben ist keine Alternative. Wir haben das nun schon x-mal durchgekaut. Du gehst gerade durch eine schwierige Phase. Das kommt vor. Zum Glück haben wir sie nicht beide gleichzeitig.«
Das stimmte, aber zum Teufel, er wollte nicht Unschuldigen wehtun, doch er dachte mehr und mehr daran, einfach ein paar Pädophile in aller Öffentlichkeit abzuknallen. Einfach aufzustellen und umzumähen. Manchmal träumte er sogar davon. Er schien davon nicht mehr loszukommen. Weder durch Alkohol noch durch Frauen und auch nicht dadurch, dass er die Kerle, die Kinder raubten und vergewaltigten, zur Strecke brachte.
Am meisten kotzte ihn an, dass die Männer vor ihnen als unbescholtene, aufrechte Bürger durchgingen. Sie besaßen Geld und Ansehen, genau wie die anderen in dem Ring, den Code im Netz entdeckt hatte, die die Kinder meistbietend anboten. Sie waren gesellschaftlich anerkannt, er aber nicht. Er würde das nie sein. Nie. Er war ein Biker. In einem Club. Die, die mit ihm fuhren, waren seine Familie, und er würde für sie kämpfen bis zum Tod. Für sein Clubabzeichen. Er würde nie von der Gesellschaft anerkannt werden, aber sie luden Monster zu sich nach Hause ein und ließen sie an ihre Kinder heran, und das nur, weil sie anständig angezogen waren und nicht vor allen anderen mit Schimpfwörtern um sich warfen. Sie trieben es einfach nur hinter dem Rücken der anderen – mit Kindern.
Einer war ein Arzt. Dr. Hank Bernard. Verheiratet, drei eigene Töchter. Das Problem war, er stand auf kleine Jungen, je jünger, desto besser. Dann war da George Durango. Ihm gehörten mehrere Wellness-Einrichtungen und Retreats für Promis. Er bewegte sich in hochgestellten Kreisen. Bill Churchill war ein bekannter Richter, einer, der den Ehrgeiz hatte, sich in der Politik einen Namen zu machen. Paul Bitters war ein angesehener Feuerwehrchef. Er kannte jeden Polizisten in seiner Gegend namentlich. Wenn er sprach, hörte man ihm zu. Russ Jarvis und Billy Kent besaßen zusammen eine Kette von Lebensmittelmärkten. Sie waren schon seit ihren Kindheitstagen befreundet und nun Geschäftspartner. Die meisten hielten sie für ein Paar, und dass die anderen dies dachten, war ihnen durchaus recht.
Code mit seinem irren Computer-Durchblick war zufällig im Netz auf die Versteigerung eines sechsjährigen Jungen gestoßen. Der Anbieter war Paul Bitters. Wie sich herausstellte, hatte er den Jungen einem großen Pädophilenring präsentiert. Torpedo Ink hatte anonym für den Jungen geboten, und anfangs schien es, als würden sie ihn bekommen. Sie hätten eine Adresse angegeben, und dann wäre der Austausch erfolgt. Aber leider hatte die Polizei Wind von der Sache bekommen, und Bitters hatte die Auktion sofort beendet.
Die nächsten beinahe drei Wochen war Bitters nicht mehr online gegangen. Er schickte eine verschlüsselte Botschaft: Das Event werde exklusiv per privater Einladungen bekannt gegeben. Er war natürlich nervös geworden und wollte, dass nur jene kamen, die er kannte und denen er ausdrücklich vertraute. Er wollte, dass sie persönlich erschienen, damit er jeden in Augenschein nehmen konnte. Code hatte es geschafft, die Chiffrierung zu knacken.
Torpedo Ink hatte nicht viel Zeit gehabt, einen Rettungsplan aufzustellen. Sie wollten nicht einfach nur zugreifen. Sie wollten mehr Namen. Es ging nicht nur um eine kleine Operation: Ursprünglich war die Auktion allgemein und in mehreren Bundesstaaten zugänglich gewesen. Und sie wollten sie für immer beenden.
Der Club war mitsamt den Frauen aus einem sehr guten Grund in Vegas. Ihr Vizepräsident, Steele, wollte seine Frau heiraten, ihr einen Ring an den Finger stecken und Nägel mit Köpfen machen. Natürlich würden alle Mitglieder von Torpedo Ink bei der Feier dabei sein. Niemand würde also ihren Aufenthalt in Las Vegas hinterfragen.
Ice und Storm ließen sich mit der kleinen Gruppe Touristen mittreiben, passten sich ihr an, sodass die beiden Männer, wenn sie zurückblickten – was sie ab und an taten –, sie als Teil dieser Gruppe wahrnahmen. Storm hatte ebenfalls eine Baseballmütze getragen, doch beim Überqueren der Straße setzte er sich einen Panamahut auf, der seine auffälligen Haare besser verdeckte. Zudem ging er leicht in sich zusammengesackt, um seine Größe zu kaschieren.
Doch plötzlich drehten sich ihre Zielpersonen um und schritten direkt auf sie zu. Ice ging mit gesenktem Blick geradeaus weiter, sein Bruder überquerte an der Ampel die Straße. Ein Motorrad dröhnte vorüber, hielt mit dem Verkehr auf der Straße mit. Transporter hatte Alena, Ices und Storms jüngere Schwester, auf dem Rücksitz seines Bikes. Ihr sehr platinblondes Haar steckte unter einem Helm. Keiner von ihnen trug sein Abzeichen.
»Ich habe sie«, murmelte Savage in sein Funkgerät. »Wechselt Hemden und Hüte und kommt dann wieder. Sie checken ab, ob ihnen jemand folgt. Die Kerle sind vorsichtig.«
Savage war einer der Vollstrecker des Clubs. Und er war, ebenso wie sein Bruder, einer der Furcht einflößendsten Menschen, die Ice kannte, obwohl seinem Club ausnahmslos ausgemachte Mörder angehörten. Dazu waren sie alle von Kindheit an gemacht worden, und jeder von ihnen kannte Hunderte Arten zu töten. Doch Savage war eine Liga für sich.
»Wir haben sie«, berichtete Alena.
Ice ging in die entgegengesetzte Richtung der beiden Männer. Als deren Ziel hatte Code eines von zwei Gebäuden auf der anderen Seite des Blocks ausgemacht. Dort waren die Lichter des Strip weniger grell, und unter das Volk auf der Straße mischte sich noch eine etwas zwielichtig wirkende Klientel.
Storm ging weiter die Straße entlang, für die er sich entschieden hatte; sie war nicht weit von der, die Code als wahrscheinlichstes Ziel der beiden identifiziert hatte. Das Taxi, mit dem Savage angekommen war, parkte am Straßenrand vor den beiden Männern; er ließ sich Zeit, den Fahrer zu bezahlen, und fragte ihn dabei noch nach einer Auskunft. Russ Jarvis und Billy Kent gingen direkt an ihm vorüber, ohne ihn zu beachten.
Die Verstärkung der beiden fuhr in einem Toyota-Pick-up an ihnen vorbei und nickte ihnen kurz zu. Direkt hinter dem nagelneuen Toyota kam ein alter Ford. Dieser Wagen war zu einer wahren Rakete auffrisiert, und an seinem Steuer saß Mechaniker. Torpedo Ink war also voll präsent, und alle arbeiteten zusammen wie eine gut geölte Maschine. Jedes Mitglied trug sein Bestes dazu bei, um denen das Kind zu entreißen, die es zur Versteigerung ausgeschrieben hatten.
»Ich bin mit Transporter und Alena bereit«, sagte Mechaniker in sein Funkgerät. »Wir nehmen dir diesen Fahrer ab, Savage, und dann machen Alena und Transporter kehrt und sichern das Gebäude, während ich den Gefangenen raushole und auf dich warte.«
»Alles klar. Einen brauchen wir lebend«, murmelte Savage. Es war fast nicht zu sehen, dass Jarvis seiner Verstärkung zunickte, doch Savage bemerkte es. Der Fahrer des Pick-ups glaubte, dass niemand den beiden Männern folgte.
»Sie kehren um. Sie glauben jetzt, unbehelligt zu sein, und gehen zu der Versteigerung. Jetzt bist du wieder dran, Ice. Erledigen wir sie möglichst schnell«, sagte Savage.
Savage ging in die entgegengesetzte Richtung der beiden Männer, auf die Straßenecke zu. Bei Grün überquerte er die Fahrbahn und schritt dann zielstrebig den Strip entlang. Ice bog hinter Jarvis und Kent um die Ecke. Er trug ein dunkles Navy-T-Shirt, eine dunkle Sportjacke und einen weichen Filzhut. Storm blieb auf derselben Straßenseite wie Savage. Ice schloss sich der kleinen Menge am Fußgängerübergang an und ignorierte die Zielpersonen, die auf Grün warteten. Storm überquerte die Straße.
Jarvis und Kent verließen den Gehsteig als Erste, sie gingen nun rasch, blickten auf ihre Uhren und wurden noch schneller. Ice und Storm folgten ihnen, zwischen ihnen waren nur mehr zwei Paare. An der nächsten Ampel ging Savage zurück und schloss einen halben Block hinter Ice und Storm zu ihnen auf.
»Verstärkung ist bereit«, meldete Reaper, ihr Sergeant at Arms.
»Lieferwagen wartet auf Fracht«, berichtete der Zar.
»Arzt bereit«, meldete Steele.
Absinth stieß zu Ice und Storm, als Jarvis und Kent gerade einen Massagesalon betraten, an dessen Tür und Fenstern in Goldlettern für Massagen rund um die Uhr geworben wurde. Ice, Storm und Absinth waren nur wenige Schritte hinter den beiden. Ice blickte nach oben in die Überwachungskamera. Sie zeichnete nicht mehr auf. Code hatte seine Magie spielen lassen und die Kameras im ganzen Gebäude außer Betrieb gesetzt.
Savage war dreißig Sekunden hinter den anderen drei. Jarvis und Kent meldeten sich nicht an der Rezeption an, sondern schritten sofort den Flur entlang. Die Hostess ignorierte sie, blickte jedoch auf, als sie Ice, Storm und Absinth gewahrte. Sie hatten diese Wirkung auf Frauen. Savage machte sie nervös, als er eintrat, und sie vermied es, ihn genauer anzusehen, was es ihm erleichterte, die beiden Männer auf ihrem Weg den Korridor entlang im Blick zu behalten.
Absinth neigte sich zu ihr, setzte die Ellbogen auf den Rezeptionstisch auf und blickte ihr lächelnd direkt in die Augen, während Storm zur Tür zurückging. »Hey, du Schöne. Du musst jetzt wirklich nach Hause gehen. Es ist spät, dein Dienst ist schon längst zu Ende.« Er sprach leise und in einem hypnotisierenden Tonfall. »Du willst jetzt einfach nur so schnell wie möglich von hier verschwinden.«
Die Frau raffte ihre Handtasche an sich, runzelte kurz die Stirn und stürmte zu der Tür hinaus, die Storm ihr aufhielt. Er schloss die Tür ab, ließ das OPEN-Zeichen jedoch an, sodass es direkt über den Worten blinkte, die Massagen rund um die Uhr anpriesen.
Savage schritt bereits den Flur hinunter und ließ Jarvis und Kent nicht aus den Augen. Ice und Storm folgten, während Absinth die Rezeption besetzte für den Fall, dass gerade jetzt jemand vorbeikam und eine Massage wollte. Derjenige würde überrascht sein, dass die Tür verschlossen war, Zeit brauchen, das zu verarbeiten, und Absinth würde ihm dann »vorschlagen«, den nächsten Salon gleich ein paar Häuser weiter aufzusuchen. Er war sehr gut darin, die Leute zu allen möglichen Dingen zu überreden.
Sie hatten das Nest gefunden, und niemand konnte es mehr verlassen, wenn sie es nicht wollten. Sobald Code die Örtlichkeiten auf zwei Gebäude eingegrenzt hatte, hatten sie für beide einen Simulationslauf durchgeführt. Sie waren gut in dem, was sie machten – schließlich machten sie schon seit früher Jugend Jagd auf Übeltäter.
Nachdem Transporter und Alena den Truck mit Jarvis’ und Kents Verstärkung identifiziert hatten, würden sie den Fahrer Mechaniker überlassen und zurückkommen, um die Hintertür zu bewachen. Das Gebäude verfügte zudem noch über zwei weitere Fluchttüren im Empfangsbereich. Die eine führte direkt zu dem Laden nebenan und war nach Auskunft der Angestellten, die Absinth früher am Tag angesprochen hatte, normalerweise verschlossen. Die zweite führte direkt in den Keller. Ice war bereit, darauf zu wetten, dass das Kind dort in einem Käfig mit einer Kamera saß, damit man den »Kunden« zeigen konnte, was sie erstanden.
Zwei Wachen wandten sich ihnen zu, als sie sich näherten. Beide trugen halbautomatische Waffen, nicht eben die gewöhnliche Ausrüstung für einen privaten Wachdienst. Die beiden waren eindeutig von einer Privatfirma, die von Bitters bezahlt wurde. Nie im Leben würde der Massagesalon für offen erkennbare Söldner zahlen. Dieses Etablissement war eleganter als die meisten anderen, doch es würde niemals löhnen, was diese beiden Typen kosteten. Das bedeutete, dass drinnen noch weitere Söldner waren.
Einer der Wachmänner stand direkt vor der Tür, der andere drei Schritte entfernt, doch er war gerade im Begriff, die Flure abzugehen, damit niemand sich dem Zimmer nähern konnte, das er abzusichern hatte. Er ließ sich ein wenig weiter zurückfallen, um seinen Partner zu decken.
Der Mann blickte Savage grimmig an, als er ihn mit erhobener Hand anhielt. »Für diese Party brauchen Sie eine Einladung«, sagte er. »Alle auf der Liste wurden bereits eingelassen. Warten Sie vorne an der Rezeption, und Tabs wird eine Masseuse für Sie finden.« Er blinzelte, als er das sagte, hatte sich jedoch leicht zur Seite gedreht, gerade so, dass die Waffe direkt auf Savages Brust zielte.
Ice wollte lachen, doch darin war er nicht sehr gut. Er war besser im Töten. Er sah den Wachmann vor Savage nicht einmal an. Das war Savages Problem. Er trat hinter Savage hervor, neben ihm Storm. Sie würdigten den Söldner, das Partyzimmer oder irgendetwas sonst keines Blickes. Storm hielt ein beschriebenes Blatt Papier in die Höhe und zeigte auf den Flur, den der zweite Wachmann entlangging.
»Hey«, sagte er und wedelte mit dem Papier. »Die Zimmernummern stimmen nicht überein mit dem, was das Mädchen hier draufgeschrieben hat. Sie hat ihre Telefonnummer aufgeschrieben, aber das bringt uns nichts, wenn wir eine Massage wollen.«
»So läuft es nicht!«, knurrte der Wachmann und zog seine Waffe.
»Tut mir wirklich leid«, sagte eine weibliche Stimme hinter ihnen. Sie war sinnlich. Leise. Sündigen Sex versprechend.
Alle blieben wie angewurzelt stehen, alle Köpfe wandten sich der Newcomerin zu. Sie war groß und ihr Körper umwerfend. Dichtes Haar, glänzend schwarz, das sich um ihr Gesicht schmiegte und bei jedem ihrer Schritte den Nacken berührte. Alle Aufmerksamkeit galt jedoch nicht ihrem Haar, sondern vielmehr ihrer erstaunlichen Oberweite. Ihre Brüste waren voll und rund und wirkten, als wollten sie sich aus dem engen T-Shirt herausschälen, das sich über sie spannte und auf dem ein Logo des Massagesalons prangte.
»Dies ist mein erster Tag, und die Bullen haben mich angehalten, weil ich zu schnell gefahren bin.« Sie grinste breit, als wolle sie alle einladen, sich mit ihr zu amüsieren. »Bin mit einer Verwarnung davongekommen. Tabitha von der Rezeption sagte, ich soll hier zwei Kunden treffen, in Zimmer vier-null-sieben. Das ist wohl hier den Gang hinunter.«
Sie holte Ice und Storm ein, überholte die beiden und zeigte auf ein Zimmer am Ende des Flurs. Von hinten wirkte ihr Gang nicht weniger sexy als von vorne, und der Mann, der Savage beobachtete, richtete den Blick immer wieder auf ihren wiegenden Hintern. Sie hatte den Wachmann im Flur fast erreicht. Er versuchte, seinen Blick von den beiden Brüsten abzuwenden, die fast aus ihrer zu kleinen Uniform herauszufallen schienen.
Ice hätte sie am liebsten geküsst. Die anderen Torpedo Inks nannten Lana oft die Witwe. Weil sie Frauen, die mit Söldnern verheiratet waren, oft zu Witwen machte. Sie sah höllisch sexy und gleichzeitig himmlisch unschuldig aus. Wie sie das machte, davon hatte Ice keine Ahnung, aber sie war einfach umwerfend schön. Das war sie schon als Kind gewesen, als sie wie jeder von ihnen gefoltert worden war. Sie war weinend zurückgekommen, aber bereit zu tun, was immer zur Flucht notwendig war.
Sie ging auf den Wachmann zu, als wolle sie ihn überholen, starrte ihm geradewegs in die Augen, ein heißblütiger, lustvoller Blick. Savage und Lana traten unmittelbar vor ihre Opfer, und zwei Klingen rammten sich gleichzeitig in deren Kehlen. Ice schnappte sich die Wache auf dem Flur, während Lana leicht an eine Tür klopfte, sie öffnete und signalisierte, dass der Raum frei sei. Ice schleifte den Wachmann hinein, nahm ihm die Waffe ab und reichte sie Lana. Sie verdrehte die Augen und legte sie auf einen Massagetisch. Der Wachmann würgte ein paarmal, die Augen vor Schock weit aufgerissen, verschluckte sich an seinem eigenen Blut, während Storm Savages Opfer hereinzog.
Ice ging mit Storm in Position, Lana hinter ihnen, und Savage bildete die Nachhut. »Wenn der Junge nicht da ist, brauchen wir einen lebend«, erinnerte Savage sie leise.
Ice warf ihm einen Blick zu und trat dann dicht vor die Tür. Mit seinem Dietrich öffnete er das lausige Schloss rasch und fast lautlos. Die Männer in dem Raum verließen sich offenbar etwas zu sehr auf ihre Wachleute.
Er und Storm traten jeweils an eine Seite der Tür und ließen Lana allein davor stehen. Sie hielt eine Hand absolut gefasst ganz nah an die Tür. Ice bewunderte es, wie sie von einer Sekunde auf die andere von sanft und nett zur Killerin umschalten konnte. Sie hatten sich auf sie verlassen, als sie noch nicht mehr als ein wunderschönes, dunkelhaariges Kind gewesen war, und sie hatte es auch damals immer geschafft. Wie auch heute noch.
Sie zeigte mit den Fingern. Sechs Männer vor ihnen, wo sich, wie sie wussten, noch ein Ausgang und vier weitere Wachleute befanden. Je einer zu beiden Seiten der Tür. Einer oben auf einem kleinen Balkon hinter einem Vorhang. Einer auf der anderen Seite des Raums an dem Ausgang, der auf die Gasse hinausführte.
Savage wies Ice und Storm mit einer Geste an, die Wachen beiderseits der Tür zu erledigen. Er würde sich den Mann am Ausgang vornehmen und Lana den hinter dem Vorhang. In einer Situation, in der eine Zielperson nicht klar zu erkennen war, arbeitete sie genauer als alle anderen.
Jeder hatte sein Opfer. Paul Bitters war der Mann, der das Kind verkaufte, also würde er als Letzter sterben. Sie mussten wissen, wo der Junge war. »In Position«, berichtete Savage.
»In Position«, sagte Reaper, der am Ausgang direkt hinter dem Anbieter und den Kunden wartete.
»Ich habe dein Paket, Savage«, meldete Mechaniker, was bedeutete, sie hatten den Fahrer des Trucks in ihrer Gewalt und würden von ihm weitere Informationen über den Ring erfahren und die Befehlskette bis hinauf zu den richtig großen Fischen verfolgen können.
»Transporter und ich an der Hintertür«, meldete Alena.
»Also dann«, befahl der Zar.
Ice blickte ein letztes Mal über seine Schulter und dann auf seinen Zwillingsbruder. Storm. Sein Herz zog sich zusammen. Er stieß abrupt die Tür auf, trat hinein, drehte sich und feuerte auf sein Ziel. Storm bewegte sich synchron mit ihm, Rücken an Rücken, ein hundertfach geübtes Manöver, und feuerte ebenfalls. Lana war direkt hinter ihnen, trat vor und seitwärts, um Savages Schusslinie freizumachen. Sie feuerte dreimal auf den Vorhang. Savage drückte in aller Ruhe ab, und vier Leichen sanken fast gleichzeitig zu Boden.
Savage schloss die Tür hinter sich und schlenderte dann auf die sechs Männer zu. »Gentlemen«, begrüßte er sie leise.
Es war kein Kind in dem Raum. Bitters versuchte hastig, an den Computerbildschirm zu gelangen, auf dem ein kleiner Junge in einem Hundekäfig zu sehen war, der sich eine Decke vor die Brust hielt. Noch einmal wurden vier Schüsse hörbar, und Jarvis, Kent, Bernard und Churchill plumpsten geräuschvoll auf den Boden.
Torpedo Ink benutzte Schalldämpfer, die jedoch nur den Knall leiser machten. Wenn jemand in der Nähe war, konnte er die Schüsse dennoch mitbekommen. Bitters blickte hoffend auf den Ausgang direkt hinter ihm. George Durango schob sich zu ihm hin.
»Ich habe Geld. Wer immer euch bezahlt, ich kann es verdoppeln«, sagte Durango.
Ice schoss ihm ins Herz und zusätzlich noch zwischen die Augen. Durango fiel auf Bitters, der den sinkenden Körper reflexartig auffing und dann mit einem kleinen Angstschrei fallen ließ.
Ice und Storm gingen an Bitters vorbei an den Bildschirm. »Wo ist er?«, fuhr Ice ihn an, ohne den Blick vom Monitor zu nehmen. »Wenn du’s mir nicht gleich beim ersten Mal sagst, dann wird dieser Mann, der hier vor dir steht, dich Stück für Stück auseinandernehmen. Niemand wird dir zu Hilfe eilen. Wir haben den hinteren Ausgang besetzt. Und die Gasse auch. Und die Rezeption. Die Kameras sind außer Betrieb. Wo ist der Junge, Bitters?«
Storm bearbeitete den Computer, bis Code für ihn übernehmen konnte. Es würde nicht lange dauern, den Jungen nötigenfalls auf eigene Faust zu finden. »Code ist drin«, sagte er.
Bitters blickte auf die herumliegenden Leichen, als könne er nicht glauben, was sich ereignet hatte. Er stand eindeutig unter Schock. Neun Menschen in diesem Raum zu töten, hatte weniger als eine Minute gedauert. Er trat zwei Schritte zurück und hielt die Hände hoch. »Wenn ihr ihn wollt, dann bringe ich euch selbstverständlich zu ihm.«
»Wir haben ein Team, das ihn mitnimmt. Du wirst uns jetzt sagen, wo er ist«, wiederholte Ice.
Savage hatte die Pistole weggesteckt und zog nun ein furchterregendes Messer heraus. Die Klinge blitzte im Licht der Deckenleuchten, sodass Bitters halb geblendet wurde. Savages Miene war ausdruckslos, sein Blick leer. Kalt. Tot. Es war völlig klar, dass er tun konnte, was Ice angedroht hatte.
Bitters schaute zu Lana. Sie war eine Schönheit, sie hatte Eleganz und Klasse. »Bitte, ich weiß nicht, was hier vor sich geht.« Er trat noch einen Schritt zurück.
»Schau über deine Schulter«, schlug Ice vor.
Bitters drehte sich um, und sein Gesicht erstarrte vor Angst. Reaper, Savages älterer Bruder, füllte den Türrahmen aus und sah drein wie Gevatter Tod persönlich. Bitters glotzte mit vor Furcht verzerrter Miene von einem zum anderen. Man konnte nicht sagen, welcher von ihnen mehr Angst machte.
»Im Keller, aber ihr kommt niemals ohne mich an seinen Käfig. Da ist eine Vorrichtung –«
Ice blickte abrupt auf. »Ihr habt etwas an den Käfig drangemacht? So was wie ’ne Bombe? Ihr habt eine gottverdammte Bombe an den Käfig eines sechsjährigen Jungen gemacht, den ihr zwei Jahre lang gequält habt und jetzt verkaufen wollt, weil er euch zu alt geworden ist? Ihr habt ’ne Bombe an diesen Käfig gemacht?« Er trat näher. Er konnte diese Bestie mit bloßen Händen töten.
»Sie verstehen das nicht«, sagte Bitters. Er richtete sich auf, setzte seine Repräsentantenmiene auf wie für die Kameras und um andere zu überzeugen. »Dieser Junge, diese Kinder, das sind sexuelle Wesen. Sie wollen Liebe. Sie wollen, was wir ihnen geben. Sie müssen das offener sehen. Ich wurde dazu geboren, Kinder zu lieben. Sie zu lehren.« Er verteidigte sich genauso wie all die anderen Pädophilen im Internet. Vielleicht hatte er es sich so oft vorgesagt, dass er nun selbst daran glaubte.
Ice versetzte ihm einen harten Schlag. Er trug dünne Handschuhe, wie auch seine Brüder und Lana. Darunter hatten sie Fingerabdrücke, die jedoch nicht die ihren waren. Als Bitters wie ein gefällter Baum zu Boden ging, rammte er ihm ein Knie in die Brust. Dann drosch er ein Dutzend Mal auf ihn ein, schlug ihm Zähne aus und demolierte seine Nase, brach ihm einen Wangenknochen.
»Ice verliert die Beherrschung, Zar, und das aus gutem Grund«, berichtete Storm.
»Ice«, sagte der Zar ihm leise ins Ohr. »Wir brauchen Infos. Halt dich noch eine Minute zurück.«
Lana legte eine Hand auf Ices Schulter. »Zieh ihn hoch, Bruder«, sagte sie sanft. »Besudle dich nicht mit seinem Blut.«
Ice blickte sie über die Schulter an und atmete tief, um die Bestie zu beruhigen, die nach mehr Blut verlangte. Mehr Tod. Widerstrebend stand er auf und zog Bitters mit hoch.
Bitters wischte sich das Blut ab, doch es floss weiter.
»Wir sind bei vier Minuten, und die Uhr läuft«, berichtete Storm. »Also, vorwärts.«
»Hast du das gehört, Alena? Bombe am Käfig. Prüf das nach. Code sagt, der Junge ist im Keller«, gab Savage durch und trat einen Schritt auf Bitters zu.
Der stieß erneut einen Schrei aus und hielt die Hände hoch, um sich zu ergeben. »Ihr bekommt den Jungen. Ich kann euch den Code zum Öffnen des Käfigs geben. Ihr könnt ihn haben. Ich brauche kein Geld für ihn.« Er murmelte die Worte und spuckte Blut.
Savage traf ihn hart. So hart, dass Bitters nach hinten und auf seine linke Seite taumelte. Stolperte. Fast zu Boden ging. Blut ergoss sich über das Parkett.
»Das könnt ihr nicht machen«, sagte Bitters und umfasste mit beiden Händen sein Gesicht. »Ihr müsst mich festnehmen.«
Ice blickte sich im Zimmer um, schaute auf die Leichen. »Sieht das für dich aus wie ein Polizeieinsatz? Wir wollen wissen, wer der Mann ist, der dir den Jungen verkauft hat. Er hat die Familie des Kleinen umgebracht und ihn fast aus dem Gitterbettchen geholt, um ohne jegliche Folgen für sich selbst an ihn heranzukommen. Diese Methode, die Familien zu ermorden und die Kinder zu rauben, hat er zum Erfolgsmodell für sich entwickelt. Er ist ein Lieferant. Und das macht er für so kranke Arschlöcher wie dich. Wer ist er?«
Bitters blickte zur Kamera hinauf und schüttelte dann den Kopf. »Ich kenne ihn nicht.«
»Dann bist du wirklich nutzlos für uns, aber wir müssen auf Nummer sicher gehen.« Ice warf Savage einen raschen Blick zu. »Transporter lässt den Truck warten, und die Demons haben hier eine kleine Ortsgruppe. Sie sind bislang unbemerkt und haben uns für ein paar Stunden ihre Werkstatt geliehen.«
»Ich hole die Info, die wir brauchen, aus einem von ihnen heraus«, versicherte Savage. »Ice, du machst mit. Wir beide zusammen bringen jeden zum Reden.«
»Wartet, wartet.« Wieder hielt Bitters die Hände hoch, als könne er die beiden so abwehren.
Lana trat vor ihn, und Bitters griff nach ihr. Sie verdrehte ihm das Handgelenk, und er schlug flach auf den Boden auf. Sie hielt ihn weiter fest und bohrte einen Fuß in seine Kehle. Fing die Spritze auf, die Savage ihr zuwarf, und rammte die Nadel in Bitters’ Hals. Er verdrehte die Augen.
»Jetzt brauche ich noch mal eine Dusche«, meinte Lana und ließ Bitters’ leblosen Arm fallen. »Er ist ekelhaft.«
Savage zog den Mann in die Höhe und warf ihn sich über die Schulter. »Lasst den Computer da und alle Beweise, die Code über diese Männer gesammelt hat. Alles. Er hat jede Menge Kopien. Er hat mehrere Nachrichtensender ausgesucht, denen er das Material zuspielen kann. Verbrennt eure Klamotten. Alles. Lana, du wirst dich von diesen Schuhen trennen müssen. Es ist Blut an ihnen. Benutzt die Routen, die euch gegeben wurden.«
»Verflucht, Ice« – sie funkelte ihn an – »ich liebe diese Schuhe.«
»Tut mir leid, Süße, ich kauf dir ein Paar neue«, erwiderte Ice und legte einen Arm um sie. »Wirklich. Er hat mich einfach sauer gemacht. Ich musste dieses Arschloch fertigmachen, deshalb ist es gut, dass du mit Storm hier warst und ihr mich zurückgehalten habt.«
»Verstehe«, sagte sie. »Ich hatte auch den Impuls, ihn zu töten, aber wir müssen den finden, der Familien umbringt und die Kinder mitnimmt.«
»Lasst alle Beweise verschwinden«, befahl der Zar unnötigerweise über den Funk.
»Paket ist in unserem Gewahrsam«, meldete Alena. »Das arme Baby macht sich vor Angst in die Hosen.«
»Sediert ihn für den Transport, falls nötig. Wir kümmern uns um ihn«, sagte der Zar. »Ihr müsst alle sauber dort herauskommen.«