Das Buch
An einem kalten Januarmorgen macht eine Spaziergängerin in Kopenhagen einen grausamen Fund: Vor der Zentrale des Roten Kreuzes hängt die blutige Leiche eines Mannes. Für Ermittler Mikael Dirk und seinen neuen Kollegen Frederik Dahlin kein leichter Fall, denn es handelt sich um Georg Schmidt, den einflussreichen Generalsekretär des Roten Kreuzes. Die Historikerin und Cold-Case-Expertin Maria Just hat derweil endlich den ungelösten Mordfall gefunden, der die Besucher in ihre geplante Ausstellung im Polizeimuseum locken soll. 1968 wurden in einem Vorort von Kopenhagen der damalige Polizeipräsident und seine Frau auf brutale Weise getötet. Der Mörder wurde nie gefunden. Als Dirk und Dahlin schließlich ein Detail aus dem Fall des ermordeten Georg Schmidt veröffentlichen, wird Maria klar, dass sie die Handschrift dieses Täters nur zu gut kennt. Ihr Cold Case scheint plötzlich aktueller denn je.
Die Autorinnen
Line Holm wurde 1975 geboren und ist eine mehrfach ausgezeichnete Investigativjournalistin. Sie arbeitet für die Berlingske, eine der größten dänischen Zeitungen. Stine Bolther wurde 1976 geboren. Sie ist Fernsehmoderatorin, seit achtzehn Jahren als Kriminalreporterin tätig und hat bereits mehrere True-Crime-Bestseller in Dänemark veröffentlicht. Hautnah bei den echten Ermittlungen dabei zu sein hat die beiden dazu inspiriert, ihren ersten gemeinsamen Kriminalroman zu schreiben. Mit »Gefrorenes Herz« eroberte das Duo die dänische Bestsellerliste im Sturm, und der zweite Fall wartet bereits auf Maria Just.
HOLM
BOLTHER
GEFRORENES
HERZ
Kriminalroman
Aus dem Dänischen von
Franziska Hüther und Günther Frauenlob
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe For Barnets Bedste erschien erstmals 2020
bei Politikens Forlag, Kopenhagen.
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Deutsche Erstausgabe 01/2022
Copyright © 2020
Line Holm and Stine Bolther and JP/Politikens Hus A/S
in agreement with Politiken Literary Agency
Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Maike Dörries
Umschlaggestaltung: Favoritbuero
unter Verwendung von © GW3ND0LIN/shutterstock,
© Pictureguy/shutterstock, © Evelina Kremsdorf/Trevillion Images,
© ConstantinosZ/shutterstock
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-28257-8
V003
www.heyne.de
Die Ältesten der Stadt behaupteten, im Fjord lebe ein Hunderte von Jahren altes Wesen. Ein Ungeheuer, das bereits hier geherrscht habe, lange bevor die Vorväter in diese gottverlassene Bucht vorstießen, und das noch immer da draußen unter der grauweißen Oberfläche herumschwamm.
Die Alten sagten, das Wesen habe alles Leben geschenkt und warte in der Tiefe, um die Toten zu empfangen. Es werde den Menschen samt seiner Sünden und Untaten verschlingen und so für eine Weile die natürliche Ordnung wiederherstellen. Aus dem Meer bist du gekommen. Ins Meer kehrst du zurück.
Abergläubischen Unsinn gab es genug in diesem Land. Die Alten benutzten diese Erzählungen, um den Kindern Angst einzujagen, damit sie gehorchten. Um Widrigkeiten, Katastrophen und Tod akzeptieren zu können oder einfach nur, um für sich selbst eine Erklärung zu finden für all das Unerklärliche in dieser atemberaubend schönen, jedoch lebensgefährlichen Landschaft.
Inzwischen hatten Gott sei Dank ein gewisser Glaube und eine gewisse Bildung Einzug gehalten, sodass die alten Mythen wohl hauptsächlich noch in den Touristenbroschüren zu finden waren. Im Tourismus steckte Geld, und Geld – Dollar, D-Mark, Kronen, you name it – war nötig, wenn es hier eine Zukunft geben sollte. Sehr viel mehr Geld. Sehr viel mehr Vernunft, verdammt.
Doch ein besorgniserregend großer Teil der Hohlköpfe da draußen lebte noch immer nach den alten Mythen und Gutenachtgeschichten. Diese Leute glaubten an Geister, Butzemänner, beseeltes Dies und beseeltes Das. Und gaben das Ganze an ihre Kinder weiter. Wie viele Generationen mussten durchlaufen werden, ehe man dieser Idiotie Herr wurde?
Sie blickte durch das Panoramafenster auf den Fjord und zog gedankenversunken an ihrer Zigarette. Eigens importierte Gauloises mit Filter, ein Mitbringsel von einem der Gäste des heutigen Abends. Der Rauch überdeckte für einen gesegneten Moment den Mief, den ihre Alkohol und Schweiß ausdünstende Abendgesellschaft hinterlassen hatte. Diese Dänen, was war nur los mit ihnen? Man konnte meinen, den in gemäßigten Breiten Geborenen fehle jede Fähigkeit, ihre Körpertemperatur zu regulieren, ganz gleich, ob sie sich in der Polarnacht unter freiem Himmel oder im Haus, umgeben von bollernden Heizkörpern, aufhielten.
Die Leute bezeichneten sie als stark. Eine Frau, die keinen Mann brauchte. Die das Drängen ihres Vaters auf Schwiegersohn und Enkelkinder freundlich, aber bestimmt beiseitegewischt hatte. Sie war eine Frau, die sich zum Entsetzen der älteren Frauen gegen die Mutterschaft entschieden hatte.
Eine alte Freundin hatte ihr neulich – im Irrglauben, sie sei unfruchtbar – angeboten, ein Kind für sie zu empfangen und auszutragen. Ein Gabenkind. Der Vorschlag war sicher lieb gemeint, aber ganz ehrlich: Sie hatte noch Tage später gelacht.
»Tut mir leid, aber kennen wir uns überhaupt?«, hatte sie die Freundin scherzhaft gefragt, und die Freundin hatte ihr Angebot und ihre dienstwillige Gebärmutter weggepackt. Beschämt, gekränkt und vielleicht auch verärgert. Seitdem hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen.
Wie auch immer: Der Gedanke ans Muttersein lockte sie nicht, und ein Mann hätte es schwer, sich an ihrer Seite zu behaupten. Nicht nur aufgrund ihres Abschlusses an einer der renommiertesten Universitäten Europas und des gesellschaftlichen Status ihrer Familie. Nein, es hatte etwas mit der Art zu tun, wie sie nach außen hin auftrat. Mit einem Selbstbewusstsein und einer aufrechten Haltung, die sie größer erscheinen ließen als ihre bescheidenen eins zweiundsechzig. Überheblich, würden böse Zungen in der Stadt sagen.
Sollten sie ruhig. Auf deren Anerkennung konnte sie gut verzichten. Ihr Gesellschaftsleben war in erster Linie Leuten von außerhalb gewidmet. Gebildeten Menschen. Die dem Abschied der Gäste folgende Leere mochte sie nicht. Den eintönigen, prunklosen Alltag zwischen zwei Festen. Sie befand sich am liebsten im Zentrum der Aufmerksamkeit. Am Kopfende des Tisches, in der Mitte der Tanzfläche, alle Augen auf sich gerichtet.
Sie gab sich einen Ruck. Überlegte, eine Schallplatte auf dem Grammofon aufzulegen, aber nein, es war spät. Sie sollte besser schlafen, statt sentimental am Fenster herumzustehen.
Sie stutzte, als die Zigarette erneut in ihrem Sichtfeld erschien. Die graue Asche war beinahe bis zum Filter gewandert, während sie sich ihren Gedanken hingegeben hatte. Sie betrachtete den dünnen weißen Rauch, der nicht nach oben stieg, sondern unruhig zur Seite tanzte.
Sie sah sich im Wohnzimmer um. Irgendwo musste ein Fenster gekippt sein. Mit einem Seufzen begab sie sich auf einen leicht schwankenden Rundgang durchs Haus, durchs Esszimmer, die offene Küche und weiter hinaus in den Flur, wo sie sich einen Moment im Spiegel betrachtete. Die Pumps mit den acht Zentimeter hohen Absätzen hatte sie letzten Herbst viel zu teuer in Kopenhagen gekauft. Pinkes Kleid mit modischem Schnitt: figurbetont um Schultern und Brüste, weit ausgestellter Rock, ultrakurz. Die Frisur ein strenger Pagenschnitt mit noch strengerem Pony. Schwarz geschminkte Augen, rote Lippen. Zumindest waren sie rot gewesen, als der Abend begann.
Sie schlüpfte aus den Schuhen. Die überhitzten, schmerzenden Füße in der dünnen Nylonstrumpfhose registrierten augenblicklich den kalten Luftzug, der offenbar durch das gekippte Fenster hereindrang. Die Dielen knarzten kaum hörbar unter ihren Schritten. Vielleicht waren es die Putzfrauen. Planmäßig sollten sie erst morgen Vormittag kommen, aber sie wusste, dass die beiden katzbuckelnden, ununterbrochen schnatternden Weiber die Angewohnheit hatten, bereits in aller Herrgottsfrühe aufzutauchen, wenn sie außer Landes war. Vielleicht hatten sie sich im Datum geirrt.
Dann stand er auf einmal hinter ihr im Flur. Sie spürte seinen Atem und drehte sich um. Er hielt mit einer Art unterdrücktem Knurren die Luft an, als er sich aus den Schatten materialisierte. Wie ein Raubtier.
Ihr Körper, der instinktiv mit Furcht auf die unerwartete Gestalt reagiert hatte, entspannte sich. Er hatte sie schon den ganzen Abend lang angesehen. Sie schweigend über den Tisch hinweg mit seinen ungewöhnlich eisblauen Augen und diesem unergründlichen Blick beobachtet, mit dem Männer sie häufig anstarrten, wenn sie zur Höchstform auflief. Er hatte mit ernster Miene an ihren Lippen gehangen und ihren Gesten, was sie wie stets in solchen Situationen dazu verleitet hatte, ihre Stimme zu heben und noch pointierter zu argumentieren. Ihr Vater hatte immer gesagt, sie sei die geborene Politikerin, sollte sie eines Tages in seine Fußstapfen treten; sie besaß nicht nur den Mut, ihre Meinung offen kundzutun, sie verstand es auch, sie zu untermauern.
Für gewöhnlich deutete sie diesen Gesichtsausdruck bei Männern als perplexe Bewunderung. Als fasziniertes Staunen angesichts der modernen selbstständigen Frau, bei der selbst die Erfolgreichsten unter ihnen nicht recht wussten, wie sie sich verhalten sollten, die sie aber natürlich jagen und erlegen mussten. Gewisse Dinge änderten sich niemals.
»Oh, du?«, sagte sie und versuchte, die zwei Wörter nonchalant und gleichzeitig einladend klingen zu lassen.
Sie bereute die beiden letzten Drinks des Abends. Die Kontrolle über ihre Feinmotorik war beeinträchtigt. Aber sie hatte auch wirklich nicht mit einem ergiebigen Ende des Abends gerechnet, falls man es so bezeichnen konnte. Ihr Interesse an einer Beziehung hielt sich in Grenzen, doch sie stand zu ihren körperlichen Bedürfnissen, und in dieser Hinsicht kam ihr der Mann wie gerufen. Mit etwas Glück war er in einigen Tagen über alle Berge. Sie bräuchten einander nie wiederzusehen.
»Komm rein«, fuhr sie mit einer Handbewegung fort, ehe sie sich umwandte und zurück in Richtung Wohnzimmer ging. Er folgte ihr. Erst zögernd, dann mutiger, wie sie zufrieden feststellte. Einleitendes Geplänkel und höfliches Abwarten waren manchmal der reinste Stimmungskiller.
Sie hatte den Gedanken gerade zu Ende gedacht, als er unvermittelt dicht hinter ihr stand. Sie spürte dieselbe atemlose Anspannung wie zuvor von ihm ausgehen, doch nun schwang etwas anderes mit, etwas ganz und gar nicht Sinnliches. Weder Verlegenheit noch Erregung, sondern Wut. Sie erhaschte einen Blick auf ihren überraschten Gesichtsausdruck im Spiegel, als er sie nach hinten riss, zu Boden, und etwas um ihren Hals spannte. Es fühlte sich an, als würde ihr Kehlkopf durchgeschnitten. Sie schlug mit der rechten Hand nach ihm, bekam einen ihrer Pumps zu fassen und jagte ihm den spitzen Absatz in den Oberarm, vielleicht erwischte sie auch seinen Hals, doch er gab nicht den leisesten Schmerzenslaut von sich und zog die Schlinge nur noch strammer zu. Sie lag nun auf dem Rücken und sah ihm direkt in die Augen. Sie trat mit aller Kraft nach ihm, doch er drehte sie brutal auf den Bauch und hockte sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie, sodass sie mit Brust und Gesicht auf die Dielen gepresst wurde.
Wie lange sie gebraucht hatte, genau diese Holzsorte, genau diesen Lack auszuwählen. Nun lag sie mit blutig zerschlagenem Gesicht auf ebendiesem Holz, ebendiesem Lack und wusste, dass sie sterben würde.
Sein in ihren Rücken gebohrtes Knie schnürte ihr weiter die Luft ab. Der Puls pochte hinter den Lidern, als würde sie unter Wasser gezogen. Fast meinte sie zu sehen, wie die kleinen Blutgefäße in ihren Augen platzten. Sie sah Rot, dann Schwarz.
Er sagte etwas, das sie nicht verstand. Es war ihre Sprache, allerdings mit einem merkwürdigen Akzent, was nicht nur daran lag, dass er Ausländer sein musste. Er sprach altmodisch. Wie ein Echo vergangener Zeiten.
Er wiederholte es wieder und wieder, und da endlich verstand sie: »Teufelsbrut … Teufelsbrut.«
Sie dämmerte weg und kam wieder zu sich, als er sie erneut umdrehte wie eine Stoffpuppe. Sie vernahm das Geräusch von reißendem Stoff. Fühlte die Nylonstrumpfhose von ihrer Taille gleiten, als er das Bündchen aufschnitt. Ein brennender Schmerz schoss durch ihre Haut, als er zwei, drei, nein vier Linien in ihren Bauch ritzte. Durch den Nebel aus Schmerz sah sie verschwommen, wie er sein Werk mit zusammengekniffenen Augen begutachtete. Dann zog er die Hand abermals quer über ihren Bauch und verlängerte einen der Schnitte, aus dem bereits das Blut quoll.
Sie wollte sich wehren, doch ihre Glieder gehorchten ihr nicht. Es war so leicht für ihn. Ihr ganzes Leben hatte sie gewusst, dass sie ihre eigene Herrin sein, allein zurechtkommen, unabhängig und stolz sein wollte. Er hatte sie im Bruchteil einer Sekunde gebrochen. Er sah sie an, und in den meerblauen Augen stand abgrundtiefer Hass. Sie konnte nicht mehr. Die Dunkelheit wollte sie umfangen.
In diesem Moment hörte sie wieder die Stimme aus der Vergangenheit. Sie klang nicht länger zornig, sondern klein. Lieblich. Lockend und vertrauenerweckend. Sie sang.
In der tiefen Stimme des erwachsenen Mannes schwang etwas Unschuldiges mit. Wie bei einem Kind, das eine Strophe auswendig gelernt hat und sie unermüdlich herunterleiert. Die Worte waren ihr wohlvertraut. Natürlich waren sie das. Es war das Schlaflied über die Seele des Meeres, das auch ihre Mutter für sie gesungen hatte. Das Mütter seit jeher in diesem Land sangen.
Schlaf jetzt.
Sie ließ sich von dem Gesang der Kinderstimme einlullen, während die Kälte von unten in sie hineinströmte wie eisiges Meerwasser in ein leckes Boot. Und sie sah das mythische Meereswesen aus der Dunkelheit auf sich zukommen. In einem flüchtigen Moment der Überraschung bemerkte sie die wunderschöne Silhouette des Tieres. Unglaublich. Die Alten hatten recht gehabt. Die ganze Zeit über. Das Meer gibt, das Meer nimmt, und jetzt, dachte sie, jetzt kommt das Meer, um mich zu holen.
Das Letzte, was sie hörte, war der Refrain der Jungenstimme:
Ich bin das Meer. Das Meer ist in mir.
Ich bin das Meer. Das Meer ist in mir.
Ich bin das Meer …
6. Januar bis 12. Januar 2020