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Das Debüt des großen Intellektuellen: »Eines der wichtigsten Bücher über Lust und Identität, über Freiheit und Freundschaft.« (Carolin Emcke)

Woher wissen wir, wer wir sind? Radikal persönlich und intellektuell aufregend zeigt Daniel Mendelsohn, einer der großen Essayisten unserer Zeit, warum Identität im Grunde ein Paradox ist. Auf raffinierte Weise verwebt er seine eigene Lebensgeschichte – die Herkunft zwischen der Rationalität des Mathematiker-Vaters und dem jüdisch-orthodoxen Großvater und die Erlebnisse als Homosexueller im New York der frühen neunziger Jahre – mit der Deutung klassischer Texte von Sophokles und Ovid, Euripides und Sappho. Er reflektiert über sein eigenes »Doppelleben« und erkundet so die Geheimnisse der Identität mit all den profunden Konflikten, die damit einhergehen. Ein literarisch brillanter Streifzug – und eine Meditation über das Leben.

Daniel Mendelsohn, geboren 1960 in New York, gehört zu den bedeutendsten Intellektuellen in den USA und ist als Autor und Übersetzer bekannt geworden. Er promovierte 1994 in Classical Studies und arbeitete als Kritiker u. a. für The New York Review of Books, das New York Magazine, für The New Yorker und die New York Times. 2006 erschien sein aufsehenerregendes, preisgekröntes Familien-Memoir Die Verlorenen. Eine Suche nach sechs von sechs Millionen. Zuletzt veröffentlichte Siedler Eine Odyssee. Mein Vater, ein Epos und ich (2019).

»Ein einzigartiges Buch – klug, verblüffend, außergewöhnlich.« Newsweek

»Einer dieser seltenen, wirklich makellosen Essays: eine tiefgründige Betrachtung schwuler Kultur, der griechischen Sprache und Mythen, der eigenen Familie – weniger geschrieben als vielmehr gewebt.« Los Angeles Times Book Review

»Schonungslos ehrlich, überaus einfühlsam und sehr schön.« The Boston Globe

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Daniel

Mendelsohn

Flüchtige

Umarmung

Von der Sehnsucht und

der Suche nach Identität

Aus dem Englischen

von Eike Schönfeld

Mit einem Vorwort

von Carolin Emcke

Die Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel The Elusive Embrace: Desire and the Riddle of Identity bei Knopf.

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Copyright © 1999 by Daniel Mendelsohn

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021

Siedler Verlag, München, in der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München

Umschlagabbildung: Antonio Canova, Amor und Psyche

(Ausschnitt), 1787–93

© akg-images/Erich Lessing

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-16331-0
V001

www.siedler-verlag.de

Zum Gedenken an

ABRAHAM JAEGER

1902–1980

und an

PAULINE STANGER FREEMAN

1901–1963

der Anfang aller Geschichten

Nur wer die Sehnsucht kennt,

Weiß, was ich leide!

Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre

Was ist das Rätsel dahinter?

Sokrates, in Platons Apologie

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

I. Geographien

II. Vielzahlen

III. Vaterschaften

IV. Mythologien

V. Identitäten

Nachwort

Dank

Quellennachweis

VORWORT

In der ersten ihrer Frankfurter Poetik-Vorlesungen mit dem Titel »Fragen und Scheinfragen« aus dem Jahr 1959 spricht Ingeborg Bachmann von dem

»Denken, das zuerst noch nicht um eine Richtung besorgt ist, einem Denken, das Erkenntnis will und mit der Sprache und durch Sprache hindurch etwas erreichen will. Nennen wir es vorläufig: Realität.«

Nichts beschreibt besser die unvergleichbare Gabe von Daniel Mendelsohn, nichts beschreibt besser, was sein brillantes Debüt, den biographischen Essay Flüchtige Umarmung, auszeichnet: Es ist eine Meditation, in der das Denken noch nicht um eine Richtung bemüht ist, in der das Denken nichts scheut und niemanden schont. Auch nicht sich selbst oder die eigenen Gewissheiten. Es ist ein Denken, das Erkenntnis will und mit der Sprache und durch die Sprache hindurch etwas erreichen will. Mendelsohns Denken nimmt Umwege und Abzweigungen, er untersucht das Vertraute und das Unvertraute, er will das Rätsel des Selbst freilegen, ohne es seiner Ambivalenzen oder Komplexitäten zu berauben.

Daniel Mendelsohn ist Autor, Kritiker, Übersetzer und, nicht zuletzt, Altphilologe, und so schöpft er aus dem spektakulär tiefen Fundus einer Bildung, die weniger statisches Material als dynamisches Instrument ist, um in immer wieder neuen Zugriffen, neuen Blickachsen eigene Erfahrungen und Erinnerungen zu durchleuchten. Dabei ist Mendelsohn vor allem Geschichten-Erzähler, man kann ihn fast hören, wenn man ihn liest. Die Art und Weise, wie Mendelsohn das Erlesene und das Erlebte verbindet, ist so elegant wie witzig, wie er literarische Figuren oder reale Familienangehörige gleichermaßen auf ihre Beweggründe hin prüft, ist so berührend wie weise.

Mendelsohns Essays sind gelehrt, aber niemals belehrend, sie sind subjektiv, aber nie aufdringlich oder indiskret. Das hat damit zu tun, dass Mendelsohn ein untrügliches Gespür für Nähe und Distanz auszeichnet: Es gibt kaum einen Autor, der so genau den richtigen Abstand zu wahren weiß zu den Figuren seiner Erzählungen. Nie klingt er distanziert-besserwisserisch, nie distanzlos-übergriffig. Auch wenn er Menschen in ihren Irrungen oder Eitelkeiten, ihren Sehnsüchten oder Nöten beschreibt, behalten sie doch immer ihre Autonomie und ihre Würde. Auch wenn er Illusionen erschüttert oder Geheimnisse lüftet, belässt er allen Figuren immer noch einen Rest des unerklärlich Menschlichen. Die Suche nach Erkenntnis ist in Flüchtige Umarmung nie bitter und gnadenlos, sondern immer staunend und human.

»Es gibt nichts Elementareres und damit auch Stressanfälligeres als unseren Wunsch zu wissen, wer wir wirklich sind, und unsere Abstammung genau zu kennen.«

Daniel Mendelsohn denkt und erzählt genealogisch: Er nimmt einen Wert, eine Tradition, eine Gewohnheit und legt ihren historischen Ursprung frei. Dabei spielt es keine Rolle, ob es eine intime Praxis oder ein öffentlicher Ort oder ein altes Epos ist, ob es promiske Lust oder Grabinschriften auf jüdischen Friedhöfen zwischen Brooklyn und Queens oder die Tragödien von Sophokles sind – Mendelsohn befragt mit derselben neugierigen Unbestechlichkeit das Individuelle und das Gemeinsame, das Gegenwärtige oder das Vergangene. Er nimmt Mythen, Geschichten, Sätze, Begriffe auseinander, führt sie zurück auf ihre Wurzeln und befragt sie auf ihre Bedeutung, er will verstehen, was ihn (und uns) prägt und bedingt.

Herkunft verweist hier nie allein auf einen Ort oder eine Familie, sondern immer auch auf die Geschichten, die weitergereicht wurden von Generation zu Generation, die Erzählungen und Bilder, die als kulturelle Bezüge vererbt wurden, die vergilbten Aufnahmen oder unleserlichen Einträge in Registern, die Legenden, die gebildet wurden, aus Scham oder Verzweiflung. Herkunft verweist hier auch auf das, was beschwiegen oder verdrängt wurde, die Lücken der Erinnerungen und die bewussten oder unbewussten Retuschierungen. Etwas in seiner Entstehung zu rekonstruieren, bedeutet bei Daniel Mendelsohn eben gerade nicht, etwas nachzuvollziehen, das einen abhängig oder unfrei macht, sondern im Gegenteil sich der Zufälle, Fehlleistungen und Brutalitäten der Geschichte bewusst zu werden – und freier daraus hervorzugehen.

Es ist dieses Buch, mit dem Mendelsohn erstmals das einzigartige Genre des analytischen Erzählens vorführt. Schon hier zeigt sich, was die Leser:innen seiner späteren, vielfach ausgezeichneten Bücher (Die Verlorenen, deutsch: 2010, oder Eine Odyssee. Mein Vater, ein Epos und ich, deutsch: 2019) kennen: das elegante Verknüpfen autobiographischer Erinnerungen mit philologischen und literarischen Reflexionen, aber auch die leidenschaftliche Suche nach den Bruchstücken der eigenen Geschichte, nach dem, was verloren und vergessen wurde. Es ist eine kuriose Verdrehung, eine, die in einer von Daniel Mendelsohns Erzählungen auftauchen könnte, dass seine Bücher auf Deutsch in falscher Reihenfolge erscheinen: dass eben sein Debüt, das Werk, mit dem er sich und sein homosexuelles Begehren vorstellt, als Letztes erscheint.

In fünf Kapiteln – Geographien, Vielzahlen, Vaterschaften, Mythologien, Identitäten – vermisst Mendelsohn die sexuellen, affektiven und geistigen Räume seines Lebens. Dort, wo andere homosexuelle Autoren individuelle und kollektive Verletzungen und Kränkungen betonen würden, dort, wo andere gesellschaftliche Tabus und Repression herausstellen würden, öffnet Mendelsohn die Freiräume, die Möglichkeiten, den Horizont aus Lust und Begehren, aber auch Vaterschaft und Familie. Was als sich wechselseitig ausschließende Sehnsüchte gilt, der flüchtige, bindungslose Sex der Straße oder des Onlinedatings und die dauerhafte, tiefe Liebe zu einem Kind, Mendelsohn bringt sie so leichthändig zusammen, als wären sie ideologisch nie als Gegensätze aufgebaut worden.

Das Leitmotiv des Essays, das wie das Thema einer Fuge in verschiedenen Stimmen variiert, immer wieder aufgenommen und verwandelt wird, bildet dabei Mendelsohns Rekurs auf das altgriechische Begriffspaar »men« und »de«, das Sowohl-als-Auch, das einerseits und andererseits, die vermeintlichen Widersprüche, die sich nicht ausschließen müssen, die sich in einem verbinden können.

»Liest man griechische Literatur lange genug, dann strukturiert dieser Rhythmus zunehmend auch das Denken über andere Dinge. Die Welt men, in die man hineingeboren wurde, die Welt de, die man sich zum Leben aussucht.«

Ich erinnere mich, wie ich dieses Buch bei seinem Erscheinen in den USA las und welchen glücklichen Schock es auslöste. Selten gibt es Bücher, die wirklich ins eigene Leben eingreifen, die eine Denkfigur oder eine literarische Form entwickeln, die etwas löst, mit der es sich anders, besser, freier leben lässt. Daniel Mendelsohns Flüchtige Umarmung war und ist für mich ein solches Buch. Wie sich das eigene Leben (und Schreiben) den normativen Zuschreibungen entziehen kann, wie die Vorgaben und Annahmen, die uns in falsche Gegensätze zwingen wollen, aufgelöst werden können, wie sich Identität eben nie als etwas Reines und Statisches verstehen lässt, sondern als etwas Lebendiges, Hybrides, Wandelbares, wie sich im Schreiben wie im Leben eine eigene Form schaffen lässt – davon handelt dieses wunderbare Buch. Es ist ein Geschenk.

Carolin Emcke, Berlin im Juni 2021