DAS BUCH
Rom braucht einen findigen Soldaten, der das Kommando über die Garnison auf der Insel Sardinien übernimmt. Die einheimischen Stämme verursachen immer wieder Verwüstung und unterbrechen den Nachschub an Getreide und Öl für das Imperium. Der gegenwärtige Statthalter, Borus Pomponius Scurra, ist der Lage nicht gewachsen. Seine Truppen sind in einem erbarmungswürdigen Zustand. Der ehemalige Tribun Cato, nach einer missglückten Mission an der Ostgrenze des Reichs seines Ranges enthoben, soll die Insel in dieser schwierigen Lage befrieden. Es ist seine letzte Chance, sich zu beweisen. Andernfalls wird der ganze Zorn Kaiser Neros ihn treffen.
Am Ende des Buchs findet sich ein ausführliches Werkverzeichnis von Simon Scarrow.
DER AUTOR
Simon Scarrow wurde in Nigeria geboren und wuchs in England auf. Nach seinem Studium arbeitete er viele Jahre als Dozent für Geschichte an der Universität von Norfolk, bevor er mit dem Schreiben begann. Mittlerweile zählt er zu den wichtigsten Autoren historischer Romane. Mit seiner großen Rom-Serie und der vierbändigen Napoleon-Saga feiert Scarrow internationale Bestsellererfolge.
Besuchen Sie Simon Scarrow im Internet unter
www.simonscarrow.co.uk
SIMON SCARROW
VERBANNUNG
Roman
Aus dem Englischen von
Martin Ruf
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe THE EMPEROR’S EXILE erschien erstmals 2019 in der Headline Publishing Group, London.
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Copyright © 2010 by Simon Scarrow
Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Dr. Rainer Schöttle
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,
unter Verwendung von Motiven von Adobestock (Lionello Rovati); Shutterstock.com (Marcin Krzyzak, Vitalii Gaidukov,
Michael Rosskothen); Trevillion (Nik Keevil)
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-28046-8
V002
www.heyne.de
Für meinen Sohn Nick,
im Jahr seines 21. Geburtstags und
seiner Abschlussprüfungen.
Glückwünsche, Respekt und Liebe!
PRÄTORIANER
Präfekt Quintus Licinius Cato: ein junger Offizier, der oft ausgenutzt wird
Centurio Lucius Cornelius Macro: ein langjähriger Soldat, der bald in Pension gehen wird
Centurionen: Ignatius, Placinus, Porcino, Metellus, Offiziere der Zweiten Kohorte der Prätorianergarde, allesamt gute und aufrichtige Männer
Optios: Pelius, Cornelius, aus der Zweiten Kohorte, die kurz vor einer Beförderung stehen (und vor dem Abmarsch in eine unruhige Provinz)
CATOS HAUSHALT
Apollonius: ein Spion von großer Intelligenz
Petronella: Macros Ehefrau, die sich darauf freut, dass er endgültig aus der Armee ausscheiden wird
Lucius: Catos Sohn, der sich darauf freut, erwachsen und ein zweiter Macro zu werden
Croton: der Vorsteher von Catos Haushalt
Pollenus: ein Sklave, der früher Senator Seneca gehörte und daher zu Recht misstrauisch beäugt wird
Cassius: eine wild aussehende Promenadenmischung von Hund mit einem Herzen aus Gold
KAISERPALAST
Kaiser Nero: ein eitler Playboy und Herrscher der römischen Welt
Senator Seneca: Neros geduldiger Mentor
Präfekt Burrus: Neros ungeduldiger Ratgeber
PROVINZ SARDINIEN
Statthalter Borus Pomponius Scurra: ein träger Aristokrat, der weit über seine bescheidenen Fähigkeiten hinaus befördert wurde
Decianus Catus: Scurras Ratgeber, der weiß, welche Fäden man ziehen muss
Decurio Locullus: ein Soldat aus Scurras Stab
Claudia Acte: Neros ehemalige Geliebte, die über das Ende des Verhältnisses nicht gerade glücklich ist
Centurio Massimilianus: der leitende Centurio der Sechsten Gallischen Kohorte
Optio Micus: ein mutiger junger Offizier der Sechsten Gallischen Kohorte
Pinotus: Magistrat der Stadt Augustis
Lupis: ehemaliger Jäger, jetzt Soldat bei den Hilfstruppen
Calgarno: ein junger Brigant, der einen größeren Happen genommen hat, als er verdauen kann
Barcano: ein Besitzer mehrerer Maultiergespanne, der sein Geschäft mehr liebt als sein Leben
Vespillo: ein Maultiertreiber, der sein Leben mehr liebt als das Geschäft seines Arbeitgebers
Benicus: ein Anführer eines Brigantentrupps, der fremdes Eigentum mehr liebt als irgendeine Moral
Milopus: ein Schäfer, der mehr weiß, als gut für ihn ist
ANDERE
Olearius Rhianarius Probitas: ein Besitzer eines Schifffahrtsunternehmens, das auf jeglichen Komfort verzichtet
Präfekten: Vestinus, Bastillus und Tadius, die Befehlshaber der Garnison auf Sardinien
Rom, Sommer 57 n. Chr.
Der Garten des »Stolz von Latium« bot eine hervorragende Aussicht auf die Stadt. Das Gasthaus lag auf einer kleinen Anhöhe direkt an der Via Ostiensis, jener Straße, die vom Hafen in Ostia in das etwa fünfzehn Meilen entfernt gelegene Rom führte. Eine leichte Brise fuhr durch die raschelnden Zweige der hohen Pappel, die unweit des Gasthauses stand. Mehrere Holzspaliere, über die man Weinranken gezogen hatte, boten an den Tischen und Bänken des Gartens Schutz vor der gleißenden Nachmittagssonne. Das »Stolz von Latium« besaß eine ausgezeichnete Lage, wenn es darum ging, unter den Menschen, die die Straße entlangkamen, Gäste zu gewinnen. Da waren Kaufleute und Viehtreiber, die Waren aus allen Teilen des Imperiums in die Hauptstadt brachten, und ebenso Beamte und Vergnügungsreisende, die den kürzlich vollendeten Hafenkomplex in Ostia entweder aufsuchten oder von dort kamen. Es gab Reisende, die Rom verließen, um das Meer zu überqueren, und andere, die in die Hauptstadt zurückkehrten, nachdem sie ihren Dienst an der Ostgrenze geleistet hatten. Zu Letzteren gehörte eine kleine Gruppe, die am Tisch mit dem besten Blick auf Rom saß.
Sie waren zu fünft: zwei Männer, eine Frau, ein Junge und ein großer, wild aussehender Hund. Der Wirt und Besitzer des Gasthauses behielt sie scharf im Auge, als er mit einem alten Lappen Ameisen von seinem Tresen wischte. Er besaß so viel Erfahrung, dass er einen Soldaten erkannte, wenn er einen vor sich hatte, auch wenn dieser keine Uniform trug. Obwohl die Männer anstatt der schweren Wollkleidung der Legionen nur leichte Leinentuniken trugen, verriet ihre Haltung die ruhige Sicherheit von Veteranen, und die Narben der beiden deuteten darauf hin, dass sie an vielen Schlachten teilgenommen hatten. Der Ältere war ein wenig kleiner als der Durchschnitt, doch kräftig gebaut. Graue Strähnen zogen sich durch sein kurz geschnittenes dunkles Haar, und sein Gesicht war von tiefen Furchen und Narben durchzogen. Aber außer diesen Zeugen seiner hart erworbenen Erfahrung hatte er auch kleine Fältchen um die Augen und die Mundwinkel und war stets zu einem Lächeln bereit, was sein heiteres Gemüt verriet. Er mochte fünfzig Jahre alt sein, schätzte der Wirt, und gewiss das Ende seiner Laufbahn erreicht haben. Der andere Mann, der neben dem Knaben saß, hatte ebenfalls dunkles Haar, war aber fast zwei Jahrzehnte jünger, vielleicht so um die dreißig. Es war schwer, sein Alter genauer zu bestimmen; er hatte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck, und die kontrollierte Eleganz seiner Bewegungen verriet eine größere Reife, als man sie von einem jungen Mann erwarten würde. Im Gegensatz zu seinem kleineren Kameraden war er groß, und er war so schlank wie der andere bullig und muskulös war.
Der Wirt hatte wohl noch nie zwei Männer gesehen, die so wenig zueinanderzupassen schienen, doch beide waren sie zweifellos harte Burschen, und er war froh, dass sie noch bei ihrem ersten Krug Wein und damit nüchtern waren. Er hoffte, das würde auch so bleiben. Oft genug waren betrunkene Soldaten fröhlich und sentimental und schon einen Augenblick später wütend und gewalttätig, wenn sie sich auch nur im Geringsten gekränkt glaubten. Glücklicherweise hätten die Frau und der Junge wahrscheinlich einen besänftigenden Einfluss. Sie saß neben dem älteren Mann und rückte noch ein Stück näher, als er seinen haarigen Arm um sie legte. Ihr langes dunkles Haar war zu einem einfachen Pferdeschwanz gebunden und enthüllte ein breites Gesicht mit dunklen Augen und sinnlichen Lippen. Sie besaß eine füllige Figur und eine entspannte Art und hielt beim Wein Becher für Becher mit den Männern mit. Der Junge war etwa fünf Jahre alt. Sein Haar war dunkel und lockig, und er hatte dieselben Züge wie der jüngere Mann, weshalb der Wirt annahm, dass es sich bei diesem um seinen Vater handelte. Die aufgeweckte Miene des Jungen verriet, dass er jede Menge Unsinn im Kopf hatte, und während sich die Erwachsenen unterhielten, schob er seine kleine Hand heimlich auf den Becher der Frau zu, bis sie seinen Arm sanft wegschob, ohne auch nur hinzusehen – wie das oft bei Frauen ist, die einen unheimlichen sechsten Sinn entwickelt haben, wenn es um Kindererziehung geht.
Der Wirt lächelte, warf den Lappen in einen Eimer mit trübem Wasser und ging zum Tisch der kleinen Gruppe, wobei er sich bemühte, einen Bogen um den Hund zu machen.
»Möchtet ihr etwas zu essen, meine Freunde?«
Sie sahen auf, und der ältere Mann erwiderte: »Was gibt es?«
»Rindereintopf. Aufschnitt vom Schwein, warm oder kalt. Dann hätte ich noch geröstetes Huhn, Ziegenkäse, frisch gebackenes Brot und Obst. Trefft eure Wahl, und ich sorge dafür, dass mein Mädchen euch die beste Mahlzeit zubereitet, die ihr jemals an der Straße nach Ostia bekommen werdet.«
»Das beste Essen im Umkreis von fünfzehn Meilen?« Der ältere Mann lachte leise und fuhr in ironischem Ton fort. »Du nimmst den Mund ja ganz schön voll.«
»Lass gut sein, Macro«, unterbrach ihn der Jüngere und wandte sich seinerseits an den Wirt. »Wir hätten gern eine schnelle Mahlzeit. Wir nehmen kalten Schweineaufschnitt, dazu das Huhn und ein Körbchen Brot. Hast du Olivenöl und Garum?«
»Ja. Kostet ein klein wenig extra.«
»Ich mag kein Garum«, murmelte der Junge. »Grässliches Zeug.«
Der ältere Mann lächelte ihn an. »Du musst es nicht essen, Lucius. Ich nehme deine Portion, Kumpel.«
»Was verlangst du dafür?«
Rasch rechnete der Wirt im Kopf die einzelnen Posten zusammen. Dabei stützte er sich auf den Preis der Zutaten, noch mehr aber auf die Qualität der Kleidung der Männer und die Wahrscheinlichkeit, dass sie den Restsold von ihrem letzten Einsatz bei sich trugen. Seiner Erfahrung nach waren Männer, die auf diese Weise nach Hause zurückkehrten, oft bereit, etwas mehr auszugeben, ohne ein großes Theater zu machen. Er kratzte sich seitlich am Kopf und räusperte sich. »Ich kann euch ein wunderbares Mahl für drei Sesterzen pro Kopf anbieten. Garum, Öl und einen weiteren Krug Wein eingeschlossen.«
»Drei Sesterzen?« Die Frau schnappte verächtlich nach Luft. »Du machst wohl Witze, Mann. Wenn wir alles in allem fünf bezahlen würden, wäre das noch immer zu viel.«
»Also, hör mal zu …« Der Wirt setzte eine empörte Miene auf und trat einen halben Schritt zurück. Aber sie unterbrach ihn, bevor er fortfahren konnte, zeigte mit dem Finger auf ihn und folgte diesem Finger mit ihrem Blick, als fixiere sie ein Ziel mit einem Pfeil.
»Nein! Du hörst mir zu, du gieriges kleines Wiesel. Ich habe auf den Märkten von Rom Speisen verkauft, seit ich laufen konnte, und ich war mehr als zwei Jahre lang auf Märkten auf dem Land und in den Straßen von Tarsus. Nirgendwo habe ich erlebt, dass jemand versucht hätte, es so weit zu treiben wie du jetzt.«
»Aber die Preise sind gestiegen, nachdem du weggegangen warst«, jammerte er lautstark. »Auf Sardinien gab es eine Hungersnot und eine Seuche, und die treiben die Preise hoch.«
»Lass dir etwas Besseres einfallen«, gab sie knurrend zurück.
Der junge Mann konnte sich nicht mehr beherrschen und brach in lautes Gelächter aus. Er nahm ihre Hand und drückte sie liebevoll. »Immer mit der Ruhe, Petronella. Du machst dem Mann Angst. Außerdem lade ich euch ein.« Er wandte sich an den Wirt. »Um des Friedens und der Freundschaft willen treffen wir uns in der Mitte.«
»Also gut, zehn«, erwiderte der Wirt rasch. »Billiger geht es wirklich nicht.«
»Zehn?« Der junge Mann seufzte. »Sagen wir acht oder ich muss Petronella noch einmal auf dich loslassen.«
Der Wirt warf ihr einen wachsamen Blick zu, sog durch seine fleckigen Zähne pfeifend Luft ein und nickte schließlich. »Also gut, acht. Aber ohne den Wein.«
»Mit Wein«, verlangte der junge Mann nachdrücklich. Jeder humorvolle Ausdruck seiner dunklen Augen war völlig verschwunden, während er den Mann eindringlich anstarrte.
Der Wirt blähte die Wangen auf, dann wandte er sich ab und eilte zur Tür hinter der Theke, die in die Küche führte, und schrie seiner Kellnerin die Anweisungen zu.
»Das ist mein Mädchen«, sagte Macro. »Wild wie eine Löwin. Ich selbst habe noch die Kratzer am Leib und kann es beweisen.«
»Du hättest keine acht bezahlen müssen, Herr.« Petronella runzelte die Stirn. »Das ist zu viel.«
Cato schüttelte den Kopf. Es amüsierte ihn, dass sie ihn manchmal noch immer als ihren Herrn ansprach. Er hatte ihr vor über einem Jahr die Freiheit gegeben, nachdem Macros Neigung ihr gegenüber offensichtlich geworden war. Und jetzt waren sie verheiratet, und der Veteran und Centurio war entschlossen, sich um sein offizielles Ausscheiden aus dem Dienst zu bemühen, damit die beiden sich irgendwo in Frieden zur Ruhe setzen konnten. Tatsächlich aber würde der Frieden ein wenig schwieriger zu erreichen sein, als Macro sich das vorstellte, denn sie wollten in Kürze nach Britannien aufbrechen, wo er die Hälfte des Geschäfts übernehmen sollte, das er zusammen mit seiner Mutter besaß. Cato kannte Macros Mutter so gut, dass er wusste, sie würde Petronella in jeder Hinsicht die Stirn bieten können, denn ihre Krallen waren nicht weniger scharf. Wenn Cato den Charakter der beiden Frauen richtig einschätzte, hätte Macro alle Hände voll zu tun. Der Centurio würde sich schon bald wieder wünschen, im Dienst der Legionen einem weniger Furcht einflößenden Feind gegenüberzustehen. Doch Macro hatte seine Entscheidung getroffen, und es gab nichts, das Cato tun konnte oder auch nur tun wollte, um seinen Freund von dessen Entscheidung abzubringen. Er würde Macros Gegenwart vermissen – er würde ihn sogar ganz schrecklich vermissen –, aber nun musste er seinen eigenen Weg finden. Vielleicht würden sich ihre Wege in Zukunft noch einmal kreuzen, wenn Cato der Armee in Britannien zugeteilt würde.
Er wischte die Gedanken an eine noch ferne Zukunft beiseite und wandte sich mit der Zunge schnalzend an Petronella. »Du solltest wirklich aufhören, mich weiterhin deinen Herrn zu nennen. Von nun an bin ich so wenig dein Herr, wie es dein Ehemann jemals sein wird.«
Macro grinste und schob seine Hand in ihre Richtung, um ihr sanft den Rücken zu tätscheln. »Zu meiner Zeit habe ich weitaus störrischere Rekruten gebrochen. Bei allen Göttern, Cato, du warst einer der größten Waschlappen, die mir jemals vor Augen gekommen sind, als du damals in dieser Nacht plötzlich vor der Festung der Zweiten Legion aufgetaucht bist.«
»Und jetzt sieh dir an, was aus ihm geworden ist«, warf Petronella ein. »Ein Tribun der Prätorianergarde. Während du nie über den Rang eines Centurio hinausgekommen bist.«
»Jedem das Seine, meine Liebe. Ich bin gern Centurio. Das ist das Amt, das ich am besten ausüben kann.«
»Ausüben konntest«, sagte sie nachdrücklich. »Diese Zeiten sind vorbei. Und du kommst besser gar nicht erst auf die Idee, mich wie einen Rekruten zu behandeln, sonst kannst du was erleben.« Sie ballte die Faust und hielt sie Macro einen Augenblick lang unter die Nase, bevor sie sich wieder entspannte.
Lucius knuffte Cato. »Ich mag es, wenn Petronella wütend wird, Vater«, flüsterte er. »Dann wird sie richtig angsteinflößend.«
Macro stieß ein dröhnendes Gelächter aus. »Ganz genau, Junge. Und dabei weißt du noch gar nicht, wie schlimm es werden kann. Die Liebe meiner Frau ist zäh wie altes Stiefelleder.« Er warf ihr einen besorgten Blick zu. »Aber viel zarter.«
Petronella verdrehte die Augen. »Oh, hör auf.«
Macros Miene wurde ernst. Er drehte ihr Gesicht zu sich und küsste sie sanft auf die Lippen. Sie erwiderte den Druck, schlang ihren Arm um seinen breiten Rücken und zog ihn zu sich heran. Ihre Lippen blieben noch einen Augenblick zusammen, bevor sie sich voneinander lösten, und Macro schüttelte verzückt den Kopf. »Bei allem, was heilig ist, du bist die Frau für mich. Mein Mädchen. Meine Petronella.«
»Mein Liebster«, erwiderte sie, und die beiden sahen einander zärtlich an.
Cato hüstelte. »Soll ich versuchen, für euch beide ein günstiges Zimmer zu bekommen?«
Die Speisen kamen kurz darauf. Ein stämmiges Serviermädchen, dem noch der Schweiß von der Arbeit über dem Feuer in der Küche auf der Stirn stand, trug sie auf einem großen Tablett. Sie setzte das Tablett ab und legte den Aufschnitt und zwei geröstete Hühner auf einen Holzteller; daneben stellte sie ein Weidenkörbchen mit mehreren kleinen runden Brotlaiben, zwei auf Samos gefertigte Krüge mit Öl und Garum und einen weiteren Krug Wein. Die Portionen waren üppiger, als Cato erwartet hatte, und da er heute besonders gut gelaunt war, fühlte er sich so großzügig gestimmt, dass er ihr einen Sesterz Trinkgeld gab. Sie musterte die Münze in ihrer Hand mit weit aufgerissenen Augen und warf dann einen nervösen Blick über ihre Schulter, doch der Wirt war gerade an einem anderen Tisch beschäftigt, an dem zwei neue Gäste Platz genommen hatten. Sie schob die Münze in eine Tasche vorn an ihrer schmutzigen Stola und verschwand wieder in der Küche.
»Ah, das ist ein Leben!«, sagte Macro, während er einen Hühnerschlegel abriss, seine Zähne in die knackige Haut schlug und zu kauen begann. »Ein schöner, sonniger Tag. Die beste Gesellschaft. Gutes Essen, passabler Wein und die Aussicht auf ein bequemes Bett am Abend. Und es wäre nett, ein heißes Bad und Kleider zum Wechseln zu bekommen.«
»Ich bin sicher, da lässt sich im Haus etwas finden«, erwiderte Cato und warf dem Hund ein Stück Fleisch zu, der es auffing und sich dann an Catos Hand rieb, um noch mehr zu bekommen. »Tut mir leid, Cassius. Das war’s.«
Sie hatten ihr Gepäck in Ostia gelassen und einem von Catos Männern den Auftrag gegeben, es nach Rom zu bringen. Dort wollten sie Catos Villa aufsuchen, die er in einem der besseren Viertel der Stadt auf dem Viminal besaß. Vor einigen Jahren hatte seine Beförderung zum Befehlshaber einer Hilfskohorte die Erhöhung in den Rang eines Ritters mit sich gebracht, jener Klasse, die nur eine Stufe unter der eines Senators lag. Darüber hinaus war er ein Mann, der über einige finanzielle Mittel verfügte, die er größtenteils der Tatsache verdankte, dass ihm der Besitz und das Vermögen seines früheren Schwiegervaters, welcher sich an einer Verschwörung gegen den Kaiser beteiligt hatte, übertragen worden waren. Hätte Cato nicht eingegriffen, wäre es den Verschwörern gelungen, Nero zu ermorden. Als Belohnung hatte er das gesamte Gut des Senators Sempronius erhalten.
So wankelmütig verhält sich das Glück des römischen Adels unter den Caesaren, dachte Cato. Er war sich bewusst, dass der Kaiser einem alles, was er gab, ebenso leicht wieder wegnehmen konnte. Jetzt, da er einen Sohn großzuziehen hatte, war er entschlossen, sich nichts zuschulden kommen zu lassen und seine günstigen Lebensumstände zu bewahren. Es würde nicht leicht werden, wenn man daran dachte, wie schlecht sich der Konflikt mit den Parthern in den vergangenen zwei Jahren entwickelt hatte. Und der Versuch, den armenischen Regenten durch einen Herrscher zu ersetzen, der den Römern wohlgesinnt war, hatte in einer Katastrophe geendet, und fast hätte die Revolte in einem kleineren Grenzreich immer größere Kreise gezogen, bevor es gelungen war, sie zu unterdrücken. Cato hatte an beiden Feldzügen teilgenommen, und jetzt fürchtete er, er würde den Preis dafür zahlen müssen, wenn er im Kaiserpalast seinen Bericht darüber abgab.
Mehrstimmiges Gelächter lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf die anderen Gäste und den Wirt, der dem Serviermädchen eine Anweisung zurief. Dann trat er zu Cato und seinen Gefährten, wobei er sich mühsam ein munteres Lächeln abrang.
»Was meint ihr, ist das Essen etwa nicht so gut, wie ich euch gesagt habe?«
»Es ist zufriedenstellend«, erwiderte Petronella und inspizierte mit großer Geste einen der kleinen Laibe. »Das Brot könnte frischer sein.«
»Es wurde heute Morgen als Erstes gebacken.«
»Gut möglich, dass es als Erstes gebacken wurde. Aber nicht heute.«
Zähneknirschend fuhr der Wirt fort: »Aber der Rest ist gut. Mehr als nur zufriedenstellend, hoffe ich doch. Was meinst du, mein kleiner Sonnenschein?« Er zerzauste Lucius’ Haar. Der Junge, dessen Kiefer sich mit einem Stück Knorpel abmühten, schüttelte die Hand ab und hob die Augen.
Cato sagte rasch: »Es ist ganz in Ordnung.«
Obwohl Petronellas Protest gerechtfertigt war, wollte er den Wirt nicht zu sehr verärgern. Solche Menschen konnten einem stets den neuesten Tratsch und nützliche Informationen liefern, die sie von vorbeikommenden Kaufleuten aufschnappten, und es gab einiges, das er unbedingt über die Lage in Rom wissen wollte, bevor sie die Stadt betreten würden. Rasch schluckte er das Stück ölgetränktes Brot, das er im Mund hatte, und räusperte sich.
»Wir waren ein paar Jahre lang an der Grenze im Osten.«
»Ah!« Der Wirt nickte. »Ihr habt gegen diese Bastarde von Parthern gekämpft, nicht wahr? Wie sieht es aus mit dem Krieg?«
»Krieg?« Cato wechselte einen schnellen Blick mit Macro. »Der hat noch gar nicht richtig angefangen.«
»Nicht? Das letzte Mal, als ich in Rom war, war in den Anschlägen auf dem Forum von mehreren Zusammenstößen an der Grenze die Rede. Es hieß, wir hätten sie mächtig in den Arsch getreten.«
»Na ja, man darf nicht alles glauben, was man auf diesen Anschlägen liest«, sagte Macro. »Da stimmt manchmal nicht viel mehr als das Datum.« Er zuckte mit den Schultern.
Der Wirt runzelte die Stirn. »Willst du damit sagen, dass die Anschläge falsch sind?«
»Falsch? Nicht unbedingt. Aber ich würde keineswegs meine gesamten Ersparnisse darauf wetten.«
»Wie auch immer«, meldete sich Cato wieder zu Wort. »Wir haben vom Leben in der Hauptstadt gar nichts mehr mitbekommen. Gibt es irgendetwas Neues, das wir wissen sollten?«
»Aus den ganzen letzten zwei Jahren? Wie viel Zeit habt ihr?«
»Genug, um unsere Mahlzeit zu essen und uns dann wieder auf den Weg zu machen. Also solltest du dich kurzfassen.«
Der Wirt kratzte sich die Wange, während er seine Gedanken sammelte. »Die große Nachricht ist, dass Pallas’ Zeit anscheinend abgelaufen ist.«
»Pallas?« Macro hob eine Augenbraue. Pallas war einer der kaiserlichen Freigelassenen, die Nero von Claudius geerbt hatte, und Chefberater des Kaisers. Es war ein Posten, auf dem man neben Ehrgeiz und Gier auch Geschick in Sachen Spionage und die Fähigkeit zu Angriffen aus dem Hinterhalt besitzen musste. All dies hatte Pallas in höchstem Maße kultiviert. Doch anscheinend hatte man ihn hereingelegt oder einer seiner Rivalen hatte sich als Gegner erwiesen, der ihm gewachsen war. »Was ist passiert?«
»Man hat ihm Verschwörung zum Sturz des Kaisers vorgeworfen. Der Prozess soll in etwa einem Monat stattfinden. Es dürfte eine beeindruckende Veranstaltung werden, denn sein Verteidiger ist Senator Seneca. Ich würde mir die Sache sicher selbst ansehen, wenn ich hier nicht so viel zu tun hätte.«
Macro wandte sich an Cato. »Beim Hades, das ist eine Wendung, die in die Annalen eingehen wird. Ich dachte, Pallas hätte seine Schnauze gut und sicher im Trog. Wenn man bedenkt, wie souverän er sich um die Sache mit Agrippina gekümmert hat«, schloss er in vorsichtigem Ton.
Cato nickte und dachte über die Machtverschiebung in der Hauptstadt nach. In den letzten Jahren der Herrschaft des vorherigen Kaisers hatte sich Pallas auf die Seite von Agrippina und ihres Sohnes Nero geschlagen. Sein Verhältnis zur Mutter des neuen Machthabers hatte nicht nur politische Gründe. Cato und Macro hatten dieses Geheimnis vor einigen Jahren herausgefunden und klugerweise den Mund gehalten. Obwohl die Aristokraten bei ihren Banketten die Zungen genauso wenig im Zaum hielten wie die Tratschweiber an den öffentlichen Brunnen in den Armenvierteln. Doch Gerüchte waren eines; die Wahrheit zu kennen, war hingegen etwas ganz anderes und weitaus Gefährlicheres. Jetzt schien es, als schwämmen Pallas die Felle davon. Möglicherweise würden die Ereignisse sogar einen tödlichen Verlauf nehmen. Und vielleicht nicht nur für ihn.
»Ist noch jemand außer ihm angeklagt?«
»Nicht dass ich wüsste. Gut möglich, dass er allein gehandelt hat. Wahrscheinlicher aber ist, dass der Kaiser ein Auge auf sein Vermögen geworfen hat. Niemand wird so reich, ohne dass er sich Feinde macht. Menschen, für deren Abstieg man auf dem Weg nach oben gesorgt hat. Oder Leute, die einfach etwas dagegen haben, dass man so viel Erfolg hat und so reich ist. Ihr wisst ja, wie es bei den vornehmen Leuten in Rom zugeht. Immer bereit, ein Messer in den … jedenfalls sagt man das.« Unsicherheit flackerte in seinen Augen auf, als er Cato ansah. »Was hattet ihr noch mal vor in der Stadt?«
»Wir wurden zurückbeordert. Das heißt, meine Kohorte der Prätorianergarde.«
»Deine Kohorte?« Der Wirt lächelte matt, als ihm klar wurde, welch gefährliches Terrain er damit betreten hatte, über die Motive des Kaisers zu spekulieren.
»Ich bin der befehlshabende Tribun. Macro hier ist mein oberster Centurio. Wir haben das erste Schiff genommen, das nach Ostia ging. Meine anderen Männer kommen in wenigen Tagen auf Transportschiffen nach, also hast du vielleicht Glück, wenn sie hier vorbeikommen.«
»Ich hatte nicht die Absicht, Menschen zu kritisieren, die über mir stehen, Herr. Das war nur, was man sich so auf der Straße erzählt. Ich wollte niemanden beleidigen.«
»Immer mit der Ruhe. Deine Ansichten über Nero sollen dir bei uns keinen Schaden bringen. Aber was ist mit Agrippina? Weißt du, ob sie irgendetwas damit zu tun hat, dass man Pallas eine Verschwörung vorwirft? Als wir zur Ostgrenze aufbrachen, waren die beiden die engsten Berater Neros.«
»Das ist jetzt anders, Herr. Wie ich schon sagte: Pallas wird der Prozess gemacht, und sie hat die Gunst des Kaisers verloren. Er hat sie aus dem Kaiserpalast geworfen und ihr die offizielle Leibwache entzogen.«
»Das hat Nero getan?«, fragte Macro. »Beim letzten Mal, als ich die beiden zusammen gesehen habe, hatte sie ihn ganz und gar um den Finger gewickelt. Es sieht so aus, als hätte der Junge endlich ein paar Eier bekommen und die Führung übernommen. Gut für ihn.«
»Möglich«, sagte Cato nachdenklich. Aufgrund seiner Erfahrung mit dem neuen Kaiser zweifelte er daran, dass Nero selbst eine solche Initiative übernommen hatte. Wahrscheinlicher war, dass eine andere Gruppe im Palast ihm jetzt die Hand führte. »Und wer berät den Kaiser jetzt?«
Obwohl er einigermaßen sicher sein konnte, dass seine Worte nicht gegen ihn verwendet würden, senkte der Wirt die Stimme. »Einige behaupten, dass Burrus, der Kommandant der Prätorianergarde, inzwischen die Macht in Händen hält. Er und Seneca.«
Cato musste diesen besonderen Tratsch erst verdauen. Er hob eine Augenbraue. »Und was sagen andere?«
»Sie behaupten, dass Nero Sklave seiner Geliebten Claudia Acte ist.«
»Claudia Acte? Nie von ihr gehört.«
»Das überrascht mich nicht, Herr. Nicht, wenn du ein paar Jahre weg warst. Man findet sie erst seit ein paar Monaten an seiner Seite. Im Theater, bei den Rennen und so weiter. Ich selbst habe sie gesehen, als ich das letzte Mal in Rom war. Sie ist recht hübsch, aber die Leute behaupten, dass sie eine Freigelassene ist, und den Bessergestellten gefällt das nicht.«
»Kann ich mir vorstellen.« Cato wusste, wie empfindlich die eher traditionell eingestellten Senatoren waren, wenn es um Klassenunterschiede ging. Sie betrachteten den Zufall der Geburt, der ihnen gewaltige Privilegien verschaffte, als eine Art von den Göttern verliehenes Recht, alle anderen Menschen als ihnen grundsätzlich untergeordnet zu behandeln. Das affektierte Gehabe, mit dem die Schlimmsten unter ihnen ihre eigene Überlegenheit zur Schau stellten, ging ihm gewaltig auf die Nerven. Sie selbst hatten vielleicht die Ansicht, dass ihre Scheiße besser roch als die eines Mitglieds der großen ungewaschenen Menge, aber da waren sie gründlich im Irrtum. Ganz abgesehen davon, dass diese Scheiße einen größeren Teil ihres Kopfes auszufüllen schien als jeglicher andere Stoff, von dem dort noch ein Rest vorhanden sein mochte und der als ihr Gehirn herhalten musste. Die Vorstellung, dass der Kaiser in der Öffentlichkeit mit einer Frau von niederer Geburt auftrat und ihnen die Gegenwart dieser Dame sogar unter die Nase rieb, musste die empfindlicheren Senatoren geradezu in wilde Verschwörungsgelüste treiben. Nero ging ein hohes Risiko ein, selbst wenn er sich dessen nicht bewusst war.
»Dann lasse ich dich mal deine Mahlzeit beenden, Herr.« Der Wirt nickte Cato und seinen Begleitern zu und zog sich auf seinen Hocker am Ende der Theke zurück.
Macro nahm rasch einen Schluck Wein aus seinem Becher, rülpste und lächelte. »Das hört sich an, als hätten sich die Dinge in Rom endlich zum Besseren gewendet. Mit etwas Glück tritt diese Schlange Pallas die Reise in die Unterwelt an und macht uns keine Schwierigkeiten mehr. Darauf trinke ich gern.« Er füllte seinen eigenen Becher und schenkte dann Cato nach. Doch sein Freund ließ den Becher stehen und blickte nachdenklich vor sich hin.
»Was ist los, Cato? Hast du irgendetwas gefunden, das dir an dieser Situation nicht gefällt? Warum sollten wir nicht wenigstens ein Mal auf gute Nachrichten anstoßen dürfen?«
Cato seufzte und griff nach seinem Becher. »Schon gut. Aber verrate mir eines, Bruder: Wenn du nach unserer bisherigen Erfahrung gehst – wie oft folgt dann auf eine gute Neuigkeit bald eine schlechte?«
»Ah, sag deinem Pessimismus endlich, er soll sich verpissen, und genieß den Wein, na los.«
Petronella knuffte ihn mit dem Ellbogen. »Deine Sprache! Willst du etwa, dass der kleine Lucius so spricht?«
Macro sah den Jungen an und blinzelte. Lucius grinste.
»Dann wollen wir hoffen, dass ich unrecht habe«, sagte Cato. Er hob seinen Becher. »Auf Rom, auf die Heimat, auf ein Leben in Frieden. Wir haben es verdient.«
Jedes Mal, wenn man nach mehreren Jahren Abwesenheit nach Rom zurückkam, hatte diese Rückkehr auch etwas Unangenehmes, dachte Cato, als sie die Hauptstadt betraten und durch die überfüllten Straßen gingen. Obwohl der vertraute Anblick, die Geräusche und Gerüche seine Sinne überwältigten, wirkte etwas daran merkwürdig und beunruhigend. Es war das Gefühl, dass sich die Dinge weiterentwickelt hatten und er an dem Ort, an dem er geboren und aufgewachsen war, ein Fremder war. Auch kam ihm die Stadt auf eine unbestimmte Weise kleiner vor. Einst war Rom die ganze Welt für ihn gewesen, gewaltig und allumfassend. Er hatte sich unmöglich vorstellen können, dass irgendetwas ihre Prachtstraßen, Tempel, Theater und Paläste in ihrer Großartigkeit übertreffen könnte, dass es möglich wäre, das Angebot ihrer Unterhaltungsmöglichkeiten zu erweitern, dass die Werke in den Bibliotheken und das kultivierte Wissen der Gelehrten irgendwo im Römischen Reich oder jenseits seiner Grenzen ihresgleichen fänden. Doch seit Cato die Stadt verlassen hatte, hatte er mit eigenen Augen den Reichtum der Parther und die große Bibliothek von Alexandria gesehen, deren Galerien immer größere Kreise zu ziehen schienen; die Bibliothek stand im Schatten des weit aufragenden Leuchtturms von Pharos, der viel höher und beeindruckender war als jedes Gebäude in Rom. Andererseits, so dachte er, wirkte jeder Ort – genauso wie jede Erfahrung – weniger beeindruckend, wenn man ihn ein zweites Mal aufsuchte. Unablässig veränderte die Erfahrung die Art, wie man sich an gewisse Dinge erinnerte, sodass die Bewunderung, die man ursprünglich für etwas empfunden hatte, einem jetzt wie eine leicht beschämende Naivität vorkam.
Aber trotz allem war es ein Trost, in so viele vertraute Dinge eintauchen zu können. Ein mattes Zugehörigkeitsgefühl war besser, als keine Wurzeln zu haben. Neben dem Gestank der Kanalisation und des Mülls auf den Straßen lagen ebenso das warme Aroma von gebackenem Brot und Holzrauch in der Luft sowie der zu Kopf steigende Duft der Gewürze auf den Märkten. Straßen und Kreuzungen tauchten genau da auf, wo er sie erwartete, als die kleine Gruppe ihrem Weg den Kaiserpalast entlang über das Forum folgte und den Hang des Viminal hinaufstieg, wobei die fünf an überfüllten und verfallenden Gebäuden im Armenviertel am Fuß des Hügels vorbeikamen. Cato nahm Lucius’ Hand, damit sie auf der engen belebten Straße nicht getrennt wurden. Als er nach unten sah, entdeckte er ein aufgeregtes Funkeln in den Augen seines Sohnes, der die um ihn herum eilenden Menschen aufmerksam musterte.
»Natürlich! Als wir Rom verlassen haben, warst du zu jung, um dich jetzt noch daran zu erinnern.«
»Doch, ich erinnere mich, Vater«, erwiderte Lucius energisch. »Ich bin sechs Jahre alt. Ich bin kein Baby.«
Cato lachte. »Das habe ich auch nie behauptet. Du wächst schnell, mein Junge. Zu schnell«, fügte er wehmütig hinzu.
»Zu schnell?«
»Wenn du selbst Vater wirst, wirst du verstehen, was ich meine.«
»Ich möchte kein Vater sein. Ich möchte Soldat sein.«
Catos Miene verhärtete sich, während er an erschütternde wie ruhmvolle Momente denken musste. »Darüber können wir später einmal sprechen. Wenn du dann wirklich Soldat werden willst.«
»Das will ich. Onkel Macro sagt, dass ich ein feiner Soldat werden kann. Genau wie du. Auch ich werde einmal meine eigene Kohorte führen.« Er hob seine freie Hand und zupfte Macro an dessen Tunika. »Das hast du doch gesagt, nicht wahr, Onkel Macro?«
»Genau. Recht hast du, mein Junge.« Macro nickte, während er Cassius fest an der Leine hielt. Die zahllosen Düfte und Geräusche versetzten den Hund in Aufregung, sodass er sie unbedingt erkunden wollte und die Leine in alle Richtungen zerrte. »Das Soldatsein liegt dir im Blut. Es wird einen Mann aus dir machen.«
Cato empfand ein mulmiges Gefühl angesichts dieser Aussicht. Anders als sein Freund hielt er den Krieg nicht für eine Gelegenheit, um Ruhm zu erwerben, sondern bestenfalls für ein notwendiges Übel und für das letzte Mittel, wenn alle Versuche gescheitert waren, einen Konflikt zwischen Rom und anderen Imperien oder Königreichen auf friedliche Weise zu schlichten. Oder um die Ordnung nach einer Rebellion oder einem anderen Konflikt innerhalb des Staates wiederherzustellen. Er wusste, dass Macro seiner Haltung in dieser Sache nur wenig Verständnis entgegenbrachte, weshalb die beiden diese Frage nur selten direkt ansprachen. Was auch der Grund dafür war, dass Cato sich darüber ärgerte, wenn Macro seinen Sohn so ermutigte. Er kannte seinen Freund gut genug, um zu verstehen, dass das kein Versuch war, Lucius in dieser Auseinandersetzung als eine Art Stellvertreter für sich zu benutzen; die Ermutigung geschah vielmehr ganz unschuldig. Doch dadurch wurde es umso schwieriger, etwas zu entgegnen, ohne den Eindruck zu erwecken, er reagiere viel zu heftig. Eine Ablenkung wäre die bessere Strategie.
»Wir müssen einen Lehrer für dich finden, sobald wir uns zu Hause eingerichtet haben, Lucius.«
Der Junge stieß ein abwehrendes Knurren aus. »Ich will keinen. Ich will lieber mit Onkel Macro und Petronella spielen.«
Cato seufzte. »Du weißt sehr wohl, dass sie schon sehr bald aus Rom fortgehen werden. Du brauchst jemanden, der sich um dich kümmert und deine Erziehung in Angriff nimmt, wenn Petronella nicht mehr hier ist.«
Sie warf ihm einen düsteren Blick zu. »Ich habe ihm die Buchstaben und die Zahlen beigebracht, Herr. Und ein wenig Lesen.«
»Natürlich. Entschuldige. Ich danke dir. Es wird nicht leicht sein, dich zu ersetzen.«
Sie nickte besänftigt. »Ich werde sehen, ob ich jemanden finde, dem du vertrauen kannst. Ich werde mich in den anderen Häusern auf dem Viminal umhören. Zweifellos wird es jemanden geben, der meinen Platz einnehmen kann.«
»Liebste«, sagte Macro lächelnd. »Niemand kann deinen Platz einnehmen. Du bist praktisch eine zweite Mutter für den Jungen.«
»Ich will nicht, dass sie geht«, murmelte Lucius und senkte den Blick. »Können die beiden nicht bleiben?«
»Wir haben doch darüber gesprochen, mein Sohn«, antwortete Cato. »Die beiden müssen ihr eigenes Leben führen.«
»Kannst du ihnen nicht befehlen zu bleiben, Vater?«
»Ihnen befehlen?« Macro brach in dröhnendes Gelächter aus. »Das würde ich gern erleben, dass irgendjemand Petronella befiehlt, irgendetwas zu tun. Ich würde viel Geld dafür geben, zusehen zu dürfen, wie der Betreffende pulverisiert wird.«
Sie bogen in die Straße ein, in der sich Catos Haus befand. Auf beiden Seiten gab es kleine Läden, die von den Besitzern der größeren Güter dahinter verpachtet worden waren. Am unteren Ende der Straße standen ein paar Mietshäuser, auf welche die Häuser der reicheren Nachbarn folgten. Die Zugänge zu den größeren Grundstücken befanden sich zwischen den Geschäften und waren von der Straße durch große eisenbeschlagene Türen getrennt. Als sie auf etwa halber Höhe der Straße Catos Haus erreichten, sah er, dass der Eisenwarenhändler und der Bäcker, die jeweils einen Teil des Grundstücks von ihm gepachtet hatten, zu beiden Seiten der bescheidenen Treppe, die von der Straße zur Eingangstür führte, noch immer ihren Geschäften nachgingen. Er hielt kurz inne, um die gut gepflegten Holz- und Bronzebeschläge zu bewundern. Dann ging er die Stufen hinauf und betätigte kraftvoll den Türklopfer.
Kurz darauf öffnete sich ein schmales Sichtfenster und ein Augenpaar musterte ihn kurz durch das Gitter, bevor eine gedämpfte Stimme fragte: »Was willst du?«
»Mach die Tür auf«, sagte Cato ungeduldig.
»Wer bist du?«
»Tribun Quintus Licinius Cato. Und jetzt mach auf.«
Der Türsteher kniff die Augen zusammen und sagte: »Einen Moment.«
Das Sichtfenster schloss sich klappernd, und Cato wandte sich den anderen zu. »Das muss ein neuer Türsteher sein. Oder ich habe mich mehr verändert, als ich dachte, seit wir zuletzt in Rom waren.«
Das Sichtfenster wurde erneut geöffnet, und ein älterer Mann erschien hinter dem Gitter. Ein Blick genügte, und die Riegel auf der Innenseite der Tür wurden zurückgeschoben. Sie schwang auf, und da stand Croton, der Hausverwalter. Er verbeugte sich rasch und lächelte, während er zur Seite trat, damit Cato und die anderen eintreten konnten. »Herr, es tut meinem Herzen wohl, euch alle wiederzusehen. Wir hatten keine Ahnung, dass ihr heute nach Hause kommen würdet.«
»Wir sind erst gestern in Ostia angekommen. Wir sind beim ersten Tageslicht aufgebrochen.«
Rasch überwand Croton seine Überraschung, schloss die Tür und sperrte die Straßengeräusche aus. Jetzt hörte man in der stillen Eingangshalle nur noch das leise Rauschen des Springbrunnens im Atrium dahinter.
»Ich werde unverzüglich die Schlafkammern und die Wohnräume vorbereiten, Herr. Und du wirst etwas essen wollen nach der Reise.«
»Das Essen kann warten«, unterbrach ihn Cato. »Wir wollen vor allem ein Bad und frische Kleider. Lass zuerst das Badehaus anheizen und kümmere dich danach um den Rest.«
Croton musterte die kleine Gruppe und hob dann eine Augenbraue. »Und das Gepäck, Herr?«
»Kommt von Ostia über den Fluss. Es sollte morgen hier sein. Ein Mann namens Apollonius ist dafür verantwortlich. Er wird bei uns im Haus wohnen, also solltest du auch für ihn ein Zimmer vorbereiten.«
»Was umso deprimierender ist«, murmelte Macro. Er mochte den Spion nicht besonders, der bei ihrer letzten Mission im Partherreich als Catos Führer gedient hatte und bereit gewesen war, den Tribun zu begleiten, als die Prätorianergarde nach Rom zurückkehrte. Sehr viele Männer aus der ursprünglichen Einheit waren nicht zurückgekommen, dachte er. Nicht mehr als einhundertfünfzig von den ehemals etwa sechshundert Mann hatten die Schlachten der letzten beiden Jahre überlebt. Obwohl ihre Standarte mehrfach für ihre Tapferkeit ausgezeichnet worden war, würde es einige Zeit dauern, bis die Kohorte ihre ursprüngliche Einsatzstärke wieder erreicht hatte und bereit wäre, erneut in eine Schlacht zu ziehen. An der Macro dann nicht mehr teilnehmen würde. Einen Augenblick lang empfand er Bedauern und Sehnsucht nach seinem Beruf und seinen Waffenbrüdern, die er zurücklassen würde, wenn er nach Britannien ging. Vor allem nach Cato.
Macro war im Dienst gewesen, als Cato, abgemagert und vor Kälte und Nässe zitternd, in die Festung der Zweiten Legion am Rhein gekommen war. Zähneknirschend war er der Mentor des jungen Mannes geworden, doch schon bald hatte er begriffen, welch ein Talent in Cato steckte, nachdem dieser erst einmal seine Nervosität überwunden und ein guter Soldat geworden war. Von jener Zeit an hatte Cato unter Macro gedient; später hatten sie denselben Rang innegehabt; und schließlich war Cato sogar noch weiterbefördert worden als er selbst. Während der letzten fünfzehn Jahre waren sie so gut wie unzertrennlich gewesen, während sie an verschiedenen Grenzen des Imperiums ihren Dienst taten. Schon bald würden sie sich trennen, und wenn man die große Entfernung bedachte, die dann zwischen ihnen lag, würden sie einander wohl nie wiedersehen. Das war schwer zu ertragen.
Zu wissen, dass Apollonius bei zukünftigen Feldzügen an Catos Seite sein würde, war nicht gerade ein Trost für Macro. Er hatte dem Spion von Anfang an misstraut. Apollonius war Cato von General Corbulo bei ihrer Mission im Partherreich als Führer zugeteilt worden. Er war mager; seine rasierte Kopfhaut lag so eng an seinem Schädel an, dass er wie der Geist eines Dahingeschiedenen aussah. Seine tief liegenden Augen huschten stets hin und her, und nichts entging seinem scharfen Verstand. Doch ärgerlicherweise machte sich dieser scharfe Verstand über all jene lustig, die nicht so gebildet waren und deren Denken nicht dieselbe Gewandtheit besaß. Wenn der Ausdruck »er ist ein richtiger Schlaumeier« jemals berechtigt war, dann war Apollonius der Erste, auf den er zutraf. Natürlich hatte der griechische Freigelassene auch einige Eigenschaften, welche diese besondere Schwäche ausglichen, wie Macro zugeben musste. Es gab nur wenige andere Männer, die ihm an Geschick mit der Klinge gleichkamen, und er war ein guter Kämpfer, den man gern an seiner Seite hatte. Aber genau das war auch der Grund, warum man ihm nicht gern den Rücken zudrehte. Er hatte etwas an sich, das Macro von Grund auf misstrauisch machte, und der Centurio hatte lange genug gelebt und seine Erfahrungen auf so schmerzliche Weise sammeln müssen, dass er seinem Instinkt in dieser Sache inzwischen vertraute.
Als Croton sie in die Wohnquartiere führte, fiel Macro mit seinem Freund in Gleichschritt und sagte leise: »Ich an deiner Stelle wäre nicht so leicht bereit, Apollonius um mich zu haben, Bruder. Er ist vom gleichen Schlag wie Pallas und Narcissus und all die anderen griechischen Freigelassenen, die dir nur allzu gern ein Messer in den Rücken rammen.«
Cato lächelte dünn. Wie viele Römer neigte Macro dazu, auf die Griechen herabzuschauen und sie als eine Sorte Mensch zu betrachten, die nichts als an den Haaren herbeigezogene philosophische Spekulationen oder gerissene Intrigen im Kopf hatte. Es war eine sehr beschränkte Sicht, die kaum zu etwas anderem diente, als dem römischen Glauben an die eigene offenherzige Klarheit und überlegene Integrität zu schmeicheln. In ihren vielen gemeinsamen Jahren war es Cato nicht gelungen, die Einstellung seines Freundes zu ändern, und es war kaum angebracht, zu einem so späten Zeitpunkt einen weiteren Versuch zu unternehmen.
»Apollonius hat im Partherreich seinen Wert bewiesen. Ohne ihn wäre ich jetzt nicht mehr am Leben.«
»Er war nur darauf aus, seine eigene Haut zu retten. Dass er dabei auch deine gerettet hat, war nichts als eine Art Nebeneffekt.«
»Wenn man es so sehen will … Aber wie auch immer. Ich habe meine Entscheidung getroffen. Ich werde ihn in die Kohorte aufnehmen und ihm die Stabsleitung im Hauptquartier übertragen. Wir werden sehen, was dann passiert. Aber ich glaube, du irrst dich in ihm.«
»Ja, wir werden sehen. Es würde mir ganz und gar nicht gefallen, wenn ich eines Tages verkünden müsste: ›Ich hab’s dir ja gesagt‹.«
Cato sah ihn an und lächelte. »Doch. Es würde dir gefallen.«
Sie gingen durch das Atrium mit dem kleinen Wasserbecken, das offen unter dem freien Himmel lag, und folgten dann einem Flur zu den Wohnquartieren, vor denen man, auf der Rückseite der Villa, auf den ummauerten Garten blickte. Senator Sempronius war stets stolz auf die Gestaltung seiner Hecken und Blumenbeete gewesen, und Cato musste unwillkürlich lächeln, als er sah, dass Croton zusammen mit seinen wenigen Mitarbeitern die Pflanzen in seiner Abwesenheit gut versorgt hatte.
»Es ist gut, wieder zu Hause zu sein«, sagte er. »Vielleicht wird es mir sogar Vergnügen bereiten, Lucius selbst großzuziehen, während ich im Hauptquartier der Prätorianergarde meinem Dienst nachkomme.«
»Du wirst sehr viel freie Zeit zur Verfügung haben«, sagte Macro. »Überlass es einfach den Centurionen, bei deinen Männern für den letzten Schliff zu sorgen, und genieße es, dich für die kaiserlichen Zeremonien in Schale zu werfen.« Er sah Cato nachdenklich an. »Obwohl ich dir jetzt schon sagen kann, dass du dich in etwa einem Jahr danach sehnen wirst, wieder in den aktiven Dienst zurückzukehren.«
Cato schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Ich habe für eine ganze Weile genug davon. Ich würde gern zur Ruhe kommen und meine Zeit mit Lucius verbringen.«
Er wandte sich um und legte eine Hand auf die Schulter seines Sohnes. »Wie hört sich das an, mein Junge? Es gibt so viele Dinge, die wir beide genießen können. Theater, Bücher, die Jagd auf dem Land. Die Arena, Wagenrennen.«
»Wagenrennen!« Lucius strahlte. »Das machen wir! Ich möchte die Wagen sehen.«
»Dann wäre das abgemacht«, antwortete Cato. »Wir gehen, sobald wir können. Wir alle vier zusammen. Aber jetzt sollten wir ein Bad nehmen und uns ein paar saubere Kleider besorgen.«
»Muss ich auch baden, Vater?«
»Natürlich musst du das«, sagte Petronella mit einem Glucksen in der Stimme und nahm ihn bei der Hand. »Lucius, mein kleiner Herr, komm mit. Wir können Croton helfen, das Badehaus anzufeuern.«
Cato und Macro starrten den beiden nach, während sie durch den Garten gingen.
»Sie wird den Jungen vermissen«, sagte Macro. »Und ich auch.« Er spürte, wie sich zwischen ihnen eine melancholische Stimmung auszubreiten drohte, und rümpfte angewidert die Nase. Es wurde Zeit, das Thema zu wechseln. Er klopfte seinem Freund auf den Rücken. »Wein! In diesem Haus muss es doch irgendwo guten Wein geben. Wir besorgen uns einen Krug voll, setzen uns an den Springbrunnen und trinken einen Schluck, während wir warten. Komm, Bruder. Machen wir uns auf die Jagd!«