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ZUM BUCH

Alice Love ist neunundzwanzig, verrückt nach ihrem Mann und schwanger mit ihrem ersten Kind. Schön wäre es – denn zu ihrer Überraschung erfährt sie nach einem Sturz im Fitnessstudios und einem anschließenden Krankenhausaufenthalt, dass die Flitterwochen vorbei sind, die Scheidung läuft und sie mit 39 Jahren drei Kinder hat. Alice will die Ereignisse eines verlorenen Jahrzehnts rekonstruieren und gleichzeitig versuchen, ihr altes Leben zurückzubekommen. Sie muss herausfinden, warum ihre Schwester kaum noch mit ihr spricht, und wie es sein kann, dass sie zu einer dieser superdünnen Frauen mit teuren Klamotten geworden ist. Und warum glaubt ihr Mann, sie wolle ihn nicht mehr zurückhaben, sobald sie sich wieder erinnern kann, was in den letzten Jahren passiert ist?

Vergessen kann sowohl Segen oder Fluch sein – es liegt in Alices Hand …

ZUR AUTORIN

Liane Moriarty lebt mit ihrer Familie in Sydney und ist seit Jahren auf den internationalen Bestsellerlisten vertreten. Ihre Romane verkauften sich weltweit über 20 Millionen Mal und werden insgesamt in 46 Ländern veröffentlicht. Mit der Filmadaption von »Big Little Lies« eroberte die Autorin zudem Hollywood: Die Serie wurde mit einem Emmy und dem Golden Globe ausgezeichnet. Hauptdarstellerin und Produzentin Nicole Kidman verfilmte auch »Neun Fremde«, die Rechte sicherte sich Amazon Prime.

LIANE

MORIARTY

ALLE

außer

ALICE

ROMAN

AUS DEM ENGLISCHEN

VON SYLVIA STRASSER

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Überarbeitete Neuveröffentlichung 10/2021

Copyright © 2009 by Liane Moriarty,

Titel der australischen Ausgabe: What Alice Forgot

Copyright © der deutschsprachigen Übersetzung by Bastei Lübbe AG,

Köln Copyright © 2021 dieser Ausgabe by Diana Verlag,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Antje Steinhäuser

Umschlaggestaltung: Verlagsatelier Romy Pohl, Landsberg am Lech

Umschlagmotive: © 2M media/Shutterstock.com

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-28399-5
V001

www.diana-verlag.de

Das ganze Leben besteht aus Erinnerungen,

abgesehen von jenem gegenwärtigen Augenblick,

der so schnell vorbeigeht,

dass man ihn kaum wahrnimmt.

TENNESSEE WILLIAMS

Die Ehe ist eine Tortur.

JOSEPH CAMPBELL

Für Adam

1

Die Arme ausgebreitet, trieb sie im Wasser, das sanft gegen ihren Körper plätscherte, und nahm den sommerlichen Duft von Salz und Kokosnuss wahr. Sie hatte einen angenehmen Geschmack vom Frühstück im Mund – Croissants, Schinken und Kaffee. Als sie das Kinn hob, musste sie die Augen zusammenkneifen und blinzeln, um ihre Füße sehen zu können, so grell wurde die Morgensonne vom Wasser reflektiert. Ihre Fußnägel waren lackiert, jeder in einer anderen Farbe: rot, gold, lila. Lustig. Der Nagellack war unordentlich aufgetragen worden und warf kleine Blasen.

Neben ihr befand sich noch jemand im Wasser. Jemand, den sie schrecklich gernhatte, der sie häufig zum Lachen brachte und dessen Fußnägel genauso lackiert waren wie ihre. Diese andere Person wackelte ihr freundschaftlich mit ihren nassen Zehen zu. Träge Zufriedenheit erfüllte sie. Irgendwo in der Ferne rief eine Männerstimme: »Marco?«, und ein Chor aus Kinderstimmen antwortete: »Polo!« Der Mann schrie abermals: »Marco, Marco, Marco?«, und die Stimmen riefen fröhlich zurück: »Polo, Polo, Polo!« Ein Kind lachte ausgelassen.

Eine Stimme sagte ihr ruhig und eindringlich ins Ohr: »Alice?« Sie ließ ihren Kopf in den Nacken fallen und das kühle Wasser über ihr Gesicht fluten.

Winzige Lichtpünktchen tanzten ihr vor den Augen.

War das ein Traum oder eine Erinnerung?

»Ich weiß es nicht«, sagte eine panische Stimme. »Ich hab nicht gesehen, wie es passiert ist.«

Ach, mach dir doch nicht ins Hemd.

Der Traum oder die Erinnerung oder was immer es war, löste sich auf, verflüchtigte sich wie ein Spiegelbild im Wasser. Stattdessen wirbelten ihr Gedankenfetzen durch den Kopf, so als wachte sie spät an einem Sonntagmorgen aus einem langen, tiefen Schlaf auf.

Ist Frischkäse eigentlich ein Weichkäse?

Ein Hartkäse ist es jedenfalls nicht. Er ist …

… überhaupt nicht hart. Logischerweise sollte man also …  denken. Etwas denken.

Etwas Logisches.

Lavendel ist wunderschön.

Logischerweise wunderschön.

Der Lavendel muss zurückgeschnitten werden!

Hier riecht es nach Lavendel.

Nein, tut es nicht.

Doch, tut es.

In diesem Moment bemerkte sie zum ersten Mal die Schmerzen in ihrem Kopf. Er tat auf der einen Seite so höllisch weh, als hätte ihr jemand einen Schlag mit dem Hammer verpasst.

Ihre Gedanken schärften sich. Woher kamen diese Kopfschmerzen? Niemand hatte etwas von Kopfschmerzen gesagt. Sie hatte eine ganze Liste von merkwürdigen Dingen, auf die sie gefasst sein musste, Dinge wie Sodbrennen, den Geschmack von Aluminiumfolie im Mund, Schwindel, bleierne Müdigkeit, aber rasende Kopfschmerzen gehörten nicht dazu. Das hätte man ihr aber sagen müssen, weil die Schmerzen wirklich schlimm waren. Andererseits, wie sollte das werden, wenn sie nicht einmal imstande war, hundsgewöhnliche Kopfschmerzen auszuhalten?

Der Lavendelduft wehte heran und wieder fort wie eine laue Brise.

Sie ließ sich von Neuem treiben.

Das Beste wäre, einfach wieder einzuschlafen und diesen bezaubernden Traum mit dem Wasser und den verschiedenfarbigen Fußnägeln weiterzuträumen.

Vielleicht hatte man sie ja vor Kopfschmerzen gewarnt, und sie hatte es nur vergessen? Ja, richtig, jetzt fiel es ihr wieder ein. Ganz üble Kopfschmerzen. Na toll.

Da war so vieles, das man beachten musste. Kein Frischkäse, kein geräucherter Lachs, kein Sushi, weil man von diesen Nahrungsmitteln etwas bekommen konnte, von dessen Existenz sie nicht einmal etwas geahnt hatte. Listeriose. Wurde hervorgerufen durch Bakterien, die Listerien hießen. Schädlich für das Baby. Deshalb durfte man auch keine Reste essen. Ein einziger Bissen von einer übrig gebliebenen Hähnchenkeule konnte das Baby töten. Die enorme Verantwortung einer Mutter.

Jetzt würde sie erst mal weiterschlafen. Das war das Beste.

Listerien.

Wisterien.

Die Wisteria über dem Gartenzaun wird hinreißend aussehen, wenn sie es irgendwann einmal schaffen sollte zu blühen. Listerien, Wisterien.

Ha! Komische Wörter sind das.

Sie lächelte, aber ihr Kopf tat wirklich höllisch weh. Sie gab sich alle Mühe, tapfer zu sein.

»Alice? Kannst du mich hören?«

Der Lavendelduft wurde wieder stärker. Es war ein süßlicher Duft, ein bisschen Übelkeit erregend.

Frischkäse ist ein streichfähiger Käse. Nicht zu weich, nicht zu hart, gerade richtig. Wie das Bett des kleinen Bären.

»Ihre Augenlider flattern. Als ob sie träumen würde.«

Es hatte keinen Sinn. Sie konnte nicht wieder einschlafen, obwohl sie so müde war, dass sie das Gefühl hatte, bis in alle Ewigkeit schlafen zu können. Hatten alle Schwangeren so grauenvolle Kopfschmerzen? Sollten sie dadurch auf die Geburtswehen vorbereitet, gleichsam abgehärtet werden? Gleich nach dem Aufstehen würde sie in ihren Babybüchern nachsehen, ob sie etwas darüber fand.

Sie vergaß immer wieder, wie nervtötend Schmerzen waren. Einfach grausam. Geradezu kränkend. Man wollte nichts weiter, als dass sie aufhörten, und zwar auf der Stelle, bitte sehr. Eine Periduralanästhesie, jawohl, das war genau das, was sie jetzt brauchte. Bitte eine PDA für meine Kopfschmerzen. Vielen Dank.

»Alice, kannst du die Augen öffnen? Bitte versuch es.«

Zählte Frischkäse überhaupt zu Käse? Auf eine Käseplatte gab man schließlich keinen Klacks Frischkäse. Vielleicht hatte »Käse« in »Frischkäse« eine andere Bedeutung als »Käse«. Sie würde ihren Arzt fragen, nur für den Fall, dass das wieder einer von diesen peinlichen »O-Alice!«-Schnitzern war.

Es war so furchtbar unbequem. Die Matratze fühlte sich wie kalter Beton an. Warum nicht ein Stück rutschen und Nick mit dem Fuß anstupsen, damit er sich im Schlaf umdrehte, sie an sich zog und sie sich in seine Arme kuscheln konnte? Nick, ihre menschliche Wärmflasche.

Wo war er eigentlich? War er schon aufgestanden? Vielleicht kochte er ihr eine Tasse Tee.

»Nicht bewegen, Alice. Bleib einfach still liegen und mach die Augen auf, Schätzchen.«

Elisabeth weiß bestimmt, wie es sich mit dem Frischkäse verhält. Sie wird ihr die Sache exakt erklären. Mum hingegen hat garantiert keinen blassen Schimmer. Sie wird sagen: »O nein, ach, du großer Gott! Ich bin sicher, dass ich Frischkäse gegessen habe, als ich mit euch beiden schwanger war! Damals hat man das alles doch noch gar nicht gewusst!« Sie wird reden und reden und beunruhigt sein, weil sie, Alice, versehentlich gegen eine Regel verstieß. Mum glaubte an Regeln. Sie selbst übrigens auch.

Frannie würde zwar nicht wissen, wie es sich mit dem Frischkäse verhielt, aber sie würde sich ganz stolz daranmachen, es mithilfe ihres neuen Computers herauszufinden, so wie sie Alice und Elisabeth früher immer geholfen hatte, in ihrer Encyclopædia Britannica nachzuschlagen, wenn sie Informationen für irgendwelche Schulprojekte benötigten.

Ihr Kopf tat wirklich weh.

Die Schmerzen waren wahrscheinlich nur ein winziger Bruchteil dessen, was sie in den Wehen erwarten würde. Das war großartig, einfach großartig.

Es war ja nicht so, dass sie tatsächlich Frischkäse gegessen hätte. Jedenfalls nicht dass sie wüsste.

»Alice? Alice!«

Sie mochte Frischkäse eigentlich gar nicht.

»Hat schon jemand einen Krankenwagen gerufen?«

Wieder dieser Lavendelduft.

Einmal, als sie sich im Auto gerade abschnallten, hatte Nick, die Hand schon auf dem Türgriff (als Reaktion auf eine Bemerkung von ihr, mit der sie auf Bestätigung aus war), geantwortet: »Red keinen Unsinn, du dumme Gans, du weißt doch ganz genau, dass ich total verrückt nach dir bin.«

Sie hatte die Autotür geöffnet und die Sonne auf ihren Beinen gespürt und den Lavendel gerochen, den sie neben dem Vordereingang gepflanzt hatte.

Total verrückt.

Es war ein nach Lavendel duftender Augenblick purer Glückseligkeit gewesen, als sie vom Einkaufen kamen.

»Ja, er ist schon unterwegs. Ich habe dreimal die Null gewählt! Den Notruf! Zum allerersten Mal in meinem Leben! Ich war richtig nervös. Ich hätte beinah 911 gewählt wie in Amerika. Ich hatte die Neun schon gedrückt. Ich gucke eindeutig zu viel von diesen amerikanischen Serien.«

»Hoffentlich ist es nichts Ernstes. Ich meine, sie könnte mich doch nicht verklagen oder so? Meine Choreografie war doch nicht zu schwer, oder?«

»Na ja, diese letzte Spin-Pirouette war vielleicht ein bisschen viel, wenn einem nach dem Double Kick und dem anschließenden Reverse Turn sowieso schon schwindlig war.«

»Das ist ein Fortgeschrittenenkurs! Mache ich es zu einfach, beschweren sich die Leute. Ich biete Alternativen an! Die einzelnen Abschnitte bauen aufeinander auf. Herrgott, man kann es den Leuten aber auch nie recht machen!«

War das eine Radiosendung, bei der die Zuschauer anrufen konnten, die da im Hintergrund lief? Sie hasste diese Sendungen. Die Anrufer waren immer so exzentrisch, immer jagte ihnen irgendetwas Angst ein. Alice hatte einmal gesagt, dass ihr noch nie irgendetwas Angst gemacht habe, worauf Elisabeth entgegnet hatte, dass das aber wirklich beängstigend sei.

Die Augen fest geschlossen, sagte sie laut: »Hast du das Radio an, Nick? Ich habe solche Kopfschmerzen, weißt du.« Ihre Stimme klang quengelig und gar nicht nach ihr, aber schließlich war sie schwanger, und ihr Kopf schmerzte, und ihr war kalt, und irgendwie fühlte sie sich … merkwürdig.

Vielleicht lag das an der morgendlichen Übelkeit?

War es überhaupt Morgen? O Alice!

»Alice, kannst du mich hören? Kannst du mich hören, Alice?«

Rosine, kannst du mich hören? Kannst du mich hören, Rosine?

Nick legte jeden Abend vor dem Schlafengehen eine leere Klopapierrolle an ihren Bauch, durch die er mit dem Baby redete. Das hatte er in irgendeiner Radiosendung aufgeschnappt. Dort war behauptet worden, das Ungeborene würde auf diese Weise lernen, die Stimme seines Vaters zu erkennen.

»Hey!«, rief er. »Kannst du mich hören, Rosine? Hier spricht dein Vater! Wie geht es dir?« Sie hatten irgendwo gelesen, dass das Baby jetzt die Größe einer Rosine hatte. Deshalb nannten sie es so. Natürlich nur, wenn sie allein waren. Sie waren coole Eltern in spe. Kein albernes Benehmen in der Öffentlichkeit.

»Alles okay, danke, Dad«, antwortete die Rosine, »manchmal langweil ich mich ein wenig, aber ansonsten alles bestens.« Anscheinend hatte sie irgendwann die Nase voll von all dem stinklangweiligen Grünzeug, das ihre Mummy aß, und wünschte sich zur Abwechslung mal eine richtige Pizza. »Schluss mit dem Kaninchenfutter!«, lautete Rosines Forderung.

Die Rosine würde aller Wahrscheinlichkeit nach ein Junge werden. Dieser Meinung waren sie beide. Sie hatte jetzt schon so etwas Männliches. Der kleine Halunke.

Alice legte sich entspannt auf den Rücken, wenn Nick mit dem Ungeborenen sprach, und betrachtete seinen Kopf. Ein paar glänzende Silberfäden durchzogen seine Haare. Sie wusste nicht, ob er es selbst schon gesehen hatte, deshalb sagte sie nichts. Er war zweiunddreißig. Die Silberfäden trieben ihr Tränen in die Augen. Zu viele verrückte Schwangerschaftshormone.

Alice redete nie laut mit ihrem Baby. Aber sie sprach im Stillen mit ihm, in der Badewanne (das Wasser durfte nicht zu heiß sein – eine von den unzähligen Regeln, die man beachten musste), ganz scheu. Hallo, Baby, sagte sie im Geist, und dann war sie jedes Mal so überwältigt von dem Wunder des Lebens, das da in ihr heranwuchs, dass sie mit der flachen Hand das Wasser verwirbelte wie ein Kind in der Vorfreude auf Weihnachten. Ihr dreißigster Geburtstag stand vor der Tür, auf dem Haus lastete eine horrende Hypothek, sie hatte einen Ehemann und erwartete ein Kind, und trotzdem fühlte sie sich fast noch wie eine Fünfzehnjährige.

Der einzige Unterschied zu damals war, dass sie noch nicht diese Augenblicke ungetrübter Glückseligkeit beim Einkaufen von Lebensmitteln gekannt hatte. Nick war noch nicht in ihr Leben getreten. Ihr würde noch einige Male das Herz gebrochen werden, bevor er auftauchte und es mit Wörtern wie »total verrückt nach dir« wieder zusammenklebte.

»Alice? Alles in Ordnung? Bitte, mach die Augen auf!«

Eine Frauenstimme, zu laut und schrill, als dass man sie ignorieren könnte. Sie zerrte sie hoch, zurück ins Bewusstsein, und ließ sich nicht abschütteln.

Die Stimme reizte Alice auf eine vertraut unangenehme Weise, wie das Kratzen einer zu engen Strumpfhose.

Diese Person hatte in ihrem Schlafzimmer nichts zu suchen. Sie drehte den Kopf langsam auf die Seite. »Au!« Sie öffnete die Augen.

Nicht identifizierbare Farben und Formen, alle miteinander verschmolzen. Sie konnte nicht einmal ihr Nachttischchen erkennen, auf dem ihre Brille lag. Ihre Augen wurden offenbar schlechter.

Sie blinzelte und blinzelte noch einmal, und dann endlich fokussierte sich ihr Blick wie ein Fernglas, das man auf die richtige Entfernung eingestellt hat. Das waren Knie, die sie direkt vor sich sah. Wenn das nicht komisch war!

Knubbelige, blasse Knie.

Sie hob ihr Kinn ein ganz klein wenig an.

»Da bist du ja endlich wieder!«

Von allen Leuten war es ausgerechnet Jane Turner aus der Firma, die neben ihr kniete. Ihr Gesicht war gerötet, schweißnasse Haare klebten ihr auf der Stirn. Ihre Augen wirkten müde. Und ihr Hals! Alice war noch nie aufgefallen, wie weich und schwabbelig er war. Sie trug ein verschwitztes T-Shirt und Shorts. Ihre dünnen weißen Arme waren mit dunklen Leberflecken übersät.

Alice hatte noch nie zuvor so viele unbedeckte Körperteile von Jane gesehen. Es war irgendwie peinlich. Die arme alte Jane.

»Listerien, Wisterien«, murmelte Alice im Scherz.

»Du redest wirres Zeug«, sagte Jane. »Bleib schön liegen. Nicht aufsetzen!«

»Hmpf«, machte Alice und versuchte, ihren Kopf zu heben. »Ich will mich gar nicht aufsetzen.« Sie hatte das Gefühl, gar nicht im Bett zu liegen, sondern auf einem kühlen Laminatboden. War sie betrunken? Hatte sie etwa vergessen, dass sie schwanger war, und sich sinnlos betrunken?

Ihr Frauenarzt war ein weltgewandter Mann mit Fliege und einem runden Gesicht, das einem von Alice’ Ex-Freunden irritierend ähnlich sah. Er habe kein Problem mit einem »sagen wir, Aperitif und einem Glas Weißwein zum Essen«, meinte er. Alice dachte, ein Aperitif sei eine bestimmte Spirituosenmarke (»O Alice!«, seufzte Elisabeth). Nick hatte ihr erklärt, ein Aperitif sei ein appetitanregender Drink, den man vor dem Essen zu sich nehme. Nick kam aus einer Aperitif trinkenden Familie. Alice kam aus einer Familie, wo in der Küche ganz hinten im Regal eine verstaubte Flasche Baileys hoffnungsvoll hinter den Spaghetti stand. Obwohl ihr Frauenarzt also nichts gegen ein gelegentliches Gläschen einzuwenden hatte, hatte Alice nur ein halbes Glas Champagner getrunken, seit sie den Schwangerschaftstest gemacht hatte, und selbst das mit schlechtem Gewissen, auch wenn alle sie beruhigten und meinten, das sei völlig in Ordnung.

»Wo bin ich?«, fragte sie. Sie hatte Angst vor der Antwort. War sie in irgendeinem verrufenen Nachtklub gelandet? Wie sollte sie Nick erklären, dass sie ihre Schwangerschaft offenbar vergessen hatte?

»Du bist im Fitnessstudio«, erwiderte Jane. »Du bist hingefallen und ohnmächtig geworden. Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt, mir ist fast das Herz stehen geblieben! Obwohl ich zugeben muss, dass ich froh war über die Verschnaufpause.«

Im Fitnessstudio? Alice ging doch nicht ins Fitnessstudio. War sie betrunken in einem Fitnessstudio aufgewacht?

»Sie haben das Gleichgewicht verloren«, warf eine schrille, muntere Stimme ein. »Sie sind ganz schön auf den Boden geknallt. Sie haben uns allen einen Mordsschrecken eingejagt, Sie kleiner Unglücksrabe! Aber keine Angst, der Krankenwagen ist schon unterwegs, es kann nicht mehr lange dauern, bis professionelle Hilfe kommt!«

Die Stimme gehörte einer dünnen, kaffeefarben gebräunten Frau mit einem blondierten Pferdeschwanz. Sie kniete neben Jane und trug glänzende Lycrashorts und ein knappes rotes Top mit dem leuchtenden Schriftzug STEP CRAZY auf der Brust. Sie war Alice auf Anhieb unsympathisch. Sie hasste es, »kleiner Unglücksrabe« genannt zu werden. Das verletzte ihre Würde. Ihre Schwester Elisabeth sagte immer, sie nehme sich viel zu ernst, das sei eine ihrer großen Schwächen.

»Bin ich ohnmächtig geworden?«, fragte Alice hoffnungsvoll. Schwangere wurden durchaus mal bewusstlos. Sie war noch nie in Ohnmacht gefallen. Dabei hatte sie es in der vierten Klasse so fleißig geübt, immer in der Hoffnung, irgendwann zu den Glücklichen zu gehören, die beim Gottesdienst umkippten und dann von Mr. Gillespie, ihrem Sportlehrer, auf dessen starken Armen hinausgetragen wurden.

»Ich bin nämlich schwanger«, fügte sie hinzu. Sollte diese Kuh ruhig wissen, wen sie da als »kleinen Unglücksraben« bezeichnet hatte.

Jane klappte die Kinnlade herunter. »Großer Gott, Alice, das kann nicht dein Ernst sein!«

Das Step-Crazy-Mädchen spitzte die Lippen, als hätte sie Alice bei etwas sehr Ungezogenem erwischt. »Ach herrje, Schätzchen, warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Ich habe doch vor Beginn des Kurses gefragt, ob jemand schwanger ist. Ich hätte mich darauf einstellen können.«

Alice’ Kopf fiel auf den Boden zurück. Nichts von dem, was hier gesprochen wurde, ergab irgendeinen Sinn.

»Schwanger«, sagte Jane. »Ausgerechnet jetzt! Das ist eine Katastrophe!«

»Nein, ist es nicht«, protestierte Alice. Sie legte eine Hand schützend auf ihren Bauch, damit die kleine Rosine es nicht hörte und womöglich gekränkt war. Ihre finanzielle Situation ging Jane nichts an. Die Leute sollten sich einfach freuen, wenn man ihnen mitteilte, dass man ein Kind erwartete.

»Ja, aber ich meine, was wirst du jetzt machen?«, fragte Jane.

Du meine Güte! »Machen? Was meinst du damit, was werde ich jetzt machen? Ich werde ein Baby bekommen.« Sie schnupperte. »Du riechst nach Lavendel. Mir war so, als würde ich Lavendel riechen.« Die Schwangerschaft hatte ihren Geruchssinn enorm geschärft.

»Das ist mein Deodorant.« Jane sah völlig verändert aus. Ihre Augen. Mit ihren Augen stimmte etwas nicht. Vielleicht sollte sie anfangen, eine spezielle Augencreme zu benutzen.

»Alles in Ordnung, Jane?«

Jane schnaubte. »Mir geht’s bestens. Mach dir lieber Sorgen um dich selbst. Du bist doch diejenige, die schwanger und in Ohnmacht gefallen ist.«

Das Baby! Wie hatte sie nur so selbstsüchtig sein und an ihren schmerzenden Kopf denken können, wo sie sich um die arme kleine Rosine sorgen sollte! Sie würde ja eine schöne Mutter werden!

Laut sagte sie: »Hoffentlich ist dem Baby bei dem Sturz nichts passiert.«

»Oh, deswegen würde ich mir keine Gedanken machen, so ein Baby hält einiges aus«, sagte eine fremde Frauenstimme.

Zum ersten Mal blickte Alice auf. Eine Gruppe rotgesichtiger Frauen mittleren Alters in Sportkleidung scharte sich um sie. Einige beugten sich vor und gafften wie Schaulustige bei einem Verkehrsunfall, andere standen da, die Hände in die Seiten gestemmt, und plauderten miteinander wie auf einer Party. Der Raum, in dem sie sich befanden, war lang und neonerleuchtet. Irgendwo in der Ferne tönte blecherne Musik, sie konnte scheppernde metallische Geräusche und das plötzliche Gelächter eines Mannes hören.

»Aber Sportarten, die einen extrem körperlich beanspruchen, sollte man trotzdem nicht betreiben, wenn man schwanger ist«, warf eine andere Frau ein.

»Ich treibe überhaupt keinen Sport«, erwiderte Alice. »Ich sollte viel mehr Sport treiben.«

»Du, mein liebes Kind, könntest gar nicht mehr Sport treiben, selbst wenn du wolltest«, sagte Jane.

»Ich hab keine Ahnung, wovon du redest.« Alice betrachtete die fremden Gesichter rings um sie her. Das alles war so … so albern. »Wo bin ich eigentlich?«

»Wahrscheinlich hat sie eine Gehirnerschütterung«, sagte jemand ganz aufgeregt. »Eine Gehirnerschütterung äußert sich unter anderem in Benommenheit und geistiger Verwirrung.«

»Hört, hört, die Frau Doktor spricht!«

»Ich habe in der Schule gerade einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert. Ich kann mich genau an diesen Wortlaut erinnern: Benommenheit und geistige Verwirrung. Hoffentlich hat sie keine Gehirnquetschung. Das ist sehr gefährlich.«

Das Step-Crazy-Mädchen machte ein erschrockenes Gesicht und streichelte hektisch Alice’ Arm. »Ach herrje, Schätzchen! SIE HABEN BESTIMMT NUR EINE GANZ LEICHTE GEHIRNERSCHÜTTERUNG

»Selbst wenn, taub ist sie deswegen sicher nicht«, wies Jane sie schroff zurecht. Sie beugte sich näher zu Alice und sagte mit gedämpfter Stimme: »Alles in Ordnung. Du bist im Fitnessstudio, im Freitag-Step-Aerobic-Kurs, zu dem du mich seit einer Ewigkeit hast schleppen wollen, erinnerst du dich? Ich frage mich allerdings, was so Besonderes daran sein soll. Also jedenfalls bist du spektakulär auf den Boden geknallt und hast dir den Kopf angeschlagen, das ist alles. Das wird schon wieder. Aber wieso hast du mir nicht gesagt, dass du schwanger bist?«

»Was ist ein Freitag-Step-Aerobic-Kurs?«, fragte Alice.

»O Gott, dich hat’s aber wirklich böse erwischt«, entfuhr es Jane.

»Der Krankenwagen ist da!«, rief jemand.

Das Step-Crazy-Mädchen flippte schier aus vor Erleichterung. Sie sprang auf und scheuchte die Damen mit Handbewegungen weg wie eine energische Hausfrau mit einem Besen.

»Okay, Leute, macht mal ein bisschen Platz!«

Jane blieb auf dem Fußboden neben Alice knien und tätschelte ihr zerstreut die Schulter. Plötzlich hielt sie inne. »O Mann! Warum passieren immer dir die wirklich guten Sachen?«

Alice drehte mühsam den Kopf. Zwei gut aussehende Männer in blauen Overalls, einen Erste-Hilfe-Koffer in Händen, eilten auf sie zu. Peinlich berührt, versuchte sie noch einmal, sich aufzusetzen.

»Nicht bewegen, Schätzchen!«, rief der Größere der beiden ihr zu.

»Er sieht aus wie George Clooney«, hauchte Jane ihr ins Ohr.

Sie hatte recht. So sah er wirklich aus. Alice fühlte sich unwillkürlich viel besser. Ihr war, als wäre sie in einer Folge von Emergency Room aufgewacht.

»Hallo.« George Clooney ging neben ihnen in die Hocke. »Wie heißen Sie?«

»Jane«, antwortete Jane wie aus der Pistole geschossen. »Oh. Ach so. Sie heißt Alice.«

»Wie heißen Sie mit vollem Namen, Alice?« George ergriff behutsam ihr Handgelenk und legte zwei Finger auf ihren Puls.

»Alice Mary Love.«

»Sie sind hingefallen, nicht wahr, Alice?«

»Ja, anscheinend. Ich kann mich nicht daran erinnern.« Wie meistens, wenn sie mit jemandem aus einem Heilberuf sprach, und sei es nur ein Apotheker, war Alice den Tränen nahe und fühlte sich als etwas ganz Besonderes. Daran war nur ihre Mutter schuld, sie hatte immer viel zu viel Aufhebens um sie gemacht, wenn sie als Kind krank geworden war. Sie und Elisabeth waren fürchterliche Hypochonderinnen.

»Wissen Sie, wo Sie sind?«, fragte George.

»Nein, eigentlich nicht«, antwortete Alice. »Anscheinend bin ich in einem Fitnessstudio

»Wir machen einen Step-Aerobic-Kurs.« Jane schob den Träger ihres BHs unter ihr Top zurück. »Plötzlich hat sie einen fulminanten Rückwärtssalto geschlagen und ist mit dem Kopf auf den Boden geknallt. Ich hab gesehen, wie’s passiert ist. Sie war ungefähr zehn Minuten bewusstlos.«

Das Step-Crazy-Mädchen trat wieder zu ihnen. Ihr Pferdeschwanz schwang hin und her, und Alice schaute an ihren langen, glatten Beinen hinauf zu ihrem flachen, straffen Bauch. Er sah aus wie ein falscher Bauch.

»Ich glaube, sie war einen Augenblick unkonzentriert«, sagte das Step-Crazy-Mädchen in jenem vertraulichen Tonfall, den Profis untereinander benutzen, zu George Clooney. »Schwangeren rate ich unbedingt von diesem Kurs ab. Und ich habe ausdrücklich gefragt, ob jemand schwanger ist.«

»In der wievielten Woche sind Sie denn, Alice?«, fragte George.

Alice machte den Mund auf, um zu antworten, und stieß zu ihrer Überraschung auf ein Vakuum in ihrem Kopf.

»In der dreizehnten«, sagte sie nach ein paar Sekunden.

»Nein, in der vierzehnten. Ja, genau, in der vierzehnten.«

Seit der Zwölf-Wochen-Ultraschalluntersuchung waren mindestens zwei Wochen vergangen. Die Rosine hatte einen sonderbaren kleinen Hüpfer gemacht, wie eine Tänzerin in der Disco, so als hätte jemand sie von hinten angestupst. Nick und Alice hatten danach allen Bekannten versucht vorzumachen, wie das ausgesehen hatte. Alle hatten sehr höflich reagiert und gemeint, das sei wirklich bemerkenswert.

Sie legte sich eine Hand auf den Bauch und bemerkte zum ersten Mal, was sie anhatte. Turnschuhe und weiße Socken. Schwarze Shorts und ein ärmelloses gelbes Top mit einer glänzenden Goldfolienapplikation darauf. Soweit sie erkennen konnte, war es ein Dinosaurier. In der Sprechblase, die aus seinem Maul kam, stand: ROCK ON. Rock on? Was in aller Welt hatte das zu bedeuten? »Was für Klamotten habe ich denn da an?«, fragte sie Jane vorwurfsvoll. »Diese Sachen gehören mir nicht.«

Jane sah George an und zog vielsagend eine Braue hoch.

»An meinem Hemd klebt ein Dinosaurier«, sagte Alice ehrfürchtig.

»Was für einen Tag haben wir heute, Alice?«, fragte George.

»Freitag«, antwortete sie. Sie schummelte. Sie wusste, dass es Freitag war, weil Jane ihr gesagt hatte, dass sie in ihrem Freitag-Step-Aerobic-Kurs waren. Was immer das sein mochte.

»Wissen Sie noch, was Sie zum Frühstück gegessen haben?« George untersuchte behutsam ihren Kopf, während er die Frage stellte. Der andere Rettungssanitäter legte ihr unterdessen eine Manschette um den Oberarm und blies sie auf, um ihren Blutdruck zu messen.

»Toast mit Erdnussbutter?«

Das aß sie normalerweise zum Frühstück. Mit dieser Antwort dürfte sie auf der sicheren Seite sein.

»Er weiß ja nicht, was du gefrühstückt hast«, meinte Jane. »Er will nur versuchen herauszufinden, ob du dich daran erinnern kannst.«

Die Manschette quetschte Alice’ Oberarm zusammen. George hockte sich wieder auf die Fersen und sagte: »Seien Sie so nett, Alice, und sagen Sie mir, wie unser ehrenwerter Premierminister heißt.«

»John Howard«, antwortete Alice brav und hoffte, er werde ihr keine weiteren Fragen zum Thema Politik stellen. Politik war nicht gerade ihre Stärke. Es gelang ihr einfach nicht, genügend Entsetzen aufzubringen.

Die Antwort löste bei Jane einen Heiterkeitsausbruch aus, der sich in prustendem Geräusch äußerte.

»Oh, äh … Er ist doch noch Premierminister, oder?«, murmelte Alice zutiefst gedemütigt. Das würde man ihr jetzt jahrelang unter die Nase reiben. O Alice, du kennst nicht einmal den Namen unseres Premierministers? Hatte sie eine Wahl verschlafen? »Ich bin mir ganz sicher, dass er Premierminister ist.«

»Und welches Jahr haben wir?« George schien nicht allzu beunruhigt.

»1998«, lautete die prompte Antwort. In diesem Punkt war sich Alice ganz sicher. 1998 würde ihr Baby zur Welt kommen.

Jane schlug sich die Hand vor den Mund. George wollte etwas sagen, aber Jane ließ ihn nicht zu Wort kommen. Sie legte ihre Hand auf Alice’ Schulter und sah sie eindringlich an, die Augen vor Aufregung weit aufgerissen. Winzige Mascaraklümpchen klebten an ihren Wimpernspitzen. Die Kombination aus ihrem Lavendeldeodorant und ihrem Knoblauchatem stach Alice unangenehm in die Nase.

»Wie alt bist du, Alice?«

»Neunundzwanzig, Jane«, antwortete Alice gereizt. Janes theatralischer Tonfall ging ihr auf die Nerven. Worauf wollte sie hinaus? »Genauso alt wie du.«

Jane richtete ihren Oberkörper wieder auf und sah George Clooney triumphierend an. Dann sagte sie: »Ich habe gerade eine Einladung für die Party zu ihrem vierzigsten Geburtstag bekommen.«

Das war der Tag, an dem Alice Mary Love ins Fitnessstudio ging und durch eine gewisse Nachlässigkeit ein Jahrzehnt ihres Lebens verbummelte.