Zum Buch
Eva und Matti haben vor Kurzem ihr Leben umgekrempelt und sind aus dem quirligen Reykjavík in eine ländlichere Umgebung gezogen. Doch sich selbst und ihrer Beziehung können sie nicht entfliehen. Die Paarprobleme nehmen zu und große Gewitterwolken ziehen auf. Da lernt Eva ihre Nachbarin Ljuba kennen, die ihr die bewegende Geschichte ihrer Familie erzählt. Die beiden Frauen schließen eine enges Band, ihre Freundschaft verändert das Leben beider Frauen.
Kunstvoll erzählt Gudrún Eva Mínervudóttir in ihrem preisgekrönten Roman von Empathie, weiblichen Lebensläufen, Geschlechterrollen, Nähe, Intimität und Träumen.
Zur Autorin
GUDRÚN EVA MÍNERVUDÓTTIR, geboren 1976, studierte in Reykjavík Philosophie und fing bereits früh an zu schreiben. Mittlerweile zählt sie zu den renommiertesten jungen Autoren des Landes. Mit ihrem Roman »Der Schöpfer« gelang ihr der internationale Durchbruch. Für »Alles beginnt mit einem Kuss« wurde sie mit dem Isländischen Literaturpreis ausgezeichnet.
Gudrún Eva
Mínervudóttir
DAS GEWÄCHSHAUS
Roman
Aus dem Isländischen
von Anika Wolff
Die isländische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Skegg Raspútíns« bei Bjartur, Reykjavík.
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Deutsche Erstveröffentlichung Dezember 2021,
btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright © der Originalausgabe 2016 by Gudrún Eva Mínervudóttir
Published by agreement with The Parisian Agency, France
Covergestaltung: Semper Smile nach einem Entwurf von Ragnar Helgi Olafsson
Covermotiv: © Marta Bevacqua / Trevillion Images
Shutterstock/Paladin12
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
SL · Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-22111-9
V001
www.btb-verlag.de
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Für Matti und Mínerva
Ihr seid der Sonnenschein in meinem Leben.
»I like Icelandic men, they respect that you work hard and don’t complain.«
Ljuba Cvetkova
DIE ERSTE NACHT IM NEUEN HAUS lag ich eingekeilt zwischen den schlafenden Körpern von meinem Mann und meiner Tochter und sah mir die Deckenplatten an und das nackte Fenster, das die Umrisse von Bäumen und den Lichtkegel einer melancholischen Straßenlaterne rahmte. Gegen Morgen schlief ich ein und träumte, dass Kate Moss auf dem Schwimmbeckenrand im Garten sitzt und eine ältere Frau unter der alten Birke hockt.
Die alte Frau richtete eine Kamera auf das Model, das Kaffee aus einer Porzellantasse trank und einen Muffin aß. Ich ging zu ihnen hinaus und sah, dass die Fotografin Leni Riefenstahl war – eine der umstrittensten Frauen der Geschichte, die auch als das Hirn hinter der Ästhetik der Nazis bezeichnet wird.
Sie sahen mich an, trugen beide das gleiche geknöpfte, knielange Khakikleid mit Taschen auf der Brust und am Oberschenkel. Leni ließ die Kamera sinken, Kate wischte sich Krümel von den meistfotografierten Lippen der Welt.
Ihr vereinter Blick riss mich aus dem Bett. Es war fünf Uhr morgens, eine Stunde vor der gewohnten Aufstehzeit, und ich schlich mich an gestapelten Kartons vorbei und setzte mich an den Computer. Der rote Schein einer Lichterkette, die an einem Nagel im Fenster hing, konkurrierte mit dem bläulichen Schimmer des Bildschirms. Es war Mitte Dezember, kahle Erde und Finsternis.
Die letzten Nächte hatte ich mich an einer achthundertseitigen Autobiografie über Leni abgemüht – aber was hatte das Model dort zu suchen? War es ihr Name? Moss? Draußen im Garten gab es keinen richtigen Rasen, sondern Brachland, fünfzehn Meter hohe Tannen- und Kiefernungetüme und noch höhere Pappeln, schiefe Wäscheleinenpfosten, Lavagestein, kriechende Baumwurzeln, halb versunkene steinerne Treppen, die irgendwo anfingen und nirgendwo aufhörten, alte Laubhaufen, die sich im unbeständigen Herbst- und Winterwetter langsam in Matsch verwandelten. Ein Schwimmbecken aus Beton, das einst himmelblau gestrichen war, doch die Farbe war abgeblättert, der Beton gerissen und bröckelig. Ein morscher Schuppen mit einem alten Puppenwagen und rostigen Bierdosen, zerbrochenen Pflastersteinen, Tannenzapfen und -nadeln. Alles mit Moos gepolstert – dieser Weichheit, die sich als Erstes ansiedelt, an der Oberfläche wurzelt und Erde macht aus Wasser, sich selbst und nichts.
Nicht nur das Moos, auch die Kleidung der Frauen aus dem Traum erinnerte an Pioniere. Ich schlug das Wort Khaki nach und fand heraus, dass es ein Lehnwort aus dem Hindi ist. Es bedeutet goldbraun wie die Erde und kommt ursprünglich vom persischen Wort khak, das für Erde oder Boden steht.
Kleider aus Erde. Sich in Erdboden kleiden. Mir kam der Gedanke, ob ich wohl dem Tode geweiht war. Aber nicht etwa, weil ich sterben wollte – ganz im Gegenteil: Ich wagte noch nicht einmal zu schlafen.
Als Nächstes tippte ich Kate in die Suchmaschine ein und las ein langes Interview mit ihr. Es war mäßig geistreich, aber ich meinte, sie kennenlernen zu müssen, wo sie mich schon aufgesucht hatte.
Der Traum blieb mir die nächsten Wochen noch sehr präsent, während die Gedanken an einen nahen Tod schnell vergessen waren. An jenem dunklen Morgen rauschte ich mit meiner Tochter zur Tagesmutter am anderen Ende des Ortes, und obwohl ich erst vor kurzem hergezogen war und niemanden kannte, spürte ich in jeder Faser, dass ich in der Welt zu Hause war. Alles reckte sich mir entgegen und wollte mit mir sprechen, sich verständlich machen, sich deuten lassen. Die Welt bot sich mir an, und ich reagierte mit romantischem Wahn: Mein Brustkorb weitete sich vor lauter Verzückung über die pausbäckigen Gartenzwerge meiner Nachbarn, den Quelldampf, der bei Windstille aus den Rinnsteinen aufstieg, eine in Leder gekleidete Person unbestimmbaren Geschlechts, der ich immer an derselben Straßenecke begegnete, und Hunderte von Weihnachtssternen in erleuchteten Gewächshäusern.
Diese Gewächshäuser erhellten die dunkle Jahreszeit wie riesige Lampen, und mir fiel auf, dass einige von ihnen leer standen, abgesehen von einer welken Dattelpalme oder einem Stapel Plastikblumentöpfe. Andere waren komplett zerborsten und erloschen, beinahe unsichtbar in der Dunkelheit. Aber das machte nichts. Das war genauso ergreifend schön.
Dann sprang ich zurück nach Hause und schrieb, übersetzte, räumte ein paar Kisten aus – alles in dreifacher Geschwindigkeit. Die Seiten türmten sich auf. Alles steuerte auf eine Krise zu, aber das wusste ich noch nicht.
ANFANG MÄRZ FUHR ICH nach Reykjavík, zu Inga, unserer Hausärztin, und sagte ihr, dass ich so wenig und leicht schliefe, dass sich das Ausziehen kaum lohne. Auch meine Hände verhielten sich merkwürdig: verkrampften und wanden sich spastisch, und ich müsste sie ständig geradestrecken.
Wie lange geht das schon so?, fragte Inga.
Es ist mit der Zeit immer heftiger geworden, antwortete ich.
Inga wollte mir ein angsthemmendes Medikament geben.
Nein, entgegnete ich. Danke. Mir geht es wunderbar.
Was Sie beschreiben, ist ein Zustand, in den manche Menschen unter Stress geraten. Das kann eine prima Methode sein, um weiter durchzuhalten, aber dem Körper tut das nicht gut.
Ich blieb dabei; befürchtete, nicht mehr davon loszukommen, wenn ich einmal mit Medikamenten anfing.
Sehen Sie, sagte Inga. Seitdem Sie das Kind haben, zweifeln Sie an seiner Gesundheit und wagen kaum einen Wimpernschlag, nicht wahr?
Ja, schon, aber ich werde ruhiger, je größer sie wird.
Ihr Mann war depressiv, während Sie das Haus renoviert haben und quasi pleitegegangen sind, und jetzt ist er gerade wegen später Entzugserscheinungen in die Klinik gegangen, oder?
Sie hatte uns dieses Phänomen erklärt: Das Gehirn eines Menschen, der jahrelang betrunken war – selbst wenn das schon lange her ist –, kann sich selbst in einen Rauschzustand versetzen, bis hin zur Amnesie. Das geschieht infolge einer Depression und ist Teil der Depression. Das Gehirn versucht, den Schmerz zu lindern, indem es sich ein Schlückchen genehmigt, ohne dass wirklich Alkohol im Spiel ist. Matti war den ganzen Winter über mehr oder weniger in einem amnesischen Zustand gewesen, ständig in Aufregung wegen irgendwelcher eingebildeten Dinge, und hatte nichts als Horror und Hoffnungslosigkeit gesehen. Ich wiederum hatte mich ihm gegenüber verschlossen, vertraute ihm unsere Tochter nicht mehr an und unternahm nichts, um ihm zu helfen, weil ich nicht sah, wie krank er war. Schließlich erkannte er es selbst und ließ sich in die Klinik einweisen. Die Entzugserscheinungen waren nach dem Klinikaufenthalt überwunden, nicht aber die Depressionen, und die Psychopharmaka machten alles noch schlimmer.
Nicht ich bin depressiv, und ich bin auch nicht ängstlich, antwortete ich. Einfach nur ein bisschen aufgedreht.
Inga sah mich einen Moment an, dann sagte sie: Sie sagen, Sie spüren jeden einzelnen Grashalm um sich herum. Sie sagen, dass Sie die Seele in den Augen der Menschen sehen.
Das ist schon immer da gewesen, dieses Bedürfnis, tiefer zu blicken, zu spüren, wo die Nervenbahnen liegen, wie alles miteinander verbunden ist, antwortete ich. Aber jetzt ist diese alte Gewohnheit zu einer Art Wettlauf geworden. Es fühlt sich an, als ob alles zusammenbricht, wenn ich nicht aufpasse.
Sie schrieb mir etwas Angsthemmendes auf, aber ich traute mich nicht, das Rezept einzulösen. Ich befürchtete, dass die Medikamente mir den Verstand rauben, mich genau dann ausbremsen würden, wenn Schnelligkeit und Kraft gefragt waren.
Als ich mich in den Bus nach Hause setzte, zog ich sofort den Laptop aus der Tasche und den Roman, den ich gerade übersetzte, um ein paar Kronen zu verdienen. Ich hatte mir ein Pensum gesteckt: zehn Seiten am Tag. Ich war in einer Art Manie. Aber das passte gut, weil ich so viel zu tun und noch mehr nachzudenken hatte. In mir tobte die Lebenslust, befeuert von einer diffusen Angst.
ES HATTE ETWAS BERUHIGENDES, im Bus zu sitzen und die Stadt vorbeiziehen zu sehen, denn obwohl zu Hause kein Umzugskarton mehr herumstand, war immer noch genauso viel zu tun. Das Übersetzen und Schreiben fraß fast meine gesamte Zeit auf, und noch dazu führte ich das Haus wie ein Segelboot auf hoher See, musste ständig den Kurs korrigieren, die Koordinaten neu berechnen, Segel hissen und reffen, Taue knoten und lösen, Kurbeln drehen. Bloß keinen falschen Schritt tun, alle Sinne wach halten, keine Träumerei. Dieser Hochbetrieb war berauschend, glich einem Siegestaumel. Ich war die flinkeste Hausfrau im ganzen Bezirk und hatte keine Schwierigkeiten, drei Dinge auf einmal zu tun. Und da ich sowieso die ganze Zeit auf Hochtouren war, konnte ich auch noch Sauerteigbrot backen, mit Stoffwindeln wickeln, Zahnpasta aus Natron, Zitronenschale und Salz anrühren, Kleidung flicken, statt sie wegzuwerfen, und die Mandelmilch für den Kaffee selbst machen. Im Zentrum des Wirbelsturms herrschte himmlische Ruhe.
An der Stadtgrenze stieg eine Frau in den Bus. Sie trug eine schwarze Daunenjacke und weiße Fingerhandschuhe. Ich starrte sie an, musste an ein Konzert in der Musikschule in Garður im Frühjahr 1990 denken. Ich und ein paar andere Jugendliche aus dem Dorf bildeten einen Glockenchor unter der Leitung meiner Mutter, die damals die Leiterin der Musikschule war. Ich war für die sechs höchsten Glocken verantwortlich, die kleinsten und hellsten. Meine Glöckchen und die des Mädchens neben mir trugen selten direkt zur Melodie bei, aber sie sorgten für das gewisse Glitzern des Klangs.
Der lange Tisch war in weiße Tücher gehüllt und wir waren alle bereit – schwarz gekleidet und schon in den weißen Handschuhen –, nur das Mädchen mit den zweithöchsten Glocken war nirgends zu sehen. Der Gruppenälteste wurde ins Lehrerzimmer geschickt, um bei ihr zu Hause anzurufen, doch es ging niemand ran.
Das Konzert sollte schon längst begonnen haben, aber niemand wusste etwas von dem Mädchen. Die Zuschauer warteten, und hinter den Kulissen wurde die Aufregung immer größer, bis ich anbot, die Glocken des Mädchens auch noch zu übernehmen.
Wir spielten die Ouvertüre der Oper Guillaume Tell von Rossini. Ich war für zwölf Glocken verantwortlich und hatte teilweise vier davon gleichzeitig in den Händen. Niemand erwähnte meine Leistung oder schenkte ihr besondere Beachtung, aber ich weiß noch, dass ich nur ganz wenige Töne ausgelassen habe und es sich anfühlte, als wären die Haare auf meinem Kopf elektrisch aufgeladen, als wir den Schluss spielten, der für Hörner und Trompeten komponiert war und sich wie galoppierende Pferde anhörte.
DER ERSTE TEIL DER OUVERTÜRE von Rossinis Wilhelm Tell heißt Morgendämmerung und beginnt mit zarten Celloklängen. Der zweite Teil heißt Sturm und wird vom gesamten Orchester gedonnert, während der dritte, Ruf nach den Milchkühen, eher schlicht gehalten ist, von englischem Horn und Flöte gespielt. Der vierte und letzte Teil, der Marsch der schweizerischen Soldaten, ist auch schon in Kinofilmen und Fernsehserien zum Einsatz gekommen, um Schnelligkeit und Spannung zu erzeugen.
Als ich an der Tankstelle aus dem Bus stieg, dachte ich, dass es vielleicht an der Zeit sei, dass der Sturm sich legt; Zeit, nach den Kühen zu rufen.
Zu Hause hatte Matti schon den neuen Beamer aufgehängt und stand mit einem Bohrer und einer großen, zusammengerollten Leinwand auf dem Esstisch, als ich hereinkam.
Und, was hat die Ärztin gesagt?, fragte er.
Dass ich einen Gang runterschalten soll, antwortete ich.
Mit einer Falte zwischen den Augen musterte er mich, dann fragte er: Mit welchem Film sollen wir die Leinwand einweihen?
Ich kletterte zu ihm auf den Tisch und hielt die Leinwand, während er sie festschraubte. Mein Blick fiel aufs Fenster, auf die nackten Äste vor dem weißen Himmel, und ich beschloss, dass die Entscheidung hierherzuziehen, richtig gewesen war – oder zumindest nicht falsch. Ein Dach über dem Kopf. Melancholische Schönheit. Frieden. Das Haus war zwar klein, aber der größte Raum, der als Küche, Wohn- und Esszimmer diente, hatte eine hohe Decke. Um Platz und Geld zu sparen, hatten wir statt richtiger Türen Schranktüren von Ikea gekauft, Schiebetüren aus Glas, die dem Haus einen japanischen Touch gaben – auch wenn es ansonsten eher extravagant wirkte: der Boden gegossen, die Möbel ein buntes Sammelsurium, Topfpflanzen, die Zugluft und Lichtmangel zu trotzen wussten. Lautsprecherboxen, Verstärker, lauter alte Fotoapparate und andere Geräte – als wohnten wir in einem Studio. Wir hatten einen Kamin eingebaut, da bei Nordwind die Kälte ins Haus zieht. Im vergangenen Winter hatten wir manchmal auf Kissen am Feuer gesessen wie in einer Jurte.
Erinnerst du dich an die Reportage über die mongolischen Nomaden? Mit dem weinenden Kamel?
Nee, weiß nicht mehr, antwortete er.
Warst du voll, als wir sie gesehen haben?, fragte ich.
Bestimmt.
Wir gingen inzwischen offen mit der alkoholträchtigen Vergangenheit um, denn sie spielte keine Rolle mehr. Am Abend kuschelten wir uns alle drei aufs Sofa – Matti, Mínerva und ich – und sahen uns den Film an. Darin geht es um eine Nomadenfamilie, die Schwierigkeiten mit einer Kamelmutter hat.
Nach einer zweitägigen Geburt verstößt das Kamel sein Junges, einen extrem o-beinigen Albino, der alles versucht, um aus den Zitzen seiner Mutter zu trinken. Das Kleine brüllt und jammert und läuft ihr unentwegt nach. Doch sie tritt es weg und stampft mit den Hufen auf.
Nach einigen Tagen ist das Kalb völlig entkräftet, und zwei Jungen werden ins Dorf geschickt, um den Musiklehrer zu holen. Er kommt mit einem Motorrad und bringt ein Saiteninstrument mit, das er an den vorderen Höcker der Kamelstute hängt. Der Wind fährt durch die Saiten und das Kamel steht still und lauscht. Der Musiklehrer setzt sich auf eine Düne und spielt immer wieder dieselbe Melodie. Die Nomadin streichelt die Stute und singt ihr ins Ohr. Der Lehrer spielt, und die Frau singt, bis sich die Augen des Kamels mit Tränen füllen, die die langen Wimpern hinunterlaufen und in den Sand vor ihren Hufen tropfen.
Da hören sie auf zu spielen und zu singen, und die Mutter, der Vater, die Kinder, die Omas und Opas und der Musiklehrer – alle in farbenprächtigen, gefütterten Seidengewändern – verschwinden im Zelt. Das Kalb nähert sich auf wackligen Beinen der Mutter und bekommt endlich seine Milch.
EIN GUTES JAHR SPÄTER stand ich kurz davor, etwas Verhängnisvolles zu tun, das manch einem sicher merkwürdig vorkommen mag. Ich selbst war mir dessen gar nicht bewusst. Ich versuchte nicht, originell zu sein – ich versuchte bloß zu überleben.
Seit wir hergezogen waren, hatte ich die meisten Nächte wach gelegen, manchmal in einem Stadium irgendwo zwischen Schlaf und Wachsein, aber tief geschlafen habe ich nie. Neunzehn Monate der Schlaflosigkeit und des unermüdlichen Schaffens lagen hinter mir. An das Wachsein hatte ich mich inzwischen gewöhnt, ich rechnete schon gar nicht mehr mit diesem Zustand der Vergessenheit, in den die meisten abtauchen, wenn sie sich schlafen legen. Am Tag ging ich mit großem Enthusiasmus meinen Tätigkeiten nach, ohne das jedoch zu sehr nach außen zu tragen. Die Zeit war nur lose zusammengesetzt, wie ein offenes Uhrwerk mit rostigen Zahnrädern und gelockerten Schrauben. Bis zu jenem kalten, klaren Samstag im Juni, als der Hammer auf mich zugerast kam, und ich wusste, dass mein Leben binnen weniger Stunden in gewisser Weise zu Ende sein würde.
Matti arbeitete zu dieser Zeit als Suchtberater in der Entzugsklinik und Nervenheilanstalt Vogur, wo er schwerkranke Menschen tröstete und stützte und von wo er jedes Mal völlig fertig nach Hause kam. Diesmal hatte er eine lange Wochenendschicht und würde nicht vor Montag zurück sein. Beklommen sah ich zu, wie Mínerva die Haare von Pippi Langstrumpf mit einem pinken Filzstift anmalte, sammelte die leeren Haferbreischälchen ein und rief meine Mutter an.
Um elf rollte ihr rotes kugeliges Auto in die Einfahrt, und sie setzte sich kurz zu Mínerva und den Mumins aufs Sofa, während ich den Kindersitz in ihr Auto brachte.
Danke, sagte ich und gab ihnen Fleecehose und Wollpulli mit. Ich muss mich hinlegen, koste es, was es wolle.
Das verstehe ich, mein Mädchen, antwortete sie. Wir machen einfach eine lange Spritztour. Meinst du, der Streichelzoo Slakki hat geöffnet?
Ich verabschiedete sie mit einem Kuss, stellte mich ans Küchenfenster, sah zu, wie sie losfuhren, und schon jetzt war mir klar, wie absurd das alles war. Ich würde nicht schlafen. Allenfalls würde ich zu Ljuba ins Gewächshaus gehen und versuchen, mich mit einem Gespräch über Essen/Ehemänner/Kinder abzulenken und Stecklinge einpflanzen oder Samen in Anzuchtkästen drücken.
Doch als sich mir der Hals zuschnürte und Tränen gegen die Lider drückten, wusste ich, dass Stecklinge und Samen nicht reichten.
Ich wollte raus aus meinem Körper.
Ich wollte träumen.
Im Eckschrank hatte ich eine halbe Flasche thailändischen Selbstgebrannten, den holte ich, setzte mich an den Küchentisch und quälte mir ein paar Schlucke von der hellroten, klaren Flüssigkeit rein, mit Wacholderbeeren und irgendetwas verfeinert, das an Tonic erinnerte. Schlafmittel hatten wir keine – die waren mir nicht geheuer, und auch Matti rührte so etwas nicht an.
Das klaustrophobische Gefühl wurde noch stärker, wenn ich die Augen schloss, daher guckte ich lieber herum, sah die Kochbücher aus dem Nachlass von Mattis Vater, die handbetriebene Apfelsinenpresse, die meine Mutter mir vor zehn Jahren geschenkt hatte, Töpfe und Pfannen, die an Stahlhaken vor dem Küchenfenster hingen, die Messer an der Magnetleiste, das übervolle Gewürzregal und die vielen Postkarten und Bilder am Kühlschrank. Mein Blick wanderte zurück zu den Gewürzen und blieb an einer Dose Bio-Muskatnüsse hängen.
Manchmal reiben wir über Milchreis Muskat, aber nicht zu viel, da die bewusstseinserweiternde Wirkung der Nüsse bei zu starker Dosierung Halluzinationen verursachen kann. Das hatten wir zufällig herausgefunden, nachdem wir die Erfahrung gemacht hatten, dass Milchreis mit einer guten Portion Muskatnuss die Fantasie dermaßen beflügelt, dass man Wachträume bekommt und in einen geistesabwesenden Zustand gerät. Das war schon merkwürdig, diese Wirkung am eigenen Körper zu spüren und am Verhalten anderer wahrzunehmen. Matti merkte nicht viel davon, was vielleicht daran lag, dass er schon ganz anderes ausprobiert hatte, oder auch einfach an seiner Robustheit und Zähigkeit, aber ich erzählte Mínerva an diesem Abend eine ungewöhnlich lange Gutenachtgeschichte und war beleidigt, als sie mittendrin einschlief. Zurück im Wohnzimmer wollte ich lieber in die Luft starren als Mad Men zu gucken – was Mattis Misstrauen weckte. Er ging ins Internet und stieß auf den Bericht einiger Jugendlicher, die einen ganzen Haufen frisch geriebenen Muskats konsumiert hatten.
Hier steht, dass es einige Stunden dauert, bis sich die Wirkung richtig entfaltet, sagte Matti. Aber der hier hat das Pulver in heißen Kaffee gerührt, um die Wirkung zu beschleunigen, und ist innerhalb einer Stunde kirre geworden.
Wir lachten über die jungen Leute, die sich so ins Zeug legten, um in einen albtraumhaften Zustand zu geraten, der wohlgemerkt über Tage anhalten konnte, aber vor allem wunderten wir uns darüber, dass wir Halluzinogene in der Küche hatten.
Sicher, dass das wirklich stimmt?, fragte ich.
Ziemlich sicher, antwortete Matti und klickte auf ein Video, in dem sich ein Halbstarker mit Ring durch die Lippe gefilmt hatte, nicht älter als sechzehn, im Hintergrund ein ungemachtes Bett. Er lachte und weinte im Gespräch mit Leuten, die gar nicht da waren. Als er meinte: Krass, wie viel in diesem Einkaufszentrum los ist, prusteten wir los, aber als er kläglich und verloren hinzufügte: Mir geht es jetzt gerade nicht so gut. Ich möchte jetzt gern nach Hause, blieb uns das Lachen im Halse stecken und Matti stellte das Video aus.
Die Dose war grün mit goldenen Blätterranken, und die Nüsse rappelten vertraut im Blech. So leicht. Unerheblich im Vergleich zu dem Selbstgebrannten, der so schwer im Magen lag. Harmlos.
Hoffentlich kommt es keinem erwachsenen Menschen in den Sinn, sich das anzutun, dachte ich noch, als ich die Reibe aus der Besteckschublade nahm. Die feine, die wir zum Muskatreiben nehmen. Ich holte eine Untertasse, setzte mich wieder an den Küchentisch, öffnete die Dose und nahm eine Nuss heraus. Sie hatte die Größe einer Kirsche. Die Oberfläche hart und glatt.
Eine Stunde später hatte ich mich so heftig übergeben, dass sich Zwerchfell und Rippen wie Fremdkörper anfühlten. Ich taumelte aus dem Badezimmer, fertig, aber völlig bei Sinnen, ließ Wasser in ein Glas fließen und schämte mich.
Es war vorbei. Ich hatte keinen Rausch. Mein Körper verweigerte sich jeglicher anderen Realität, in der seine Gesetze nicht galten. Doch dann überraschte mich die Enttäuschung, als sie sich durch den engen Brustkorb nach oben zwängte und in meinem Kopf aufplatzte. Meine Knie wurden weich, und ich hörte das Glas in die Spüle fallen, ohne dass es zerbrach.
ALS ICH AUFSTAND und hinausging, blieb mein Körper regungslos auf dem Küchenboden liegen. Das kümmerte mich nicht weiter. Und ich stutzte auch nicht angesichts der völlig veränderten Umgebung. Obwohl es bereits Abend war, hatten wir mindestens zwanzig Grad, und es waren viele Leute unterwegs, vor allem einheimische, aber auch einige zugezogene, wie ich. Aus einem Garten in der Nähe drangen Geklapper und Beats und laute Stimmen. Ich wunderte mich über die Spannung, die in der Luft lag, doch dann fiel mir ein, dass heute und die ganze Woche lang Dorffest war. Ohne weiter nachzudenken, lief ich durch schmale gepflasterte Straßen, die sich zwischen dicht aneinandergebauten niedrigen Häusern hindurchschlängelten, an einer Gruppe einheimischer Männer in Festtracht vorbei.
Hallo, sagte ich.
Hey, hey!, rief einer von ihnen.
Ich näherte mich dem Haus von Ljuba und Hlynur und sah Ljuba entspannt auf der Treppe sitzen, in engen Shorts und bauchfreiem Top. Die Tür zeigte gen Westen, in Richtung Straße, und nicht nach Süden, wie sie es eigentlich tat. Dadurch wurde mir klar, dass ich träumte.
Sie gab mir ein Schnapsglas mit einem grünen Getränk und sagte etwas in der Sprache der Einheimischen zu mir. Wir stießen an und tranken. Ich setzte mich zu ihr und guckte auf unsere nackten Beine. Das hatte etwas Hypnotisierendes, als starrte ich auf eine merkwürdige vierbeinige Kreatur.
I am dreaming, sagte ich.
I know, antwortete sie.
LJUBA BIN ICH ZUM ERSTEN MAL an einem Samstag Anfang Juli begegnet, ein halbes Jahr nach unserem Umzug und elf Monate bevor ich aufgab, das Boot auf Autopilot stellte, runter in die Kombüse stieg und Muskat aß.
Ich schob den Buggy über die Straße. Es war wolkig, die Sonne kam und ging, und ein leichter Wind zupfte an unseren Sonnenhüten. Meiner war grau mit breiter Krempe und der meiner Tochter rot mit rosa Punkten und unter dem Kinn geknotet. Ich steckte barfuß in offenen Schuhen und mir war es schon jetzt ein bisschen zu kalt. Zwei Gewächshäuser und ein Schild, das Gemüse zum Verkauf anbot, hatten mein Interesse geweckt. Ich hatte noch nie jemanden in dem Laden gesehen, aber als meine Mutter früher in diesem Sommer einmal einen Spaziergang durch die Nachbarschaft gemacht hatte, war sie mit einer Tüte Spinat und kleinen Gurken zurückgekommen, die wie Kakteen aussahen – mit Stacheln, die man mit einem Messer abschaben musste. Sie sagte, sie habe das bei einer jungen lettischen Frau gekauft, die einen Sohn in Mínervas Alter habe.
Ist der Laden geöffnet?, fragte ich einen Hauch eifersüchtig. Ich habe da noch nie jemanden gesehen.
Sie wohnen in dem Haus hinter den Gewächshäusern, sagte meine Mutter. Ihr Mann ist Isländer.
Um das Grundstück war ein Stacheldrahtzaun gezogen, und das breite Eisentor schien mit einer Kette gesichert zu sein, doch als ich sie anfasste, glitt sie hinunter und landete auf der trockenen Erde. Als ich das Tor anhob, löste es sich langsam vom Pfosten und schwang schließlich von selbst auf, weit auf den Bürgersteig hinaus. Ich zog den Buggy hinter mir her, passte auf, einer dampfenden Quelle nicht zu nahe zu kommen, die mit einer Palette abgedeckt war, ging um die Ecke und stand schließlich auf einer gepflasterten Fläche; sah eine kleine gelbe Schubkarre, einen roten Spielzeuglaster mit blauer Ladefläche, einen wuchtigen Kübel mit blühender Kapuzinerkresse und die Front des Geschäfts.
Auf den Fensterflächen aus Glas und Plastik hingen lauter kleine Schilder. Tomaten und Kräuter, stand auf einem davon. Kartoffeln Kohlrabi Karotten auf einem anderen. Bitte anrufen unter 842 6624 Hlynur oder 748 9548 Ljuba.
Mínerva rannte sofort zur Schubkarre, als sie aus ihrem Wagen geklettert war, und kippte sie, sodass das Regenwasser vom Vortag über das Pflaster floss. Ich spähte durch die Scheiben und sah einen Ladentisch mit Plastiktischdecke und einer altmodischen Kasse, zwei in die Jahre gekommene Kühlschränke, die größte Aloe-vera-Pflanze, die ich je gesehen hatte, ordentlich aufgereihtes Basilikum in braunen Plastiktöpfen, eine Regalkombination mit verschiedenen Behältern und Kunsthandwerk und einen geheimnisvollen Vorhang, der den Laden vom eigentlichen Gewächshaus trennte.
Die Tür ging auf, als ich eine Hand auf die Klinke legte. Es roch schwer und süß, und die Schatten waren dunkel. Ich trat in einen kühlen, dunklen Flecken und gleich darauf in eine sengende Sonnenpfütze, streifte dunkelgrüne Basilikumblätter und sah mir Marmeladengläser mit Bildern von Schwarzen Johannisbeeren und Kirschen an. Auf dem Boden stand ein Korb voll roter und grüner Tomaten, und in den Fenstern waren Töpfe mit Rosmarin, Schnittlauch und Thymian. An der Tür rankte eine Kletterpflanze mit Glockenblüten ein hohes, schmales Gitter empor.
Leicht nervös schob ich den schweren Vorhang ein bisschen zur Seite und guckte durch die Öffnung – ich hatte keine Erlaubnis, hier zu sein. Hinter dem Vorhang war ein hoher Raum, gleißend hell, feucht und wärmer als erwartet. Auf die Schnelle erkannte ich Erdbeerpflanzen, Spinat und Grünkohl. Ein kleines Radio murmelte in einer Ecke knackend vor sich hin, und durch eine Rinne im Boden floss Wasser. Mit den Augen folgte ich dem langsamen Strom und sah verschiedene Rohre, Leitungen und Schläuche davon abzweigen. Aus einem dünnen Eisenrohr plätscherte es in einen großen Bottich, und es lag eine eigenartige Fülle in der Luft, als wären das Licht und der schwere, vergorene Geruch miteinander verschmolzen.
Ich fühlte mich erleichtert und leer zugleich, als ich den Vorhang losließ und zur offen stehenden Ladentür lief, um nach dem Kind zu sehen. Sie versuchte gerade, eine schwarze schlanke Katze zu streicheln, die sich auf dem Weg wälzte und mit den Tatzen nach der suchenden Kinderhand schlug.
Nicht am Bauch streicheln, Schatz, sagte ich, während ich das Handy aus der Tasche zog und Ljubas Nummer wählte.
Hallo?
Kann ich bei dir Gemüse kaufen?, fragte ich.
Nach kurzem Schweigen fragte sie: Bist du im Laden? You are in the shop?
Ja, oder davor, sagte ich und pflückte ein rundes Blatt von der Kapuzinerkresse.
I come.
Ich steckte das Blatt in den Mund und schmeckte den milden Radieschengeschmack.
Mínerva schnappte sich einen Stängel mit gelber Blüte und riss ihn ab. Ich nahm ihr geballtes Fäustchen und drehte es so, dass ich in die Blüte hineingucken konnte; sie war leer. Keine Biene. Langsam führte sie die Blume zu ihren Lippen, steckte sie ganz in den Mund und biss den Stängel durch.
Ist in Ordnung, sagte ich. Du kannst die Blume ruhig essen.
Noch bevor die beiden um die Ecke kamen, hörte ich sie heranknirschen. Eine dünne, ernste Frau mit großen Augen und ein Junge im Buggy, dessen Gesicht nicht zu sehen war, sondern nur die blonden, fast weißen Löckchen. Mínerva versuchte, in ihren Buggy zu klettern, und ich half ihr dabei. Die Kinder starrten sich an.
Hi, sagte ich zu dem Jungen, der mich keines Blickes würdigte.
Die Frau sagte irgendetwas auf Russisch zu ihm, und ich hörte, dass sie ihn Fjodor nannte.
Heißt du Fjodor?, fragte ich und fügte hinzu: Das ist Mínerva. Ich heiße Eva.
Ljuba, sagte die Frau.
Bist du Russin? Du hast gerade Russisch gesprochen, oder?, fragte ich.
Ich komme aus Lettland, sagte sie. Gut, dass du angerufen hast. Gefällt mir, wenn die Leute sich trauen. Bist du frisch hergezogen?
Im Dezember, antwortete ich.
In welches Haus?
Das dritte von hier, sagte ich und zeigte quer über die Straße. Nummer elf.
Ihre großen graublauen Augen wurden noch größer. Das mit den Töpfen und Pfannen vorm Küchenfenster?
Ja.
Sie schüttelte den Kopf und konnte sich das Lachen kaum verkneifen. Dann ließ sie ihren Blick über eine Reihe roter Tulpen in einem schmalen Beet vor der Glaswand wandern.
Die Katze war aufgestanden, staubig vom Wälzen auf dem Weg, und strich um die Beine ihrer Besitzerin. Ahh, seufzte Ljuba und sagte etwas zu ihr. Auf Russisch. Ich war mir ganz sicher. Sie hat gerade Junge gekriegt, sagte sie an mich gewandt, aber ich weiß nicht, wo sie sind. Ich weiß nur, dass sie schwanger war, und jetzt ist sie es nicht mehr.
Ich nickte.
Warte kurz, sagte Ljuba und verschwand im Laden.
Ich drehte mich zur Sonne und spürte die Wärme auf der Brust. Das Gesicht lag im Schatten der Hutkrempe. Eine Bachstelze setzte sich unweit von uns aufs Pflaster und wippte mit dem Schwanz auf und ab.
Ljuba kam mit zwei kleinen Papiertüten wieder heraus und gab die eine ihrem Sohn und die andere meiner Tochter. Fjodor fing sofort an, sich Cocktailtomaten in den Mund zu stecken. Ich nahm Mínerva die Tüte aus der Hand, biss eine Tomate durch und gab ihr eine triefende, unappetitliche Hälfte. Ljuba sah uns mitleidig an. Hast du so eine Angst, dass sie sich verschluckt?
Ja, antwortete ich.
Fjodor pflückt sie sich am liebsten gleich vom Strauch, sagte sie. Er stopft sie sich in den Mund, manchmal mehrere auf einmal. Ich lasse ihn machen. Ich habe keine Angst. Aber meine Mutter hatte auch Angst um mich, als ich klein war. Weil sie mir mit vier Monaten versehentlich alten Hirsemilchbrei gegeben hatte und ich eine so schlimme Lebensmittelvergiftung bekam, dass die Ärzte dachten, ich würde es nicht überleben.
Aber du hast überlebt, sagte ich.
Ja, nach ein paar Tagen im Krankenhaus haben die Ärzte uns nach Hause geschickt. Sie meinten, es sei am besten, wenn ich zu Hause sterben würde. Meine Omas wollten, dass ich getauft werde, solange ich noch Lebenszeichen zeigte, damit ich richtig bestattet werden konnte, sonst wäre ich außerhalb des Friedhofs begraben worden. Sie dachten, mein Herz würde stehen bleiben, als der Pfarrer mich tief in das Fass tauchte. Aber genau das hat mich gesund gemacht, dass er mich dreimal ins kalte Wasser getunkt hat. Am nächsten Tag war ich schon wieder deutlich kräftiger und konnte aufgesetzt werden. Jahrelang konnte ich kaum etwas essen – ich habe mehr oder weniger von Bratkartoffeln gelebt.
Dreimal in kaltes Wasser getaucht?, wiederholte ich. Hier wird den Kindern nur ein kleines bisschen Wasser über den Kopf gegossen.
Es hatte etwas so unglaublich Leuchtendes, wie sie erzählte. Ich wusste nicht, ob ich mich vor allem für sie interessierte oder ob ich ihr nur beim Erzählen zuhören, mich in das Leben eines anderen Menschen hineinfühlen wollte.
Sie nickte und wischte Tomatenkerne von Fjodors Kinn. Bei uns werden junge Männer mit Eimern losgeschickt, um Wasser aus einem Bach zu holen und das Fass in der Kirche zu füllen. Dann hält der Pfarrer dem Kind Ohren und Nase zu, so … (sie drückte sich die Nasenlöcher mit den Daumen zu und steckte sich die Zeigefingerspitzen in die Ohren), und taucht es tief hinein. Drei Mal. Meine Omas nannten es ein Wunder, aber mein Papa, der Pfarrer hasste, meinte, dass doch allgemein bekannt sei, wie gesund kalte Bäder sind.
Willst du mit zu mir kommen?, fragte ich. Ich kann uns einen Kaffee kochen.
Sie guckte in die Luft und dann auf ihre langen Fingernägel, mit Trauerrand unter dem hellen Nagellack. Meine waren sauber und kurz, bis zum Fleisch heruntergeschnitten. Ich weiß nicht, ob ich Zeit habe, murmelte sie. Also … ja gut. Eine Tasse. Aber ich bleibe nicht lange, höchstens eine halbe Stunde.
Das passte mir gut.
Wolltest du nicht Gemüse kaufen?, fragte sie. Was brauchst du?
Was hast du denn da?, fragte ich zurück und spähte zu den Schildern im Fenster. Kartoffeln und Möhren?
Bist du verrückt?, rief sie. Die sind vom letzten Herbst. Sie ging rein und nahm das Schild aus dem Fenster. Ich habe eigentlich nur Tomaten und Gurken, sagte sie, und ich guckte vom Türspalt aus zu, wie sie kleine Kaktus-Gurken aus dem Kühlschrank holte, eine Papiertüte mit Tomaten füllte und ein dickes Büschel Basilikum abschnitt.
Grünkohl?, fragte ich.
Sie verschwand hinter dem Vorhang und kam mit einem großen Bund zurück. Und auf dem Weg durch die Tür drehte sie ein dickes Blatt von der Aloe-vera-Pflanze ab. Es war so lang wie ihr Arm, Schleim tropfte aus der Bruchstelle. Die kannst du mehrere Wochen im Kühlschrank aufbewahren, sagte sie. Wenn ihr Halsschmerzen habt, hackst du das Fleisch in Honig, und den Saft kannst du direkt auf Wunden und Sonnenbrand auftragen.
Danke, erwiderte ich und holte mein Portemonnaie hervor.
Fünfhundert, sagte sie.
Sicher?, fragte ich.
Du kannst dich darauf verlassen, wenn ich dir einen Rabatt gebe, dann mache ich das, weil ich es so will, sagte sie.
ICH GAB IHR EINEN ROTEN SCHEIN mit dem Porträt von Jón Sigurðsson, dann machten wir uns im Gänsemarsch auf den Weg, und mir fiel auf, dass die Palette über der Quelle schneeweiß war – das Holz wie dampfgegart. Ein bellender Hund war zu hören, aber nirgends zu sehen, und ein lang gezogenes Sirenengeheul in der Ferne passte nicht zum Gesamtbild.
Mein Gefühl nahm zu, irgendwie im Unrecht zu sein, etwas zu nehmen, das nicht mir gehörte. Ich blickte zu Ljuba, die zwei Schritte vor mir lief und zufrieden wirkte. Ich raubte sie ja nicht aus – ich lud sie nur zum Kaffee ein. Sie versuchte Späßchen mit Mínerva zu machen, doch die guckte schüchtern weg, und auch Ljuba drehte schnell ihren Kopf zurück, ihr aschblonder Pferdeschwanz schwang herum, und sie lachte kurz auf. Sie hatte einen federnden Gang und machte schnelle Bewegungen. Fast schien es, als entwischte sie ihrem eigenen Schatten, als sie davonsprang, um am Wegesrand Pusteblumen für die Kinder zu pflücken.
Pusten, pusten, rief sie.
Nachdem ich hierhergezogen war, wollten alle immer wissen, ob die Nachbarn nicht neugierig seien. Darauf antwortete ich meist mehr scherzhaft als ernst, dass eher ich die Neugierige sei, die wissen wolle, was die Nachbarn so trieben. In diesem Moment jedoch fühlte es sich gar nicht scherzhaft an, sondern wahr – als wäre jetzt die Zeit gekommen, den Worten Taten folgen zu lassen, indem ich eine ahnungslose Nachbarin in mein Haus lockte und hinter uns die Tür schloss.
Du kannst die Schuhe ruhig anlassen, sagte ich, als wir drinnen waren.
Nein, die sind voll Erde, widersprach sie.
Draußen bellte immer noch der Hund und rief die bedrückende Erinnerung daran wach, wie Matti und ich einen Winter lang im Sommerhaus in Grímsnes zugebracht hatten. Das war einige Zeit vor Mínerva gewesen. Den ganzen Winter über taten wir kaum etwas anderes als zu schreiben und zu lesen.
Es war Mitte Januar, nach sechs und stockfinster – Sterne und Mond hinter Wolken versteckt. Matti bot an, etwas zu kochen, und ich schnürte meine Wanderschuhe und ging raus. Dank vereinzelter Laternen auf Privatgrundstücken und des beinahe phosphoreszierenden Schnees konnte ich mich am Rand des schmalen Schotterwegs orientieren.
Von vorne näherten sich Scheinwerferlichter, die bald blendeten, begleitet von lautem Hundegebell. Es war ein Mann im Winterparka in einem Pick-up, auf dem Beifahrersitz saß ein Hund, und die Fenster auf beiden Seiten waren geöffnet. Er musterte mich mit strengem Blick, als er langsam an mir vorbeirollte. Ich grüßte, aber weil sein Hund so laut war, hörte er mich nicht. Ich lief weiter, doch als das Bellen wieder lauter wurde und hinter mir Reifen knirschten, wusste ich, dass das wieder der Parkamann war. Diesmal bremste er nicht ab, als er an mir vorbeifuhr, fast bis zur Landstraße, dann drehte er um und kam schon wieder angefahren, hielt das Auto auf meiner Höhe an und wünschte einen guten Abend.
Guten Abend, antwortete ich.
Wohin wollen Sie denn?
Ich mache einen Spaziergang, und Sie?
Einen Spaziergang? Im Dunkeln?, fragte er. Mein Ferienhaus ist gleich da hinten. Hier in der Nachbarschaft ist viel eingebrochen worden. Deshalb fahre ich abends manchmal herum und gucke, ob alles in Ordnung ist.
Ich bin in einem Haus ganz in der Nähe, und mir ist niemand begegnet, sagte ich.
Sie haben hier ein Ferienhaus?, fragte er. Ich habe Sie noch nie gesehen.
Ich habe Sie auch noch nie gesehen, erwiderte ich.
Aber was tun Sie hier?, fragte der Mann. Warum sind Sie zu Fuß unterwegs?
Weil. Ich. Spazieren. Gehe, sagte ich, doch obwohl ich die Stimme erhoben hatte, kam ich nicht gegen den Hund an, der seinem Herrchen schon fast auf den Schoß gestiegen war und tierisch laut kläffte. Und was tun Sie hier?, fügte ich hinzu, mit Betonung auf dem Wort Sie.
Ich war froh, als der Mann Gas gab und davonbretterte. Doch er musste natürlich noch einmal wenden und zum vierten Mal an mir vorbeifahren, und als die Rücklichter außer Sichtweite waren, zitterte ich, als hätte man mich mit Diebesgut gefasst.
LJUBA SAH SICH IN WOHNZIMMER/KÜCHE um. Es ist anders, als ich es mir vorgestellt hatte, sagte sie.
Wie denn?
Ich weiß nicht, sagte sie und guckte zur Decke, wo Beamer und Boxen an den Balken befestigt waren.
Ich goss Kaffee auf, während die Kinder sich um das Spielzeug zankten und Ljuba sofort dazwischenging. Sie setzte sich höchstens mal für einen kurzen Moment irgendwo hin, bis sie wieder aufsprang, herumlief oder sich hinhockte, soweit es die enge Jeans erlaubte, und ich hörte sie immer wieder sagen: Nicht, Fjodor, sei lieb zu ihr, sie ist ein Mädchen. Und einmal haute sie ihm kräftig auf den Po, sodass er weinte, woraufhin sie ihn sanft tröstete. Ihre Reaktionen und Methoden waren deutlich anders, als ich es gewohnt war.
Aber in Gedanken war ich bei einem vier Monate alten Baby in einem lettischen Krankenhaus, dessen kleiner Körper nur noch dahinvegetierte.
Vor langer Zeit stand ich einmal im Zentrum von Reykjavík an einer Bar und sagte zu meiner Bekanntschaft, dass ich mich verliebt hätte. Er sah mich mit Ekel im Blick an und sagte: Das überfällt mich jetzt wie ein Eimer Pipi über den Kopf.
Der Wunsch, alles über Ljuba zu wissen, hatte mich schon überfallen, bevor ich sie zum ersten Mal sah; bevor sie mit dem Buggy um die Ecke kam. Ich versuchte, mich zu erinnern, wann genau das geschehen war: Als ich ihren Namen und ihre Nummer auf dem Schild las? Als ich durch den Vorhang ins Gewächshaus lugte? Als ich ihre Stimme am Handy hörte?
Die Kinder bekamen Milch und Schmalzgebäck und Ljuba und ich aßen selbst gebackenes Dattelbrot zum Kaffee. Ich überlegte, wie es wohl wäre, Ljubas Mutter zu sein, auf dem Heimweg vom Krankenhaus mit einem todkranken Kind im Arm. Ich dachte an Leni Riefenstahl im Krankenhaus in Nairobi in Britisch-Ostafrika, das heute Kenia heißt. Das war 1956: Leni war nach einem Autounfall völlig zertrümmert und hatte eine durchlöcherte Lunge. Die Ärzte hatten sie schon aufgegeben, sagten, dass ihre Verletzungen zu schwer seien, als dass man noch irgendetwas für sie tun könne, und sie war in den Händen von britischen Krankenschwestern, die das Essenstablett außer Reichweite abstellten und unangetastet wieder mitnahmen. Das Wasserglas und die Klingel, um nach Hilfe zu rufen, falls sie in Atemnot geriet, standen auf dem Nachttisch neben dem Bett – in Sichtweite, aber zu weit weg, um sie erreichen zu können.
Als sie so weit genesen war, dass sie an Krücken laufen konnte, rief sie ihren Freund George an, der anbot, sie abzuholen. Der Plan war, dass sie sich in ruhiger Umgebung bei George und seiner Frau ausruhte und erholte. Ihre Wahrnehmung und die Faszination für das Leben waren auf einem Höhepunkt, nachdem sie wieder einmal dem Tod so brutal in die Augen geblickt hatte. Sie sah sich um, tat einen Seufzer angesichts der hügeligen Landschaft mit ihren Sandbänken und dem aufgerissenen Lehm, den Bäumen und Büschen, die teils nackt waren, teils noch ihren Laubschmuck trugen, und zuckte auf ihrem Autositz zusammen, als sie zwei anmutige Männer am Wegesrand laufen sah; groß, mit ockergelbem Lendenschutz, Kopfschmuck aus Straußenfedern und Schild und Speer in der Hand. Sie ignorierten den Jeep, doch Leni fasste Georges Arm und rief: Halt das Auto an!
Verdutzt sah George sie an.
Halt an!, schrie sie. Wir müssen ihnen anbieten mitzufahren!
Vergiss es, antwortete George. Die stinken.
Frustriert guckte Leni durch die Heckscheibe, sah aber nur hohe Wolken aus Straßenstaub. Zu welchem Stamm gehören sie?, fragte sie.
Massai, antwortete George.
Diesen Stamm sollte Leni später noch besser kennenlernen. Sie reiste unzählige Male nach Afrika, um sich unter die stolzen und kämpferischen Massai zu mischen und sie zu fotografieren. Vor allem aber schloss sie das sanfte und friedliche Volk der Nuba in ihr Herz.
Die Nuba wurden ihre Berufung und Pilgerstätte. Sie wurden zum Objekt ihrer Linse und offenbarten ihr gleichzeitig die Wahrheit über sich selbst und die Menschheit. Bei ihnen fand sie die Zuflucht, die sie suchte, die Gegenantwort auf die hektischen Widersprüche ihres Lebens, Vergebung, ein Universalelixier.
Auch mein Interesse an Ljuba war extrem persönlich, auch wenn mir nicht ganz klar war, was genau mich so anzog. Sie hatte auf jeden Fall etwas an sich, das mich neugierig machte, wie ein längst verstorbener Filmstar oder ein noch kaum erforschter Winkel der Menschheitsgeschichte. Doch je mehr sie von sich erzählte, desto sicherer war ich, dass sie meine Zuflucht werden, mir Frieden schenken, mir das Schlafen wieder beibringen konnte. Diese Vorstellung war so abwegig und verboten, dass sie einfach wahr sein musste.
Riefenstahls Ansatz wirkt heute nicht mehr selbstverständlich. Man pickt sich nicht eine Gruppe Menschen heraus und macht sie zum Symbol für die Unschuld des Menschen. Die Sehnsucht nach dem Mutterleib lässt sich nicht auf ein anderes Volk projizieren, selbst wenn es keine Kleidung kennt und noch nie etwas von Political Correctness gehört hat.
Aber es ist erlaubt, anderen zuzuhören, ihre Geschichte aufzunehmen und zuzulassen, dass sie eine neue Gestalt annimmt. Jeder Mensch ist der Quell des eigenen Mythos’, und Ljuba war der Quell, den ich brauchte. Ljubas Geschichte würde mein Leben retten. Ljuba würde mich neu gebären; ich würde perfekt erschaffen aus ihrer Hand erwachsen – oder so ähnlich. Ich wusste nicht genau, was es war. Das war mehr ein Gefühl als ein logischer Gedanke.
Wenn man eine Geschichte beginnt, muss man sie auch zu Ende erzählen, sagte ich.
Ich habe keine Geschichte begonnen.
Nein, aber du hast eine durchblicken lassen.
Was heißt das?
Du hast etwas in diese Richtung angedeutet.
Sie strahlte, als hätte sie ihr Misstrauen überwunden und könnte nun die Aufmerksamkeit genießen.
Warum hat dir deine Mutter alten Brei gefüttert?, fragte ich. Wart ihr so arm? Gab es nichts anderes zu essen?
Sie schüttelte den Kopf. Das war ein Versehen. Ein vergessenes Schälchen im Kühlschrank, das sie für den Rest vom Vortag hielt. Sie vergaß, den Brei zu probieren, bevor sie ihn mir gab. Oder sie hatte die Nase voll. In den ersten Monaten, vor der Vergiftung, habe ich Tag und Nacht geschrien.
Sie lachte und wischte Fjodors Milchbart weg, dann erzählte sie weiter: Ob wir arm waren, weiß ich nicht. Nicht ärmer als andere im Dorf.
Welches Dorf?, fragte ich. Erzähl mir von dem Dorf, bat ich, als spräche ich mit dem Propheten aus dem Buch von Khalil Gibran. Sprich uns von der Liebe. Sprich uns vom Tod. Sprich uns von den Kindern, der Freundschaft, der Ehe, der Freude, dem Leid. Sprich mir vom Dorf.
Ich weiß nicht, was ich erzählen soll, sagte Ljuba.
Erzähl einfach, wie dein Leben war, bevor du nach Island kamst.
Sie zuckte mit den Schultern. Ganz normal, sagte sie und stand auf. Trat ans große Wohnzimmerfenster und sah hinaus. Baut ihr was im Garten?
Matti baut einen Holzunterstand, antwortete ich.
Ihr braucht keinen Unterstand, sagte sie. Ihr müsst das Holz nur auf eine bestimmte Art aufschichten, an einer Hauswand. Ich zeige euch, wie das geht.
Erzähl mir von deiner Mutter, bat ich. Lebt sie noch? Hörst du manchmal von ihr?
Ja, in den letzten Tagen höre ich sogar täglich von ihr, antwortete Ljuba. Sie macht sich solche Sorgen um eine Kuh, die nicht mehr auf die Beine kommt. Sie gab fünfunddreißig Liter Milch am Tag, und jetzt liegt sie nur noch, und es ist nicht sicher, ob sie durchkommt. Die arme Mama. Sie liebt ihre Kühe. Einmal ist eine gestorben, weil sie vom Blitz getroffen wurde. Der Blitz hat in das Eisenjoch eingeschlagen, das sie um den Hals trug. Sie war sofort tot. Mama hat eine Woche lang Schwarz getragen.
Ljuba schüttelte den Kopf. Ach, sie ist so alt und fertig. Klagt und jammert, alles tut ihr weh, und sie hat alles: Muskelentzündung, Gicht, chronische Müdigkeit – aber sie will nichts dagegen tun. Will nicht zum Arzt gehen, weigert sich, in Kur zu gehen oder zu meiner Schwester nach Riga. Jemand muss sich um die Schweine und Hühner kümmern und das Gemüse wässern. Sie ist erst sechzig. Ich muss aufpassen, dass ich nicht so ende wie sie. Ich arbeite viel zu viel. Weiß nie, wann ich aufhören muss. Ich habe ein Foto von ihr zu Hause, das zeige ich dir irgendwann mal.
Sie sagte irgendetwas im Befehlston zu Fjodor, dann sah sie mich an und seufzte: I have to go take care of beans.