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LAWRENCE VON ARABIEN

Die sieben Säulen
der Weisheit

Aus dem Englischen von

Dagobert von Mikusch

Anaconda

INHALT

EINLEITUNG

Beginn des Aufstandes

ERSTES BUCH

Die Entdeckung Faisals

ZWEITES BUCH

Die Eröffnung der arabischen Offensive

DRITTES BUCH

Ablenkungsmanöver

VIERTES BUCH

Ausdehnung bis Akaba

FÜNFTES BUCH

Halbzeit

SECHSTES BUCH

Der Überfall auf die Brücken

SIEBENTES BUCH

Der Feldzug am Toten Meer

ACHTES BUCH

Hohe Hoffnungen werden zerstört

NEUNTES BUCH

Vorbereitungen für den letzten Ansturm

ZEHNTES BUCH

Das Haus ist errichtet

ANHANG

Materialien zur Textgeschichte

Ortsregister

Namensregister

EINLEITUNG

Beginn des Aufstandes

ERSTES KAPITEL

Mancherlei Abstoßendes in dem, was ich zu erzählen habe, mag durch die Verhältnisse bedingt gewesen sein. Jahre hindurch lebten wir, aufeinander angewiesen, in der nackten Wüste unter einem mitleidlosen Himmel. Tagsüber brachte die brennende Sonne unser Blut in Gärung und der peitschende Wind verwirrte unsere Sinne. Des Nachts durchnäßte uns der Tau, und das Schweigen unzähliger Sterne ließ uns erschauernd unsere Winzigkeit fühlen. Wir waren eine ganz auf uns selbst gestellte Truppe, ohne Geschlossenheit oder Schulung, der Freiheit zugeschworen, dem zweiten der Glaubenssätze des Mannes – ein so verzehrendes Ziel, daß es alle unsere Kräfte verschlang, eine so erhabene Hoffnung, daß vor ihrem Glanz all unser früheres Trachten verblaßte.

Mit der Zelt wurde unser Drang, für das Ideal zu kämpfen, zu einer blinden Besessenheit, die mit verhängtem Zügel über unsere Zweifel hinwegstürmte. Er wurde zu einem Glauben, ob wir wollten oder nicht. Wir hatten uns in seine Sklaverei verkauft, hatten uns zu einem Kettentrupp aneinandergeschmiedet, hatten uns mit all unserem Guten und Bösen seinem heiligen Dienst geweiht. Der Geisteszustand gewöhnlicher Sklaven ist schrecklich genug – sie haben die Welt verloren –, wir aber hatten nicht den Leib allein, auch die Seele der alles beherrschenden Gier nach Sieg überantwortet. Durch eigenen Willensakt hatten wir Moral, Selbstbestimmung, Verantwortung von uns getan, daß wir waren wie dürre Blätter im Wind.

Das unausgesetzte Kämpfen entäußerte uns der Sorge um unser eigenes Leben und das anderer. Um unseren Hals lag der Strick, und auf unsere Köpfe waren Preise gesetzt, die bewiesen, daß uns der Feind scheußliche Marter zugedacht hatte, wenn er uns fing. Täglich ging einer von uns dahin, und die Überlebenden sahen sich nur wie eben noch fühlende Puppen auf Gottes Bühne; in der Tat, unser Meister war erbarmungslos, erbarmungslos, solange sich unsere blutenden Füße noch weiterschleppen konnten. Der Ermattende beneidete die, die erschöpft genug waren, um zu sterben; denn der Erfolg schien so weit entfernt und Mißlingen eine nahe und gewisse, wenn auch bittere Erlösung von der Qual. Wir lebten stets in höchster Spannung oder tiefster Erschlaffung unserer Nerven, auf dem Wellenkamm oder im Wellental des Gefühls. Diese Machtlosigkeit war qualvoll für uns und ließ uns nur für das Nächstliegende leben, unbekümmert darum, was wir Böses taten oder erlitten, da körperliches Empfinden sich als ein armselig Vergängliches erwies. Grausamkeiten, Verirrungen, Lüste glitten über die Oberfläche dahin, ohne uns tiefer zu beunruhigen; denn die Sittengesetze, die gegen solcherlei unberechenbare Ausbrüche aufgerichtet schienen, mußten doch nur schwächliche Worte sein. Wir hatten erfahren, daß es Erschütterungen gab, die allzu übermächtig, Leid, das allzu tief, Ekstasen, die allzu hoch waren für unser sterbliches Ich, um überhaupt verzeichnet werden zu können. Wenn das Gefühl diesen Gipfel erreicht hatte, setzte das Gedächtnis aus, und der Verstand lief leer, bis wieder die Alltäglichkeit Platz gegriffen hatte.

Solches Hingerissensein durch die Idee gab dem Geist freien Spielraum und entführte ihn in unbekannte Gefilde; aber er verlor dabei die gewohnte Herrschaft über den Körper. Unser Körper war zu grob, um das Übermaß der Leiden und Freuden zu empfinden. Darum entäußerten wir uns seiner als Plunder, ließen ihn, indes wir vorwärtsstürmten, beiseite liegen, ein atmendes Phantom nur noch, hilflos sich selbst überlassen und Einflüssen ausgesetzt, vor denen unser Instinkt in normalen Zeiten zurückgeschreckt wäre. Die Männer waren jung und kraftvoll; ihr heißes Blut verlangte unbewußt sein Recht und peinigte den Leib mit unbestimmtem Verlangen. Entbehrungen und Gefahren, dazu ein Klima, das denkbar marternd war, entfachten die männliche Glut nur noch mehr. Wir hatten nirgends einen Platz für uns allein, kein dickes Kleid, das unser Menschliches verbarg. In jeder Hinsicht lebten wir ohne Geheimnis voreinander.

Der Araber ist von Natur enthaltsam; und der allgemeine Brauch, früh zu heiraten, hatte in den Stämmen ungeregelte Gewohnheiten fast ganz ausgeschaltet. Die öffentlichen Mädchen in den wenigen Siedlungen, die wir in den langen Monaten unseres Umherschweifens antrafen, bedeuteten unseren Leuten nichts, selbst wenn ihr übertünchtes Fleisch schmackhaft gewesen wäre für einen Mann mit gesunden Sinnen. In Abscheu vor solcher schmuddeligen Angelegenheit begannen die Jungen unter uns unbekümmert ihr weniges Verlangen einander an den eigenen sauberen Körpern zu löschen – mehr ein nüchternes Sichabfinden, das, vergleichsweise, unleiblich und selbst rein erschien. Später suchten einige dieses leere Beginnen zu rechtfertigen und beteuerten, daß Freunde, gebettet im schmiegsamen Sand in erhabener Umschlingung der glühenden Körper gemeinsam erbebend, dort im Dunkel verborgen einen sinnlichen Widerhall fänden für die geistige Leidenschaft, die unsere Seelen zu großem Tun entflammte. Andere wieder, danach dürstend, Begierden zu züchtigen, deren sie nicht ganz Herr zu werden vermochten, fanden einen grausamen Stolz darin, ihren Körper zu erniedrigen, und boten sich mit grimmiger Freude zu allem dar, was physischen Schmerz oder Ekel mit sich brachte.

Zu diesen Arabern wurde ich als ein Fremdling gesandt, unfähig, ihre Gedanken zu denken oder ihre Anschauungen zu teilen, aber mit der Pflicht betraut, sie vorwärtszuführen und jegliche Bewegung unter ihnen, die England in seinem Krieg nützen konnte, zur höchsten Höhe zu entfalten. Wenn ich auch ihr Wesen nicht anzunehmen vermochte, konnte ich doch mein eigenes unterdrücken und bewegte mich unter ihnen ohne offenkundige Reibungen, vermied Streit oder Kritik und gewann unmerklich Einfluß. Da ich ihr Kamerad war, will ich nicht ihr Lobredner oder Verteidiger sein. Heute, wieder in meinen gewohnten Kleidern, könnte ich den Zuschauer spielen, unterworfen den Empfindsamkeiten unseres Theaters… aber es ist ehrlicher, zu gestehen, daß damals unsere Gedanken und Taten nichts Außergewöhnliches an sich hatten. Was jetzt wie Unmaß und Grausamkeit aussieht, erschien im Felde unvermeidlich oder gerade nur als eine unwichtige Formalität.

Blut war immer an unseren Händen, dazu waren wir ja ermächtigt. Verwunden und Töten erschien als ein nebensächliches Geschäft, so hart und schonungslos ging das Leben mit uns um. Da die Sorge um Erhaltung des Lebens so groß war, mußte der Wille zur Bestrafung mitleidlos sein. Wir lebten für den Tag und starben für ihn. Hatten wir Anlaß oder Wunsch zu strafen, so schrieben wir unverzüglich unseren Spruch mit Kugel oder Peitsche in die Haut des Verurteilten ein, und damit war der Fall in letzter Instanz erledigt. Die Wüste gestattete nicht das ausgeklügelt bedächtige Verfahren von Gericht und Kerker.

Gewiß, unsere Erquickungen und Freuden kamen mit der gleichen Heftigkeit über uns wie unsere Leiden; aber für mich im besonderen waren sie von geringerem Gewicht. Beduinenart ist schwer zu ertragen, selbst für den, der unter ihnen aufgewachsen ist, für den Fremden aber furchtbar: sie ist wie Tod schon im Leben. Wenn der Marsch oder das Tagewerk beendet war, besaß ich nicht mehr die Kraft, Eindrücke festzuhalten, oder auch die Neigung, das Liebenswerte zu sehen, das wir bisweilen an unserem Wege fanden. In meinen Aufzeichnungen hat eher das Grausige als das Schöne Platz gefunden. Sicher genossen wir die seltenen Augenblicke des Friedens und des Vergessens stärker; aber ich erinnere mich mehr der Qualen, der Schrecknisse und Verirrungen. In dem, was ich geschrieben habe, ist nicht unser ganzes Leben enthalten (denn es gibt Dinge, die kühlen Bluts zu wiederholen die Scham verbietet); aber was ich geschrieben habe, ist ein Teil unseres Lebens, wie es wirklich war. Gebe Gott, daß niemand, der meine Geschichte liest, verführt von dem Zauber der Fremde, hinauszieht, um sich und seine Gaben im Dienst einer fremden Rasse zu erniedrigen.

Wer sich und sein Selbst Fremden zum Eigentum gibt, führt das Leben eines Yahoo*, hat seine Seele an einen Sklavenwärter verschachert. Er gehört nicht zu ihnen. Er kann sich gegen sie stellen, sich seine Sendung einreden, die anderen zurechthämmern und -biegen zu etwas, was sie aus sich selbst heraus niemals geworden wären. Dann beutet er seine frühere Umwelt aus, um sie aus der ihrigen herauszudrängen. Oder er kann, wie ich es tat, sie nachahmen, und zwar so gut, daß sie ihn in unechter Weise wiederum nachahmen. Dann gibt er seine eigene Umwelt auf und maßt sich die ihrige an; aber Anmaßungen sind hohl und wertlos. In keinem Fall tut er etwas aus seinem Selbst heraus, noch etwas so Echtes, das ihm voll entspräche (von dem Gedanken an Bekehrung abgesehen), und überläßt es den anderen, aus dem stummen Beispiel zu entnehmen, was ihnen beliebt.

In meinem Fall brachte mich die Mühe dieser Jahre, die Kleidung der Araber zu tragen und ihre Geistesart nachzuahmen, um mein englisches Ich und ließ mich den Westen und seine Welt mit neuen Augen betrachten: sie zerstörten sie mir gänzlich. Andererseits konnte ich ehrlicherweise nicht in die arabische Haut hinein – ich tat nur so. Leicht kann ein Mensch zum Ungläubigen gemacht werden, aber schwer ist es, ihn zu einem anderen Glauben zu bekehren. Ich hatte eine Form abgestreift, ohne eine andere anzunehmen; und das Ergebnis war ein Gefühl tiefster Vereinsamung im Leben und der Verachtung, nicht der Menschen, aber alles dessen, was sie taten. Solches Losgelöstsein kam in einer Zeit über den Mann, als er von überlanger körperlicher Anstrengung und Absonderung erschöpft war. Sein Körper schleppte sich mechanisch weiter, während sein vernünftiges Denken ihn verließ und von außen kritisch auf ihn herabblickte, sich fragend, was dieser wertlose Ballast eigentlich tat und warum. Manchmal unterhielten sich die beiden Ichs im Leeren; und dann war der Irrsinn nahe, wie er wohl einem Menschen nahe sein kann, der die Dinge gleichzeitig durch die Schleier von zweierlei Sitten, zweierlei Bildung, zweierlei Umwelt zu betrachten vermochte.

ZWEITES KAPITEL

Die erste Schwierigkeit der arabischen Bewegung lag in der Feststellung, wer eigentlich »Araber« war. Da sie ein zusammengewürfeltes Volk sind, hat ihr Name im Lauf der Jahre seinen Inhalt geändert. Einst bedeutete er »ein Arabischer«. Es gibt ein Land, das Arabien heißt; doch damit ist nichts gewonnen. Es gibt eine Sprache, das Arabische, und das führt uns zum Ziel. Sie ist die gemeinsame Umgangssprache in Syrien und Palästina, in Mesopotamien und auf der großen Halbinsel, die auf der Karte mit Arabien bezeichnet ist. Vor dem Sieg des Islams waren diese Gegenden von verschiedenen Völkern bewohnt, die Sprachen der arabischen Sprachgruppe gebrauchten. Wir nennen sie das Semitische, was (wie die meisten wissenschaftlichen Bezeichnungen) ungenau ist. Indessen waren das Arabische, Assyrische, Babylonische, Phönizische, Hebräische, Aramäische und Syrische doch verwandte Sprachen; und die Merkmale gemeinsamer Einflüsse in der Vorzeit oder sogar eines gemeinsamen Ursprungs wurden durch die Erkenntnis bestätigt, daß Sitten und Gebräuche der heute arabischsprechenden Völker Asiens zwar bunt wie ein Mohnfeld sind, doch im wesentlichen übereinstimmen. Man kann sie mit vollem Recht Verwandte nennen – wunderliche Verwandte, die voreinander auf der Hut sind.

Das arabischsprechende Gebiet Asiens stellt ein unregelmäßiges Parallelogramm dar. Seine Nordseite läuft von Alexandrette am Mittelmeer quer durch Mesopotamien ostwärts zum Tigris. Die Südseite bildet die Küste des Indischen Ozeans von Aden bis Maskat. Im Westen ist es begrenzt vom Mittelmeer, vom Suezkanal und dem Roten Meer bis Aden. Im Osten vom Tigris und dem Persischen Golf bis Maskat. Dieses Viereck, so groß wie Indien, bildet das Heimatland der Semiten, in dem keine fremde Rasse dauernd Fuß fassen konnte, obwohl Ägypter, Hettiter, Philister, Perser, Griechen, Römer, Türken und Franken es verschiedentlich versucht haben. Alle sind schließlich unterlegen; und ihre verstreuten Reste gingen bald in der semitischen Rasse mit ihren stark ausgeprägten Merkmalen auf. Einige Male sind die Semiten über dieses Gebiet hinausgedrungen und selber in der Außenwelt untergegangen. Ägypten, Algier, Marokko, Malta, Sizilien, Spanien, Kilikien und Frankreich haben semitische Kolonien aufgesogen und vernichtet. Nur in Tripolis, in Afrika und in der erstaunlichen Erscheinung des Weltjudentums haben Teile der Semiten ihre Eigenart und Stärke behauptet.

Der Ursprung dieser Völker ist eine wissenschaftliche Streitfrage. Aber für das Verständnis ihres Aufstandes sind ihre gegenwärtigen sozialen und politischen Unterschiede von Bedeutung, die nur bei Berücksichtigung ihrer geographischen Lage verstanden werden können. Ihr Gebiet zerfällt in mehrere große Abschnitte, deren außerordentliche landschaftliche Verschiedenheit die voneinander abweichenden Sitten ihrer Bewohner bedingt.

Im Westen, zwischen Alexandrette und Aden, wird das Parallelogramm von einem Gebirgsgürtel umrahmt, der im Norden Syrien heißt, dann weiter nach Süden zu Palästina, ferner Midian, Hedschas und zuletzt Jemen. Seine Durchschnittshöhe beträgt ungefähr dreitausend Fuß*, mit einzelnen Gipfeln von zehn- bis zwölftausend Fuß. Dieser Berggürtel ist nach Westen zu offen, ist gut bewässert durch Regen und feuchte Seewinde und im allgemeinen dicht bevölkert.

Eine andere Reihe bewohnter Höhenzüge bildet nach dem Indischen Ozean zu die Südseite des Parallelogramms. Den Ostrand bildet zuerst eine Alluvialebene, Mesopotamien genannt, dann im Süden von Basra an ein Flachufer mit den Landschaften Koweit, Hasa und Katr. Ein großer Teil dieser Ebene ist bevölkert.

Diese bewohnten Berggürtel und Ebenen umschließen ein dürres Wüstengebiet, in dessen Mitte ein Archipel wasser- und volkreicher Oasen liegt: Kasim und E’Riad. Diese Oasengruppen sind das eigentliche Herz Arabiens, das Gehege seines völkischen Geistes und einer selbstbewußten Eigenart. Die Wüste umschließt sie rings und hält sie von der Berührung mit der Außenwelt fern.

Die Wüste um die Oasen, die ihnen diesen großen Dienst leistete und so den Charakter der Araber formte, ist landschaftlich nicht einheitlich. Südlich der Oasen erscheint sie als ein unwegsames Sandmeer, das sich fast bis zu den Abdachungen an der Küste des Indischen Ozeans erstreckt und diese Gebiete von der Geschichte Arabiens und dem Einfluß arabischer Sitte und Politik ausschließt. Hadramaut, wie man diese Südküste nennt, gehört mit in die Geschichte Niederländisch-Indiens, und seine geistigen Fäden spinnen sich eher nach Java als nach Arabien. Im Westen der Oasen, bis zu den Höhen von Hedschas hin, liegt die Nedschdwüste, meist aus Kies und Lava bestehend, mit kleinen Sandeinschüssen. Im Osten der Oasen, nach Koweit zu, erstreckt sich ebenfalls steiniger Boden, aber unterbrochen von großen Strecken losen Sandes, der einen Durchmarsch erschwert. Im Norden der Oasen liegt ein Sandgürtel; daran schließt sich eine ungeheure Ebene aus Kies und Lava an, die den ganzen Raum zwischen dem Ostrand Syriens und den Ufern des Euphrats bis zur Grenze Mesopotamiens ausfüllt. Der Umstand, daß dieser nördliche Teil der Wüste für Fußgänger und Automobile zugänglich ist, ermöglichte den vollen Erfolg des arabischen Aufstandes.

Die Berggürtel im Westen und die Ebenen im Osten gehörten stets zu den volkreichsten und lebendigsten Gebieten Ara biens. Besonders Syrien und Palästina, Hedschas und Jemen griffen von Zeit zu Zeit in die Geschichte des europäischen Lebens ein. Ihrer kulturellen Eigenart nach gehören diese fruchtbaren und gesunden Bergländer mehr zu Europa als zu Asien. Wie überhaupt die Araber ihre Blicke stets auf das Mittelmeer und nicht auf den Indischen Ozean gerichtet hielten, sowohl für ihre kulturellen Bedürfnisse und wirtschaftlichen Unternehmungen wie auch besonders für ihre Ausbreitung. Denn die Frage der Volksverschiebung bildet eine der stärksten und verwickeltsten Grundkräfte Arabiens; das gilt für das ganze Land, wie verschieden sie sich auch in den einzelnen Teilen gestalten mag.

Im Norden (Syrien) hatten die Städte infolge schlechter sanitärer Zustände und der ungesunden Lebensweise niedrige Geburtenziffern und hohe Sterblichkeitsraten. Infolgedessen fand die überschüssige Landbevölkerung Aufnahme in den Städten und wurde von ihnen aufgesogen. Im Libanon, wo die sanitären Bedingungen besser waren, nahm die Auswanderung der Jugend nach Amerika von Jahr zu Jahr zu und droht (zum erstenmal seit den Tagen der Griechen) die Zukunft eines ganzen Landstrichs entscheidend zu beeinflussen.

Im Jemen war die Lösung anders. Dort gab es keinen auswärtigen Handel und keine Industriezentren, welche die Bevölkerung an ungesunden Orten aufhäuften. Die Städte waren nichts als Marktflecken, primitiv und ländlich wie die Dörfer. Infolgedessen nahm die Bevölkerung langsam zu; die Lebenshaltung sank auf einen sehr niedrigen Stand, und allgemein machte sich eine Übervölkerung fühlbar. Eine Auswanderung über das Meer war unmöglich; denn der Sudan war sogar noch unwohnlicher als Arabien. Die wenigen Stämme, die das Wagnis unternahmen, sahen sich, wenn sie sich behaupten wollten, genötigt, ihre Lebensweise und ihre semitische Kultur von Grund auf zu ändern. Eine Ausdehnung nach Norden längs der Berge war ebensowenig möglich; denn der Weg war durch die Heilige Stadt Mekka und ihren Hafen Dschidda versperrt. Diese Schranke wurde immer wieder durch Einwanderer aus Indien und Java, Buchara und Afrika verstärkt, die sich kräftig behaupteten und dem semitischen Wesen feindlich gegenüberstanden; und sie wurde trotz aller wirtschaftlichen, landschaftlichen und klimatischen Gleichklänge durch das künstliche Mittel einer Weltreligion aufrechterhalten. Die Übervölkerung im Jemen, nachgerade zu einem Notstand geworden, fand daher nur im Osten einen Ausweg, wobei die dünner gesäten Grenzbewohner immer weiter und weiter die Hänge der Berge hinabgedrängt wurden, die Wadis entlang, das halbwüste Gebiet der großen wasserreichen Täler von Bischa, Dawasir, Ranja und Taraba, die weiter nordwärts in die Nedschdwüste führen. Die schwächeren Stämme mußten ständig wasserreiche Quellen und fruchtbare Landstücke gegen immer ärmere und weniger ertragreiche eintauschen, bis sie schließlich eine Gegend erreichten, wo ein Ackerbau allein unmöglich wurde. Dort fingen sie an, ihren kärglichen Lebensunterhalt durch Schaf- und Kamelzucht zu ergänzen; und mit der Zeit wurde ihr Dasein immer mehr und mehr von diesen Herden abhängig.

Schließlich wurden die Grenzvölker, schon fast alle Hirten geworden, unter einem letzten Vorstoß der notleidenden Bevölkerung in ihrem Rücken auch aus der fernsten kleinen Oase hinaus in die unwegsame Wildnis getrieben und sie wurden nun Nomaden. Dieser Vorgang, den man heute bei einzelnen Sippen und Stämmen verfolgen kann, deren Wanderungen sich nach Ort und Zeit genau bestimmen lassen, muß schon am Anfang der vollen Besiedlung des Jemen begonnen haben. Die Wadis unterhalb von Mekka und Taif sind voll von Erinnerungen und Ortsnamen einiger fünfzig Stämme, die von dort ausgezogen sind und heute vielleicht im Nedschd, im Dschebel Schammar, im Hamad oder sogar an den Grenzen von Syrien und Mesopotamien zu finden sind. Dort begann die Wanderung, entstand das Nomadentum, entsprang der Golfstrom der Wüstenwanderer.

Die Wüstenvölker waren ebenso unstet wie die Bewohner der Bergländer. Die wirtschaftliche Grundlage ihres Lebens war ihr Bestand an Kamelen; für die Zucht am geeignetsten waren die kräftigen Hochlandweiden mit ihrem starken, nahrhaften Dorngestrüpp. Von dieser Beschäftigung lebten die Beduinen; und sie wiederum formte ihr Dasein, bestimmte das Gebiet der einzelnen Stämme und hielt sie auf steter Wanderung von den Frühjahrs- zu den Sommer- und Winterweiden, je nachdem, wo die Herden ihre karge Nahrung fanden. Die Kamelmärkte in Syrien, Mesopotamien und Ägypten entschieden, wieviel Menschen die Wüste ernähren konnte, und regelten genau die Höhe ihrer Lebenshaltung. Gelegentlich kam es auch in der Wüste zu einer Übervölkerung im Vergleich zu den Ernährungsmöglichkeiten. Dann begannen die zahllosen Stämme einander zu schieben und zu stoßen, in dem natürlichen Drang, einen Platz an der Sonne zu finden. Südwärts zu unwirtlichem Sand oder Meer mochten sie nicht wandern. Westwärts konnten sie sich nicht wenden, denn die steilen Höhen von Hedschas waren von den Bergvölkern dicht besiedelt, die den Vorteil einer natürlichen Verteidigungsstellung genossen. Manchmal stießen sie nach den zentralen Oasen von E’Riad und Kasim vor; und wenn die Stämme, die neue Wohnsitze suchten, stark und kräftig waren, mochte es ihnen gelingen, sie teilweise zu beset zen. Wenn aber die Wüste ihre Kraft nicht gestählt hatte, wurden sie Schritt für Schritt nach Norden getrieben, in die Gegend zwischen Medina im Hedschas und Kasim im Nedschd, bis sie sich an der Gabelung zweier Wege befanden. Sie konnten sich nach Osten wenden, über Wadi Rumm oder Dschebel Schammar, und schließlich dem Batin bis Schamiye folgen, wo sie dann am unteren Euphrat Flußaraber wurden. Oder sie konnten langsam Sprosse für Sprosse die Leiter der westlichen Oasen erklettern – Henakijeh, Kheiber, Teima, Dschof und den Sirhan – bis sie sich glücklich dem Dschebel Drus in Syrien näherten oder ihre Herden in der nördlichen Wüste um Tedmur herum tränkten, auf dem Weg nach Aleppo oder Assyrien.

Aber auch dann wich der Druck nicht von ihnen: der unerbittliche Zug nach Norden dauerte an. Die Stämme wurden bis an den Rand der bebauten Gegenden Syriens oder Mesopotamiens gedrängt. Günstige Gelegenheit und die Magenfrage überzeugten sie von den Vorteilen, sich Ziegen und dann auch Schafe zu halten; und schließlich begannen sie Getreide zu bauen, wenn auch nur ein wenig Gerste für das Vieh. Sie waren nun nicht mehr Beduinen und litten ebenso wie die Dörfler unter den Raubzügen der nachdrängenden Nomaden. Ganz von selbst machten sie gemeinsame Sache mit der bereits ansässigen Landbevölkerung und fanden, daß auch sie nun Bauern waren.

So sehen wir also, wie Stämme, aus dem Hochland von Jemen gebürtig, von stärkeren Stämmen in die Wüste hineingetrieben und dort wider ihren Willen Nomaden werden, um sich am Leben zu erhalten. Wir sehen, wie sie Jahr für Jahr ein wenig weiter nördlich oder östlich wandern, wie sie gerade durch den einen oder anderen der Brunnenwege durch die Wüste geführt werden, bis endlich der Druck sie wieder aus der Wüste herausdrängt und sie sich ansiedeln, ebenso gegen ihren Willen, wie sie vordem zum Nomadenleben gezwungen worden waren. Dieser Kreislauf erhielt den Semiten ihre Kraft. Es gibt wenige, im Norden vielleicht überhaupt keine, deren Ahnen nicht einmal in dunkler Vorzeit durch die Wüste gewandert wären. Jeder von ihnen trägt mehr oder weniger das Merkmal des Nomadentums an sich, der schärfsten und einschneidendsten Zucht.

DRITTES KAPITEL

Stammesangehörige und Städter in den arabischsprechenden Teilen Asiens sind nicht verschiedene Rassen, sondern Menschen auf verschiedenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stufen. Man kann also eine geistige Familienähnlichkeit bei ihnen voraussetzen, und es ist nur folgerichtig, daß sich gemeinsame Grundzüge in den Äußerungen aller dieser Völker feststellen lassen.

Schon gleich zu Anfang, bei der ersten Begegnung mit ihnen, fiel die Klarheit und Härte ihres Glaubens auf, der fast mathematisch genau in seiner Abgrenzung ist und durch seine Gefühlskälte abstößt. Die Semiten kennen keine Halbtöne in den Registern ihrer transzendentalen Schau. Sie sind ein Volk der Grundfarben, oder vielmehr des Schwarz und Weiß, und sehen die Welt stets nur in Umrissen. Sie sind dogmengläubig und verabscheuen den Zweifel, die Dornenkrone unserer Zeit. Sie haben kein Verständnis für unsere metaphysischen Bedenken oder unsere grüblerischen Fragestellungen. Sie kennen nur Wahrheit und Unwahrheit, Glauben und Unglauben, ohne unsere zögernden Vorbehalte der feinen Abschattierungen.

Nicht nur im Religiösen, auch ihrer ganzen Anlage nach bis in die feinsten Verästelungen ihres Wesens sind sie ein Volk des Schwarz und Weiß. Ihr Denken fühlt sich nur wohl im Extremen. Sie bewegen sich am liebsten in Superlativen. Manchmal schien Unvereinbares ihren Geist erfaßt zu haben, das sie dann in verknüpfter Folge vorbrachten; aber sie suchten nie einen Ausgleich, führten die Logik mehrerer einander widersprechender Behauptungen bis zum unstimmigen Ende durch, ohne der Ungereimtheit gewahr zu werden. Mit kühlem Kopf und gelassenem Urteil, unerschütterlich ahnungslos ihrer Gedankengaloppaden, fielen sie aus einer Asymptote in die andere.

Sie waren ein geistig engbegrenztes Volk, dessen unentwikkelte Verstandeskräfte in sorglosem Gleichmut brachlagen. Ihre Phantasie war lebhaft, doch nicht schöpferisch. Es gibt so wenig arabische Kunst in Asien, daß man fast sagen könnte, sie besaßen überhaupt keine, obwohl die Höherstehenden freigebige Gönner waren und stets alle Talente gefördert haben, die ihre Nachbarn oder Hörigen in der Architektur, in der Keramik oder in anderen Handwerkskünsten entfalteten. Sie schufen auch keine großen Industrien, dazu fehlte es ihnen an Organisationstalent. Sie erfanden keine philosophischen Systeme, keine gestaltreichen Mythologien. Zwischen Stammesidolen und Höhlengottheiten steuerte ihr Dasein dahin. Als ein Volk, das unter allen am wenigsten angekränkelt war, nahmen sie das Leben als eine unproblematische Gabe, die keiner Rechenschaft bedurfte. Es war für sie etwas Unabweisbares, dem Menschen zur unumschränkten Nutznießung zugeteilt. Selbstmord war unmöglich, der Tod nicht beklagenswert.

Sie waren ein Volk der Verkrampfungen, der plötzlichen Ausbrüche, der Ideen, eine Rasse des individuellen Genies. Ihre Entladungen wurden um so auffälliger durch den Gegensatz zur Gelassenheit ihres Alltags, ihre großen Männer erschienen größer durch den Gegensatz zum Allzumenschlichen der Masse. Der Instinkt bestimmte ihre Überzeugungen, die Intuition ihr Handeln. Ihre Haupttätigkeit bestand in der Herstellung von Glaubensbekenntnissen; sie besaßen geradezu ein Monopol auf Offenbarungsreligionen. Drei davon haben sich unter ihnen erhalten, von denen zwei auch (in abgeänderten Formen) zu nichtsemitischen Völkern gelangten. Das Christentum hat, nach seiner Übertragung in den Geist des Griechischen, Lateinischen und Germanischen, Europa und Amerika erobert. Der Islam hat in verschiedenen Abwandlungen Afrika und Teile von Asien unterworfen. Das waren die Erfolge der Semiten. Ihre Mißerfolge behielten sie für sich. Der Saum ihrer Wüsten war mit Trümmern von Glaubenslehren übersät.

Es ist bezeichnend, daß diese Reste gescheiterter Religionen gerade an den Grenzen zwischen Wüste und bebautem Land zu finden sind. Das weist auf die Entstehung all dieser Glaubenslehren hin. Sie stützten sich auf Behauptungen, nicht auf Beweisgründe, bedurften daher eines Propheten zur Verbreitung. Die Araber behaupten, daß es vierzigtausend Propheten gegeben hat; wir wissen von mindestens einigen Hundert. Keiner von ihnen kam aus der Wüste; doch ihr aller Leben verlief nach dem gleichen Muster. Ihrer Geburt nach gehörten sie in volkreiche Ortschaften. Ein unverständlich leidenschaftliches Sehnen trieb sie in die Wüste hinaus. Dort lebten sie längere oder kürzere Zeit in Betrachtung und Einsamkeit; und von dort kehrten sie mit einer Botschaft zurück, die, wie sie meinten, ihnen zuteil geworden war, um sie früheren, nun zweifelnden Gefährten zu predigen. Die Gründer der drei großen Glaubenslehren haben alle diesen Kreis durchlaufen. Diese vielleicht zufällige Übereinstimmung erhält gesetzmäßigen Charakter durch die gleichlaufenden Lebensgeschichten der tausend anderen, die scheiterten, deren Berufung gewiß nicht weniger echt war, aber denen Zeit und Entnüchterung keine ausgedörrten Seelen aufgehäuft hatten, bereit, in Flammen gesetzt zu werden. Für die Grübler in den Städten ist der Drang in die Öde stets unwiderstehlich gewesen, wohl nicht, weil sie Gott dort fanden, sondern weil sie in der Einsamkeit mit größerer Klarheit die lebendige Stimme hörten, die sie in sich trugen.

Der gemeinsame Grundgedanke aller semitischen Religionen, der erfolgreichen und der erfolglosen, war die immer gegenwärtige Idee der Nichtigkeit alles Irdischen. Aus tiefer Abneigung gegen die Materie predigten sie Entbehrung, Entsagung und Armut, und in der Luft einer solchen Lehre verflüchtigten sich rettungslos die Seelen der Wüste. Eine erste Erfahrung von ihrem Sinn für die Reinheit dieser Verflüchtigung machte ich in früheren Jahren, als wir weithin über die leicht gewellten Ebenen Nordsyriens geritten waren bis zu einer Ruine aus der Römerzeit, die nach Meinung der Araber einst ein Wüstenschloß gewesen war, das ein Fürst der Grenzvölker für seine Königin errichtet hatte. Um den Bau noch schöner zu machen, war, wie sie erzählten, der Lehm nicht mit Wasser, sondern mit kostbaren Blumenessenzen geknetet worden. Meine Führer witterten gleich Hunden in der Luft, führten mich von einem zerfallenen Raum in den anderen und erklärten: »Das hier ist Jasmin, das Veilchen, das Rose.«

Aber zuletzt zog mich Dahoum mit sich: »Komm und rieche den schönsten Duft von allen!« Wir gingen in den Hauptraum, traten an die gähnenden Fensterhöhlen der östlichen Seite und tranken dort mit offenem Mund den leichten, reinen, unbeschwerten Wüstenwind, der uns umfächelte. Dieser sanfte Hauch war irgendwo jenseits des Euphrat entstanden, war viele Tage und Nächte lang über dürres Gras dahingestrichen bis zu diesem ersten Hindernis, den von Menschenhand errichteten Mauern des verfallenen Palastes. Es schien, als verweilte er zwischen ihnen, umschmeichelte sie, raunte ihnen etwas zu nach Kinderart. »Das ist der beste,« sagten sie zu mir, »er hat keinerlei Geschmack.« Meine Araber hatten allen Wohlgerüchen und Üppigkeiten den Rücken gekehrt und sich Dingen zugewandt, an denen Menschenhand keinen Anteil hatte.

Der Beduine der Wüste, der in ihr geboren und aufgewachsen ist, hat sich mit ganzer Seele dieser für Außenstehende allzu harten Kargheit hingegeben, aus dem zwar gefühlten, aber nicht bewußt gewordenen Grund, weil er sich in ihr wahrhaft frei findet. Er hat alle materiellen Bindungen, Annehmlichkeiten, Verfeinerungen, Luxus und sonstigen Ballast des Lebens hinter sich gelassen, um dafür eine persönliche Freiheit zu gewinnen, die von Elend und Tod bedroht ist. In der Armut sieht er keine Tugend an sich; er liebt die kleinen Freuden und Genüsse – Kaffee, frisches Wasser, Frauen –, die er sich noch leisten kann. Sein Leben bietet ihm Luft und Wind, Sonne und Licht, freien Raum und eine große Leere. Diese Natur blieb unberührt von Menschenwerk und Gabenfülle: nur den Himmel droben und drunten die jungfräuliche Erde. So kam er unbewußt Gott näher. Gott hatte für ihn nichts Menschliches, nichts Faßbares, nichts Moralisches oder Ethisches, nichts, was auf die Welt oder ihn Bezug hatte, auch nicht die Natur, sondern das άχρώματος, άσχημάτιστο, άναης (das Farblose, Gestaltlose, Körperlose). Er war also nicht durch Devestitur, sondern Investitur qualifiziert, der Inbegriff alles Tuns, Natur und Materie nur Spiegelungen von Ihm.

Der Beduine vermochte nicht Gott in sich zu suchen; er war zu gewiß, daß er in Gott war. Er konnte nicht fassen, daß Gott irgend etwas war oder nicht war. Nur Er allein war groß; dennoch war etwas Heimisches, etwas Alltägliches um diesen Gott der Natur Arabiens. Er war in ihrer Nahrung, ihren Kämpfen, ihren Begierden, war der allerhäufigste ihrer Gedanken, ihr vertrauter Helfer und Gefährte, in gewisser Weise unvorstellbar für jene, denen Gott so kunstvoll verschleiert ist aus Verzweiflung über ihre fleischliche Unwürdigkeit oder durch die Äußerlichkeiten der formalen Verehrung. Die Araber sahen keine Widersinnigkeit darin, Gott mit ihren Schwächen und Gelüsten niedrigster Art in Verbindung zu bringen. Er war das gebräuchlichste ihrer Wörter; und wir haben in der Tat viel an Beredsamkeit eingebüßt, daß wir Ihn mit dem kürzesten und unschönsten unserer Einsilber benannten.

Der Glaube der Wüste scheint unaussprechbar in Worten und ist auch nicht mit Gedanken zu erfassen. Man unterlag leicht seinem Einfluß; und wer lange genug in der Wüste lebte, um ihrer endlosen Weite und Leere nicht mehr bewußt zu werden, der wurde unweigerlich auf Gott zurückgeworfen als einzige Zuflucht und Rhythmus des Seins. Der Beduine mochte nominell ein Sunnit, ein Wahhabi oder sonst irgend etwas in der semitischen Sphäre sein; aber das hatte für ihn kein Gewicht. Jeder einzelne Nomade hatte seine offenbarte Religion, nicht erfahren oder überliefert oder kundgetan, aber instinktiv in sich selbst; und so betonten alle semitischen Glaubenslehren, die zu uns kamen, die Leere der Welt und die Fülle Gottes; und ihre äußere Gestalt erfolgte auch entsprechend den Anlagen und Lebensumständen des Gläubigen.

Der Wüstenbewohner konnte mit seinem Glauben nicht nach außen wirken. Er ist niemals Evangelist oder Proselytenmacher gewesen. Er gelangte zu dieser intensiven Konzentrierung seines Ichs in Gott dadurch, daß er die Augen verschloß vor der Welt und vor den vielfältigen in ihm schlummernden Möglichkeiten, die nur durch Berührung mit Reichtum und Lockungen zur Auslösung kommen konnten. Er erlangte einen sicheren Glauben, einen starken Glauben, aber auf wie eng begrenztem Bezirk! Seine Erlebnisarmut beraubte ihn des Mitleids und ließ seine menschliche Güte entarten zu dem Bild der Wüstenei, in der er sich verbarg. So kam es, daß er sich kasteite, nicht nur, um frei zu sein, sondern, um sich zu gefallen. Damit folgte ein Schwelgen in Schmerz, eine Grausamkeit, die ihm mehr bedeutete als alle irdischen Güter. Der Wüstenaraber kannte keine Freuden, nur die des freiwilligen Entsagens. Er fand Wollust in der Selbstverleugnung, dem Verzicht, der Entäußerung. Er machte die Entblößung der Seele zu einer ebenso sinnlichen Angelegenheit wie die Entblößung des Körpers. Dadurch mag er vielleicht, ohne Gefahr zu laufen, seine Seele gerettet haben, aber in einer kalten Selbstsucht. Seine Wüste wurde zu einem Eiskeller gemacht, in dem für alle Zeiten eine Vision von der Alleinheit Gottes unversehrt, aber unerprobt aufbewahrt wurde. Dorthin konnten sich die Suchenden aus der Außenwelt für eine Weile zurückziehen und von diesem Losgelöstsein aus sich über die Wesensart der Generation klarwerden, die sie bekehren wollten.

Der Glaube der Wüste war für die Städter unmöglich. Er war zu fremdartig, zu einfach, zu wenig faßbar für die Übertragung und den allgemeinen Gebrauch. Die Idee, der Glaubenskern aller semitischen Religionen, war darin enthalten, aber sie mußte verdünnt werden, um für uns faßbar zu werden. Das Pfeifen der Geißel klang zu schrill für manche Ohren; der Geist der Wüste entwich durch unser gröberes Gewebe. Die Propheten kehrten mit ihrem Blick auf Gott aus der Wüste zurück, und durch ihr getrübtes Medium (wie durch ein dunkles Glas) ließen sie etwas sehen von der Majestät und Herrlichkeit, deren volle Schau uns blind, stumm, taub und zu dem gemacht hatte, was der Beduine geworden war, ein Abseitiger, ein Mensch für sich.

Die Schüler bemühten sich, nach der Lehre des Meisters sich und die Gläubigen von allem Irdischen loszulösen, aber strauchelten dabei über die menschliche Schwäche und scheiterten. Der Bauer und Städter aber mußte, um leben zu können, sich Tag für Tag den Freuden des Verdienens und Schätzesammelns hingeben, und durch den Zwang der Umstände wurde er zum grobsinnigsten und materiellsten der Menschen. Der leuchtende Glanz der Lebensverachtung, der andere zur härtesten Askese führte, stürzte ihn in Verzweiflung. Kopflos vergeudete er sich, wie ein Verschwender, verpraßte die Erbschaft seines Fleisches mit einer sehnsüchtigen Hast nach dem Ende. Der Jude in der Metropole von Brighton, der Geizhals, der Anbeter des Adonis, der Lüstling in den Freudenhäusern von Damaskus, jeder war in gleicher Weise typisch für die Genußfreude der Semiten und nur andere Auswirkungen derselben Triebkraft, an deren anderem Pol die Selbstverleugnung der Essäer oder der Urchristen oder der ersten Kalifen stand, denen der Weg zum Himmel am leichtesten für die Armen im Geist erschien. Der Semit schwankte ständig zwischen irdischer Lust und Askese.

Die Araber konnten von einer Idee wie von einem Strick mit fortgerissen werden; die fraglose Hingabefähigkeit ihrer Gemüter machte sie zu willfährigen Sklaven. Keiner von ihnen würde sich der Bindung entzogen haben, bis der Erfolg da war und mit ihm Verantwortung, Pflichten, Bürden. Dann war die Idee dahin und das Werk endete – in Trümmern. Ohne einen Glauben konnte man sie bis ans Ende der Welt (nur nicht in den Himmel) führen, wenn man ihnen die Reichtümer dieser Erde und ihre Freuden zeigte. Wenn sie aber auf dem Weg, geleitet in dieser Weise, dem Propheten einer Idee begegneten, der keinen Ort hatte, wo er sein Haupt betten konnte, und leben mußte wie die Blumen auf dem Feld oder die Vögel unter dem Himmel, dann waren sie bereit, um seiner Offenbarung willen alle Reichtümer im Stich zu lassen. Sie waren unverbesserliche Kinder der Idee, haltlos und farbenblind, deren Körper und Seele für immer in unvereinbarem Gegensatz standen. Ihr Geist war dunkel und seltsam, voller Höhen und Tiefen, der strengen Zucht entbehrend, aber glühender und fruchtbarer im Glauben als irgendein anderer auf der Welt. Sie waren ein Volk des ewigen Aufbruchs, für die das Abstrakte die stärkste Triebfeder war, der Anstoß zu unbegrenzter Kühnheit und Mannigfaltigkeit, und denen das Ende nichts bedeutete. Sie waren beweglich wie Wasser, und wie das Wasser werden sie schließlich vielleicht obsiegen. Seit dem Anfang der Tage sind sie in immer neuen Wellen gegen die Küsten des Irdischen angebrandet. Jede Welle brach sich, aber gleich dem Meer hatte jede ein winziges Stückchen von dem Fels, an dem sie zerschellte, abgetragen; und eines Tages, in vielen Menschenaltern, wird sie vielleicht ungehemmt über die Stelle hinwegrollen, wo einst die materielle Welt gewesen ist, und Gott der Herr wird über den Wassern schweben. Eine dieser Wogen (und nicht die letzte) wurde von mir unter dem Wehen einer Idee aufgerührt und ins Rollen gebracht, bis sie ihren Höhepunkt erreichte, sich überschlug und über Damaskus dahinbrandete. Die Auswaschungen dieser Welle, die zurückprallte vor dem Widerstand juristischer Festsetzungen, werden der nächsten Welle den Weg weisen, wenn in der Fülle der Zeiten die See von neuem aufgerührt werden wird.

VIERTES KAPITEL

Der erste große Vorstoß in das Gebiet um das Mittelmeer bewies der Welt die Wucht des Arabers, der in der Entflammung für kurzen Zeitraum eine ganz ungewöhnliche Kraft entfalten kann. Sobald aber die Spannung nachließ, offenbarte sich der Mangel an Ausdauer und Gründlichkeit im Charakter der Semiten. Die Provinzen, die sie erobert hatten, ließen sie rein aus Abneigung vor systematischer Arbeit verkommen und waren bei der Verwaltung ihres schlechtgefügten und unzusammenhängenden Reichs auf die Hilfe ihrer neuen Untertanen oder tatkräftigerer Fremden angewiesen. So konnten schon im frühen Mittelalter die Türken in den arabischen Staaten festen Fuß fassen, zuerst als Diener, dann als Gehilfen und schließlich als übermächtig gewordene Parasiten, die das Leben des alten Reichskörpers erstickten. Zuletzt kam eine Phase des Einreißens, als ein Hulagu oder Timur ihren Blutdurst stillten und alles niederbrannten und zerstörten, was durch einen Anspruch auf Überlegenheit ihren Zorn reizte.

Die arabische Zivilisation war abstrakter Art, mehr moralisch und intellektuell als physisch, und ihr Mangel an Gemeinsinn machte ihre ausgezeichneten individuellen Eigenschaften wertlos. Aber in ihrer Epoche waren sie vom Glück begünstigt: Europa war der Barbarei verfallen, die Erinnerung an griechische und lateinische Bildung schwand aus dem Gedächtnis der Menschen. Aus diesem Gegensatz heraus erschien das Nachahmungstalent der Araber schöpferisch und ihr Staat blühend. Aber sie erwarben auch wirkliches Verdienst dadurch, daß sie klassische Vergangenheit für die Zukunft des abendländischen Mittelalters bewahrten.

Mit dem Auftreten der Türken wurde diese Blütezeit zu einem entschwundenen Traum. Nacheinander gerieten alle Semiten Asiens unter ihr Joch und starben darunter langsam dahin. Ihrer Besitztümer wurden sie beraubt; ihr Geist schrumpfte ein unter dem erstarrenden Hauch eines Militärregiments. Türkische Herrschaft hieß Polizeigewalt; die politischen Theorien der Türken waren so roh wie ihre Praxis. Sie brachten den Arabern bei, daß die Interessen einer Sekte höher ständen als die des Vaterlands und daß die Nebensächlichkeiten der Provinz wichtiger wären als die Nation. Sie säten Uneinigkeit unter sie und brachten sie dahin, einander zu mißtrauen. Sogar die arabische Sprache wurde aus Gerichten und Ämtern, aus Verwaltung und höheren Schulen verbannt. Araber konnten nur dem Staate dienen, wenn sie ihre rassische Eigenart aufopferten. Diese Maßnahmen wurden nicht ruhig hingenommen. Die Beharrlichkeit der Semiten zeigte sich in den zahlreichen Aufständen in Syrien, Mesopotamien und Ägypten gegen die groben Formen türkischer Durchdringung; und ebenso erhob sich Widerstand gegen ihre hinterhältigeren Versuche der Aufsaugung. Die Araber dachten nicht daran, ihre reiche und schmiegsame Sprache gegen das rohe Türkisch einzutauschen; statt dessen durchsetzten sie das Türkische mit arabischen Worten und hielten sich an die Schätze ihrer eigenen Literatur.

Sie verloren den Sinn für ihr Land, für ihre völkischen, politischen und historischen Erinnerungen. Aber um so fester hingen sie an ihrer Sprache und machten sie geradezu zu ihrem eigentlichen Vaterland. Die oberste Pflicht jedes Moslem war, den Koran zu studieren, das heilige Buch des Islams, nebenbei auch das größte arabische Literaturdenkmal. Das Wissen darum, daß diese Religion die seinige und nur er allein imstande war, sie vollkommen zu verstehen und auszuüben, gab jedem Araber einen erhöhten Standort, von dem aus er auf die kläglichen Leistungen der Türken herabblickte.

Dann kam die türkische Revolution, der Fall Abdul Hamids und der Sieg der Jungtürken. Sofort lichtete sich der Horizont für die Araber. Die jungtürkische Bewegung war eine Auflehnung gegen den hierarchischen Aufbau des Islams und gegen die panislamischen Theorien des alten Sultans, der den Anspruch erhoben hatte, als geistlicher Leiter aller Moslemin zugleich ihr alleiniger und absoluter weltlicher Herrscher zu sein. Unter dem Antrieb konstitutioneller Theorien vom souveränen Staat erhoben sich die jungen Politiker und warfen den Sultan ins Gefängnis. Zu einer Zeit also, da Westeuropa gerade anfing, die Nationalität um der Internationale willen aufzugeben und an Kriege dachte, die nichts mehr mit Rassenproblemen zu tun hatten, fing Westasien an, die Katholizität gegen eine nationalistische Politik einzutauschen und von Kriegen zu träumen, die nicht mehr für Glauben und Dogma, sondern für die nationale Selbständigkeit geführt wurden. Diese Bestrebungen hatten zuerst und am stärksten im nahen Osten eingesetzt, in den kleinen Balkanstaaten, und hatten sie durch fast beispielloses Märtyrertum zu ihrem Ziel geführt: der Loslösung von der Türkei. Später hatte es nationalistische Bewegungen in Ägypten, Indien, Persien und schließlich in Konstantinopel gegeben, wo sie von den neuen amerikanischen Erziehungsideen noch unterstützt und verschärft worden waren, Ideen, die, auf den alten Orient losgelassen, als gefährlicher Explosivstoff wirkten. Die amerikanischen Schulen, die nach den Grundsätzen freier Forschung unterrichteten, traten für Unabhängigkeit der Wissenschaft und unbeschränkte Meinungsäußerung ein. Ohne es zu wollen, lehrten sie die Revolution, denn es war für den Einzelnen in der Türkei unmöglich, zugleich ein moderner Mensch und ein treuer Untertan zu sein, wenn er einem der unterworfenen Völker angehörte – den Griechen, Arabern, Kurden, Armeniern oder Albanern –, über welche die Türken so lange zu herrschen vermocht hatten.

Im Vertrauen auf ihren ersten Erfolg ließen sich die Jungtürken von der Logik der von ihnen vertretenen Prinzipien weitertreiben und predigten als Protest gegen die panislamischen Bestrebungen die allgemeine Verbrüderung der Osmanen. Die unterworfenen Völker – weit zahlreicher als die Türken selbst – glaubten nur allzugern, daß man sie zur Mitarbeit am Bau des neuen Ostens aufgerufen habe. Erfüllt von den Lehren Herbert Spencers und Alexander Hamiltons, stellten sie eiligst ein Programm sehr weitgreifender Reformen auf und begrüßten die Türken als ihre Gesinnungsgenossen. Erschrocken über die Kräfte, die sie entfesselt hatten, erstickten die Türken das Feuer so schnell, wie sie es geschürt hatten. Die Türkei den Türken – Yeni-Turan – wurde ihre Parole. Späterhin richtete sich diese ihre Politik naturgemäß auf die Befreiung ihrer Irredenta – die von Rußland unterworfenen Turkvölker in Zentralasien. Aber zuvor mußten sie ihr eigenes Reich von den störenden fremden Volkselementen säubern, die sich der Türkisierung widersetzten. Die Araber, als der stärkste fremde Volksteil in der Türkei, mußten zuerst an die Reihe kommen. So wurden die arabischen Abgeordneten fortgejagt, die arabischen Bünde verboten, die arabischen Notabeln geächtet. Arabische Kundgebungen und die arabische Sprache wurden von Enver-Pascha noch rücksichtsloser unterdrückt als früher von Abdul Hamid.

Doch die Araber hatten einen Vorgeschmack der Freiheit bekommen. Sie konnten ihre Anschauungen nicht so rasch wech