ZUM BUCH
Viele Jahre lang jagte Antonio Santos einen Schatten. Jetzt ist er dicht an ihm dran, doch um seine Rache nehmen zu können, braucht er die Hilfe einer Frau. Emma Tucker könnte genau die Richtige für diesen Job sein. Die schöne Rothaarige beeindruckt ihn sehr – sie sieht nicht nur umwerfend aus, sondern ist auch eine gnadenlose Kämpferin. Schon bald sprühen zwischen ihnen die Funken, und das erotische Spiel, das sie bei dieser Mission spielen müssen, lässt sie Privates und Berufliches vermischen. Als sie bemerken, dass nicht nur ihre Herzen in Gefahr sind, wird klar, dass sie es nur schaffen können, wenn sie einander wirklich vertrauen …
ZUR AUTORIN
Die New-York-Times- und SPIEGEL-Bestsellerautorin J. Kenner arbeitete als Anwältin, bevor sie sich ganz ihrer Leidenschaft, dem Schreiben, widmete. Ihre Bücher haben sich weltweit mehr als drei Millionen Mal verkauft und erscheinen in über zwanzig Sprachen. J. Kenner lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern in Texas, USA.
J. KENNER
SEXY SECURITY
Verlockendes Feuer
Roman
Band 4
Aus dem Amerikanischen von Nicole Hölsken
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Deutsche Erstausgabe 02/2022
Copyright © 2020 by J. Kenner
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel
Wrecked With You. Stark Security 4 bei Martini & Olive.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022
by Diana Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Antje Steinhäuser
Umschlaggestaltung: Zero, München
Covermotiv: © FinePic, München
Satz: Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-641-28250-9
V001
www.diana-verlag.de
PROLOG
Die Welt ist beschissen.
Das war womöglich meine allererste Lektion im Leben. Ich lernte sie auf die harte Tour, wenn er mich anschrie oder mich schlug. Oder Schlimmeres.
Dabei hätte er uns lieben sollen. Uns beschützen.
Aber »hätte sollen« gibt es nur im Märchen. Wir aber lebten in der realen Welt, meine Schwester und ich. Und als es zu viel wurde – und es nichts und niemanden gab, an den wir uns hätten halten können, außer aneinander –, da liefen wir davon.
Ich habe Dinge getan, für die ich mich schäme. Dinge, die ich tun musste, um zu überleben. Um für unsere Sicherheit zu sorgen.
Und ich habe schon vor langer Zeit gelernt, niemandem zu vertrauen außer mir selbst und meiner Schwester. Denn die Leute, die einen eigentlich beschützen sollten, lassen einen irgendwann im Stich. Und die Menschen, die dich lieben sollten, entpuppen sich nicht selten als Ungeheuer.
Doch in letzter Zeit hat sich so manches verändert. Meine Welt ist dabei, sich zu öffnen, und manche Menschen überraschen mich. Ich lasse in meiner Wachsamkeit nach; ich lasse zu, dass Menschen zu mir vordringen.
Das ist ein Fehler, und ich weiß es. Denn jetzt ist er in mein Leben getreten.
Und obwohl ich weiß, dass ich mich von ihm fernhalten muss – obwohl ich verdammt genau weiß, dass er mir das Herz brechen wird –, schlittere ich unaufhaltsam weiter diesen Abhang hinab – ihm entgegen. Ich habe eine Heidenangst, dass er nicht stark genug sein wird, um mich aufzufangen.
Und noch mehr Angst habe ich davor, dass er es tut.
KAPITEL 1
Irgendwas gefunden?« Antonio Santos stand mit vor der Brust verschränkten Armen da, blickte Noah über die Schulter und betrachtete die kryptischen Kolonnen aus Zahlen, Buchstaben und Symbolen, die sich im Rhythmus von Noahs Fingern auf der Tastatur über den Bildschirm ergossen.
»Gleich hab ich’s«, antwortete Noah, ohne den Blick auch nur eine Sekunde lang vom Bildschirm abzuwenden.
Tony verlagerte sein Gewicht, dann trat er einen Schritt zurück und lehnte sich an den riesigen Eichentisch, der eine ganze Seite von Noahs chaotischem Büro einnahm. Obwohl er in der Austin-Dependance von Stark Applied Technology das Sagen hatte, glich Noahs Arbeitsplatz eher dem Keller eines nerdigen Jungen, der gern programmierte und Videospiele spielte.
Doch das störte Tony nicht weiter. Noah Carter war ein Genie am Computer und bei allem, was mit Elektronik und Technik zu tun hatte. Tonys besondere Fähigkeiten hingegen waren eher tödlicher Natur. In der Vergangenheit hatten sie ihm eine Menge Geld eingebracht. Allerdings hatte er nie etwas getan, das sich mit seinem Gewissen nicht vereinbaren ließ.
Diese bezahlten Jobs waren eigentlich immer nur Mittel zum Zweck gewesen. Selbst Tonys Tätigkeit als Noahs Kollege bei einer Selbstschutzorganisation mit Namen Deliverance hatte einen bestimmten Nutzen für ihn gehabt. Tony befürwortete die Arbeit dieser Gruppe aus ganzem Herzen. Sie hatten Kidnapping-Opfer gerettet und deren Peinigern eine Abreibung verpasst. Aber er hatte die enormen Ressourcen der Organisation auch für seine eigenen Zwecke genutzt.
Insbesondere bei der Suche nach einem Mann, der nur als The Serpent – die Schlange – bekannt war.
Zwar würde Tony das, was The Serpent ihm gestohlen hatte, nie zurückbekommen: seine Mutter. Seinen Onkel. Sein ganzes gottverdammtes Leben. Doch immerhin konnte er sich rächen.
Und diesem Lohn für seine Mühe war er gerade verdammt nahe.
Einen Großteil der jüngsten Fortschritte hatte er Noah zu verdanken. Sein Freund war derjenige gewesen, der Tony ein Fake-Profil in einem berüchtigten Forum im Darknet eingerichtet hatte. Einem Ort, an dem sich Tony im Laufe der Jahre den Ruf aufgebaut hatte, ein knallharter Söldner zu sein, dessen Dienste käuflich waren. Nicht ganz gelogen … aber auch nicht die ganze Wahrheit.
Er hatte gefakte Details gepostet, um überzeugend zu wirken, und hatte gerade genug tatsächliche Aufträge angenommen, damit seine Tarnung nicht doch aufflog. Aber nur Jobs, die er im Vorfeld genau gecheckt hatte, um sich der Schuld der Zielpersonen zu vergewissern. Und in der Tat waren sie weit davon entfernt gewesen, unschuldig zu sein. Allesamt Mörder, Sexualstraftäter und Ähnliches.
Er hatte sich langsam einen gewissen Ruf erworben, bis er genug Glaubwürdigkeit besaß, um Fragen über The Serpent stellen zu können, ohne allzu viel unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Doch die Sache war nur schleppend in Gang gekommen. Drei Monate lang hatte er keine einzige Spur gefunden, dann tröpfelten zwar ein paar Hinweise ein, aber ein Volltreffer war nicht dabei.
Monate vergingen, und obwohl ihm im Vorfeld durchaus klar gewesen war, dass die Sache langwierig werden konnte, drohte ihn die Hoffnung langsam zu verlassen.
Dann trudelte eine private Nachricht von The-Asst ein. Eine Frau, jedenfalls behauptete sie das. Und sie versprach Tony, dass sie – obwohl sie angeblich keine Ahnung vom derzeitigen Aufenthaltsort von The Serpent hatte – ihm helfen konnte, seine wahre Identität zu enthüllen.
Sie wollte sich mit Tony in dem exklusiven Debauchery Resort treffen, einer Insel der hemmungslosen Sexorgien mitten in der Karibik, um die Informationen an ihn weiterzugeben.
Sie hatte ihm ein bestimmtes Datum genannt – in genau fünf Tagen –, und diese Verabredung gedachte er einzuhalten. Zumindest, wenn es keine Falle war.
So wie im Grunde seine eigene Identität im Darknet ja nichts anderes war. The-Assts Profil enthielt keinerlei Erkennungsmerkmale. Was bedeutete, dass er keine Möglichkeit hatte, zu verifizieren, ob es sich tatsächlich um eine Frau handelte, geschweige denn um jemanden, der möglicherweise Zugang zu Informationen über The Serpent hatte.
Genau deshalb hatte Tony Noah in Austin aufgesucht. Denn wenn irgendjemand sich durch die geheimen Schichten hindurcharbeiten konnte, um die Identität von The-Asst zu entschlüsseln, dann war es sein Freund, der geniale Tech-Nerd.
Er fuhr sich mit den Fingern durch sein kurz geschorenes Haar und trat wieder näher an Noah heran, als Worte und Symbole wie Sperrfeuer über den Bildschirm blitzten. »Was ist …«
Sein Freund hielt die Hand in die Höhe, um Tony zu unterbrechen. »Bin gleich fertig. Nur noch ein … ja! Hab dich, du aalglatter, kleiner Scheißer.«
Tony blickte von den sinnlosen Zeichen auf dem Bildschirm zu Noah, dann wieder auf den Bildschirm. Es hatte seine Gründe, warum Tony mit Technik nichts am Hut hatte. Er selbst konnte auf dem Gerät auch nicht die kleinste, verdammte Information entdecken, die für ihn von Interesse gewesen wäre.
»Ich könnte es dir erklären«, meinte Noah trocken und sah Tony über die Schulter hinweg kurz an. »Aber dann müsste ich dich umbringen.«
»Witzbold.« Tony zog einen der Stühle heran und setzte sich, wobei er näher rollte, um den Unsinn besser in Augenschein nehmen zu können. »Du sollst mir nichts erklären, sondern mir einfach nur sagen, was du in Erfahrung bringen konntest.«
»Ich kann dir einen Namen besorgen. Aber noch nicht. Aber ich arbeite an einer Software, die …«
»… irgendwas mit Bits und Bytes und Quantenphysik aus dem Hut zaubern kann. Ja, Mann, die ganze Welt weiß, dass du ein Genie bist. Aber zu welchem Ergebnis bist du gekommen?«
»Die Wahrscheinlichkeit, dass deine Kontaktperson wirklich eine Frau ist, liegt bei siebenundachtzig Prozent. Das habe ich berechnet durch …«
»He, vergiss es. Hab ich dich schon mal mit Ballistik gelangweilt?«
Noah verdrehte die Augen. »Ballistik ist alles andere als langweilig, und außerdem bin ich ein verdammt guter Schütze.«
»Ich bin besser.« Tony grinste vergnügt. Zum Teufel, als er gestern Abend in Noah und Kikis neuem Haus mit Aussicht auf den Lake Travis gewesen war, hatte er zum ersten Mal seit Monaten überhaupt wieder gelacht.
»Im Augenblick zählen aber nur meine Fähigkeiten. Willst du die Infos jetzt oder nicht?«
»Das weißt du genau.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und streckte die Beine aus, bereit, sich jetzt erst mal einen Vortrag anzuhören.
Erstaunlicherweise ließ sich Noah jedoch nicht über die Wunder der Halbleiter oder ähnliche Computerphänomene aus. Er kam sogleich auf die Ergebnisse seiner Software zu sprechen, von der bislang nur eine Betaversion vorlag.
»Ich kann nicht mit Sicherheit bestätigen, dass deine Kontaktperson eine Frau ist, aber die Wahrscheinlichkeit ist hoch. Und die Rückverfolgung ihrer Nachrichtenspur ergibt, dass sie mutmaßlich in Südkalifornien sitzt.«
»Ich hätte nicht geglaubt, dass man so was auch im Darknet nachverfolgen kann.«
»Die meisten können es nicht. Zumindest nicht mit zweiundsiebzigprozentiger Wahrscheinlichkeit. Wie ich schon sagte, das Programm ist noch in der Entwicklungsphase.«
»Also stehen die Chancen gut, dass sie noch immer in Kalifornien ist.«
»Entweder das, oder sie kennt sich mit diesem nerdigen Technikkram genauso gut aus wie ich und verschleiert bewusst nicht nur ihren derzeitigen Aufenthaltsort, sondern auch die Spuren ihres Aufenthaltsortes, die ich gerade tracke.«
»Ich bin beeindruckt.«
Noah grinste, sprach aber weiter. »Da deine Ermittlungen ergeben haben, dass auch The Serpent sich irgendwo in der Nähe von L.A. aufhält, sind ihre Informationen mutmaßlich tatsächlich echt.«
»Also wäre es einen Versuch wert, mich mit ihr zu treffen.«
»Klingt, als sei sie die beste Spur, die du bislang hast.«
»Letztlich ist sie die einzige Spur.« Vor ein paar Jahren hatte er The Serpent schon einmal im Visier gehabt, aber die ganze Geschichte war total schiefgelaufen, und Tony hatte verdammt noch mal erheblich mehr verloren als nur ein Jahr Tracking und Planung.
»Frauen dürfen im Debauchery allein auflaufen«, fuhr Noah fort, und Tony nickte. Das wusste er. »Männer nicht.«
»Und sie will mich vor Ort treffen«, sagte Tony. »Ja, darüber habe ich auch schon nachgedacht. Sie geht also davon aus, dass ich irgendwo eine Begleitung auftue. Denn in meiner Begleitung will sie offensichtlich nicht reisen. Wahrscheinlich trifft sie schon viel früher dort ein, wahlweise um sich selbst zu schützen oder um mir eine Falle zu stellen.«
»Im Augenblick stehen die Chancen fifty-fifty. Aber in den Debauchery-Privatjets habe ich für den Tag vor Eurem Termin ein paar Single-Buchungen gefunden.«
»Irgendwelche Namen?«
»Nope. Die haben strenge Sicherheitsvorkehrungen. Wohl kaum überraschend, wenn man den Sinn und Zweck des Resorts bedenkt. Ich bin aber sicher, dass ich die umgehen kann, wenn du es für nötig hältst. Soll ich weiter nachbohren?«
Tony schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Mühe. Immerhin werde ich aus einem Namen auf einem Ticket wohl kaum schließen können, ob sie dort ist, um mir zu helfen oder um mich zu töten.«
Sein Freund seufzte. »Stimmt. Diese ganze Mission ist ein einziges Fragezeichen. Könnte durchaus eine Falle sein. Oder auch nicht. Sie könnte Infos über The Serpent haben, die sie dir weitergeben will, obwohl ich weiß Gott keine Ahnung habe, warum. Oder es könnte sich um jemanden aus deiner Branche handeln, und sie kommt nur auf die Insel, um dich zu töten. Zum Teufel, vielleicht hat The Serpent sie ja ebenfalls aufs Kreuz gelegt, und sie will ihn umbringen und hofft, dass du dich mit ihr verbündest.«
»Kann ich wohl nur herausfinden, wenn ich hingehe«, sagte Tony, ohne zu zögern, denn eigentlich war es für ihn bereits beschlossene Sache gewesen, als The-Asst sich gemeldet hatte. Immerhin hatte er sein Leben schon für erheblich profanere Dinge als die Vendetta seines Lebens aufs Spiel gesetzt.
»Dachte mir schon, dass du das sagst. Du musst also als Paar dort aufkreuzen. Triffst du dich momentan mit jemandem? Jemandem, den du auf so eine Mission würdest mitnehmen wollen?«
»Nein auf beide Fragen«, gab Tony zu und ignorierte, wie sein Herz sich bei diesem Bekenntnis ein wenig zusammenzog.
Noah musterte ihn aus seinen tiefgrünen Augen ein paar Augenblicke lang eindringlich. »So schlimm ist das doch gar nicht, Kumpel. Ehrlich, ist eigentlich verdammt cool.«
Nun bekam er regelrecht Herzschmerzen und zuckte nur schweigend mit den Schultern. Es ging ihm ganz gut, zumindest, solange er sich ausschließlich auf die Gegenwart konzentrierte. Schwierig wurde es nur, wenn die dunklen, einsamen Nächte kamen, eine Erinnerung daran, dass er niemandem je wirklich nahekommen konnte, denn dann hätte er der betreffenden Person auch gleich eine Zielscheibe auf den Rücken malen können …
Fuck.
Er griff nach der Tasse mit dem erkalteten Kaffee und trank einen tiefen Schluck, um seine düstere Stimmung zu verbergen.
»Ich freu mich für dich«, sagte er zu Noah, nachdem er mit lautem Klirren die Tasse wieder abgesetzt hatte. »Wirklich.« Er schenkte dem anderen Mann ein aufrichtiges Lächeln, denn er erinnerte sich an das Dinner in ihrem Haus am Abend zuvor. »Du und Kiki, ihr passt total gut zueinander.«
Er meinte es ernst. Tony kannte nicht die ganze Geschichte, aber er wusste, dass Noah Frau und Kind verloren hatte, eine Tragödie, die ihn unsagbar schwer getroffen hatte. Kiki hatte seine Wunden geheilt.
»Ja«, antwortete Noah und lächelte so breit, dass Tony all seine Zähne sehen konnte. »Das tun wir wirklich.« Er zögerte, und in Erwartung eines Vortrags über die Freuden der Sesshaftigkeit verkrampfte Tony sich ein wenig.
Aber Noah räusperte sich nur und fragte beiläufig: »Also, wen willst du mitnehmen? Oder willst du dich doch irgendwie allein einschleichen?«
»Ich habe ein bisschen über diese Insel recherchiert. Der einzig bewohnbare Bereich ist das Resort. Dahinter befindet sich ein kleiner, dichter Dschungel. Eine Straße verbindet die Hotelanlage mit dem Flughafen, und das war’s dann auch. Wenn ich also auf diese Insel fliege, dann ins Resort.«
»Du brauchst also definitiv eine Frau. Hast Du schon eine im Sinn?«
»Nein. Jede, die ich mitnehme, setze ich einem Risiko aus.« Und selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, wäre ihm keine eingefallen. Hin und wieder gabelte er zwar durchaus eine Frau auf, aber keine davon interessierte ihn wirklich. Und was Frauen anging, die das Zeug hatten, eine Partnerin zu sein und nicht nur Dekoration? Nun ja, seine Kontaktliste war kurz. Außerdem arbeitete er lieber allein, und seit der Auflösung von Deliverance operierte er ohnehin ausschließlich solo.
»Du brauchst eine Frau, die sich behaupten kann«, meinte Noah.
»Stimmt. Aber wen?«
Sein Freund schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich bin jetzt schon viel zu lange Schreibtischtäter, und meine Kontakte sind eingerostet. Ich wünschte, ich könnte dir einen Tipp geben.«
»Wünschte ich auch. Ich brauche jemanden mit Verbindungen. Jemanden mit einem großen Pool an … natürlich.« Er lächelte. »Stark.«
»Stark?«, wiederholte Noah. »Du meinst meinen Boss? Damien Stark von Stark Applied Technology?«
»Und der Stark Security Agency«, erinnerte Tony ihn. Nachdem Damien Starks Tochter gekidnappt worden war, hatte er eine Elite Security Group gegründet, die es auf Abschaum wie den Kidnapper – und noch schlimmere Verbrecher abgesehen hatte. Das Ziel der SSA lag, wie Damien ihm gesagt hatte, darin, möglichst vielen Kriminellen das Handwerk zu legen. Schlachten zu schlagen, die die Strafverfolgungsbehörden nicht schlagen konnten – oder wollten –, und auf diese Weise jenen zu helfen, die sonst womöglich durchs Raster gefallen wären.
Die SSA war vergleichsweise neu, hatte sich aber bereits einen Namen gemacht. Stark hatte Tony gebeten, für ihn zu arbeiten. Tony hatte zwar abgelehnt, empfand aber dennoch verdammt viel Respekt vor seinen Einsätzen oder den Agenten der SSA.
»Gute Idee«, antwortete Noah mit langsamem Nicken. »Soll ich ihn für dich anrufen und ihn fragen, ob eine seiner weiblichen Mitarbeiterinnen Zeit für einen Einsatz hat? Oder, zum Teufel, Liam und Quincy sind beide ja ebenfalls bei der SSA«, fügte er hinzu, womit er zwei andere, ehemalige Deliverance-Mitglieder meinte. »Vielleicht könntest du einen von ihnen bitten, sich deinetwegen an Stark zu wenden.«
»Keine Sorge. Ich rufe ihn persönlich an.«
Noah riss die Augen auf, und Tony grinste unwillkürlich. Damien war zwar ein echt netter Kerl, dennoch war der Milliardär auch unbestreitbar wahnsinnig einschüchternd. Und Noah konnte nicht wissen, dass Tony Stark schon bei verschiedensten Gelegenheiten getroffen hatte – und dass Stark aktiv versucht hatte, ihn anzuwerben.
»Er schuldet mir noch einen Gefallen«, erklärte Tony.
Noah lehnte sich zurück, offensichtlich fasziniert. »Verdammt guter Trumpf, den du da in der Hand hast.«
»Ja, na ja, sagen wir einfach, er hält viel von mir. Vor einer Weile habe ich seiner Frau in Paris mal aus der Patsche geholfen.«
Nikki war von einem Angreifer verfolgt worden, und zum Glück war Tony zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gewesen.
»Stark meinte, ich solle mich melden, wann immer ich etwas brauchte. Am besten fordere ich jetzt meinen Gefallen ein und sage ihm, dass ich eine Frau brauche.«
KAPITEL 2
Ich hänge kopfüber aus dem Fenster eines der Burbank Hotels und denke unwillkürlich, dass die Welt vom vierundzwanzigsten Stockwerk aus betrachtet auch nicht anders ist als sonst.
Andererseits gehöre ich auch nicht zu den Frauen, die auf Rosen gebettet die Sonnenseite des Lebens genießen. Im Gegenteil, in meinen Augen war die Welt ein beschissener Ort, genauso oft verkehrt herum und falsch wie sicher und handhabbar. Nein, das stimmt nicht. Viel häufiger ist sie beschissen. Die warme und behagliche Welt aus den Werbespots im Fernsehen? An die sich die Großmütter noch zu erinnern behaupten? Die gibt es in Wirklichkeit gar nicht. Und wahrscheinlich gab es sie nie.
Klingt vielleicht hart. Aber so ist die Wirklichkeit nun mal.
Wie hart sie tatsächlich ist, lernte ich schon, als ich noch in den Windeln lag. Meine Kindheit war alles andere als rosig, aber immerhin verschaffte mir meine pessimistische Weltsicht einen grundsätzlichen Vorteil. Und die interessanten Jobs, die ich im Laufe der Jahre hatte, statteten mich mit ein paar einzigartigen Fähigkeiten aus. Fähigkeiten, die einer Frau zugutekommen, wenn sie Unmengen kompromittierende Infos über einen beschissenen Geldwäscher sammeln will, der einst auch kleine Mädchen auf dem Schwarzmarkt verkaufte.
Doch unglücklicherweise ist Billy Cane eine ziemlich harte Nuss, der man nicht so leicht beikommt. Was auch die Erklärung dafür ist, warum ich jetzt kopfüber vor seinem Hotelfenster hänge – nur festgehalten von einem Kabel und einem verstärkten Gurt – und versuche, meine Kamera ruhig zu halten, um seinen Computerbildschirm zu filmen, an dem er ein paar sehr böse Dinge tut.
Wenn auch nichts Sexuelles.
Ich habe keine spärlich bekleideten Prostituierten vor der Linse. Keine Enthüllungen von Mr. Billy Canes persönlichen Vorlieben. Das ist auch gar nicht mein Ziel. Vielmehr will ich ihn dabei erwischen, wie er Geld verschiebt. Viel Geld für viele Klienten aus der Unterwelt.
Ich will die Tastenanschläge festhalten. Ich will blankes Filmmaterial von den Kontonummern. Ich will all die pikanten Details. Denn je mehr Informationen ich in der Hand habe, umso weniger wird es andere kümmern, wenn ich den Typen abknalle.
Denn das ist natürlich der wahre Grund, warum ich hier bin.
Statisches Knistern in meinem Ohr erregt meine Aufmerksamkeit, dann erfüllen Quincys weiche, britische Vokale meinen Kopf. »Status, Tantchen?« Eine alberne Anrede, aber das Protokoll sieht vor, dass keine Namen über Funk genannt werden. Der Codename leitet sich ab von Tante Em aus dem Zauberer von Oz, einem meiner Lieblingsfilme. Da ich Emma heiße, liegt es nahe, bei Aufträgen diesen Decknamen zu wählen.
»Klar und deutlich. Genieße die Aussicht.«
»So viel Spaß es auch macht, darauf zu warten, dich wieder hochzukurbeln, diese Mission ist ein wenig unterbezahlt.«
Quincy Radcliffe ist nicht nur einer der ersten Mitarbeiter der Stark Security Agency, er ist auch ein ehemaliger Deliverance- und MI6-Agent. Mit seinem Einwand hat er also absolut recht. »Kommst du dir etwa wie ein kleines Licht vor?«
»Du hast ausdrücklich mich an deiner Seite haben wollen«, erinnert er mich. »Und du hast mich gebeten, unsere Profiausrüstung mitzubringen, obwohl du gar nicht in unserer Firma arbeitest.«
»Na ja, praktisch … eigentlich doch.« Die Firma ist die Stark Security Agency, Quincys derzeitiger Arbeitgeber.
»Jetzt, in diesem Moment? Was du nicht sagst. Als du mich um Hilfe gebeten hast, hörte es sich zwar tatsächlich so an, als würdest du jeden Moment bei uns anheuern, doch ich habe den Verdacht, dass du bisher noch gar nichts unterschrieben hast, herrje.«
Ich muss beinahe lächeln. »Na ja, du hast damals halt so britisch geklungen, da musste ich dir nun mal korrektes Verhalten vorgaukeln.«
»Ich bin ja auch ein verdammter Brite. Und ich bin der Mann, der darüber entscheidet, wann und ob er dich wieder hochzieht. Ich will eine klare Antwort, zur Hölle. Hast du jetzt bei der Firma angefangen, oder nicht?«
Wenn ich nicht gerade kopfüber hinge, würde ich wohl mit den Schultern zucken. »Genau genommen nicht.«
Seit ich damals eine entführte Prinzessin rettete – wobei Quince mir half, den Idioten hochgehen zu lassen, der hinter ihr her war –, fragt mich Damien Stark immer wieder, ob ich nicht als Agentin bei seiner Elitetruppe anfangen will.
Ich bewundere die SSA auf ganzer Linie, aber meine Freiheit ist mir wichtiger. Ich liebe es, nach meinen eigenen Bedingungen zu arbeiten. Viel zu viele Jahre war ich als Undercoveragentin für einen Geheimdienst der Regierung tätig. Unter diesen Umständen war das ein Wahnsinnsdeal für mich. Jedenfalls erheblich besser als die Todeszelle, das steht verdammt noch mal fest.
Nun, da ich nicht länger an die Regierung gekettet bin, ist mir meine Freiheit ungeheuer wichtig. Quince weiß es. Meine Schwester weiß es. Ich weiß es.
Aber ich habe immer noch nicht herausgefunden, ob ich auch bei Stark Security meinen Freiraum haben werde.
»Erklär mir das näher«, fordert er.
»Na ja, du bist hier, du gehörst zur Firma, und du bist der Freund meiner Schwester. Die Welt ist also mehr als klein. Dürfte dir klar sein.«
Ich habe sein genervtes Seufzen im Ohr und muss lächeln. Auch wenn ich gerade kopfüber hänge, amüsiere ich mich königlich.
»Was wiederum die Frage aufwirft, warum ich mich überhaupt auf deine absurde Bitte eingelassen habe.«
Durch den Schlitz zwischen den Vorhängen des Hotelzimmers sehe ich, wie Cane auf seinem Stuhl herumrutscht, sodass noch mehr von dem Computerbildschirm sichtbar wird. Ich grinse, dann zoome ich das Spreadsheet heran, an dem er gerade arbeitet. Es ist gerammelt voll mit Namen und Kontonummern. »Das ist es, du Scheißkerl. Und danke, dass du so gern auf deinem Hintern sitzt, um deinen Kram zu organisieren.«
»Tantchen …«
»Gut, gut. Wahrscheinlich hast du dich drauf eingelassen, weil du meine Schwester vögelst. Das war schließlich auch der Hauptgrund, warum ich dich gefragt habe.«
»Glaub mir. Sosehr mir diese spezielle Aufgabe gefällt, zum Mitmachen hätte das als Grund für mich nicht ausgereicht.«
»Dann hast du dich wohl darauf eingelassen, weil du meine Schwester liebst.«
»Ah ja. Deshalb schon.«
»Sie hat Glück, dass sie dich hat«, sage ich zu ihm. »Und das sage ich nicht nur, weil du bloß einen Schalter umlegen musst, damit ich auf den Kopf falle.«
»Ich habe Glück, weil ich sie habe.«
»Verdammt richtig. Das stimmt.«
»Und im Augenblick hast du wiederum Glück, mich zu haben.«
Ich lache leise. »Dem kann ich wohl auch nicht widersprechen.«
»Willst du mir vielleicht ein paar Infos darüber geben, was genau du hier treibst? Was für Informationen du sammelst? Das Ziel deiner Mission?«
»Nope.«
»Weil ich es dann deiner Schwester erzählen könnte?«
»Yep.«
»Du weißt doch, sie würde nie …«
»Pssst …«
Der Mistkerl stößt sich vom Schreibtisch ab, und der Grund dafür ist offensichtlich – auf dem gottverdammten Bildschirm sieht man mein Spiegelbild. Verdammt, verdammt, verdammt.
Ich wollte doch noch mehr Bildmaterial. Viel mehr.
Aber ich muss mich wohl mit dem zufriedengeben, was ich habe, denn jetzt geht’s ums Ganze. Und aufgeben kommt nicht infrage.
Ich mache eine schnelle Drehung in meinem Geschirr und ziehe mich an der rechten Seite in die Höhe. Dann benutze ich einen Clip oben am Harnisch, um mich in dieser Position einzuhaken. Die Bedingungen sind keineswegs ideal, aber wann sind sie das überhaupt schon mal?
Ich greife nach der Smith&Wesson .45, die ich im Holster an meiner Hüfte trage, schicke ein Stoßgebet zum Himmel, dass der Wind nicht dreht, und ziele schnell. Es ist nicht das erste Mal, dass ich so etwas mache, wenn ich dabei auch sonst nicht in der Luft hänge. Trotzdem hatte ich sonst immer einen Partner an meiner Seite. Einer zertrümmert mit seinem Schuss das Glas, der andere feuert beinahe gleichzeitig ins Zimmer, sodass man hinterher nicht erklären muss, warum die tödliche Kugel abgelenkt wurde, als sie das Glas zerschmettert hat.
Aber jetzt habe ich keinen Partner an meiner Seite, und mir fehlt auch die Zeit für ausgiebiges Kalkül. Ich ziele, um ihn gleich beim ersten Mal tödlich zu treffen, stelle mich aber darauf ein, dass er noch die Flucht ergreifen kann und ich ein zweites Mal schießen muss. Falls es klappt, umso besser. Falls nicht, kann ich nur noch hoffen, dass Quince meinen Hintern schnell genug wieder aufs Dach zieht, bevor Cane seinerseits auf mich feuern kann.
Die Zeit scheint sich gefährlich in die Länge zu ziehen, aber das ist eine Illusion. Die Welt bewegt sich in Zeitlupe. Ich habe so rasend schnell nachgedacht, dass er jetzt noch nicht mal auf den Beinen ist. Aber ich habe die Waffe bereit, und als er mich ansieht, feuere ich. Das Glas zersplittert, und er steht nah genug, um von den Scherben übersäht zu werden.
Fliegende Glassplitter können tödlich sein, aber darauf werde ich mich nicht verlassen. Die Scherben fliegen noch immer, als ich ziele, erneut den Abzug drücke und die Kugel durch das frische Loch im Fensterglas surren lasse. Und zwar geradewegs in den Kopf dieses Mistkerls.
Ich stoße einen ironischen Fluch aus. Ironisch, weil ich ursprünglich auf seine Brust gezielt hatte, dann aber den viel schwierigeren Schuss auf die Kette bekam. Dennoch hasse ich es, wenn suboptimale Grundbedingungen mir mein Ziel streitig zu machen versuchen.
Ich hole tief Luft, um mich zu beruhigen, und fordere Quince auf, mich verdammt noch mal wieder hochzuziehen.
Sofort beginne ich, mich nach oben zu bewegen, und zwar in ziemlich schnellem Tempo. Aber in diesem Augenblick geht mir auf, dass er kein Wort gesagt hat. Ja. Er ist sauer.
»Hör zu, Bond«, sage ich seinen Decknamen benutzend, denn, hey, immerhin ist er Brite. »Das war …«
»Verdammter Mist«, knurrt Quince. Zuerst vermute ich, dass er noch saurer ist, als ich dachte, aber den Bruchteil einer Sekunde später befinde ich mich im freien Fall und bemerke, dass irgendwas mit unserem Equipment faul ist.
Der Clip, der mich aufrecht hält, ist nicht stabil genug. Zuckend schwebe ich ein paar Meter über Canes Zimmer in der Luft. Dann gibt der Clip nach, und ich werde so schnell nach unten geschleudert, dass die Luft mit einem Zischlaut aus meinen Lungen entweicht. Plötzlich hänge ich wieder kopfüber, sehe durch die Fensterscheibe in Canes Zimmer.
Er ist immer noch dort, immer noch tot, immer noch allein. Keine Sirenen. Kein Zeichen, dass jemand jetzt, um drei Uhr morgens, den Glasscherbenregen bemerkt hat, der sich unter mir auf den Parkplatz ergossen hat. Und nirgends Hotelsecurity, die das Zimmer stürmt.
Aber ein Problem habe ich trotzdem. Denn als ich kippte, verlagerte sich auch die Kamera. Nun baumelt sie von meinem Arm herab, nur noch festgehalten von dem Gurt, der meinen Körper umschließt.
Außerdem ist diese Kopfüberposition auch nicht unbedingt die sicherste. »Was zum Teufel tust du da oben?«, frage ich.
»Der Rückholmechanismus klemmt. Gib mir eine … da.«
Das letzte Wort ist unnötig, denn nun schieße ich förmlich nach oben. Der Motor der Kurbel ist offenbar wieder angesprungen.
Die Kamera beginnt zu fallen, aber wegen des Gurts um meinen Körper kommt sie nicht weit.
Schön wär’s! Zu spät merke ich, dass der Metallclip, der den Gurt mit einer Seite der Kamera verbindet, sich gelockert hat – und nun zieht die Schwerkraft das verdammte Ding schneller nach unten, als ich danach greifen kann.
»Gottverdammt«, knurre ich, als meine Finger so gerade noch das Ende des Gurts berühren, ihn aber nicht zu fassen bekommen. Und dann sehe ich hilflos zu, wie die Kamera durch die Nacht stürzt, um irgendwo in der Dunkelheit des Parkplatzes unter mir zu zerschellen.
Immerhin besteht noch die – wenn auch ganz geringe – Chance, dass die SD-Karte es überlebt hat. Aber ich erwarte nicht zu viel. Stattdessen knurre ich ins Mikro. »Sag mir, dass das Wi-Fi funktioniert hat. Sag mir, dass der Image-Transfer geklappt hat.«
»Ohne Störungen«, versichert Quince mir. »Wenn du erst oben bist, bestätige ich den Transfer. Kannst du sehen, wo die Kamera gelandet ist?«
»Mehr oder weniger. Wir holen sie uns, wenn wir von hier verschwinden.« Einen Augenblick später stoßen meine Füße an die Absperrung, die die Dachkante umgibt. Ich stemme den Oberkörper hoch und schaue mich mit erhobenem Kopf um wie eine Art Trapezkünstlerin.
Dann bekomme ich die Dachkante zu fassen, ziehe mich hinauf und sehe ihn neben der wieder arretierten Kurbel stehen, den Blick unverwandt aufs Tablet vor sich gerichtet.
»Hab sie. Gehen wir.«
Ich rechne es ihm hoch an, dass er nichts mehr sagt, während wir innerhalb weniger Sekunden unser Equipment zusammenpacken und dann mit dem Lastenaufzug ins Erdgeschoss fahren. Wir verlassen das Gebäude durch den Lieferanteneingang, wobei wir unsere durch schwarze Allerweltsbasecaps beschirmten Köpfe gesenkt halten.
Erst nachdem wir die kaputte Kamera wieder an uns genommen und uns davon überzeugt haben, dass die Bilder sicher und wohlbehalten auf das Tablet transferiert wurden, das wiederum in einigen Meilen Entfernung in dem einfachen schwarzen Toyota – ohne Nummernschilder – liegt, wendet Quincy sich mir zu und sagt: »Was zum Teufel sollte das alles?«
Er sitzt am Steuer und fährt nun auf einen verlassenen Parkplatz am Ufer. Ich verziehe keine Miene. Schließlich habe ich eine solche Reaktion erwartet.
»Ist was Persönliches«, antworte ich ihm. »Und genehmigt. Keine Sorge. Negative Auswirkungen wird es keine geben.«
»Genehmigt«, wiederholt er. »Aber nicht von meiner Firma.« Er schaltet den Motor aus und sieht mich an – die Miene unbeweglich wie Glas. Dann wirft er einen Blick auf den Rücksitz, wo unsere Ausrüstung, einschließlich eines der Stark Security Tablets, sicher in einer Reisetasche verstaut ist. »Ich nehme an, die Fotos sind wichtig, und du hast nicht nur deine artistischen Fähigkeiten erprobt, bevor du den Typen umgelegt hast.«
Ich senke den Kopf, mache mir nicht mal die Mühe zu antworten.
»Also Folgendes. Du sagst mir jetzt, worum es hier geht, und ich hole dir die Fotos. Lässt du mich aber im Dunkeln, musst du das verdammte Tablet stehlen und das Passwort hacken. Und nichts für ungut: Aber ich glaube nicht, dass du so gut mit Technik umgehen kannst. Wahrscheinlich kann das niemand. Die Sicherheitsprotokolle der SSA sind nicht leicht zu knacken. Vielleicht findest du ja sogar irgendwann jemanden, der es schafft, aber ich würde nicht drauf wetten.«
»Quince.« Im Laufe der Jahre habe ich mir eine feste und einschüchternde Stimme angeeignet. Nur bei dem Freund meiner Schwester wirkt sie leider nicht.
»Nein.« Seine Stimme klingt barsch. Sachlich. Dies ist der Mann, der sogar Folter überstanden hat. Der Mann, der meine Schwester gerettet hat. Und der Mann, der sie jetzt beschützt, genau wie ich früher.
Ich spüre, wie meine Entschlossenheit dahinschwindet.
»Das hier ist keine SSA-Mission«, fährt er fort. »Und auch wenn du so getan hast, als du mich gebeten hast, dich zu begleiten, stehst du keineswegs kurz davor, bei der SSA anzufangen, oder?«
Ich gebe keine Antwort.
»Na gut. Sag mir, was hier verdammt noch mal los ist, oder der ganze Aufstand hier war für die Katz.«
»Eliza sagte schon, du seiest ein totaler Prinzipienreiter.«
»Sie kennt mich gut. Also rede.«
»Ist persönlich. Und betrifft mich und Eliza.«
»Das macht es auch für mich persönlich.«
»Oh? Hast du ihr einen Antrag gemacht?«
Seine Lippen zucken, und trotz des Dämmerlichts sehe ich, wie eine zarte Röte seinen Hals hinaufwandert.
»O mein Gott. Du hast ihr einen Antrag gemacht. Ich kann nicht glauben, dass sie mir noch nichts gesagt hat.«
»Noch nicht. Aber bald. Ich habe den Ring schon in der Tasche.«
»In deiner Tasche«, wiederhole ich. »Hier? Jetzt?«
Er zieht eine Schulter in die Höhe. »Bis er auf ihrem Finger ist, lasse ich ihn nicht aus den Augen. Und selbst danach werde ich ihn nicht allzu weit fortlassen.«
Ich spüre, wie mein Herz ein wenig schmilzt, ein einigermaßen ungewohntes Gefühl. Ja, wenn meine Schwester mich gelegentlich dazu zwingt, mir irgendwelche rührseligen Filme reinzuziehen, breche ich durchaus schon mal in Tränen aus, aber insgesamt sind Beziehungen und das ganze Chaos drumherum echt nicht mein Ding.
Zugegeben, ich hatte im Laufe der Jahre ein paar Freunde mit gewissen Vorzügen, aber da ging es nur um Sex und Lachen und eine gute Zeit. Nichts Ernstes. Denn was sollte ich auch damit? Ich habe Eliza. Ich habe meinen Freundeskreis. Und das ist viel. Die Welt ist ohnehin grausam genug, und je näher du jemandem kommst, umso verletzlicher bist du.
Trotzdem freue ich mich für Eliza. Sie schwebt förmlich wie auf Wolken, seit Quince und sie nach einer ziemlich heftigen Trennung vor vielen Jahren wieder zusammengekommen sind.
Seither hat er sich hundertfach rehabilitiert. Und da er eine wichtige Rolle bei der Rettung meines Lebens und dem der besagten Prinzessin gespielt hat, muss ich zugeben, dass ich den Kerl beinahe wieder mag.
Am wichtigsten aber ist, dass ich weiß, dass er sie liebt.
»Die Mission«, hakt er nach.
Ich zögere, dann nicke ich. Er hat mir geholfen, ohne Fragen zu stellen. Und ja, ich hatte vielleicht angedeutet, dass Stark einverstanden damit sei, aber ich weiß verdammt genau, dass er mir das nicht abgenommen hat. Zumal das Briefing nur unter vier Augen in meinem Jeep vor dem Taco Bell stattfand.
Und ja, ich hatte irgendwie vergessen, ihn von meinem Vorhaben, Cane zu töten, zu unterrichten.
Es war also nur fair, ihn einzuweihen. Außerdem sollte ich mich wahrscheinlich so langsam an die Tatsache gewöhnen, dass Quincy Radcliffe ebenfalls zur Familie gehört.
Familie. Was für ein schräges, verdammtes Wort. Als ich klein war, glaubte ich, es meinte Blut und Geburt und diesen ganzen Abstammungsscheiß. DNA und Gene.
MI
»Du musst nicht immer allein arbeiten«, sagt er.
»Das tue ich auch gar nicht. Da ist noch Lorenzo. Und es gab auch noch andere.« Lorenzo ist ehemaliger Polizist, und als private Ermittlerin arbeitete ich häufiger mit ihm zusammen. Er half mir damals, mich und Eliza von der Straße zu holen. Aber auch wenn wir an manchen Fällen zusammenarbeiteten, folgten wir in Wahrheit immer getrennten Spuren. Die meiste Zeit über ist es tatsächlich so, wie Quince sagt: Ich arbeite allein. Und das gefällt mir.
»Du weißt, dass das hier böse enden könnte. Ich hätte dir geholfen. Aber du hättest mich einweihen müssen. Wenn die Polizei sich einschaltet … wenn sie das alles zu uns zurückverfolgt …«
»So weit kommt es nicht.«
Er runzelt die Stirn.
»Bis morgen früh wird der Tatort sauber sein. Und selbst wenn der Leichnam vorher entdeckt wird, wird die ganze Geschichte unter den Teppich gekehrt. Wir haben nichts zu befürchten.«
Einen Augenblick lang schweigt er. Er weiß, für wen ich früher gearbeitet habe, was für Connections ich habe. »Du wolltest Cane umlegen. Und die Regierung wollte wissen, in wessen Auftrag er Geld wusch.«
»Du bist ein kluges Kerlchen, Mr. Bond.«
Er wartet darauf, dass ich noch mehr sage, aber ich schweige. Er weiß Bescheid. Ich glaube, er versteht sogar, was mich antreibt.
Cane zu töten, konnte zwar die Vergangenheit nicht verändern, sorgte aber für etwas wie Gerechtigkeit. Zumindest ansatzweise.
Eliza hat das verdient. Und ich glaube, ich auch.