Das Buch
Unsere Blicke trafen sich, und ich konnte nicht mehr wegsehen. Sein Kopf war mir unglaublich nahe, und sein Mund sogar noch näher. Mein Herz begann zu pochen. Wollte ich das? Oder wollte ich es nicht? Ich bewegte mich jedenfalls nicht von ihm weg. Stattdessen schloss ich langsam die Augen …
Die Welt der Auserwählten Poppy liegt in Trümmern: Alles, woran sie ihr Leben lang geglaubt hat – alles, was sie dachte zu sein –, hat sich als Lüge erwiesen. Und dann musste sie auch noch erfahren, dass ihre große Liebe Hawke in Wirklichkeit Casteel Da’Neer ist, der dunkle Prinz von Atlantia – ihr schlimmster Feind! Sie hat ihm ihr Vertrauen, ihre Liebe geschenkt, und Casteel hat es ihr mit Täuschung und Verrat gedankt. Nun besitzt er auch noch die Dreistigkeit, von Heirat zu sprechen. Ob Poppy damit einverstanden ist oder nicht, scheint ihn nicht zu kümmern. Aber wäre eine Ehe mit Casteel nicht auch für Poppy von Vorteil? Denn selbst wenn sie es nicht zugeben mag, ihre Gefühle für den dunklen Prinzen von Atlantia sind nicht erloschen. Nur bei ihm fühlt sie sich lebendig. Frei. Mächtig.
Casteels Untertanen jedoch begegnen Poppy mit Misstrauen und Hass. Auch ihr eigenes Volk, das sich von seiner Auserwählten im Stich gelassen fühlt, hat noch eine Rechnung mit ihr offen. Während Poppy sich von einem Kampf in den nächsten stürzt, erhebt sich eine uralte Macht und droht, die ganze Welt in die Dunkelheit zu reißen …
Die Autorin
Jennifer L. Armentrout ist eine der erfolgreichsten Autorinnen der USA. Immer wieder stürmt sie mit ihren Romanen – fantastische, realistische und romantische Geschichten für Erwachsene und Jugendliche – die Bestsellerlisten. Ihre Zeit verbringt sie mit Schreiben, Sport und Zombie-Filmen. In Deutschland hat sie sich mit ihrer Obsidian-Reihe und der Wicked-Saga eine riesige Fangemeinde erobert. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und zwei Hunden in West Virginia.
JENNIFER L.
ARMENTROUT
FLESH
AND FIRE
LIEBE KENNT KEINE GRENZEN
ROMAN
Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Sonja Rebernik-Heidegger
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der amerikanischen Originalausgabe A KINGDOM OF FLESH AND FIRE
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Deutsche Erstausgabe 03/2022
Redaktion: Catherine Beck
Copyright © 2020 by Jennifer L. Armentrout
Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe
und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,
unter Verwendung des Originalentwurfs von Hang Le
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN 978-3-641-27675-1
V003
www.heyne.de
Für meine Leserinnen und Leser
1
»WIR KEHREN HEIM, UM ZU HEIRATEN, meine Prinzessin.«
Heiraten?
Ich sollte ihn heiraten?
Mir kamen die Mädchenfantasien von früher in den Sinn, bevor ich erfahren hatte, wer ich war und was von mir erwartet wurde – Tagträume, entstanden aufgrund der Liebe, die meine Eltern füreinander empfunden hatten.
In keiner dieser Fantasien hatte ein Heiratsantrag eine Rolle gespielt, der nicht einmal annähernd ein Heiratsantrag war. Ganz zu schweigen davon, dass er mir an einem Tisch voller Fremder gemacht worden war, von denen mich die Hälfte am liebsten tot gesehen hätte. Und ich hatte ganz sicher nie davon geträumt, einen derart schlimmen – und wahnwitzigen – Nicht-Heiratsantrag von dem Mann zu bekommen, der mich gefangen hielt.
Vielleicht hatte mein Gehirn im Laufe der letzten Wochen einen Schaden davongetragen. Oder ich litt unter stressbedingten Halluzinationen. Immerhin musste ich viele schmerzhafte Verluste ertragen. Ich musste damit klarkommen, dass er mich verraten hatte. Außerdem hatte ich gerade erfahren, dass zur Hälfte atlantianisches Blut in meinen Adern floss. Dabei war mir immer eingetrichtert worden, dass dieses Königreich die Quelle des Bösen und allen Leids in diesem Land war. Stressbedingte Halluzinationen waren also viel glaubhafter als das, was gerade tatsächlich passierte.
Ich starrte auf die breite Hand hinunter, die meine sehr viel kleinere Hand umfasste. Seine Haut war eine Spur dunkler und wirkte wie von der Sonne geküsst. Schwielen zeugten von einem jahrelangen Umgang mit dem Schwert, das er mit eleganter, aber tödlicher Präzision führte.
Er hob meine Hand an seine unanständig wohlgeformten, vollen Lippen, die gleichzeitig sanft und unnachgiebig sein konnten. Lippen, die mir wunderschöne Worte zugeflüstert und sündhafte Versprechen über meine nackte Haut geschickt hatten. Lippen, die den unzähligen Narben gehuldigt hatten, die meinen Körper und mein Gesicht überzogen.
Lippen, die mir blutgetränkte Lügen erzählt hatten.
Genau diese Lippen pressten sich nun auf meinen Handrücken, und noch vor ein paar Wochen oder sogar Tagen wäre mir diese Geste unglaublich zärtlich erschienen. Einfache Dinge wie Händchenhalten oder tugendhafte Küsse waren mir verboten gewesen. Genauso wie begehrt zu werden oder Verlangen zu empfinden. Ich hatte mich vor langer Zeit damit abgefunden, dass ich solche Dinge niemals erleben würde.
Bis er in mein Leben getreten war.
Ich hob den Blick von unseren ineinander verschlungenen Händen, von dem Mund, der sich bereits zu einem Lächeln verzog, das von einem zarten Grübchen auf der rechten Wange begleitet wurde, und von seinen leicht geöffneten Lippen, hinter denen tödlich scharfe Eckzähne zu erahnen waren.
Seine Haare kräuselten sich im Nacken und fielen ihm in die Stirn, und die dicken Strähnen waren so tiefschwarz, dass sie im Sonnenlicht beinahe blau schimmerten. Mit den hohen, kantigen Wangenknochen, der geraden Nase und dem stolzen, gemeißelten Kinn erinnerte er mich an die große, anmutige Höhlenkatze, die ich als Kind in Königin Ileanas Palast gesehen hatte. Wunderschön, aber auf eine Art, die allen wilden, gefährlichen Raubtieren gemein ist. Als sich unsere Blicke trafen und ich in seine auffallenden, kühlen Bernsteinaugen sah, setzte mein Herz kurz aus.
Mir war klar, dass ich Hawke anstarrte …
Eine kalte Faust umfing mein Herz, während ich meine Gedanken zum Schweigen brachte. Das war nicht sein Name. Ich wusste nicht einmal, ob Hawke Flynn reine Erfindung war oder ob der ursprüngliche Besitzer sein Leben hatte lassen müssen, um ihm die Identität zu stehlen. Ich befürchtete Letzteres. Denn Hawke war angeblich mit den besten Empfehlungen aus Carsodonien, der Hauptstadt des Königreiches Solis, nach Masadonien gekommen. Andererseits hatte sich der Kommandant der Wächter Masadoniens inzwischen als Anhänger der Atlantianer – also als dunkler Nachkomme – zu erkennen gegeben, weshalb auch das eine Lüge sein konnte.
Sicher war, dass der Wächter, der geschworen hatte, mich mit seinem Schwert und seinem Leben zu beschützen, nicht real war. Genauso wenig wie der Mann, der gesehen hatte, wer ich war – und nicht nur, was ich war.
Die Jungfräuliche.
Die Auserwählte.
Hawke Flynn war nicht mehr als ein Trugbild meiner Fantasie, genauso wie meine Tagträume als kleines Mädchen.
Real war nur der Mann, der gerade meine Hand hielt: Prinz Casteel Da’Neer. Seine Hoheit. Der dunkle Sohn.
Das Grinsen über unseren verschränkten Händen wurde immer breiter. Das Grübchen auf der rechten Wange war deutlich zu erkennen. Das linke Grübchen erschien selten. Nur ein echtes Lächeln brachte es zum Vorschein.
»Poppy«, sagte er, und mein ganzer Körper zog sich zusammen. Ich war mir nicht sicher, ob die Verwendung meines Spitznamens oder seine tiefe, melodiöse Stimme schuld daran war. »Derart sprachlos habe ich dich noch nie erlebt.«
Das neckende Leuchten in seinen Augen riss mich aus meiner Starre. Ich entzog ihm meine Hand und hasste den Gedanken, dass ich es nicht geschafft hätte, wenn er mich daran hindern hätte wollen.
»Heiraten?«, presste ich hervor.
Seine Augen blitzten herausfordernd auf. »Ja. Heiraten. Du weißt doch, was das bedeutet, oder?«
Ich ballte die Hand zur Faust und erwiderte seinen Blick. »Warum sollte ich das nicht wissen?«
»Nun«, erwiderte er müßig und griff nach seinem Glas. »Du klangst verwirrt. Und als Jungfräuliche hast du immerhin ein sehr … behütetes Leben geführt.«
Mein Nacken unter dem geflochtenen Zopf begann zu glühen und wurde vermutlich so rot wie meine Haare im Sonnenlicht. »Nur weil ich die Jungfräuliche bin und behütet wurde, heißt das nicht, dass ich dumm bin«, fauchte ich und merkte durchaus, wie still es an dem Tisch und im gesamten Speisezimmer geworden war – ein Raum voller dunkler Nachkommen und Atlantianer, die allesamt für den Mann, den ich gerade in Grund und Boden starrte, getötet hätten und gestorben wären.
»Nein.« Casteel warf mir einen kurzen Blick zu, bevor er an seinem Glas nippte. »Das heißt es nicht.«
»Aber ich bin tatsächlich verwirrt.« Mit einem Mal spürte ich etwas Scharfes in meiner Faust. Offenbar war ich bis jetzt zu geschockt und durcheinander gewesen, um das Messer mit dem Holzgriff und der dicken gezackten Klinge zu bemerken. Es war ein normales Fleischmesser und nicht mit meinem Dolch aus Blutstein und Wolfsknochen zu vergleichen. Seit den Geschehnissen in den Stallungen war er verschwunden, und es traf mich tief, dass ich ihn vielleicht nie wiedersehen würde. Dieser Dolch war nicht nur eine Waffe. Vikter hatte ihn mir zu meinem sechzehnten Geburtstag geschenkt, und er war meine einzige Verbindung zu dem Mann, der mehr als ein Leibwächter für mich gewesen war. Er hatte nach dem Tod meines Vaters dessen Rolle eingenommen. Mittlerweile war der Dolch verschwunden, und Vikter war tot.
Getötet von Casteels Anhängern.
Und angesichts dessen, dass ich Casteel den letzten Dolch, den ich in die Hände bekommen hatte, ins Herz getrieben hatte, bezweifelte ich, dass ich ihn bald wiedersehen würde. Das Fleischmesser musste vorerst als Waffe genügen.
»Was verwirrt dich denn?« Er stellte sein Glas ab, und sein Blick wurde wärmer. So wie immer, wenn ihn etwas amüsierte, oder wenn er … bestimmte Gefühle hegte, die ich nicht anerkennen wollte.
Meine Gabe drängte an die Oberfläche und verlangte, dass ich sie benutzte, um seinen Empfindungen nachzuspüren, während ich die Faust öffnete und das Messer mit der flachen Hand abdeckte. Ich konnte die Gabe im Zaum halten, bevor sich eine Verbindung zu ihm aufgebaut hatte. Ich wollte nicht wissen, ob ich ihn amüsierte oder ob er … was auch immer für mich empfand. Seine Gefühle interessierten mich nicht.
»Wie schon gesagt«, fuhr der Prinz fort und ließ seinen langen Finger um den Rand des Glases kreisen. »Atlantianer können den Bund der Ehe nur eingehen, wenn beide Partner auf heimatlicher Erde stehen, Prinzessin.«
Prinzessin.
Der nervende, aber auch irgendwie zärtliche Spitzname, den er sich für mich ausgesucht hatte, hatte gerade eine vollkommen andere Bedeutung bekommen. Wobei sich die Frage stellte: Wie viel hatte er von Anfang an gewusst? Er hatte zugegeben, mich schon an dem Abend im Red Pearl erkannt zu haben, behauptete aber, dass er sich meiner atlantianischen Abstammung erst bewusst geworden war, nachdem er mich gebissen und mein Blut getrunken hatte. Die Male an meinem Hals prickelten, doch ich widerstand dem Drang, sie zu berühren.
Wie viel von diesem Spitznamen war Zufall? Ich wusste nicht, warum, aber es war mir wichtig, dass nicht auch er auf einer Lüge basierte.
»Welcher Teil davon verwirrt dich?«, fragte er und sah mich mit seinen bernsteinfarbenen Augen an, ohne zu blinzeln.
»Dass du tatsächlich glaubst, dass ich dich heiraten werde.«
Auf der anderen Seite des Tisches ertönte ein ersticktes Lachen. Mein Blick huschte zu dem hübschen Gesicht eines Mannes mit hellbrauner Haut und blassblauen Augen. Er war ein Wölfischer, eine Kreatur, die sowohl als Sterblicher als auch als Wolf in Erscheinung treten konnte. Bis vor ein paar Tagen hatte ich gedacht, die Wölfischen wären ausgestorben. Getötet vor vierhundert Jahren im Krieg der zwei Könige. Aber das war ebenfalls eine Lüge. Kieran war nur einer von vielen, durchaus lebendigen Wölfen, von denen mehrere hier am Tisch saßen.
»Ich glaube es nicht«, erwiderte Casteel und senkte die dichten Wimpern. »Ich weiß es.«
Unglaube packte mich. »Vielleicht habe ich mich nicht klar ausgedrückt, aber das werde ich jetzt nachholen: Ich würde dich in einer Million Jahren nicht heiraten. Ist das klar genug?«
»Kristallklar«, erwiderte er. Seine Augen nahmen die Farbe warmen Honigs an, doch da war keine Wut in seinem Blick oder seiner Stimme. Da war etwas vollkommen anderes. Es ließ mich an warme Haut und diese rauen, schwieligen Hände denken, die sich sanft auf meine Wange legten, über meinen Bauch und die Schenkel glitten und noch viel intimere Stellen berührten. Das Grübchen in seiner Wange wurde tiefer. »Aber das werden wir ja noch sehen, nicht wahr?«
Ein heißes Prickeln breitete sich auf meiner Haut aus. »Wir werden überhaupt nichts sehen.«
»Ich kann sehr überzeugend sein.«
»So überzeugend sicher nicht«, entgegnete ich, und er murmelte leise vor sich hin, was meine Wut zum Überkochen brachte. »Hast du den Verstand verloren?«
Ein tiefes, volltönendes Lachen erklang am anderen Ende des Tisches. Ich wusste, dass es nicht von dem blonden Delano kam. Der Wolf sah aus, als hätte er gerade ein Massaker miterlebt und wäre als Nächster an der Reihe. Womöglich hätte mir das Angst bereiten sollen, denn Wölfische gerieten nicht leicht in Panik, vor allem nicht Delano. Er hatte mich verteidigt, als Jericho und die anderen über mich hergefallen waren, obwohl er und der Atlantianer Naill – der neben ihm saß – deutlich in der Unterzahl gewesen waren.
Aber ich hatte keine Angst.
Ich war viel zu wütend, um Angst zu haben.
Der Mann, der gelacht hatte, saß zu Delanos Linken. Er war ein bulliger Riese und hieß Elijah. Ich glaubte nicht, dass er ein Wolf war. Wegen der Augen. Die Wölfischen hatten alle dieselben blassblauen Augen, Elijahs hingegen waren haselnussbraun mit einem leichten goldenen Schimmer. Ich war nicht die Einzige, die ihn anstarrte. Zahlreiche Blicke ruhten auf ihm. Ich nutzte die Gelegenheit und ließ das Fleischmesser unter meine Tunika gleiten.
»Was denn?« Elijah strich sich über den dunklen Bart, während er nacheinander den Blicken der anderen begegnete. »Sie spricht aus, was sich die meisten von uns denken.«
Delano blinzelte und sah dann langsam zu Elijah hoch. Casteel schwieg. Sein schmallippiges Lächeln sprach Bände, während er den Blick von mir löste und den Tisch entlangwandern ließ.
Elijah hielt mit den Fingern am Bart inne und räusperte sich. »Ich dachte, der Plan …«
»Was du denkst, ist irrelevant«, sagte der Prinz und brachte den älteren Mann zum Schweigen.
»Meint er den Plan, mich als Geisel zu benutzen, um deinen Bruder zu befreien?«, fragte ich. »Oder hat der sich in den letzten Stunden wie durch Zauberhand geändert?«
Casteels Kiefermuskeln mahlten, und seine Aufmerksamkeit galt erneut mir. »Du solltest essen.«
In diesem Moment hätte ich beinahe die Beherrschung verloren und das heimlich ergatterte Messer nach ihm geworfen. »Ich habe keinen Hunger.«
Er betrachtete meinen Teller. »Du hast kaum etwas angerührt.«
»Ich habe eben keinen Appetit, Eure Hoheit.«
Er biss die Zähne zusammen und sah mich an. Der goldene Schimmer in seinen Augen wirkte kalt. Ich bekam eine Gänsehaut, und die Luft um uns herum wurde dicker und surrte vor Spannung. Meine Antwort war frei von jeglichem Respekt gewesen. Hatte ich es zu weit getrieben? Falls ja, war es mir egal.
Meine Finger schlossen sich um den Griff des Messers. Ich war nicht mehr die Jungfräuliche und damit auch keinerlei Regeln unterworfen, die mir jegliches Mitspracherecht an meinem Leben nahmen. Ich würde mich nicht länger kontrollieren lassen. Ich konnte und würde mich noch stärker zur Wehr setzen.
»Die Frage war durchaus berechtigt«, meinte jemand am anderen Ende des Tisches. Es war ein Mann mit kurzen dunklen Haaren. Er wirkte in etwa so alt wie Kieran, der – wie auch Casteel – in den frühen Zwanzigern zu sein schien. Allerdings war Casteel mehr als zweihundert Jahre alt. Was bedeutete, dass auch der Mann wesentlich älter sein konnte. »Ist der Plan, sie zu benutzen, um Prinz Malik zu befreien, hinfällig?«, fragte er.
Casteel sagte nichts, sondern sah mich nur weiterhin an. Doch die vollkommene Ruhe, die er ausstrahlte, war eine wirksamere Warnung, als Worte es jemals hätten sein können.
»Ich will deine Entscheidung nicht infrage stellen«, erklärte der Mann. »Ich will sie nur verstehen.«
»Was verstehst du denn nicht, Landell?« Casteel lehnte sich zurück und legte die Hände auf die Armlehnen seines Stuhls. Er wirkte so entspannt, dass sich die Härchen auf meinem Körper aufrichteten.
Nach einem Moment angespannten Schweigens antwortete Landell: »Wir sind dir von Atlantia aus hierher gefolgt. Wir haben in dieser archaischen Kloake gelebt, die sich Königreich nennt, und einem falschen Königspaar Loyalität vorgegaukelt. Weil wir uns – so wie du – nichts sehnlicher wünschen, als deinen Bruder zu befreien. Den rechtmäßigen Erben Atlantias.«
Casteel bedeutete Landell mit einem Nicken fortzufahren.
»Wir haben viele gute Leute bei dem Versuch verloren, die Tempel von Carsodonien zu infiltrieren«, sagte er, und ich versteifte mich bei dem Gedanken an die gigantischen, tiefschwarzen Steingebäude.
Wenn Casteels Behauptungen stimmten, war der Zweck der Tempel ebenfalls ein vollkommen anderer, als mir vermittelt worden war. Die drittgeborenen Söhne und Töchter meiner Landsleute wurden den Priestern während des Rituals nicht übergeben, um den Göttern zu dienen. Stattdessen dienten sie den Aufgestiegenen – den Vampyren – als Nahrung, wie Vieh. Mir waren mein Leben lang viele schreckliche Lügen erzählt worden, aber diese war möglicherweise die grauenhafteste. Aber so abstoßend der Gedanke auch war, befürchtete ich, dass Casteel in diesem Fall die Wahrheit sagte. Ich konnte es nicht abstreiten. Die Aufgestiegenen hatten uns erzählt, dass der Kuss eines Atlantianers vergiftet war und unschuldige Sterbliche in verfluchte Kreaturen verwandelte, die nur noch verwesende Hüllen ihres früheren Ichs waren. In grausame, blutrünstige Ungeheuer, die als Hungernde durchs Land zogen. Aber ich wusste, dass das nicht stimmte. Der Kuss eines Atlantianers war nicht vergiftet, und ihr Biss war es auch nicht. Ich selbst war der Beweis dafür. Casteel und ich hatten uns geküsst. Er hatte mir sein Blut gegeben, als ich tödlich verwundet war. Und er hatte mich gebissen.
Aber ich hatte mich nicht verwandelt.
Genauso wenig wie vor all den Jahren, nachdem ich von den Hungernden angegriffen worden war.
Außerdem hatte ich schon Bedenken gegenüber den Aufgestiegenen, bevor Casteel in mein Leben getreten war. Er hatte sie nur bestätigt. Aber entsprachen wirklich alle seine Behauptungen der Wahrheit? Das konnte ich unmöglich wissen. Meine Finger schmerzten, so fest umklammerte ich das Messer.
»Wir haben keine Hinweise darauf gefunden, wo unser Prinz gefangen gehalten wird, und zu viele werden nie wieder zu ihren Familien zurückkehren«, fuhr Landell fort. Seine Stimme wurde mit jedem Wort ruhiger und troff vor Wut, die ich auch ohne meine Gabe spürte. »Aber jetzt haben wir etwas. Endlich haben wir etwas, das wir einsetzen können, um mehr über den Verbleib deines Bruders zu erfahren. Vielleicht können wir ihn sogar befreien und verhindern, dass er gezwungen wird, immer neue Vampyre zu erschaffen, und dabei durch dieselbe Hölle gehen muss, die du selbst nur allzu gut kennst. Und stattdessen kehren wir heim?«
Ich wusste von dieser Hölle.
Ich hatte die unzähligen Narben an Casteels Körper gesehen. Das Brandzeichen in Form des königlichen Wappens auf seinem Oberschenkel, knapp unter der Hüfte.
Doch Casteel schwieg immer noch. Niemand sagte ein Wort, keiner bewegte sich. Weder die Leute am Tisch noch jene an der Feuerstelle im hinteren Teil des Speisezimmers.
Landell war noch nicht fertig. »Die Männer, die draußen in der großen Halle an den Wänden hängen, haben ihr Schicksal verdient. Nicht nur, weil sie deine Befehle missachtet haben, sondern auch, weil sie uns unsere Geisel genommen hätten, wenn sie bei der Ermordung der Jungfräulichen Erfolg gehabt hätten. Sie haben die Sicherheit des rechtmäßigen Erbens aufs Spiel gesetzt, um Rache zu üben. Deshalb ist es ihnen meiner Meinung nach recht geschehen, auch wenn einige zu meinen Freunden zählten – und zu den Freunden vieler anderer an diesem Tisch.«
Ich werde sie umbringen.
Das hatte Casteel mir versprochen, als er meine Wunden gesehen hatte. Und er hatte sein Versprechen gehalten. Bis auf eine Ausnahme. Casteel hatte die Männer, von denen Landell gesprochen hatte, an die Wand genagelt. Sie waren mittlerweile tot. Alle außer Jericho. Der Anführer erlitt einen langsamen, qualvollen Tod, um alle daran zu erinnern, dass mir kein Haar gekrümmt werden durfte.
»Du könntest sie benutzen«, zischte Landell wütend. »Sie ist der Liebling der Königin. Die Auserwählte. Wenn sie deinen Bruder jemals gehen lassen, dann nur im Tausch gegen sie. Aber stattdessen willst du nach Hause, um sie zu heiraten?« Er deutete mit dem Kinn auf mich. »Ausgerechnet sie?«
Die Abscheu in seiner Stimme versetzte mir einen Stich, aber ich hatte wesentlich abwertendere Dinge von Herzog Teerman zu hören bekommen, sodass ich nicht die geringste Reaktion zeigte.
Kieran fuhr zu Landell herum. »Wenn du auch nur einen Funken Verstand besitzt, hörst du jetzt auf zu reden. Sofort.«
»Nein, lass ihn«, widersprach Casteel. »Er hat ein Recht, seine Meinung kundzutun. Genau wie Elijah. Aber es scheint, als hätte Landell mehr zu sagen als Elijah, und ich würde es gern hören.«
Elijah spitzte die Lippen und stieß einen leisen Pfiff aus, dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und legte einen Arm über Delanos Lehne. »Hey, manchmal rede oder lache ich, obwohl ich die Klappe halten sollte. Aber was auch immer du vorhast oder willst, ich stehe hinter dir, Casteel.«
»Ehrlich?« Landell fuhr zu Elijah herum, und im nächsten Moment war er aufgesprungen. »Du findest es in Ordnung, dass wir Prinz Malik im Stich lassen? Dass Casteel sie mit nach Hause nimmt, in unser Land, um sie zu heiraten und sie zur Prinzessin zu machen? Eine Ehre, die unsere Leute vereinen und nicht entzweien sollte.«
Casteel bewegte sich kaum merklich und ließ die Hände von den Armlehnen gleiten.
»Wie ich gerade sagte: Ich werde Casteel zur Seite stehen.« Elijah sah Landell in die Augen. »Immer, und ganz egal, wozu er sich entscheidet. Und wenn er sich für sie entscheidet, dann tun wir das alle.«
Das ganze Gespräch war lächerlich. Und sinnlos. Es war mir egal, warum die Leute in Atlantia vereint werden mussten, denn Casteel und ich würden nicht heiraten. Allerdings bekam ich keine Gelegenheit, die anderen darüber aufzuklären.
»Ich werde mich nicht für sie entscheiden. Niemals«, schwor Landell, und die Haut in seinem Gesicht wurde dünner und dunkler, während sein Blick zwischen den anderen Männern hin und her sprang. Er war ebenfalls ein Wölfischer.
Ich justierte den Griff um das Messer und spannte die Muskeln.
»Das wisst ihr alle ganz genau. Die Wölfischen werden sie niemals akzeptieren. Egal, ob sie atlantianisches Blut in sich trägt oder nicht. Und auch die Atlantianer werden sie nicht mit offenen Armen empfangen. Sie ist eine Außenstehende und wurde von Leuten großgezogen, die uns in ein Gebiet zurückgedrängt haben, das viel zu schnell zu klein und unbrauchbar wird.« Er starrte Casteel an. »Sie respektiert dich nicht einmal, und wir sollen glauben, dass sie das Band mit dir schmieden will?«
Das Band schmieden? Ich warf einen Blick auf Kieran und Casteel. Ein Wölfischer und ein Atlantianer einer bestimmten Klasse konnten eine tiefere Verbindung miteinander eingehen, das wusste ich, und nachdem Casteel ein Prinz war, traf das zweifellos auf ihn zu. Kieran schien Casteel von allen am nächsten zu stehen, aber von einem tiefergehenden Band wusste ich nichts.
Allerdings war auch das irrelevant, weil wir nicht heiraten würden.
»Warum sollen wir glauben, dass sie würdig genug ist, um unsere Prinzessin zu werden, wenn sie dich vor deinen Leuten rundheraus ablehnt, während sie den Gestank der Aufgestiegenen verströmt?«, wollte Landell wissen. Ich zog die Nase kraus. Ich stank doch nicht nach … nach den Aufgestiegenen, oder? »Wenn sie sich weigert, dich auszuerwählen?«
»Von Bedeutung ist lediglich, dass ich sie auserwähle«, erwiderte Casteel, und mein dämliches Herz machte einen Satz. »Das ist alles, was zählt.«
Die Lippen des Wolfes kräuselten sich, und meine Augen wurden groß, als ich sah, wie seine Eckzähne länger wurden. »Wenn du das tust, wird unser Königreich untergehen«, knurrte er. »Ich werde mich dieser Schlampe mit Narbengesicht nicht ergeben.«
Ich zuckte zusammen.
Es war, als hätte er mir ins Gesicht geschlagen. Ich hob die Hand und berührte die unebene Haut auf meiner Wange, ehe mir bewusst wurde, was ich tat.
Landell senkte die Hand zur Hüfte. »Ich töte sie lieber, als beiseitezutreten und das zuzulassen.«
Nur ein Sekundenbruchteil lag zwischen Landells Worten und dem Lufthauch, der sanft durch meine Haare strich.
Im nächsten Augenblick war Casteels Stuhl leer.
Ein Schrei erklang, und etwas Schweres fiel auf einen Teller. Ein Stuhl kippte und Landell … Landell stand nicht mehr am Tisch. Sein Teller war nicht mehr leer. Ein schmaler Wurfdolch lag darauf. Ich folgte mit geweiteten Augen dem Schatten, den ich als Casteel erkannte. Er drückte Landell an die Wand, den Unterarm auf die Kehle des Wolfes gepresst.
Gute Götter, wie schnell und geräuschlos er sich bewegte …
»Du solltest wissen, dass es mich nicht im Geringsten berührt, dass du meine Entscheidungen infrage stellst. Und auch die Art, wie du gerade mit mir gesprochen hast, ist mir egal. Ich bin nicht so unsicher, dass mich die Meinung eines Untergebenen aus der Ruhe bringt.« Casteels Gesicht war nur Zentimeter von den aufgerissenen Augen des Wolfes entfernt. »Wäre das alles gewesen, hätte ich darüber hinweggesehen. Hättest du nach den ersten abwertenden Worten aufgehört, hätte ich dich mit deinem überbordenden Selbstbewusstsein ziehen lassen. Aber dann hast du sie beleidigt. Sie ist deinetwegen zusammengezuckt, und du hast sie bedroht. Das werde ich nicht zulassen.«
»Ich …« Was auch immer Landell sagen wollte, endete in einem Gurgeln, als Casteels rechter Arm nach vorne schoss.
»Und ich werde es dir nicht verzeihen.« Casteel riss den Arm zurück und warf etwas zu Boden. Es kam mit einem fleischigen Klatschen auf.
Ich öffnete langsam den Mund, als mir klar wurde, worum es sich bei dem roten Klumpen handelte. O Götter. Ein Herz. Es war tatsächlich ein Herz.
Casteel ließ den Wolf los und trat zurück. Landells Kopf fiel zur Seite, und er rutschte an der Wand nach unten. Casteel wandte sich zum Tisch um. Seine rechte Hand war blutverschmiert. »Möchte noch jemand seine Meinung loswerden?«