Das Buch
Billy ist Kriegsveteran und verdingt sich als Auftragskiller. Sein neuester Job ist so lukrativ, dass es sein letzter sein soll. Danach will er ein neues Leben beginnen. Aber er hat sich mit mächtigen Hintermännern eingelassen und steht schließlich selbst im Fadenkreuz. Auf der Flucht rettet er die junge Alice, die Opfer einer Gruppenvergewaltigung wurde. Billy muss sich entscheiden. Geht er den Weg der Rache oder der Gerechtigkeit? Gibt es da einen Unterschied? So oder so, die Antwort liegt am Ende des Wegs.
Der Autor
Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Bislang haben sich seine Bücher weltweit über 400 Millionen Mal in mehr als 50 Sprachen verkauft. Für sein Werk bekam er zahlreiche Preise, darunter 2003 den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk und 2015 mit dem Edgar Allan Poe Award den bedeutendsten kriminalliterarischen Preis für Mr. Mercedes. 2015 ehrte Präsident Barack Obama ihn zudem mit der National Medal of Arts. 2018 erhielt er den PEN America Literary Service Award für sein Wirken, gegen jedwede Art von Unterdrückung aufzubegehren und die hohen Werte der Humanität zu verteidigen.
Seine Werke erscheinen im Heyne-Verlag.
Stephen King
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Bernhard Kleinschmidt
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
BILLY SUMMERS
bei Scribner, New York
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Copyright © 2021 by Stephen King
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Lothar Strüh
Herstellung: Mariam En Nazer
Umschlaggestaltung und Motiv:
Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-27940-0
V003
Im Gedenken an
Raymond und Sarah Jane Spruce
»I once was lost, but now am found.«
Amazing Grace
Billy Summers sitzt in der Hotelhalle und wartet darauf, abgeholt zu werden. Es ist Freitagnachmittag. Er hat ein Comictaschenbuch aus der Reihe Archie’s Pals ’n’ Gals aufgeschlagen vor sich, ist in Gedanken aber bei Émile Zola und dessen drittem Roman, mit dem er schließlich den Durchbruch als Autor erzielt hat: Thérèse Raquin. Er findet, dass es sich dabei eindeutig um das Buch eines jungen Mannes handelt. Zola, denkt er, hat gerade erst den Zugang zu etwas gefunden, was sich später als tiefe, fabelhafte Goldgrube erweisen sollte. Er denkt, dass Zola eine albtraumhafte Version von Charles Dickens war – oder vielmehr ist. Das wäre ein guter Ausgangspunkt für einen Essay, findet er. Nicht dass er je einen geschrieben hätte.
Um zwei Minuten nach zwölf geht die Tür auf, und zwei Männer betreten die Hotelhalle. Der eine ist groß und hat das schwarze Haar zu einer Schmalzlocke im Stil der Fünfziger gestylt. Der andere ist untersetzt und hat eine Brille auf der Nase. Beide tragen Anzug. Alle von Nicks Leuten tragen Anzug. Den Großen kennt Billy von drüben im Westen her. Er ist schon lange bei Nick und heißt Frank Macintosh. Wegen seiner Tolle nennen manche von Nicks Leuten ihn Frankie Elvis oder – weil er inzwischen eine winzige kahle Stelle am Hinterkopf hat – Elvis den Kahlen. Allerdings nicht, wenn er das mitbekommen könnte. Den anderen kennt Billy nicht. Der muss aus dem Ort hier sein.
Macintosh streckt Billy die Hand hin. Billy erhebt sich und schüttelt sie.
»He, Billy, ist ’ne Weile her. Schön, dich zu sehen.«
»Dich auch, Frank.«
»Das ist Paulie Logan.«
»Hi, Paulie.« Billy schüttelt dem Untersetzten die Hand.
»Freut mich, dich kennenzulernen, Billy.«
Macintosh nimmt Billy das Archie-Taschenbuch aus der Hand. »Wie ich sehe, liest du immer noch Comics.«
»Genau, stimmt«, sagt Billy. »Ich mag die halt. Also die lustigen. Die mit den Superhelden lese ich auch manchmal, aber die mag ich nicht so.«
Macintosh blättert durch die Seiten und zeigt Paulie Logan dann etwas. »Guck dir mal die Puppen hier an. Mann, auf die könnte ich glatt abwichsen.«
»Das sind Betty und Veronica.« Billy nimmt das Comicbuch wieder an sich. »Veronica ist die Freundin von Archie, obwohl Betty das gern wär.«
»Liest du auch richtige Bücher?«, fragt Logan.
»Manchmal, wenn ich lange unterwegs bin. Zeitschriften auch. Aber hauptsächlich Comics.«
»Gut, gut«, sagt Logan und zwinkert Macintosh zu. Nicht gerade dezent, weshalb Macintosh die Stirn runzelt, aber Billy schert sich nicht darum.
»Bereit für einen kleinen Ausflug?«, fragt Macintosh.
»Klar.« Billy schiebt das Buch in die Gesäßtasche. Archie und seine vollbusigen Freundinnen. Das wäre auch ein Thema für einen Essay. Darüber, wie tröstlich es ist, wenn Frisuren und Einstellungen sich nicht ändern. Über Riverdale und darüber, dass die Zeit dort stillsteht.
»Na, dann los«, sagt Macintosh. »Nick wartet schon.«
Macintosh sitzt am Steuer. Logan hat sich freiwillig hinten reingesetzt, weil er der Kleinste sei. Billy hätte erwartet, dass sie nach Westen fahren, weil da der noble Teil von Red Bluff liegt, und Nick Majarian lebt gern auf großem Fuß, egal ob zu Hause oder anderswo. Und in Hotels übernachtet er grundsätzlich nicht. Aber stattdessen fahren sie nach Nordosten.
Zwei Meilen vom Stadtzentrum entfernt kommen sie in ein Viertel, das Billy als untere Mittelschicht einschätzt. Drei bis vier Stufen besser als der Trailer-Park, wo er aufgewachsen ist, aber alles andere als nobel. Hier stehen keine großen, gut geschützten Villen, sondern Häuser im Ranchstil mit kleinen Vorgärten, in denen sich Rasensprenger drehen. Die meisten sind einstöckig und gut in Schuss, aber einige müssten frisch angestrichen werden, und auf manchen Rasenflächen breitet sich Fingerhirse aus. Billy sieht ein Haus mit einem zerbrochenen Fenster, das mit einem Stück Pappkarton gesichert ist. Vor einem anderen sitzt ein dicker Mann in Bermudashorts und Trägerunterhemd auf einem Gartensessel von Costco oder Sam’s Club. Er trinkt Bier und beobachtet sie beim Vorüberfahren. Eine Weile lang waren die Zeiten in Amerika jetzt gut, aber vielleicht wird sich das auch wieder ändern. Billy kennt solche Wohnviertel. Sie sind wie ein Barometer, und das hier ist im Sinken begriffen. Die Leute, die hier wohnen, haben Jobs, bei denen man eine Stechuhr bedient.
Macintosh biegt in die Einfahrt eines zweistöckigen Hauses mit einem ungepflegten Rasen ein. Es ist in einem matten Gelb gestrichen und ganz in Ordnung, sieht jedoch nicht wie ein Ort aus, wo Nick Majarian sich niederlassen würde, und wenn auch nur für ein paar Tage. Es sieht aus, als würde hier ein Mechaniker oder ein kleiner Flughafenangestellter mit seiner Rabattcoupons sammelnden Frau und zwei Kindern leben, jeden Monat seine Hypotheken abzahlen und sich am Donnerstagabend mit Bier und Bowling vergnügen.
Logan zieht Billys Tür auf. Billy legt sein Comicbuch aufs Armaturenbrett und steigt ebenfalls aus.
Macintosh geht als Erster die paar Stufen zur Veranda hoch. Draußen ist es heiß, drinnen klimatisiert. Nick Majarian steht in dem kurzen, zur Küche führenden Flur. Er trägt einen Anzug, der wahrscheinlich beinah so viel wie eine monatliche Hypothekenzahlung für das Haus gekostet hat. Sein schütteres Haar ist an den Kopf gekämmt, von Schmalzlocke keine Spur. Das Gesicht ist rundlich und von der Sonne in Vegas gebräunt. Er ist korpulent, aber als er Billy in die Arme nimmt, fühlt sein vorstehender Bauch sich bretthart an.
»Billy!«, ruft Nick aus und küsst ihn auf beide Wangen. Herzhafte Schmatzer sind das. Im Gesicht trägt Nick ein breites, strahlendes Grinsen zur Schau. »Billy, Billy, Mann, ist richtig schön, dich zu sehen!«
»Ich freu mich auch, dich zu sehen, Nick.« Billy blickt sich um. »Normalerweise wohnst du nobler als hier.« Er hält kurz inne. »Nichts für ungut.«
Nick lacht. Er hat ein wohltönendes, ansteckendes Lachen, das zu seinem Grinsen passt. Macintosh schließt sich ihm an, während Logan lediglich lächelt. »Ich hab ein Haus im Westen. Vorübergehend. Betätige mich sozusagen als Haushüter. Im Vorgarten ist ein Springbrunnen, auf dem in der Mitte ein kleiner nackter Kerl steht. Wie nennt man so was noch …?«
Eine Putte, denkt Billy, hält jedoch den Mund. Er lächelt einfach weiter.
»Na egal, ein Wasser pinkelnder Knabe halt. Wirst schon noch sehen, keine Angst. Nein, das Haus hier ist nicht meins, Billy. Es ist deins. Falls du dich entscheidest, den Job zu übernehmen.«
Nick führt Billy durchs Haus. »Voll möbliert«, sagt er, als wollte er es an den Mann bringen. Was er wohl irgendwie gerade tut.
Im Obergeschoss sind drei Schlafzimmer und zwei Bäder, von denen das zweite kleiner und wahrscheinlich für die Kinder gedacht ist. Das Erdgeschoss besteht aus Küche, Wohnzimmer und einem Esszimmer, das so klein ist, dass man es eigentlich als Essecke bezeichnen müsste. Der größte Teil des Kellers ist zu einem langen, mit Teppichboden belegten Raum umgewandelt worden, wo am einen Ende ein großer Fernseher und am anderen eine Tischtennisplatte stehen. An der Decke sind Schienenleuchten angebracht. Nick bezeichnet das Ganze als Hobbyraum, und hier setzen sie sich zusammen.
Macintosh erkundigt sich, ob jemand etwas trinken wolle. Zur Auswahl stünden Mineralwasser, Bier, Limonade und Eistee.
»Ich nehme einen Arnold Palmer«, sagt Nick. »Halb und halb. Viel Eis.«
Hört sich gut an, sagt Billy. Bis die Getränke kommen, plaudern sie miteinander. Über das Wetter und wie heiß es hier unten in den nördlichen Südstaaten ist. Nick will wissen, wie Billys Reise war. Gut, sagt Billy, erklärt jedoch nicht, wo er losgeflogen ist, und Nick fragt nicht nach. Nick sagt, was soll man bloß zu diesem verfluchten Trump sagen, und Billy meint, tja, was soll man da schon sagen. Das ist in etwa alles, was sie zustande bringen, aber das macht nichts, weil jetzt Macintosh mit einem Tablett kommt, auf dem zwei hohe Gläser stehen, und sobald er wieder abgezogen ist, kommt Nick zur Sache.
»Als ich mit deinem Kumpel Bucky telefoniert hab, hat der mir gesagt, du willst dich bald zur Ruhe setzen.«
»Ich denk drüber nach. Mache das Ganze schon eine lange Zeit. Viel zu lange.«
»Stimmt. Wie alt bist du überhaupt?«
»Vierundvierzig.«
»Und du bist im Geschäft, seit du die Uniform ausgezogen hast?«
»Mehr oder weniger.« Er ist sich ziemlich sicher, dass Nick das alles weiß.
»Wie viele insgesamt?«
Billy zuckt die Achseln. »Das weiß ich nicht mehr genau.« Es sind siebzehn. Achtzehn, wenn man den ersten mitrechnet, den Mann mit dem gegipsten Arm.
»Bucky meint, du übernimmst eventuell noch einen, wenn der Preis stimmt.«
Er wartet darauf, dass Billy etwas antwortet. Weil er das nicht tut, fährt Nick fort.
»Der Preis stimmt auf jeden Fall. Wenn du den übernimmst, kannst du dein restliches Leben irgendwo da verbringen, wo es warm ist. Kannst dich in ’ne Hängematte legen und Piña colada trinken.« Sein breites Grinsen kommt wieder zum Vorschein. »Zwei Millionen. Fünfhunderttausend als Vorschuss, der Rest hinterher.«
Billys Pfiff gehört nicht zu seiner kleinen Show, die er zudem nicht als solche betrachtet, sondern als feste Rolle des Einfältigen, die er Typen wie Nick, Frank und Paulie immer vorspielt. Sie ist wie ein Sicherheitsgurt. Den legt man nicht an, weil man einen Unfall erwartet, sondern weil man nie weiß, wer einem auf derselben Straßenseite über die Kuppe entgegenkommen könnte. Das gilt auch auf der Straße des Lebens, auf der die Leute im Zickzack durch die Gegend gondeln und sich auf dem Highway als Geisterfahrer betätigen.
»Warum so viel?« Bisher hat er für einen Auftrag höchstens siebzigtausend bekommen. »Das ist doch kein Politiker, oder? So was mache ich nämlich nicht.«
»Ganz und gar nicht.«
»Ist es ein schlechter Mensch?«
Nick lacht, schüttelt den Kopf und betrachtet Billy mit echter Zuneigung. »Die Frage stellst du immer.«
Billy nickt.
Der Einfältige mag eine Maske sein, aber es stimmt: Er übernimmt nur schlechte Menschen. Was damit zu tun hat, wie er nachts schlafen kann. Natürlich verdient er seinen Lebensunterhalt damit, für schlechte Menschen zu arbeiten, aber das sieht Billy nicht als moralisches Dilemma an. Er hat kein Problem mit schlechten Menschen, die dafür bezahlen, andere schlechte Menschen umbringen zu lassen. Im Grunde sieht er sich als Müllmann mit Waffe.
»Es ist ein sehr schlechter Mensch.«
»Na dann …«
»Außerdem kommen die zwei Millionen nicht von mir. Ich bin hier nur der Mittelsmann und kriege, was man als Maklergebühr bezeichnen könnte. Die kommt übrigens nicht von dir, sondern ist extra.« Nick beugt sich vor und verschränkt die Hände zwischen den Oberschenkeln. Mit ernster Miene blickt er Billy tief in die Augen. »Der Typ, über den wir reden, ist ein Profi wie du. Nur fragt er nie, ob es um einen schlechten oder guten Menschen geht. Solche Unterscheidungen trifft er nicht. Wenn das Geld stimmt, übernimmt er den Auftrag. Nennen wir ihn fürs Erste einfach Joe. Vor sechs Jahren, vielleicht sind es auch sieben, das ist jetzt egal, hat er einen Fünfzehnjährigen umgelegt, der gerade auf dem Schulweg war. War der Junge ein schlechter Mensch? Nein. Er war sogar ein besonders guter Schüler. Aber jemand wollte seinem Vater eine Botschaft senden. Der Junge war die Botschaft. Joe war der Bote.«
Billy fragt sich, ob die Geschichte wahr ist. Möglicherweise nicht, sie hat so etwas Märchenhaftes an sich, aber irgendwie vielleicht doch. »Du willst, dass ich einen Killer umlege.« Als müsste er sich das klarmachen.
»Genau. Momentan sitzt Joe in Los Angeles im Bau. Im Men’s Central Jail. Die Anklagepunkte sind Körperverletzung und versuchte Vergewaltigung. Letzteres ist einigermaßen komisch, falls du nicht gerade auf politische Korrektheit stehst. Er hat eine Schriftstellerin, eine feministische Schriftstellerin, die zu einer Tagung in L.A. war, für eine Nutte gehalten. Hat ihr wohl einen ziemlich unsittlichen Antrag gemacht, worauf sie ihr Pfefferspray rausgeholt hat. Da hat er ihr eins aufs Maul gegeben und ihr den Kiefer ausgerenkt. Wahrscheinlich hat sie deshalb hunderttausend Bücher zusätzlich verkauft. Hätte ihm danken sollen, statt ihn zu verklagen, meinst du nicht?«
Billy erwidert nichts.
»Komm schon, Billy, denk mal drüber nach. Da hat der Mann weiß Gott wie viele Kerle umgelegt, teilweise ausgesprochen harte Typen, und wird von ’ner lesbischen Emanze mit Pfefferspray besprüht? Da muss man doch Humor drin sehen!«
Billy grinst der Form halber. »L.A. ist ganz schön weit weg von hier.«
»Stimmt, aber er war hier, bevor er da hingegangen ist. Warum er hier war, weiß ich nicht, und es ist mir auch schnuppe, aber ich weiß, dass er Poker spielen wollte, und jemand hat ihm gesteckt, wo man das tun kann. Unser Kumpel Joe hält sich nämlich für einen genialen Spieler. Liebt hohe Einsätze. Um es kurz zu machen: Er hat eine Menge Geld verloren. Als der große Gewinner gegen fünf Uhr morgens ausgestiegen ist, hat Joe ihm in den Bauch geschossen und nicht nur das eigene Geld wieder eingeschoben, sondern einfach alles, was auf dem Tisch lag. Als jemand ihn daran hindern wollte, wohl irgend so ein anderer Trottel aus der Runde, hat Joe ihm ebenfalls einen Schuss verpasst.«
»Hat er jetzt beide auf dem Gewissen?«
»Der große Gewinner ist im Krankenhaus krepiert, allerdings erst nachdem er Joe noch identifizieren konnte. Der Typ, der sich einmischen wollte, hat überlebt. Auch der hat Joe identifiziert. Und weißt du, was?«
Billy schüttelt den Kopf.
»Aufnahmen von einer Überwachungskamera gibt’s außerdem. Merkst du, worauf das rausläuft?«
Das tut Billy durchaus. »Nicht so richtig.«
»In Kalifornien haben sie ihn wegen Körperverletzung angeklagt, womit sie auch durchkommen werden. Die versuchte Vergewaltigung wird man dagegen wohl abschmettern. Ist ja nicht so, dass er die Frau in eine dunkle Gasse gezerrt hat. Scheiße, er hat ihr sogar angeboten, sie zu bezahlen, also ist es bloß Kontaktanbahnung, worum der Staatsanwalt sich nicht mal kümmern wird. Wenn er verurteilt wird, bekommt er etwa neunzig Tage im Bau. Damit wäre die Sache erledigt. Aber hier geht es um Mord, und so was nimmt man auf dieser Seite vom Mississippi ausgesprochen ernst.«
Das weiß Billy. In konservativen Bundesstaaten wie dem hiesigen erlöst man kaltblütige Mörder von ihrem Elend. Womit er kein Problem hat.
»Und nachdem die Geschworenen einen Blick auf das Überwachungsvideo geworfen haben, werden sie mit großer Sicherheit dafür plädieren, dem guten Joe die Nadel zu verpassen. Das ist dir doch klar, oder?«
»Natürlich.«
»Wenig überraschend, dass er sich momentan über seinen Anwalt gegen die Auslieferung wehrt. Du weißt doch, wie so was läuft, oder?«
»Klar.«
»Na dann. Sein Anwalt fährt schwere Geschütze auf, und der Typ ist absolut keine Niete. Er hat schon erreicht, dass die Anhörung um dreißig Tage verschoben wird, und wird sich noch andere Gründe ausdenken, Sand ins Getriebe zu streuen, aber am Ende wird er scheitern. Joe wiederum sitzt in Einzelhaft, weil jemand ihm ein Klappmesser in den Leib rammen wollte. Das hat sich der gute Joe geschnappt und dem Burschen das Handgelenk gebrochen, aber wo ein Typ mit ’nem Messer ist, kann’s ein Dutzend weitere geben.«
»Du meinst, da ist eine Gang im Spiel?«, fragt Billy. »Zum Beispiel die Crips? Haben die ihn auf dem Kieker?«
Nick zuckt die Achseln. »Wer weiß? Jedenfalls hat Joe vorläufig ein Privatquartier, muss nicht mit den übrigen Schweinen an den Trog und darf eine halbe Stunde ganz allein auf den Hof. Außerdem setzt sein Anwalt inzwischen verschiedene Leute unter Druck. Er behauptet, dass Joe ’ne richtig große Sache ausplaudern wird, wenn man den Mordvorwurf nicht fallen lässt.«
»Ob er damit durchkommt?« Das stellt sich Billy nicht gern vor, selbst wenn der Mann, den dieser Joe nach dem Pokerspiel erschossen hat, ein schlechter Mensch gewesen sein sollte. »Das heißt, der Staatsanwalt soll auf die Todesstrafe verzichten oder auf Totschlag plädieren?«
»Nicht schlecht, Billy. Du bist mehr oder weniger auf der richtigen Spur. Aber soweit ich höre, will Joe, dass man die gesamte Anklage zurückzieht. Vermutlich hat er wirklich was in der Hinterhand.«
»Und er meint, das kann er ausspielen, um mit ’nem Mord davonzukommen.«
»Sagt ein Kerl, der weiß Gott wie oft damit davongekommen ist.« Nick lacht.
Das tut Billy nicht. »Ich hab nie jemand erschossen, bloß weil ich beim Pokern Geld verloren hab. Ich spiel nicht mal. Und Raub wär sowieso nie mein Ding.«
Nick hebt beschwichtigend die Hände. »Das weiß ich doch, Billy. Du kümmerst dich bloß um schlechte Menschen. Wollte dich bloß ein bisschen aufziehen. Trink deinen Arnold Palmer.«
Billy trinkt seinen Arnold Palmer. Zwei Millionen, denkt er dabei. Für einen einzigen Auftrag. Und er denkt: Was ist der Haken an der Sache?
»Da will wer den Typ also echt dran hindern, dass er ausspuckt, was er weiß.«
Nick richtet die Fingerpistole auf Billy, als hätte der einen absolut verblüffenden logischen Schluss gezogen. »Du hast’s erfasst. Jedenfalls hab ich eine Nachricht von einem Burschen aus der Stadt hier bekommen – du wirst ihn kennenlernen, wenn du den Auftrag annimmst –, und die Nachricht lautet: Wir suchen einen echten Profi, und zwar den allerbesten. Meiner Meinung nach ist das Billy Summers, und damit basta.«
»Du willst, dass ich den Typ umlege, aber nicht in L.A. Sondern hier.«
»Das will nicht ich. Nicht vergessen, ich bin hier bloß der Mittelsmann. Jemand andres will das. Jemand mit sehr viel Geld in der Tasche.«
»Was ist der Haken?«
Nick schaltet sein Grinsen ein und richtet wieder die Fingerpistole auf Billy. »Direkt zum Punkt, was? Direkt zum verdammten Punkt. Nur dass es eigentlich gar kein Haken ist. Gut, vielleicht ist es doch einer, je nachdem wie man’s sieht. Also, hier spielt Zeit eine besonders große Rolle. Du wirst nämlich …«
Er wedelt mit der Hand, um auf das kleine gelbe Haus zu verweisen. Vielleicht auch auf das Wohnviertel, in dem es steht – wie Billy feststellen wird, heißt es Midwood. Und vielleicht auf die gesamte Stadt, die hier östlich vom Mississippi liegt, ein Stück weit unterhalb der Mason-Dixon-Linie.
»… eine ganze Weile hier bleiben müssen.«
Die beiden unterhalten sich noch etwas. Nick erklärt Billy, dass der Ort feststeht, womit er die Stelle meint, von der aus Billy schießen wird. Billy müsse keine endgültige Entscheidung treffen, bevor er den Ort gesehen und mehr darüber erfahren habe. Dafür ist Ken Hoff zuständig. Der Typ aus der Stadt. Der hätte derzeit jedoch dringende Angelegenheiten auswärts zu erledigen.
»Weiß der denn, was ich benutze?« Das bedeutet zwar noch nicht, dass er zugestimmt hätte, aber es ist ein großer Schritt in die Richtung. Zwei Millionen dafür, dass man hauptsächlich rumsitzt, um irgendwann mal einen Schuss abzugeben. Schwer, so ein Angebot abzulehnen.
Sein Gesprächspartner nickt.
»Okay, und wann treffe ich diesen Hoff?«
»Morgen. Er ruft dich heute Abend im Hotel an und sagt dir, wo und wann.«
»Wenn ich es mache, brauche ich irgendeinen offiziellen Grund, warum ich hier bin.«
»Ist schon geklärt, und es ist ein echter Hit. War ’ne Idee von Giorgio. Wir erklären es dir morgen Abend, nachdem du dich mit Hoff getroffen hast.« Nick steht auf und streckt Billy die Hand hin, der sie ergreift. Er schüttelt Nick nicht zum ersten Mal die Hand, was er nie gern tut, weil Nick ein übler Typ ist. Allerdings ist es schwer, ihn nicht auch ein bisschen zu mögen. Nick ist ebenfalls Profi, und sein Grinsen übt eine gewisse Wirkung aus.
Paulie Logan fährt ihn ins Hotel zurück. Paulie redet nicht viel. Er fragt Billy, ob er was dagegen habe, wenn das Radio laufe, und als Billy das verneint, stellt Paulie einen Softrock-Sender ein. Irgendwann bemerkt er: »Loggins and Messina, das sind die besten.« Abgesehen davon, dass er einen Kerl verflucht, der ihm an der Cedar Street die Vorfahrt nimmt, beschränkt sich seine Konversation darauf.
Billy ist das recht. Er denkt an alle Filme über Räuber, die einen letzten großen Coup planen. Wenn Noir ein Genre ist, dann ist »Der letzte Coup« ein Subgenre. In derartigen Filmen geht der letzte Coup immer daneben. Billy ist weder ein Räuber, noch arbeitet er mit einer Bande zusammen oder ist abergläubisch, aber die Sache mit dem letzten Coup setzt ihm trotzdem zu. Vielleicht weil der Lohn so hoch ist. Vielleicht weil er nicht weiß, wer das Ganze bezahlt und warum. Vielleicht ist es auch nur die Geschichte, die Nick darüber erzählt hat, wie jener Typ einmal einen fünfzehnjährigen Superschüler umgelegt hat.
»Bleibst du denn?«, fragt Paulie, als er den Wagen auf den Vorplatz des Hotels lenkt. »Und übrigens, wegen diesem Hoff, der dir das benötigte Werkzeug besorgen soll. Hätte ich auch tun können, aber Nick hat abgelehnt.«
Ob er dableibt? »Keine Ahnung. Vielleicht.« Beim Aussteigen zögert er kurz. »Wahrscheinlich.«
Auf dem Zimmer fährt Billy seinen Laptop hoch. Er ändert den Zeitstempel und überprüft das VPN, weil Hacker Hotels lieben. Er könnte zwar auf Google nach Gerichtsanhörungen in Los Angeles suchen, Auslieferungsanträge dürften öffentlich zugänglich sein, aber es gibt einfachere Methoden, an das zu kommen, was er erfahren will. Und er will es erfahren. Ronald Reagan hatte nicht ganz unrecht, ständig den russischen Spruch zu zitieren, Vertrauen sei gut, Kontrolle besser.
Billy ruft die Website der L.A. Times auf und bezahlt für ein sechsmonatiges Abo. Dazu verwendet er eine Kreditkarte, die einer fiktiven Person namens Thomas Hardy gehört. Hardy ist Billys Lieblingsautor, jedenfalls was den literarischen Naturalismus angeht. Sobald er sich eingeloggt hat, suchte er nach feministische Autorin und fügt versuchte Vergewaltigung hinzu. Er findet ein halbes Dutzend Artikel, jeder jeweils kürzer als der vorhergehende. Vorhanden ist außerdem ein Foto der feministischen Autorin, die ausgesprochen attraktiv wirkt und viel vorzuzeigen hat. Die mutmaßliche Körperverletzung hat vor dem Hotel Beverly Hills stattgefunden. Bei dem mutmaßlichen Täter wurden mehrere Ausweise und Kreditkarten entdeckt. Laut den Artikeln ist sein echter Name Joel Randolph Allen. In Massachusetts ist er 2012 einer Anklage wegen Vergewaltigung entgangen.
Joe ist also fast der richtige Name, denkt Billy.
Als Nächstes geht er auf die Website der Lokalzeitung von Red Bluff, setzt zur Überwindung von deren Bezahlschranke wieder Thomas Hardy ein und sucht nach Mordopfer Pokerspiel.
Der einschlägige Artikel ist vorhanden, und die abgebildete Aufnahme der Überwachungskamera reicht zur Überführung des Täters bestens aus. Eine Stunde früher wäre es zum Erkennen des Gesichts draußen noch zu dunkel gewesen, aber der Zeitstempel am unteren Bildrand gibt 05:18 an. Die Sonne ist noch nicht richtig aufgegangen, wird das jedoch bald tun, und das Gesicht des Mannes, der im Durchgang steht, ist so klar, wie man sich das als Staatsanwalt nur wünschen kann. Mit einer Hand in der Hosentasche wartet er vor einer Tür mit der Aufschrift LADEZONE NICHT BLOCKIEREN, und wenn Billy Mitglied des Geschworenengerichts wäre, würde er wahrscheinlich allein deshalb für die Nadel votieren. Weil Billy Summers Experte für vorsätzliche Taten ist, und genau solch eine hat er hier vor der Nase.
Im jüngsten Artikel steht, dass Joel Allen aufgrund anderer Vorwürfe in Los Angeles festgenommen worden sei.
Billy geht von Nicks Einschätzung aus, er würde alles, was man ihm erzählt, für bare Münze nehmen. Wie alle anderen, für die Billy in all den Jahren seiner Tätigkeit gearbeitet hat, glaubt Nick, abgesehen von seinen fantastischen Fähigkeiten als Scharfschütze sei Billy etwas schwerfällig, wenn nicht gar autistisch veranlagt. Nick nimmt ihm den Einfältigen ab, weil er sich große Mühe gibt, es nicht zu übertreiben. Kein offen stehender Mund, kein glasiger Blick, keine direkte Dämlichkeit. Ein Comic wie der mit Archie wirkt Wunder. Den Roman von Zola, den er gerade liest, hat er tief im Reisekoffer vergraben. Und wenn jemand den Koffer durchsuchen und das Buch entdecken würde? Dann würde Billy sagen, er habe es auf dem Flug in dem Netz hinter dem Vordersitz entdeckt und mitgenommen, weil ihm das Mädchen auf dem Umschlag gefallen habe.
Er überlegt, nach dem fünfzehnjährigen Superschüler zu suchen, aber dazu reicht die Information nicht. Womöglich googelt er da den ganzen Nachmittag, ohne was zu finden, und falls doch, könnte er sich nicht darauf verlassen, den richtigen Schüler gefunden zu haben. Es reicht, dass die restliche Geschichte, die Nick erzählt hat, nachweislich stimmt.
Billy bestellt sich ein Sandwich und ein Kännchen Tee aufs Zimmer. Er setzt sich damit ans Fenster, um beim Essen weiter in Thérèse Raquin zu lesen. Für ihn ist das Buch so, als hätte man einen Roman von James M. Cain mit einem EC-Horrorcomic aus den Fünfzigern gekreuzt. Nach seinem späten Mittagessen legt er sich aufs Bett, schiebt die Hände hinter dem Kopf unters Kissen und spürt die Kühle, die sich dort verbirgt. Und die wie Jugend und Schönheit nicht lange Bestand hat. Er wird sich anhören, was dieser Ken Hoff zu sagen hat, und wenn ihm auch das einleuchtet, wird er den Auftrag wohl annehmen. Das Warten wird ihm schwerfallen, das hat er noch nie gut gekonnt (einmal hat er es mit Zen-Meditation versucht, ohne Erfolg), aber für zwei Millionen Dollar kann er durchaus eine Weile warten.
Billy schließt die Augen und schläft ein.
Um sieben Uhr abends bestellt er sich wieder Essen aufs Zimmer, und während er es verzehrt, sieht er sich auf seinem Laptop Asphalt-Dschungel an. Das ist eindeutig ein verhexter Letzter-Coup-Film. Das Telefon läutet. Es ist Ken Hoff, der Billy erklärt, wo sie sich am morgigen Nachmittag treffen werden. Das muss Billy sich nicht notieren. Er hat ein gutes Gedächtnis. Notizen können gefährlich sein.