Wie Mikrobiom, Biodiversität, Umwelt und Ernährung unsere Gesundheit bestimmen
Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit – vor allem in Hinblick auf die Vermeidung einer ausufernden Verwendung von Pronomen – haben wir uns dazu entschlossen, alle geschlechtsbezogenen Wörter in eingeschlechtlicher Form – der deutschen Sprache gemäß zumeist die männliche – zu verwenden. Selbstredend gelten alle Bezeichnungen gleichwertig für Frauen und transsexuelle Personen.
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Lektorat: Christine Dobretsberger
ISBN ePub:
978 3 7017 4667 5
ISBN Printausgabe:
978 3 7017 3535 8
Vorwort
Prolog: Geburt
Ein Wunder für sich
Gesundheit ist nicht alles
Systemdenken
Evidenzbasiert
Der Fehlschluss des »naturalistischen Fehlschlusses«
Pflanzliche Ernährung: einfach gesund?
Sauerstoff und freie Radikale
Von den Ursprüngen zur Aufklärung
Die neue Aufklärung: die Welt nach »Fakten«
Aufklärung jetzt: Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt
Evolution
Die Antwort auf viele Fragen
Die Vergangenheit in unseren Genen: Nobody is perfect
Ein Vorteil in der Jugend, aber nachteilig im Alter
Das Alzheimer-Risikogen ApoE4: ein unausweichliches Schicksal?
Testen auf genetisches Risiko?
Trade-off: die Kosten-Nutzen-Bilanz
Abwehr- und Schutzmechanismen
Mismatch: die Ursache vieler Krankheitsbilder
Zwischenfazit Evolution
Epigenetik
Die (unterschätzte) Macht der Epigenetik
DOHaD – Manche Ursprünge von Gesundheit und Krankheit liegen in der frühen Entwicklung
Andere »schlechte« Erfahrungen in der Kindheit
Die ersten tausend Tage
Wenn es bereits zu spät ist
Leben
Was ist Leben?
Carl Woese, 16s rRNA und der Baum des Lebens
Wie viele Arten existieren und wie viele davon sind Bakterienarten?
Symbiosen zum gegenseitigen Vorteil
Ist Leben ohne Mikroben möglich?
Die Welt der Holobionten
Mikrobiom
Eine Folge der Co-Evolution: das Mikrobiom
Hautmikrobiom
Mikrobiom des Genitaltraktes
Mikrobiom der Atemwege
Mundhöhlenmikrobiom
Darmmikrobiom
Der bakterienfeindliche Magen
Der »dünn besiedelte« Dünndarm
Der Dickdarm
Die metabolische Leistung des Mikrobioms
Darmbakterien im Zwiegespräch mit ihrem Wirt
Die Darm-Hirn-Achse
Wenn Darmbakterien dick machen
Horizontaler Gentransfer
Wie sieht eine optimale Mikrobiom-Zusammensetzung aus?
Geteilte Diversität
»Stuhltransplantation« als Therapie?
Der einfachere Weg: Probiotika
Das Mikrobiom eines Holobionten im Laufe des Lebens
Das Lactobiom
Das Mikrobiom und die Gesundheit im Alter
Chronisches Feuer: die gemeinsame Ursache vieler Erkrankungen
Wenn sich zwei Pandemien treffen
Vitamin D, Mikrobiom und COVID-19
Über Gurus, Vitamine und Nazis
Chronische Vorerkrankungen und COVID-19
»Vitamin« D: ein Hormon
Verbindungen zwischen COVID-19 und dem Darmmikrobiom
Einfluss von Vitamin D auf das Darmmikrobiom
Verlust
Ein schmerzlicher Verlust »alter Freunde«
Verlust im Zuge der Urbanisierung
Koprolithen: versteinerter Stuhl
Dunkle Materie
Backup for future: eine Arche Noah für Bakterien
Was sind die möglichen Ursachen dieses mikrobiellen Artenverlustes?
Zu viel Hygiene oder zu wenig Dreck?
Naturkontakt, Erdboden und menschliche Gesundheit
Die reichhaltigste Quelle von Mikroben: unsere Umwelt
Gibt es wissenschaftliche Belege für eine gesundheitsförderliche Wirkung von Mikroben aus der Umwelt?
Der Bauernhof als Erkenntnisquelle der Wissenschaft
Nordkarelien: Von allergischen Finnen und »gesunden« Russen
Exposom
Das Exposom: Was uns tatsächlich krank macht
Einflussfaktoren auf das Mikrobiom: Was das innere Ökosystem schädigt
Antibiotika
Nicht-steroidale entzündungshemmende Medikamente (NSAIDs)
Protonenpumpenhemmer (PPIs)
Nahrungsmittelzusatzstoffe
Emulgatoren
Maltodextrin
Künstliche Süßstoffe
Verdickungsmittel
Farbstoffe
Konservierungsmittel
Umweltchemikalien und das Mikrobiom
Persistente organische Schadstoffe
Schwermetalle
Pestizide
Die unsichtbaren Folgen
Die Pestizidexposition vermeiden durch Biolebensmittel
Eine Kreditkarte wöchentlich: Mikroplastik und Mikrobiom
Endokrine Disruptoren
Feinstaubbelastung und Infektionskrankheiten wie COVID-19: ein unterschätztes Risiko?
Stress und evolutionärer Mismatch
Evolutionäre Vorteile der Stressreaktion
Dauerstress
Stress, der Darm und das Mikrobiom
Künstliches Licht: die schlaflose Gesellschaft und die Folgen
»Im Rhythmus der Natur«: das circadiane System
Das circadiane System und das Mikrobiom
Dauerlicht und evolutionärer Mismatch
Gesunder Schlaf
Schlaf ist daher mindestens genauso wichtig wie Ernährung und Bewegung …
Biodiversität
Die Lehren aus »Biosphere 2«
Das Anthropozän an der Schwelle zum sechsten großen Artensterben
Nichts existiert unabhängig
Der Lachs, der Wald und das unsichtbare Netz des Lebens
Schlüsselarten: Was der Wolf im Yellowstone Nationalpark mit dem Verlauf von Flüssen zu tun hat
Warum Biodiversität für uns lebensnotwendig ist
Biodiversität in unseren Genen
Ökosystemdienstleistungen für unsere Gesundheit
Shinrin-yoku: das Gesundheitspotenzial von grüner Natur
Könnten die positiven Effekte des »Waldbadens« auch auf bakterielle Stoffwechselprodukte zurückzuführen sein?
Geosmin: das »Parfum der Erde«
»Heilige Erde« von einem nordirischen Friedhof
Das Anthropozän und die Bäume
Zoonosen, Spillover und Pandemien
Kalorien
Bewegung und das leidige Thema Kalorien
Der Hypothalamus als Kommandozentrale
Warum Bewegung dennoch wichtig ist
Wenn Sport selbst zum Stress wird
Bewegung: nicht nur ob, sondern wie ist entscheidend
Nahrung
Gesunde Ernährung: Essen für 38 Billionen
Richtig essen für den »inneren Garten«
»Blue Zones«
Ernährung nach dem Vorbild der »mediterranen Diät«
Existiert eine »Ernährungsweisheit« des Körpers?
Pflanzenbetonte Ernährung und Kohlenhydrate
Prebiotika: Futter für Bakterien
Probiotika: hilfreiche Keime
Lebensmittel als »Synbiotika«
Mikrobiom, Ernährung und chronische Entzündung
Nie wieder Fleisch?
Ist bitter besser?
MikroRNAs als gemeinsame Sprache des Pflanzen- und Tierreiches?
Von Exosomen, Exosom-artigen Nanovesikel und MikroRNAs
Warum es im Idealfall bio sein sollte
Das Netz des Lebens und unsere Zukunft
Eine neue Sicht auf das Leben
Vermittlung dieser neuen Sichtweisen
Re-Framing: Unsere Welt anders sehen
»Deep Ecology« und Spiritualität
Frieden mit der Natur schließen
»Naturkapital«: die Ökonomie der Ökologie
Wie könnte es weitergehen?
Dunning-Kruger-Effekt
Epilog: Ein Holobiont stirbt
Weiterführende Quellen
Endnoten
Für meine Eltern in Dankbarkeit
und für Frida – willkommen!
There is a crack in everything
That’s how the light gets in.
Leonard Cohen, Anthem
In komplexen Systemen wie der Medizin und der Ökologie offenbaren sich viele Mechanismen und Zusammenhänge erst dann, wenn es zu Störungen im System mit entsprechenden Symptomen kommt.
Ein ganz aktuelles Beispiel, wenn auch in gänzlich anderem Zusammenhang, ist die Tatsache, dass ein simples Virus das globale Wirtschaftssystem lahmlegen kann. Damit offenbarten sich plötzlich zahlreiche Zusammenhänge unseres Systems, die zeigen, dass dieses alles andere als resilient, also belastbar und stabil ist. Die Symptome zeigen uns, dass ein zentrales Element unseres vulnerablen Systems der globale Warenhandel mit seiner Just-in-time-Produktion ist, die noch dazu hauptsächlich in Asien stattfindet. Davor fiel uns dieser gravierende Systemfehler offenbar kaum auf. Auch in der Medizin sind unzählige zelluläre Mechanismen erst im Zuge von Störungen des Systems, in der Regel in Form von Krankheitssymptomen, entdeckt worden.
Auf systemischer Ebene zeigt uns die globale Zunahme chronischer Krankheiten, dass wir irgendeinen Faktor im System oder einen wichtigen Zusammenhang offensichtlich übersehen haben. Denn während wir ein modernes Gesundheitssystem besitzen und die Forschung seit Jahrzehnten auf Hochtouren läuft, gibt es bis heute kaum langfristig effektive Behandlungen für eine große Zahl der chronischen nicht übertragbaren Krankheiten. Wir müssen uns also auf die Suche machen, um jene bislang unberücksichtigten Faktoren und Mechanismen aufzudecken, die das Leben im Allgemeinen und ein gesundes Leben im Speziellen ermöglichen. Es ist das, was ich in diesem Buch mit »Netz des Lebens« bezeichnen möchte. Es handelt sich dabei um mehrere Bereiche, die auf den ersten Blick vielleicht keinen nennenswerten Zusammenhang untereinander aufzuweisen scheinen. Und dennoch zeigt sich, dass sie alle über das unsichtbare Netz des Lebens – sowohl zeitlich als auch räumlich – miteinander und mit uns in Verbindung stehen und sich zum Teil sogar gegenseitig bedingen. Es gibt zwar sicher noch eine größere Vielfalt an Fäden im komplex gesponnenen Netz des Lebens, ich möchte mich aber in diesem Buch vor allem auf folgende konzentrieren.
Nach einer Bestandsaufnahme zu unserem wissenschaftlichen Weltbild soll uns zunächst die Frage beschäftigen, wie und warum wir so geworden sind, wie wir sind, bzw. warum unsere Körper durchaus anfällig für Krankheiten sind. Viele Antworten hierauf finden wir, wenn wir unsere evolutionäre Vorgeschichte betrachten. Wenn wir diesen Rückblick vornehmen, werden wir auch sehen, dass die Evolution von Arten nicht isoliert stattgefunden hat, sondern immer in Wechselwirkung der Arten untereinander in Verbindung mit den vorherrschenden Umweltbedingungen. Wie uns die Wissenschaft der letzten zehn bis zwanzig Jahre deutlich vor Augen geführt hat, besteht eine diesbezügliche besonders intensive Wechselwirkung des Menschen vor allem mit den zahlreichen Mikroorganismen. Unsere gemeinsame Koevolution mit ihnen hat dazu geführt, dass wir einige von ihnen sogar in unseren Körper dauerhaft aufgenommen haben. Wie vielen anderen Lebewesen auch ermöglichte uns dies, zahlreiche wichtige Stoffwechselprozesse gewissermaßen auszulagern oder zusätzliche »Fähigkeiten« zu erlangen. Diese auf Koevolution beruhende Symbiose ist vor allem durch unser Mikrobiom und seine komplexen Wechselwirkungen mit der Physiologie unseres Körpers manifestiert.
Es sind gerade die mit uns lebenden Mikroorganismen, welche die meisten Fäden des Lebensnetzes der Erde ausmachen und uns in unglaublichem Ausmaß mit unserer Umwelt und der Biosphäre des Planeten verbinden. Das große Gesamtökosystem, die Biosphäre, besteht aus unzähligen kleineren Teilökosystemen, deren Funktion selbst maßgeblich auf der Aktivität von Mikroorganismen beruht. Sie sind quasi das unsichtbare Lebenserhaltungssystem – sowohl des belebten Planeten als auch von uns. Ein weiterer Teil des Lebensnetzes sind somit die Ökosysteme, in denen wir leben, und ihre gesamte Biodiversität. Und von hier aus bestehen wiederum Verbindungen zu uns selbst, denn zahlreiche Umwelteinflüsse (die meisten davon menschengemacht) zusammengenommen, beeinflussen entweder direkt oder über den Umweg des Mikrobioms die alles entscheidende Epigenetik. Dieses erst vor Kurzem in den Fokus der Wissenschaft gerückte Forschungsgebiet schließt das Netz zwischen uns und unserer Umwelt.
Maßgeblich beeinflusst werden sowohl das Mikrobiom als auch die epigenetischen Mechanismen von einem Produkt unserer Umwelt, unserer täglichen Nahrung, die wir aufgrund unserer langen Evolution und individuellen Ausstattung mal besser mal schlechter vertragen. Alles in allem handelt es sich bei den angesprochenen Wissenschaftsdisziplinen um eine durchaus komplexe Materie, zu der jeweils sicher noch lange nicht das letzte Wort gesprochen ist.
Die wissenschaftlichen Ergebnisse der letzten Jahrzehnte machen es uns allerdings bereits jetzt schon möglich, die entscheidenden Zusammenhänge zu erkennen. Eine wichtige Erkenntnis daraus ist, dass es die Gesundheit des Menschen sowohl als Gesamtpopulation als auch als Individuum nur in Verbindung mit gesunden Ökosystemen und der Gesundheit des gesamten Planeten geben kann. Das neueste Schlagwort hierfür ist »Planetary Health«.
Um die Erkenntnisse aus den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen auf systemischer Ebene zusammenzuführen und daraus konkrete Konsequenzen für unsere Gesundheit und die der Erde abzuleiten, bedarf es einer integrativen Sichtweise. Ein Verständnis aller Teildisziplinen bis in das kleinste wissenschaftliche Detail ist dabei für den Einzelnen aber nicht notwendig. Es reicht aus, wenn wir beginnen, die wesentlichen Mechanismen und Verbindungen dieses Netzes zu sehen und zu verstehen und in unsere täglichen Entscheidungen bezüglich Ernährung und Lebensweise im weitesten Sinne miteinzubeziehen. Eine Folge davon wird vielleicht auch eine ganz andere Sicht auf uns und unsere Rolle im Netz des Lebens auf der Erde sein.
»Blut, Schweiß und Tränen«, sagt Luise mit einem erleichterten Lächeln. Das umschreibe kurz gefasst die Geburt ihrer Tochter, die vor zwei Wochen in einem Wiener Krankenhaus das Licht der Welt erblickte. Luise und ihre Tochter sind wohlauf, obwohl »es eigentlich nicht so lief, wie geplant«, zumindest wenn es nach Luise gehen sollte. Sie wollte ihr Kind eigentlich lieber zu Hause auf die Welt bringen als in einem unpersönlichen Krankenhaus mit steriler Atmosphäre und all seiner Hektik.
Als sie ihrem Frauenarzt im Zuge einer der Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen den Plan einer »natürlichen Hausgeburt« eröffnete, fiel dieser aus »allen Wolken« und »wurde richtig unfreundlich«, erinnert sich Luise. »Anstatt mich als Patientin in meinem Wunsch ernst zu nehmen und die Vor- und Nachteile einer Hausgeburt zu besprechen, schürte er nur Unsicherheit und Angst, indem er diverse Horrorszenarien von abgebrochenen Hausgeburten skizzierte.«
Die Hausgeburt einer Erstgebärenden sei wohl die verrückteste und gleichzeitig dümmste Idee, die jemand in einem zivilisierten Land haben könne, so der Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe. »Sie gefährden damit sich und Ihr Kind. Wollen Sie das wirklich?«, fragte der Arzt Luise und wartete keine Antwort ab, ehe er weiter konstatierte, dass in einem Krankenhaus sämtliche Risiken minimiert werden könnten. Dort bestünden nämlich alle Möglichkeiten zur Überwachung durch ein CTG (ein Gerät zur Überwachung der Wehentätigkeit und der kindlichen Herztöne, Anm.), einer medikamentösen Auslösung oder Hemmung der Wehentätigkeit, einer Unterdrückung der Schmerzen durch den Anästhesisten und im Falle von Komplikationen könne sofort ein Kaiserschnitt durchgeführt werden.
Die eindringlichen Worte ihres Arztes brachten Luise zum Grübeln. Immerhin handelte es sich bei ihm um einen sehr erfahrenen und für seine fachlichen Kompetenzen geschätzten Gynäkologen. Was, wenn er recht behalten sollte? War es denn wirklich so eine dumme Idee, sein Kind zu Hause in unterstützender Begleitung einer versierten Hebamme gebären zu wollen?
Die folgende Phase der Entscheidungsfindung gestaltete sich als Achterbahn der Gefühle für Luise, aber auch für ihren Partner, denn beide wollten nur das Beste und sicherlich keine unnötige Gefährdung ihres ungeborenen Kindes. Schließlich wurde ihnen aber eine erfahrene Hebamme empfohlen, die sowohl in einer Geburtsklinik arbeitete, als auch Hausgeburten betreute.
Schon beim ersten Gespräch beruhigte die Hebamme Luise. Sie würde schon seit 20 Jahren Hausgeburten begleiten und es sei bisher eher selten der Fall gewesen, dass sie den Vorgang abbrechen und mit der Gebärenden in ein Spital fahren musste. Vor allem die Tatsache, dass die Hebamme über ein mobiles CTG-Gerät verfügte und somit den Geburtsvorgang – insbesondere das Wohlergehen des Kindes – dadurch überwachen könne, erschien der mittlerweile hochschwangeren Luise Sicherheit und Halt gebend, sodass sie sich letztlich trotz vieler mahnender Gegenstimmen gemeinsam mit ihrem Partner für eine Hausgeburt entschließen konnte.
Einen Tag nach dem errechneten Geburtstermin war es dann so weit. »Die Hebamme war nach 20 Minuten da und alles verlief wie geplant«, erinnert sich Luise. Als dann aber nach sieben Stunden der Geburtsfortschritt im eigenen Schlafzimmer etwas stagnierte, entschied die Hebamme »sicherheitshalber«, wie sie sagte, in die Geburtsklinik, in der sie auch arbeitete, zu fahren. Dort angelangt, wurde die Lage des Babys mittels Bauchultraschall kontrolliert und folglich konnte Luise in einem abgedunkelten Entbindungsraum des Kreißsaals mit Unterstützung ihrer »eigenen« Hebamme und ihres Partner nach weiteren zwei Stunden schließlich ihre Tochter gebären. Und zwar ganz so, wie sie sich das eigentlich für zu Hause vorgestellt hatte: nämlich ohne jegliche medizinische Intervention auf »natürliche Weise«, allerdings nun mit der Sicherheit einer medizinischen Geburtshilfe im Hintergrund »für den Fall des Falles«. Als sogenannte »ambulante Geburt« durfte Luise, nachdem eine Kinderärztin den Neuankömmling untersucht und ihr Einverständnis gegeben hatte, die Geburtsklinik nach vier Stunden wieder verlassen, um gemeinsam mit ihrem »kleinen Wunder« im Wochenbett Bekanntschaft zu schließen. Das Stillen funktionierte wunderbar und die regelmäßigen Nachsorgeuntersuchungen durch die Hebamme fanden stressfrei in häuslicher Umgebung statt.
Viele Frauen wünschen sich wie Luise eine sanfte Geburt mit geringer medizinischer Intervention, am liebsten in vertrauter Umgebung oder in den eigenen vier Wänden. Die moderne Medizin steht derartigen Bestrebungen allerdings sehr skeptisch gegenüber, denn immerhin kommt es selbst in Krankenhäusern, trotz aller Möglichkeiten der modernen Medizin, regelmäßig zu Geburtskomplikationen. Und genau diese haben Ärztinnen und Ärzte im Hinterkopf, wenn sie mit den Wünschen von Frauen nach einer sanften und »natürlichen« Hausgeburt konfrontiert werden.
Aber ist nicht die Geburt ein absolut natürliches Phänomen, das seit Millionen von Jahren reibungslos funktioniert? Wäre sie es nicht, dann gäbe es die Spezies Mensch doch schon längst nicht mehr. Aber so einfach ist die Sache nicht.
Über 130 Millionen Babys werden weltweit jedes Jahr geboren und immer noch sterben 2,4 Millionen Säuglinge innerhalb des ersten Lebensmonats.1 Das sind die bitteren Fakten und die Ursachen hierfür sind vielfältig. Weltweit sterben auch 211 von 100 000 Frauen im Zuge der Geburt.2 Allerdings bestehen erhebliche Unterschiede zwischen wohlhabenden Ländern und sogenannten Entwicklungsländern bzw. Ländern, deren medizinisches System in diesem Bereich mangelhaft ist oder manche Bevölkerungsschichten benachteiligt. Hierzu zählen auch westlich geprägte Länder wie die USA. So sterben in den USA doppelt so viele Kinder während der ersten Lebenstage als in Ländern der EU.3 Das Lebenszeitrisiko, während der Geburt zu versterben, beträgt für Frauen in reichen Ländern 1: 3300 verglichen mit 41:3300 in ärmeren Ländern.
Und tatsächlich ist die Geburt eines Homo sapiens durchaus problembehaftet. Das Missverhältnis des kindlichen Kopfes zum weiblichen Geburtskanal ist bei Menschen im Vergleich zu anderen Primaten besonders auffällig. Die evolutionäre Entwicklung zu einem aufrechten Gang hat zu Veränderungen des weiblichen Beckens geführt, in deren Rahmen es zunehmend zu einem Missverhältnis zwischen Beckendurchmesser und kindlichem Schädel kam.
Eine klassische Kompromisslösung der Evolution, der wir in ähnlicher Form in diesem Buch noch öfters begegnen werden. Die Vorteile des aufrechten Ganges (z. B. freie Hände und soziale Interaktion) wurden quasi gegen Nachteile bei der Geburt »eingetauscht«. Unterm Strich dürften aber die Vorteile des aufrechten Ganges überwogen haben, das zeigt uns der Blick zurück. Aus Sicht der Evolution ist ein schmales Becken von Vorteil, vor allem für unsere Fortbewegung. Auf der anderen Seite erhöhen sich die Überlebenschancen eines Babys, je größer es bei der Geburt ist. Vereinfacht könnte man aus evolutionärer Sicht sagen: Je schmäler das Becken und je größer das Kind, desto besser. Es liegt auf der Hand, dass das nur bis zu einem gewissen Punkt gut gehen kann, nämlich bis zu dem Punkt, an dem das Kind nicht mehr durch den Geburtskanal passt: Dann wird es abrupt fatal. In der Wissenschaft wird dieses Phänomen als »Fitnessklippe« bezeichnet.4
Auch der Übergang zur landwirtschaftlichen Lebensweise vor etwa 10 000 bis 12 000 Jahren, als eine proteinreiche Ernährung von einer kohlenhydratreichen Ernährung abgelöst wurde, könnte zu dem Geburtsdilemma beigetragen haben. Eine aus simplen Kohlenhydraten bestehende Ernährung führt nämlich zu einem erhöhten Geburtsgewicht des Kindes und zu einer geringeren Körpergröße der Mutter. Es konnte nachgewiesen werden, dass eine geringere Körpergröße auch mit einem engeren Geburtskanal verbunden ist. Kleine, übergewichtige Frauen haben somit zumindest zwei unterschiedliche Risikofaktoren für Geburtsprobleme: eine kleinere Beckendimension und eine höhere Wahrscheinlichkeit, ein großes Kind zu gebären.5 Zwischen 1980 und 2013 stieg zudem der prozentuelle Anteil an übergewichtigen und fettleibigen Frauen global von 29,8 Prozent auf 38 Prozent.
Wie wir noch sehen werden, führen eine mangelhafte Ernährung vor und während der Schwangerschaft (weltweit ist eine von drei Frauen mangel- oder fehlernährt) sowie Fettleibigkeit zu zahlreichen weiteren gesundheitlichen Risiken – sowohl für die Mutter als auch für das Kind.
Was auch immer die Ursachen für die durchaus auffällige Komplexität der menschlichen Geburt sein mögen, wir wissen jedenfalls, dass sie im Vergleich zu anderen Menschenaffen erheblich komplizierter verläuft.6
Der Umstand einer evolutionären Kompromisslösung liegt vielen Gesundheitsproblemen zugrunde und wird sowohl von der Medizin als auch der Allgemeinbevölkerung selten beachtet. Das Konzept, dass etwas nicht nur ausschließlich »gut« oder »schlecht« ist, sondern sich eben variabel verhält, weil es keinem perfekten Design unterliegt, passt so gar nicht in unser Weltbild, das wir uns zurechtgelegt haben.
Die Kaiserschnittraten variieren weltweit erheblich von knapp zehn Prozent in Sub-Sahara-Afrika über 15 Prozent in Israel, ca. 30 Prozent in Österreich und Deutschland bis zu etwa 55 Prozent in der Türkei oder Brasilien. Ein echtes »Becken-Kopf-Missverhältnis« (der Kopf des Kindes passt nicht durch den Geburtskanal) ist aber um ein Vielfaches seltener und liegt vermutlich im einstelligen Prozentbereich. Betrachten wir den weltweiten Durchschnitt der Kaiserschnittraten, so sind diese von rund sieben Prozent im Jahr 1990 auf heute 21 Prozent angestiegen.7 Eine Verdreifachung innerhalb von weniger als drei Jahrzehnten. Prognosen zufolge werden die Kaiserschnittraten in diesem Jahrzehnt noch weiter ansteigen. Allerdings ist hier nicht, wie von manchen vermutet, die Evolution am Werk, es handelt sich vielmehr, neben dem Problem des zunehmenden Übergewichtes von Müttern und Föten, um ein vorwiegend soziales Phänomen. Zusammen mit der zu verzeichnenden Abnahme des Stillens, vor allem in Ländern mit hohem Prokopfeinkommen, könnte sich die weiterhin zunehmende Kaiserschnittrate zu einer Gesundheitskrise ungeahnten Ausmaßes entwickeln.
Einem UNICEF-Bericht aus dem Jahr 2018 zufolge werden in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen noch fast neun von zehn Babys zumindest für eine gewisse Zeit gestillt. In Ländern wie Bhutan, Nepal und Sri Lanka sind es sogar 99 Prozent. Im Gegensatz dazu wird in Ländern mit hohem Einkommen mehr als jedes fünfte Baby überhaupt nie gestillt. Und wenn, dann häufig nur für kurze Zeit. Die Gründe hierfür sind vielfältig, aber im Wesentlichen auf gesellschaftliche Phänomene, steigenden Wettbewerb im Arbeitsumfeld von Frauen und deren mangelnde Unterstützung und Aufklärung bezüglich Stillen zurückzuführen. Eine Fahrlässigkeit westlicher Gesellschaften mit zahlreichen negativen Gesundheitsfolgen für Mütter und Kinder, wie sich im Rahmen von wissenschaftlichen Untersuchungen gezeigt hat. Auch davon wird in diesem Buch noch die Rede sein.
Dennoch ist und bleibt die mittlerweile weitgehend routinemäßige Möglichkeit eines Kaiserschnittes eine große medizinische Errungenschaft. Denn vor der Etablierung des Kaiserschnittes, also bis in die 1950er-Jahre, endete eine Geburt für bis zu sechs Prozent der Kinder und Frauen in Europa tödlich.
Die moderne Medizin versucht aus nachvollziehbaren Gründen mit allen ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten (inkl. Antibiotikaprophylaxe, Wehenmittel, Anästhesie und Kaiserschnitt), Geburtskomplikationen und negative Gesundheitsfolgen für Mutter und Kind zu verhindern. Das ist zwar gut so, hat aber auch zu einer gewissen Form der Absicherungsmedizin geführt, denn Patientinnen und Patienten werden immer klagefreudiger und die Regressforderungen können im Falle eines vermeintlichen Geburtsschadens astronomisch ausfallen. Auch die Haftpflichtprämien sind in der Geburtshilfe in schwindelerregende Höhen gestiegen. Laut Deutschem Ärzteblatt müssen beispielsweise niedergelassene Gynäkologinnen und Gynäkologen, die als Belegärzte an Krankenhäusern in der Geburtshilfe arbeiten, im Mittel derzeit rund 60 000 Euro Jahresprämie für ihre Haftpflichtversicherung aufbringen.8
Es ist somit nicht verwunderlich, dass bei einer Krankenhausgeburt alle Register der modernen Schulmedizin gezogen werden, um einen Geburtsschaden so gut wie möglich zu verhindern. Allerdings steht diese Praxis mit dem Credo »So wenig wie möglich und nur so viel wie unbedingt nötig« in zunehmendem Konflikt.
Nehmen wir nur das Beispiel einer vaginalen Infektion mit speziellen Streptokokken in der Spätschwangerschaft. Sie sind eine mögliche Ursache für schwere Infektionen des Neugeborenen mit der Möglichkeit von neurologischen Langzeitfolgen und einer ein- bis dreiprozentigen Sterblichkeitsrate. Während der 1990er-Jahre begann man daher in vielen Ländern mit dem Screening von Schwangeren auf diese Bakterien, um im Fall eines positiven Nachweises standardmäßig eine intravenöse Antibiotikaprophylaxe im Rahmen der Geburt zu verabreichen.
Auch Luise wäre im Zuge ihrer ambulanten Krankenhausgeburt beinahe in den Genuss dieser Antibiotikaprophylaxe gekommen, da sie das Ergebnis des beim niedergelassenen Facharzt durchgeführten Streptokokken-Abstriches nicht zur Hand hatte. Kurz bevor ihr ein Arzt die Infusion verabreichen wollte, fiel ihr das Testresultat ihres Abstriches ein: negativ!
Hätte sie also die routinemäßige Antibiotikaprophylaxe erhalten, wären den Nachteilen keinerlei Vorteile gegenübergestanden. Und noch etwas ist in diesem Zusammenhang wichtig zu erwähnen: Ein wesentlicher Grund, warum sich Luise für eine »natürliche« Hausgeburt entschieden hatte, war, dass sie selbstbestimmt über ihre Geburtsmodalitäten bestimmen wollte. Viele Frauen berichten, dass ihnen gerade diese Selbstbestimmtheit im Krankenhaus mit seiner Hektik und seiner alles bestimmenden Absicherungsmedizin nicht gegönnt wurde.9
Tatsächlich existiert aktuell keine oder nur eine geringe wissenschaftliche Evidenz für die generelle Sinnhaftigkeit einer Antibiotikaprophylaxe während der Spätschwangerschaft und der Geburt, um das Risiko unerwünschter Ereignisse für Mutter und Kind zu reduzieren. Weder im Allgemeinen10 noch im Fall von grünlich-trübem (mekoniumhaltigem) Fruchtwasser11 oder im Fall eines positiven vaginalen Streptokokkennachweises.12
Zu diesem Schluss kommen immerhin die evidenzbasierten Ergebnisse von Studienauswertungen der Cochrane Collaboration, einem globalen, unabhängigen Netzwerk aus Wissenschaftlern, Ärzten und Angehörigen der Gesundheitsfachberufe.
Dafür kristallisiert sich immer deutlicher heraus, dass sich die weitverbreitete Praxis der standardisierten Antibiotikaprophylaxe im Rahmen der Geburt negativ auf die Entwicklung des delikaten kindlichen Darmmikrobioms auswirkt und damit möglicherweise auf den Gesundheitszustand des Kindes im Verlauf seines Lebens.13
Sämtliche medizinische Richtlinien und Empfehlungen zur Antibiotikaprophylaxe bei positivem Nachweis von Streptokokken stammen aus einer Zeit, in der man über die gesundheitliche Bedeutung des Darmmikrobioms noch nichts wusste.
Daraus lässt sich aber keinesfalls reflexartig ableiten, dass eine Antibiotikatherapie keine sinnvolle ärztliche Maßnahme darstellt. Das ist sie nämlich zweifelsohne, allerdings nur unter gewissenhafter Abwägung der Vor- und Nachteile im Rahmen der viel beschworenen, aber in letzter Zeit deutlich in den Hintergrund getretenen ärztlichen Heilkunst.
Im Falle eines positiven Nachweises von Streptokokken der Gruppe B, einhergehend mit der Gefahr einer Neugeborenen-Infektion, besteht vermutlich vor allem bei Vorhandensein von zusätzlichen Risikofaktoren wie Frühgeburt (vor der 37. Schwangerschaftswoche), niedriges Geburtsgewicht, länger dauernde Geburt, frühzeitiger Blasensprung (mehr als 12 Stunden vor der Geburt), schwere Störungen der fetalen Herzfrequenz während der ersten Phase der Wehen und Schwangerschaftsdiabetes durchaus ein präventiver Nutzen einer Antibiotikaprophylaxe.
Es ist nur die undifferenzierte wie unkritische Verabreichung »mit der Gießkanne«, die, wie viele andere »standardisierten Maßnahmen« auch, das sprichwörtliche Kind mit dem Bade ausschüttet und ein Vorgehen nach dem alten medizinischen Ethos »primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare« (»erstens nicht schaden, zweitens vorsichtig sein, drittens heilen«) erheblich erschwert.
Luise hatte Glück. Sie konnte mithilfe einer vertrauten, gut ausgebildeten und erfahrenen Hebamme und der Sicherheit eines gut ausgestatteten medizinischen Sicherheitsnetzes im Hintergrund ihre Bestrebungen nach einer »natürlichen und selbstbestimmten Geburt« mit so wenig medizinischer Intervention wie möglich verwirklichen. Diese Vorgangsweise wäre generell nicht nur wünschenswert, sondern in unserem Gesundheitssystem, im Unterschied zu zahlreichen anderen Ländern, in den meisten Fällen auch möglich. Allerdings ist nichts ohne Risiko, das betrifft in ganz besonderem Maße die Geburt, sei es nun im Krankenhaus oder zu Hause.
Sieht man von den durchaus bestehenden Risiken aber einmal ab, sind Schwangerschaft und Geburt bei genauerer Betrachtung eine unglaubliche Manifestation des unsichtbaren Netzes, das wir Leben nennen.
Eine Schwangerschaft ist ein extrem komplexes und durchaus risikobehaftetes Ereignis, ohne dessen erfolgreichen Verlauf wir uns (weder Sie noch ich) innerhalb dieser Buchseiten nicht gefunden hätten. Grund genug, uns dieses Wunder kurz einmal näher anzusehen.
Die Entstehung eines neuen Menschen ist ein faszinierender Prozess, von dem wir noch lange nicht alle Details verstanden haben. Immerhin sollen sich innerhalb von neun Monaten aus einer einzigen befruchteten Eizelle später einmal die mehr als 300 verschiedenen Zelltypen eines Menschen an der anatomisch richtigen Stelle entwickeln.
Vorher muss sich der am siebten Tage bereits als kleiner Zellhaufen vorliegende Embryo aber erst einmal seine Versorgung sichern und in der Gebärmutterwand einnisten. Dabei entwickeln sich einige der Zellen zum Embryo, aus den anderen beginnt sich in den folgenden Wochen die Plazenta zu bilden. Letztere ist ein unterschätztes temporäres Organ, denn es dient dem ungeborenen Kind für die Zeit im Mutterleib gleichzeitig quasi als »Lunge«, als einzige Nahrungsquelle und als Abfallbeseitigungssystem. Das alles muss eine Plazenta leisten, während sie zusätzlich noch unerwünschte immunologische Vorgänge wie eine Abstoßungsreaktion zwischen zwei genetisch unterschiedlichen Organismen (Mutter und Kind) verhindern soll. Eine ausreichende Versorgung des Kindes mit Sauerstoff und Nährstoffen kann aber nur funktionieren, wenn sich die Plazenta beinahe wie ein invasiv wachsender Tumor tief in das mütterliche Gewebe der Gebärmutter eingräbt. Ein biologischer Balanceakt sondergleichen, der vermutlich erst durch die »Infektion« mit einem Retrovirus möglich wurde.
Plazentatiere wie Primaten, Nagetiere, Hunde und Katzen und deren Plazenten evolvierten vermutlich erst vor 150 bis 200 Millionen Jahren. Davor waren heranwachsende Embryos nur durch Eierschalen geschützt und erhielten ihre Verpflegung in Form eines Dotters.
Die »Infektion« mit dem angesprochenen Retrovirus (ähnlich HIV) ermöglichte die Entwicklung der alles entscheidenden zellulären Barriere zwischen Mutter und Kind: des sogenannten Syncytiotrophoblastens, einer einzigartigen Verschmelzung vieler Zellen, ermöglicht durch ein virales Protein namens Syncytin, dessen genetische Information vor langer Zeit Teil unseres Erbgutes geworden ist.14
Doch auch mit dieser Barriere stehen Mutter und Fötus im Interessenkonflikt. Denn im Laufe der Evolution hat der Fötus Eigenschaften entwickelt, um die Physiologie der Mutter zu manipulieren und die Übertragung von Ressourcen wie Nährstoffe und Energie für die eigene Entwicklung zu erhöhen. Allerdings kann der Energiebedarf des Wachstums eines zweiten, energiehungrigen Gehirns im Mutterleib eine Frau gegen Ende der Schwangerschaft metabolisch an ihr energetisches Limit bringen. Der Körper der Mutter hat daher Gegenmaßnahmen entwickelt, um einen übermäßigen Ressourcenfluss zu verhindern. Überschreitet schließlich der fetale Bedarf an Nährstoffen die Möglichkeiten der Mutter, endet die Schwangerschaft und die Geburt beginnt. Bis dahin aber handelt es sich aus biologischer und physiologischer Sicht bei einem Fötus um so etwas wie einen Parasiten, einen gutartigen Tumor, oder ein nicht abgestoßenes, genetisch fremdes Transplantat.
Und noch etwas Erstaunliches findet zwischen Fötus und Mutter statt, wofür die Wissenschaft derzeit nur unzureichende Erklärungen hat. Im Laufe der Schwangerschaft passieren offenbar einzelne fetale Zellen die Plazenta und gelangen so in den Blutkreislauf der Mutter. Wie Stammzellen sind auch fetale Zellen pluripotent, was bedeutet, dass sie sich in viele Gewebearten »verwandeln« bzw. differenzieren können. Im Blut der Mutter angekommen, zirkulieren diese Zellen im Körper und lagern sich in verschiedene Gewebe ein, wo sie sich über chemische Hinweise von benachbarten Zellen ganz unauffällig in das umgebende Gewebe integrieren können. Dieses Phänomen wurde vor mehreren Jahrzehnten entdeckt, als im Blut einer Frau mehr oder weniger zufällig männliche DNA nachgewiesen wurde. Der wissenschaftliche Ausdruck hierfür ist Mikrochimärismus, benannt nach Chimära, einem Mischwesen der griechischen Mythologie.
Mikrochimärismus kann besonders komplex werden, wenn eine Mutter neuerlich schwanger wird. Das Vorhandensein von fetalen Zellen im Körper der Mutter könnte sogar regulieren, wie schnell sie wieder schwanger werden kann. Die Entdeckung dieses Phänomens und seine mögliche Grundlage für zahlreiche noch unverstandene medizinische Folgen hat ein gänzlich neues Forschungsfeld eröffnet.15
Doch zurück zur frühen Phase einer Schwangerschaft. Ab dieser Zeit befindet sich ein Embryo in einer absolut kritischen Entwicklungsphase. Schädigende Faktoren wie Alkohol, Nikotin, Mangelernährung, Infektionen und zahlreiche andere Umwelteinflüsse können schwerwiegende und weitreichende Folgen für die weitere Entwicklung haben. Das Problem dabei ist, dass eine werdende Mutter zu diesem Zeitpunkt in der Regel noch gar nicht weiß, dass sie schwanger ist. Einer der ersten Hinweise während dieser Zeit ist die Übelkeit. Aus evolutionärer Sicht eine sinnvolle Einrichtung, denn sie reduziert die Wahrscheinlichkeit der Aufnahme von potenziell den Embryo schädigenden Substanzen.
Um die fünfte Woche, der Embryo ist jetzt etwa drei Millimeter groß, kann der Schwangerschaftstest bereits ein positives Ergebnis zeigen. Das Herz beginnt erstaunlicherweise schon jetzt zu schlagen, obwohl es noch lange nicht fertig entwickelt ist.
Um die 12. Woche können Gynäkologen im Ultraschall unter Umständen bereits das Geschlecht des werdenden, ca. vier Zentimeter großen Kindes erkennen, das davor, im Frühstadium der Entwicklung, noch indifferent angelegt ist. Nur aufgrund der Informationen auf einem ganz kleinen Genabschnitt des männlichen Y-Chromosoms verläuft die Embryonalentwicklung weiter in Richtung männlich.16
Ohne dieser Information würden sich die embryonalen Geschlechtsanlagen gewissermaßen standardmäßig in Richtung weiblich differenzieren. Von wegen, Eva wurde aus einer Rippe Adams geformt …
Ein entscheidendes Element des Lebensnetzes, ohne das weder menschliche Evolution noch Nachwuchs möglich wären, sind die bereits zu diesem frühen Zeitpunkt angelegten mehreren Millionen von Eizellen in den winzigen Eierstöcken weiblicher Föten. Sie werden ab diesem Zeitpunkt nur noch weniger. Neue Eizellen werden, im Gegensatz zu den zeitlebens neu gebildeten männlichen Samenzellen, nicht produziert. Bereits zum Zeitpunkt der Geburt sind es schon erheblich weniger und bei Erreichen der Pubertät nur mehr ein paar Hunderttausend. Im Laufe des Lebens einer Frau werden im Zuge des Eisprungs überhaupt nur wenige Hundert ausgereifte Eizellen freigesetzt.
Spätestens nach den ersten drei Monaten der Schwangerschaft ist es bei den meisten Frauen dann offiziell: Sie und ihr Umfeld wissen nun, dass ein Baby erwartet wird. Die kritische Phase der Entwicklung mit der Anlage aller Organe ist nun ebenfalls vorüber. Auch die Übelkeit ist in Übereinstimmung damit verschwunden.
In den folgenden Wochen und Monaten wächst und reift der Fötus weiter. Die werdende Mutter muss jetzt »für zwei essen« und die Umstellungen in ihrem Körper (inklusive der Bakterien in ihrem Darm) führen dazu, dass sie aus der aufgenommenen Nahrung deutlich mehr Energieausbeute erzielt.17
Um die 17. Woche sind auch die Ohren schon so weit entwickelt, dass das Baby Geräusche wahrnehmen kann. Auch andere Sinne, wie etwa der Geschmackssinn, beginnen sich in der Folge zu entwickeln, was dem Baby ermöglicht, über das Fruchtwasser zu schmecken, was die Mutter mit der Nahrung zu sich nimmt. Möglicherweise der Beginn der kindlichen Geschmacksprägung.18
Fast schwerelos, wie ein kleiner Astronaut, schwebt das Kind, über die Nabelschnur mit dem Mutterschiff verbunden, während der nächsten Wochen und Monate in der Fruchtblase dem Geburtszeitpunkt entgegen. Während dieser Zeit reifen die Lunge, das Gehirn und andere Organe weiter heran, das Baby beginnt hell und dunkel zu »sehen« und Töne immer deutlicher wahrzunehmen.
Ungefähr ab der 35. Schwangerschaftswoche ist die fetale Entwicklung abgeschlossen und das ab jetzt nur mehr wachsende und an Gewicht zunehmende Kind bereitet sich auf den großen Schritt in die Welt vor. Jede einzelne Zelle des herangewachsenen Kindes besteht ausschließlich aus den von der Mutter während der Schwangerschaft über die Nahrung aufgenommenen Molekülen bzw. deren chemischen Elementen.
Allein über den erstaunlichen wie physiologisch komplexen Anpassungsvorgang im Zuge der Geburt könnte man sowohl aus Sicht der Mutter als auch aus Sicht des Kindes mehrere Bücher füllen. Tatsächlich aber müssen Mutter und Kind zum Zeitpunkt der Geburt, nach neunmonatigem Interessenkonflikt um energetische Ressourcen, mehr denn je kooperieren. Es geht um viel und der Geburtsschmerz scheint ein wichtiges Korrektiv zu sein. Bis zur Abnabelung bleibt die menschliche Geburt aber ein durchaus riskantes Unterfangen, das medizinische Entscheidungen so schwierig macht.
Ein erfolgreicher Geburtsvorgang ist aber mit der Abnabelung des Kindes und Ausstoßung der jetzt nutzlos gewordenen Plazenta keinesfalls zu Ende. Man könnte durchaus noch das erste Stillen als einen wichtigen Teil der Geburt bezeichnen, denn durch das dabei im mütterlichen Organismus ausgeschüttete Hormon Oxytocin wird die Gebärmutter zusammengezogen. Diese Nachwehen sind ein wichtiger Vorgang für die Mutter, der das Risiko für eine gefürchtete atonische Nachblutung reduziert.
Hier endet die Bedeutung des unscheinbaren, aus lediglich neun Aminosäuren bestehenden Hormons Oxytocin aber nicht. Es wird beim regelmäßigen Stillen ausgeschüttet und gilt als das menschliche Bindungshormon schlechthin (daher auch als Kuschelhormon bezeichnet). Auch fernab von Geburt und Stillen spielt Oxytocin eine zentrale Rolle bei der Ausbildung zwischenmenschlicher Beziehungen (Vertrauen und Empathie) und bei der Bewältigung von Stress. Selbst unser Essverhalten und unser Stoffwechsel scheinen seinem Einfluss zu unterliegen, wobei ein Mangel davon bei der Entstehung von Übergewicht beteiligt sein dürfte.19
Dieser kurze Ausflug an den Beginn des Lebens zeigt uns deutlich, dass fundamentale, komplexe Prozesse wie Schwangerschaft und Geburt durchaus störungsanfällig sein können und keineswegs immer problemlos verlaufen. Dennoch haben Jahrmillionen der Evolution lebenserhaltende Mechanismen entstehen lassen, die, wenn nicht durch abstrakte Vorstellungen und falsche Vorgaben behindert, einen positiven Ausgang in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle ermöglichen.
Wie aufgeheizt die Diskussion um die Frage ist, ob eine Hausgeburt oder eine Krankenhausgeburt die sicherste Option sei, zeigte sich 2010, als eine aufgrund der mangelhaften Methodik heftig kritisierte Publikation erschien.20 Diese Auswertung mehrerer Studien der vergangenen Jahrzehnte aus mehreren Ländern schlussfolgerte mit einem einzigen vernichtenden Satz: »Weniger medizinische Eingriffe während einer geplanten Hausgeburt sind mit einer Verdreifachung der neonatalen Sterblichkeitsrate verbunden.« Dreimal dürfen Sie raten, wie in der Folge die skandalisierenden Überschriften in den internationalen Medien lauteten. Die unkritische Übernahme von einfachen und griffigen Aussagen, ohne sich über das Zustandekommen derartiger »Ergebnisse« ein differenziertes Bild zu machen, ist typisch und eines der größten Probleme in der Kommunikation und öffentlichen Wahrnehmung von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen. Tatsächlich war die methodische Vorgangsweise der Studien mehr als fraglich, was sich auch in entrüsteten Kritiken und Gegendarstellungen in derselben Fachzeitschrift niederschlug.21
So wurden beispielsweise einerseits Daten aus Geburtsregistern der 1980er- und 1990er-Jahre aus einem einzigen US-Bundesstaat inkludiert und andererseits die Ergebnisse unterschiedlicher Länder in einen Topf geworfen. Dass das US-Gesundheitssystem nicht gerade zu den besten zählt, ist bekannt, auch die Tatsache, dass wir nicht mehr in den 1980er-Jahren leben. Gerade was die gesundheitspolitischen Maßnahmen in Bezug auf Schwangerschaft und Geburt betrifft, gehen die meisten Länder eigene Wege. Die Daten fallen daher auch extrem unterschiedlich aus.
Die Ergebnisse einer Auswertung geplanter Hausgeburten (ohne Risikoschwangerschaften) aus Spanien wurde erst im April 2021 publiziert.22
Sie zeigten, dass Frauen ohne Risikoschwangerschaft im Zuge von geplanten Hausgeburten mit einer qualifizierten Hebamme eine höhere Wahrscheinlichkeit einer spontanen vaginalen Entbindung aufwiesen und diese mit guter Gesundheit der Mütter einhergingen. Darüber hinaus war das Risiko einer Krankenhausverlegung gering (10,7 Prozent) und die Rate des Stillens länger als ein Jahr mit 99 Prozent extrem hoch. Ähnlich positive Daten liegen u. a. aus British Columbia (Kanada)23, Norwegen24, Ontario (Kanada)25 und interessanterweise auch Nordamerika26 vor.