Sarah Crosby
FÜNF
MINUTEN
COACHING
Der Kickstart für
ein Glückliches und
erfülltes Leben
Von der Autorin des Instagram-Accounts
@Themindgeek
1. Auflage
© der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Südwest Verlag,
einem Unternehmen der Penguin Random House Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH.
Copyright © Sarah Crosby, 2020
Hinweise
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Projektleitung: Eva Wagner
Übersetzung und Redaktion: Antje Seidel, trans texas publishing services GmbH
Herstellung: Timo Wenda
Layout und Umschlag: Veruschkamia, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Druck & Bindung: Litotipografia Alcione, srl
ISBN 978-3-641-28045-1
V001
Für Louise, Ger und Claire –
und alle, die anderen zeigen möchten,
wie es ist,
sich sicher und aufgehoben zu fühlen.
Hi!
Ach, Sie sind’s! Sie sind hier.
Ich freue mich, dass Sie da sind.
Willkommen beim Fünf-Minuten-Coaching. Ich schätze, Sie sind neugierig zu erfahren, wer Sie sind, und suchen nach einer Anleitung, um dies herauszufinden. Um Glück, Vertrauen und Ruhe in unser Leben zu bringen und aufrechtzuerhalten, ist es unabdingbar, sich selbst zu erforschen. Wenn Sie diese Dinge kultivieren möchten, sind Sie hier genau richtig. Es ist interessant, darüber nachzudenken, nicht wahr? Wer bin ich? Was bedeutet der Rat »Sei einfach du selbst« eigentlich? Was bedeutet es überhaupt, »authentisch« zu sein?
Bevor wir uns näher mit der Bedeutung des Fünf-Minuten-Coachings beschäftigen, möchte ich eine meiner frühesten Erinnerungen mit Ihnen teilen, als mir im Alter von sieben Jahren gesagt wurde, wer ich sei. Vielleicht können Sie sich an ein ähnliches Erlebnis erinnern?
Als das Schuljahr zu Ende ging, wurde vielen Eltern in Irland plötzlich klar, dass sie nun ganze zwei Monate ohne Pause mit ihren Kindern die beliebte Serie »Sabrina – Total Verhext!« zu Hause laufen haben würden. Deshalb wurde ich mit vielen anderen Kindern aus meiner Grundschule, aber auch aus benachbarten Schulen, in eine Art Kreativ-Camp geschickt.
Mitten in diesem verregneten irischen Sommer trafen wir uns im Klassenraum von Ms. Monaghan, wo ich mit meiner Freundin Claire darauf wartete, dass der Spaß begann.
»Erzählt uns etwas über euch!«, bellte eine überspannte Betreuerin in den Raum.
Niemand sagte ein Wort. Dann brach ein ohrenbetäubender Lärm aus und alle riefen durcheinander.
»Ich bin Paddy!«
»Ich bin sechs.«
»Meine Telefonnummer ist …«
Es war eine Zumutung für die Ohren.
»Ich bin Sarah!«, hörte man noch, als alle anderen bereits verstummt waren. Ich schreckte zurück, als mir klar wurde, dass ich mich gerade zu erkennen gegeben hatte.
»O. k., teilen wir euch nach Namen ein«, rief die Betreuerin und zog eine lange Rolle mit Namensschildern aus Ms. Monaghans Schublade.
In den folgenden 15 Minuten liefen alle Betreuenden zwischen uns hin und her, fragten uns nach unseren Namen, kritzelten sie auf Schilder und befestigten sie an unseren T-Shirts.
»Bitte schön, Sarah. Das bist du.«
Ich schaute an mir herab, mein Name inmitten von Schleifen und Schnörkeln. Ich fand es nicht so schlimm, dies den ganzen Tag tragen zu müssen.
»O. k., Kinder. Bildet nun Gruppen mit gleichen Namen.«
Ich blickte auf und sah Entsetzen in allen Gesichtern. War diese Betreuerin verrückt?! Ich kenne hier ziemlich viele, aber einige kenne ich nicht. Die sind von der Schule unten an der Straße. Das sind quasi Aliens. So dachte ich.
In den nächsten Minuten schoben sie uns hierhin und dorthin, sodass wir von unseren Freundinnen und Freunden getrennt wurden. Ich stand mit drei anderen, ebenso mürrisch dreinblickenden Sarahs zusammen – eine ohne »h«, aber ich hatte gerade keine Lust, um über Schreibweisen zu diskutieren.
Ich schaute mich um. Die Aoifes und Aislings schienen in der Mehrzahl zu sein (beides offensichtlich Modenamen in Irland zu dieser Zeit). Meine Freundin war nun Teil ihrer eigenen beachtlichen Gruppe. Ich warf einen mitfühlenden Blick auf Delilah, Anastasia und Tobin, die unter »Sonstige« zusammengefasst wurden.
Panik stieg in mir auf. Ich sollte den Rest der Woche mit diesen drei mir unbekannten Mädchen verbringen, nur weil mir aufgrund eines Etiketts keine andere Wahl blieb?
»Das gefällt mir nicht«, dachte ich. Deshalb nahm ich all meinen Mut zusammen, um mich gegen das System aufzulehnen. Ich verabschiedete mich von den Sarahs, knibbelte mein Namensschild ab und schlich mich zu den Claires, die sich über mich freuten. Mit ihnen verbrachte ich den Rest des Tages.
Als Kind hatte ich zwar große Angst vor Autoritäten, doch noch schlimmer war die Vorstellung, eine Woche mit Kindern zu verbringen, mit denen ich lediglich durch ein willkürliches Etikett verbunden war.
Auch wenn ich mich hier mit Mut (und Angst im Bauch) gegen eine Kategorisierung »aufgelehnt« hatte, gab es später viele andere Situationen in meinem Leben, in denen ich weitaus unpassendere Etiketten von mir selbst oder anderen akzeptiert habe. Mein Feriencamp-Beispiel ist noch relativ harmlos, aber ich möchte auf etwas anderes hinaus. Wir neigen dazu, es zu akzeptieren und anzunehmen, wenn uns jemand sagt, wer wir sind. Das bedeutet, dass manche Erlebnisse schon in jungen Jahren unser Selbst bestimmen.
Aus persönlicher Erfahrung und als Therapeutin bin ich zu dem Schluss gekommen, dass wir neu entdecken können, wer wir wirklich sind, wenn wir die zahlreichen Etiketten ablösen, die uns auf unserem Lebensweg gegeben wurden, und erforschen, was jenseits der zugewiesenen Merkmale liegt.
Gleich zu Beginn möchte ich die Karten offen auf den Tisch legen. Dieses Buch ist vieles, aber kein neuer therapeutischer Ansatz, der auf magische Weise alle Probleme in fünf Minuten löst. Es ist auch kein Ersatz für eine professionelle Therapie oder eine andere psychologische Unterstützung. Das Buch macht keine leeren Versprechungen und verspricht keine Spontanheilungen. Es wird Ihnen auch nicht die nötige Arbeit abnehmen, damit Sie sich glücklicher, wohler und vertrauensvoller fühlen. Sorry, dass ich Ihnen diese Hiobsbotschaft überbringe, aber ich halte es für das Beste, unsere Beziehung offen und ehrlich zu beginnen.
Was Sie in diesem Buch entdecken werden, ist – hoffentlich – sinnvoller: eine Reise zur Selbstfindung, ein Ablösen von Etiketten, eine Erkundung des Selbst, eine Gelegenheit zu therapeutischen Einsichten in Ihr Leben – jenseits des ganzen Lärms der sozialen Medien.
Dieses Buch enthält leicht zugängliche Informationen in gut aufbereiteten Häppchen, die Sie gezielt einzeln oder der Reihe nach lesen können. Mit etwas Glück werden die Gedanken und Ideen auf den einzelnen Seiten für Sie zur Quelle von Einsicht, Beruhigung, Wohlbefinden und Halt.
Die »Fünf-Minuten-Pause«-Abschnitte im Buch bilden kurze, effektive Übungen, die Sie in jeder freien Minute durchführen können. Am Ende jedes Kapitels finden Sie »Tägliche Übungen«, die Sie dazu anregen sollen, sich zum Abschluss eines Tages fünf Minuten Zeit zu nehmen, um über die im Kapitel behandelten Themen nachzudenken.
Ich bringe mein Fachwissen als Psychotherapeutin ein, bringen Sie Ihr Wissen darüber ein, wer Sie sind und wie Ihre Welt aussieht. Dieses Buch ist kein ultimativer Leitfaden, in dem »ich Ihnen sage, wie es funktioniert, Sie selbst zu sein«. Es ist eine Einladung an Sie, sich auf eine Reise zum Selbst zu begeben.
Das kann Ihnen helfen, wenn …
Sie entdecken dabei die verschiedenen Anteile, aus denen jeder von uns besteht. Im besten Fall erkennen Sie, welche Teile Ihres Selbst eine liebevolle Umarmung brauchen und welche nicht länger zu der Person passen, die Sie allmählich werden.
Ihnen werden in diesem Buch einige wichtige Begriffe begegnen, etwa Bindung, Grenzen, Selbstliebe und Mitgefühl. Sollten sie ein mulmiges Gefühl bei Ihnen auslösen, dann rate ich Ihnen, das Buch bei einer schönen Tasse Tee zu lesen.
Durch das Internet sind wir alle in gewisser Weise mit zahlreichen Begriffen zur psychischen Gesundheit gesättigt. Ich ertappe mich sogar dabei, dass ich selbst manchmal das Gesicht verziehe, wenn ich Wörter wie »Grenzen« lese (übrigens handelt das komplette Kapitel 6 von Grenzen). Letzten Endes hat diese Abneigung auch etwas mit mir selbst zu tun: Weil ich mich zu sehr an Begriffe wie diese gewöhnt hatte, bestand die Gefahr, bestimmte Schlüsselbotschaften nicht mehr ernst zu nehmen. Es gibt einen Grund, warum wir diese Begriffe immer häufiger verwenden: Sie ermöglichen Gespräche, die sowohl wichtig als auch nötig sind. Darum lade ich Sie dringend ein, eventuelle Vorbehalte gegenüber dieser »Psycho-Sprache« abzulegen.
Ich hoffe, dass Sie auf den folgenden Seiten leicht verdauliche Einsichten in nicht immer leicht verdauliche Themen finden – Reflexionen, praktische Anleitungen, Selbsterforschungsfragen, tägliche Übungen und verschiedene andere Tools, die es Ihnen ermöglichen, mehr über sich selbst zu erfahren, wer und wie Sie sind.
Ob Sie gerade ein gutes Gespür dafür haben, wer Sie sind, oder ob Sie sich etwas verloren fühlen, Sie können dieses Buch verwenden, um angeleitet nachzudenken und Ihr Verständnis für bestimmte Erfahrungen zu vertiefen, sodass Sie alte Muster erkennen und durchbrechen sowie neue Wege Ihres Seins einschlagen können.
Ein Gefühl für das Selbst aufzubauen oder wiederzufinden, ist eine Folge von angesammelten Entscheidungen, die jeder von uns trifft. Niemand kann uns unser Selbstwertgefühl geben. Dieses Buch bietet Einsichten, Überlegungen und Vorschläge, die zusammengenommen unser Leben stark verändern können. Nach meiner Erfahrung führt Lesen allein nicht zu dauerhaften Veränderungen. Einsichten führen zu einer erhöhten Aufmerksamkeit, echte Veränderungen können hingegen nur mit Arbeit, Aktivität, dem Eingehen von Risiken, Mitgefühl, Verletzlichkeit und Geduld mit dem Prozess erlangt werden.
Während Sie dieses Buch durcharbeiten, wird es Ihnen zugutekommen, wenn Sie sich so intensiv wie möglich mit den Reflexionen, Anleitungen und täglichen Übungen auseinandersetzen. Ich empfehle Ihnen, beim Lesen der Kapitel ein Journal zu führen. Und wissen Sie was: Wenn Sie an manchen Tagen keine Lust dazu haben, dann ist es auch in Ordnung.
Jedes Kapitel betrachtet einen anderen Aspekt der Beziehung zum Selbst:
Bevor Sie mit den Kapiteln beginnen und sich auf Ihre innere Reise begeben, sollten Sie sich jetzt zwei Schlüsselfragen stellen:
Lassen Sie sich dabei Zeit. Dies gibt Ihnen ein Gespür dafür, was Sie sich von den vor Ihnen liegenden Seiten am meisten wünschen.
Das Bedürfnis, die Reise zur Selbstfindung anzutreten
Unten sind einige Gründe aufgelistet, warum es sich lohnt, die Reise zur Selbstfindung anzutreten, zu der dieses Buch Sie einlädt.
»Sich selbst zu kennen ist der Anfang aller Weisheit.«
Aristoteles
Den Satz »Sei einfach nur du selbst« hören wir häufig von uns wohlgesinnten, nahestehenden Menschen, etwa vor einem Bewerbungsgespräch oder einem Date. Aber ich persönlich habe mit diesem Satz so meine Probleme. Er kann zu einer schwierigen Aufgabe werden, wenn man sich nicht sicher ist, wer diese Person eigentlich ist.
»Ich selbst sein?« Aber was ist, wenn andere diese Ich-Person nicht mögen? Was, wenn sie diese Person nicht einstellen wollen? Was, wenn sie sich mit dieser Person nicht mehr treffen wollen? Ich hatte eine vermeintlich bessere Idee: Ich finde heraus, wie ich glaube, dass sie mich haben wollen – und das gebe ich ihnen. Jedenfalls habe ich es früher so gesehen.
Es hat eine Weile gedauert, bis ich verstanden habe, dass »Sei du selbst« nicht bedeutet, dass ich meine Persönlichkeit an mein Gegenüber anpassen soll. Verstehen Sie mich nicht falsch, es kann in Ordnung sein, in einem Vorstellungsgespräch anzugeben, dass man Excel oder eine Fremdsprache aus dem Effeff beherrscht, wenn es für den Job verlangt wird. Aber wir setzen unser tiefes Gefühl für uns selbst aufs Spiel, wenn wir bereit sind, unsere Werte und Verhaltensweisen denen einer Firma unterzuordnen.
Man selbst zu sein, lässt sich nicht einfach »anknipsen«. Wir wachen nicht eines Morgens auf und beschließen: »Hm, ab heute könnte ich mein volles, authentisches Selbst sein«, so, als ob es hinten im Schrank hängen würde, um aufs passende Wetter zu warten. Es ist vielmehr ein Prozess, der auf vielen täglichen Entscheidungen basiert. Machen Sie sich also keine Sorgen, wenn Sie jetzt noch nicht das Gefühl haben, alles im Griff zu haben.
Meine Erfahrung als Therapeutin hat gezeigt, dass fast jeden Tag jemand mit diesem Anliegen in meine Praxis kommt. Sie sind also keineswegs die einzige Person, die »es nicht hinbekommt«, während es allen anderen anscheinend gelingt.
Bevor wir uns weiter mit der Selbstfindung beschäftigen, möchte ich einen Blick auf das Konzept des »Selbst« werfen. Die Grundlagen für unser Selbstgefühl werden schon früh in unserem Leben gelegt, wobei diese von zahlreichen Erfahrungen geformt und beeinflusst sind. Dazu zählen:
Durch das Anwachsen einer Selbstverwirklichungsbewegung und durch eine immer stärke Fokussierung darauf, die produktivste (d. h. erfolgreichste) Version unseres Selbst zu sein, ist eine überzogene Vorstellung von einem idealen Selbst entstanden – einer Person, die so selbstbewusst ist, dass sie über alle Ängste erhaben ist, durch nichts getriggert wird, morgens um fünf aufwacht, um zu meditieren, und unfassbar weise ist.
Doch die Vorstellung von einem »perfekten«, starren Selbst ist ein Mythos, ein Fantasie-Selbst, das festgelegt, vorhersehbar und immer gleichbleibend ist.
Ich weiß nicht, wie Sie das finden, aber mir kommt das ein wenig monoton und roboterhaft vor – und es ist sicherlich unrealistisch! Dennoch haben viele mit dieser Vorstellung vom mythischen Selbst zu kämpfen, als sei es für jedermann erstrebenswert.
Und wenn wir genauer darüber nachdenken, ist es nachvollziehbar, dass viele so denken. Denn woher sollen wir wissen, welche Teile von uns unser wahres Selbst sind oder sein könnten? Und welche Teile sind lediglich Konstrukte, die sich aus Reaktionen auf Erfahrungen in unserem bisherigen Leben gebildet haben?
Das Selbst besteht aus vielen veränderlichen Teilen, was bedeuten kann, dass unser schüchternes Teenager-Selbst ebenso wie unser älteres Erwachsenen-Selbst darin enthalten sind.
Wir werden niemals alles über uns selbst wissen und verstehen – auch wenn wir uns in unserer heutigen Zeit, die durch Produktivität und Optimierung geprägt ist, leicht unter Druck gesetzt fühlen, dieses Ziel erreichen zu wollen.
Deshalb kann es nützlich sein, gelegentlich einen Moment innezuhalten und sich zu fragen, welche Erwartungen Sie an sich selbst haben. Sollten sie vielleicht angepasst werden, damit sie realistisch sind? Letztendlich wurden Sie nicht geboren, um in eine hübsche kleine Schublade zu passen, sei es eine von Ihnen selbst oder von anderen angefertigte.
Vielleicht spüren Sie in sich einen Widerstand bei der Vorstellung, dass einige Teile Ihres Selbst immer rätselhaft bleiben werden. Es kann sein, dass Sie eine Weile brauchen, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Sie nicht jeden Aspekt von sich kennenlernen können.
Denken Sie daran, dass unsere Energie begrenzt ist. Und wenn wir darauf beharren, dass die Dinge auf eine bestimmte Art und Weise zu laufen haben, verbrauchen wir jede Menge Energie, die besser dafür genutzt werden könnte, um hinauszugehen und die Welt zu entdecken.
Um zu erkunden, wer wir sind, ist es wichtig, dass wir die Idee vom Selbst als Ziel loslassen beziehungsweise nicht als konkreten, allsehenden, allwissenden, rundum positiven Organismus betrachten.
Wir alle sind nur Menschen – voller Licht und Schatten. Wir machen Fehler. Sogar mehr als das: Wir müssen Fehler machen.
Bei der Selbstfindung geht es darum, dass wir uns kontinuierlich dem nähern, was wir sind. Darum ist es wichtig, uns selbst die Erlaubnis zu geben, hinauszugehen und zu entdecken.
Die schwierigste und mutigste Aufgabe unseres Lebens ist, zu lernen, wir selbst zu sein. Viele von uns denken häufig darüber nach, während wir mit den vielfältigen Aspekten unseres Selbst tagtäglich konfrontiert sind, uns mit ihnen auseinandersetzen oder sie erst erschaffen. Daher ist es hilfreich, die kontinuierliche Entdeckung unseres Selbst als Segen statt als Fluch und als Balsam statt als Leiden wahrzunehmen.
Jeden Tag bieten sich uns zahlreiche Möglichkeiten, uns unserem wahren Selbst zu nähern – oder uns von ihm zu entfernen und den Weg des geringsten Widerstands zu wählen.
Manche Entscheidungen sind recht einfach, etwa zu entscheiden, welche Musik wir hören, welche neue Serie wir uns anschauen, was wir lesen oder essen. Diese Entscheidungen stellen ein geringes Risiko für unser Selbstwertgefühl dar, insbesondere, wenn wir sie für uns allein treffen.
Darüber hinaus werden wir vor weit größere Herausforderungen gestellt, bei denen wir hineinfühlen in das, was wir wirklich sind. Das fühlt sich schwieriger an. Beispielsweise sind wir anderer Meinung als unser Partner oder unsere Partnerin und ringen mit uns, ob wir es »runterschlucken« oder ansprechen sollen. Oder wir sind mit dem Verhalten eines Elternteils nicht einverstanden, finden aber, dass es sich nicht gehört, etwas dazu zu sagen. Die Erwartungen anderer mögen mit unserem Selbstverständnis kollidieren, doch wir meinen gleich, uns anpassen zu müssen.
Ich benötigte mehrere Jahre innerer Arbeit, bis ich diese Sichtweise auf mein Selbstgefühl erlangen konnte, und das war befreiend. Wenn Sie Ihr Selbstgefühl als festes Ziel oder eine Reihe von Meilensteinen betrachten, können Sie schnell in eine Falle tappen und sich selbst als »langweilig« oder »im Rückstand« empfinden. Wenn Sie Ihr Selbstgefühl hingegen als etwas betrachten, was ständig im Fluss ist, und täglich neu erfunden wird, dann laden Sie Verspieltheit, Neugierde und Leidenschaft in Ihr Leben ein.
Letztendlich ist das Risiko größer, wenn wir in unserem Alltag versuchen, jemand zu sein, der wir nicht sind, anstatt wir selbst zu sein. Auch wenn jede einzelne kleine Entscheidung unbedeutend sein mag, führt die Anhäufung dazu, dass wir uns selbst verlieren.
Selbstverlust ist das Gefühl, nicht zu wissen, wer man ist, abgeschnitten vom Selbst. Es kann sich dabei um eine langjährige Abgeschnittenheit handeln, die sich durch unser Leben zieht, oder eine eher plötzlich eintretende.
Wenn wir an Selbstverlust leiden, quälen uns vielleicht die folgenden Gedanken:
Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich weiß nicht, was mir gefällt. Ich weiß nicht, was ich tun möchte. Ich weiß nicht, wer ich sein möchte. Ich weiß nicht, was mir im Leben wichtig ist und was ich vom Leben erwarte. Ich fühle mich panisch, unmotiviert, besorgt, verängstigt, unentschlossen und sogar betäubt. Ich fühle mich als Versager oder Versagerin. Ich habe das Gefühl, dass alle ihre Angelegenheiten im Griff haben, außer mir. Ich fühle mich benachteiligt.
Das kann Angst machen. Deshalb ist es wichtig, dem Gefühl von Selbstverlust schnellstmöglich entgegenzuwirken, sobald es auftritt.
Selbstverlust kann durch eine Vielzahl von Faktoren verursacht werden, am häufigsten durch
Manchmal sind wir so in eine Partnerschaft eingebunden, dass wir – bevor wir es merken – das Gefühl dafür verlieren, wer wir vor der Beziehung mit dieser Person waren. In diesem Fall tendieren wir dazu, die Bedürfnisse des Partners oder der Partnerin über unsere eigenen zu stellen. Und manchmal kann die Beziehung zu Kontrolle und Missbrauch führen, sodass wir uns um des lieben Friedens willen von Freunden zurückziehen und Hobbys aufgeben.
Manchmal wird eine romantische Beziehung nicht als offiziell anerkannt, weil ihr Status nicht auf Facebook angezeigt wurde oder sie nur kurze Zeit andauerte. Trotzdem fühlen wir uns miserabel, wenn sie zu Ende geht. Umgekehrt kann eine Partnerschaft jahrelang andauern, und wenn sie dann zu Ende geht, fühlen wir uns gar nicht so schlecht wie erwartet, weil wir uns unser Selbstwertgefühl bewahrt haben.
Dies ist eine wichtige Erkenntnis zu Beziehungen: Die Zeitspanne hat keine Auswirkungen darauf, wie Partnerschaften unser Leben prägen. Sie sind für uns mehr als die Summe ihrer Teile. Dies wird vor allem deutlich, wenn wir den Schmerz nach einer Trennung nicht verstehen können, insbesondere, wenn die Partnerschaft nur von kurzer Dauer war oder von uns selbst beendet wurde.
Partnerschaften bedeuten Sicherheit, Lebendigkeit und Zukunftsperspektive. Wenn wir eine Beziehung eingehen, malen wir uns aus, wie es wohl wäre, sich auf diese Person vollständig einzulassen. Wenn eine Beziehung endet, trauern wir deshalb um mehr als nur um den Verlust einer Person; wir trauern darum, was diese Partnerschaft für uns bedeutet hat und was aus ihr hätte werden können. Darum seien Sie in solchen Zeiten besonders milde mit sich selbst.
Jedes Kind braucht, wie es die Psychotherapie beschreibt, eine »sichere Basis«, um zu einem Erwachsenen mit einem ausgewogenen Selbstgefühl heranzuwachsen.
Wenn unsere Bezugspersonen uns diese sichere Basis geben, können wir unsere Umgebung mit einem Gefühl von Sicherheit erkunden, und werden darüber hinaus immer wieder mit Präsenz, Aufmerksamkeit, Geborgenheit und Liebe empfangen.
Leider haben viele Menschen ihre Eltern nicht auf diese Weise erlebt, ob willentlich oder nicht. Manche Eltern haben ihr Bestes gegeben, aber sie hatten möglicherweise mit eigenen Problemen zu kämpfen. Andere waren nicht präsent – entweder physisch oder emotional oder beides. Und einige waren traurigerweise grausam oder unberechenbar. Da unser Selbstgefühl in früher Kindheit geformt wird, kann jedes der oben genannten Beispiele ein schwach entwickeltes Selbstgefühl erzeugen.
Frühe negative Erlebnisse bleiben meist für immer in uns. Wenn beispielsweise auf das Weinen eines Kindes mit verbaler oder körperlicher Aggression reagiert wird, kann das Kind die Bitte um Hilfe mit Schmerz assoziieren. Infolgedessen wird es allmählich solche emotionalen Anteile von sich selbst unterdrücken, die bei anderen Aggressionen hervorrufen könnten. Wenn Sie in der Kindheit gelernt haben, Anteile ihres Selbst auf diese Weise zu verdrängen, neigen Sie als Erwachsene vermutlich zu Abkopplung und Selbstverlust. Und so nehmen wir ein in der Kindheit erlerntes Verhaltensmuster mit ins Erwachsenenleben. Oft können uns als Erwachsene sogar frühe Kindheitstraumata begleiten, ohne dass wir eine Erinnerung daran haben.
Der Tod eines geliebten Menschen kann auch das stärkste Selbst aus der Bahn werfen. Trauer kann uns bis ins Mark erschüttern und bewirken, dass wir uns völlig verloren fühlen. Wenn jemand aus unserem engsten Umfeld stirbt, ist das Gefühl von Verlust zu erwarten. Es kann jedoch ebenso passieren, dass uns der Tod eines Menschen schockiert, den wir nicht gut oder gar nicht persönlich kannten. Tatsächlich kann auch der Tod eines Haustiers – was von der Gesellschaft eher verharmlost wird – einen so schweren Verlust bedeuten, wie wir ihn noch nie erlebt haben. Wir vermeiden es meist so hartnäckig, über den Tod und dessen Unausweichlichkeit im Einzelfall und generell zu sprechen, dass unser übliches Ausblenden der Realität des Todes beim Sterben eines Menschen aus unserem Bekanntenkreis brutal gestört wird.
Nach einem Todesfall kann es vorkommen, dass wir unsere Lebensentscheidungen und Prioritäten grundlegend hinterfragen. Was uns einst wichtig erschien, scheint nun belanglos, und dies stellt unser Selbstgefühl zwangsläufig infrage. Es kann auch vorkommen, dass uns die Menschen in unserer Umgebung mit all ihren Belanglosigkeiten frustrieren, sodass wir gereizt und bedrückt sind. Doch vergessen Sie nicht, dass der Schmerz über den Verlust mit der Zeit nachlässt.
Auch wenn es sich im Moment nicht richtig anfühlt, können wir nach einer gewissen Zeit die Chance ergreifen, um unsere Prioritäten neu zu definieren und unser Selbstverständnis neu auszurichten – wenn wir es zulassen. Der Autor Mitch Albom hat es in seinem Buch »Tuesdays with Morrie« (Dienstage mit Morrie) so schön formuliert: »Der Tod beendet ein Leben, keine Beziehung.« Das gilt sowohl für die Beziehung zu einem verstorbenen geliebten Menschen als auch für die Beziehung zu sich selbst. Sie ist nicht weg oder gar verloren, sie ist nur unter der Trauer vergraben und die Menschen gehen so gut wie möglich mit ihrem Schmerz um.
Ein Trauma ist eine Reaktion auf jedes Ereignis oder jede Erfahrung, die unsere Fähigkeit zum Verarbeiten und Bewältigen überfordert. Das Trauma beeinflusst unser Denken und Fühlen, unsere Wahrnehmung und Verarbeitung und beeinträchtigt uns physisch, emotional, psychisch, sozial und oft auch spirituell, sodass wir eine Form von Selbstverlust erleiden.
Was für einen Menschen sehr belastend und traumatisch ist, kann bei einem anderen Menschen eine andere, milde Reaktion auslösen. Beispielsweise bedeutet der Verlust eines Haustiers oder der Auszug eines Geschwisterkindes für jeden Menschen etwas anderes. Aus diesem Grund sind die Auswirkungen eines Ereignisses bedeutsamer als das Ereignis selbst.
Die Bewertung einer traumatischen Erfahrung ist wesentlich, um uns wieder mit unserem Selbst verbinden zu können, aber das kann manchmal unglaublich schwierig sein. Oft haben wir wertende Gedanken wie: »Ich sollte das besser können«, »Ich sollte längst darüber hinweg sein«, »Anderen geht’s noch schlechter« oder »Sie haben dasselbe durchgemacht und jetzt ist wieder alles in Ordnung«. Bei diesen selbstzerstörerischen Gedanken neigt man oft zum Vergleich.
Wichtig dabei ist, dass jeder Mensch ein Trauma unterschiedlich erlebt, jeder genest anders, und die individuelle Reaktion sagt nichts über Stärke oder Schwäche aus.
Wie wir ein Trauma verarbeiten, hängt von verschiedenen Faktoren ab, zum Beispiel unserer biologischen Konstitution, der Art des Ereignisses und der Unterstützung. Als Antwort auf das Trauma tun Gehirn und Körper das, was sie tun müssen, um uns zu schützen. Wenn Sie sich infolge eines Traumas von Ihrem Selbst getrennt fühlen, ist das eine logische Reaktion. Wenn Sie sich beim nächsten Mal dabei ertappen, dass Sie sich verurteilen wollen, dann denken Sie daran, dass es Ihr ganz eigener Prozess ist, der nicht mit dem anderer verglichen werden kann. Selbst unsichtbare Wunden brauchen Fürsorge.
Von klein auf empfangen wir bewusst und unbewusst alle Arten von Botschaften darüber, was »cool« ist und was nicht, was »gut« ist und was nicht. Später, an anderer Stelle im Buch befassen wir uns noch näher mit den Rollen in der Familie, aber fürs Erste denken wir an unsere Schulzeit, in der wir mit sozialen Informationen überschwemmt wurden.
»Du kannst für die Prüfung lernen, aber die anderen sollten besser nichts davon erfahren.«
»Haarklemmen sind total in und du musst dir schnell welche besorgen.«
»Es ist nicht o. k., auf sie zu stehen!«
»Sei du selbst! Aber … nicht so!«
Was ist in meinem Umfeld akzeptabel und erwünscht? Wodurch könnte ich aus der Gruppe ausgeschlossen werden? Zugehörigkeit schafft Sicherheit, deshalb lernen wir schon in jungen Jahren, welche Interessen, Eigenschaften und Vorlieben uns an der Zugehörigkeit hindern. Indem wir alles filtern, lernen wir, welche Rollen uns von Vorteil sind. Diese Rollen sind oft unserem »wahren« Selbst sehr ähnlich, manchmal gibt es nur leichte Unterschiede oder Abwandlungen, bei denen zum Beispiel Eigenarten abgeschwächt werden.
Manchmal ist es sogar auch der Verlust einer Rolle, wodurch wir uns von unserem Selbst abgeschnitten fühlen. Als bei mir beispielsweise eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung diagnostiziert wurde, spürte ich, dass ich meine Unabhängigkeit und gleichzeitig meine Rolle als »Theater-Kind« zu Hause verlor. Ich war fortan das »Crohn-Kind«, das »kranke Kind«. Auch wenn wir eine langjährige Beziehung beenden, können wir verunsichert sein, weil wir nun nach außen hin eine andere Rolle einnehmen. Wenn wir die Universität beenden oder einen Arbeitsplatz verlassen, können wir uns ohne die Struktur der Uni oder die Büroumgebung verloren fühlen. Manche Eltern fühlen sich mit einem Neugeborenen schuldig, weil sie Aktivitäten aus der Zeit vermissen, als sie noch kinderlos waren. Andere Eltern fühlen sich haltlos, wenn ihre Kinder das Haus verlassen. Ein Verlust ist ein Verlust und jeder Verlust kann schmerzhaft sein.
Fünf-Minuten-Pause:
Ich bin viele
Erforschen Sie Ihre eigenen Erfahrungen mit Selbstverlust, indem Sie sich zu Beginn die folgenden Fragen stellen:
Welche »Selbste« musste ich zeigen, als ich aufwuchs?
Wie musste ich sein, damit meine Freunde mich akzeptierten?
Wer musste ich sein, um in meinen Beziehungen geliebt zu werden?
Benutzen Sie nun statt »musste« die Zeitform »muss«. Versetzen Sie sich in die Gegenwart und sehen Sie sich nun die Antworten auf Ihre Fragen an.