Buch
Die Diebin Sancia Grado und ihre Verbündeten haben ein eigenes Handelshaus gegründet. Das war ihre einzige Möglichkeit, nicht durch die mächtigen Familien von Tevanne einfach zu Verbrechern erklärt zu werden. Nun müssen sie sich gegen die etablierten Familien durchsetzen. Doch deren Rache ist nicht ihr größtes Problem. Der vielleicht mächtigste Magier der Vergangenheit ist ins Leben zurückgekehrt und will nun die Realität nach seinen Wünschen neu formen. Sancia und ihre Freunde benötigen dringend Unterstützung, wenn sie ihre Heimat retten wollen. Aber der magische Schlüssel Clef, einst ihr bester Berater, schweigt – und der Preis für andere Hilfe könnte noch höher sein, als wenn Sancia den Meistermagier einfach gewähren ließe …
Autor
Robert Jackson Bennett wurde bereits mehrfach für seine Fantasy-Romane ausgezeichnet, unter anderem mit dem Edgar Award, dem Shirley Jackson Award und dem Philip K. Dick Award. Außerdem war er Finalist beim World Fantasy Award, dem Locus Award, dem Hugo Award und beim British Fantasy Award. Neben den Kritikern und zahllosen Lesern gehörten auch die größten seiner Autorenkollegen zu seinen Fans, zum Beispiel Brandon Sanderson und Peter V. Brett. Robert Jackson Bennett lebt mit seiner Frau und seinen Söhnen in Austin, Texas.
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DER MEISTER
Deutsch von Ruggero Leò
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel
»Shorefall (The Founders Trilogy 2)« bei DelRey, New York.
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Copyright der Originalausgabe © 2020 by Robert Jackson Bennett
Published by arrangement with Robert Jackson Bennett
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Peter Thannisch
Umschlaggestaltung und -illustration: © Isabelle Hirtz, Inkcraft
HK · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-25720-0
V001
www.blanvalet.de
Falls es jemanden gibt, der mehr Macht hat als ich, werden sich die Umstände mit der Zeit so sehr verschlechtern, dass ich unweigerlich zu seinem Sklaven werde. Und sollte sich das Blatt wenden, wird er unweigerlich zu meinem.
Crasedes Magnus
I
Der Bibliothekar und die Musen
»Das Tor ist genau vor uns«, sagte Gregor. »Mach dich bereit.«
Sancia holte tief Luft und wappnete sich. Ihre Kutsche holperte durch den strömenden Regen. Von hier aus sah sie kaum mehr als die grellen, kalten Lichter auf den Campo-Mauern. Sie rieb sich die Hände und strich über die Schwielen an ihren Handflächen und Knöcheln, die allerdings längst nicht mehr so groß waren wie früher, zur Blütezeit ihrer Diebeszüge.
»Halt dich einfach an den Plan«, sagte Berenice. »Weich nicht davon ab, dann geht nichts schief.«
»Ich befolge den Plan«, erwiderte Sancia. »Allerdings sieht er an vielen Stellen vor, dass ich improvisieren muss. Was nicht gerade beruhigend ist, weißt du?«
»Werden wir dahinten etwa nervös?«, fragte Orso aus der Fahrerkabine. Er drehte sich um und sah die beiden an. Seine blassblauen Augen funkelten in seinem markanten Gesicht.
»Ein wenig Angst ist unter diesen Umständen verständlich«, meinte Berenice.
Orso schnaubte. »Aber da wir uns fast sechs Monate lang abgerackert haben, um an diesen Punkt zu gelangen, bin ich wenig gewillt, dafür Verständnis aufzubringen.«
»Orso …«, setzte Gregor an.
Orso wandte sich um. »Wir sind einfach nur Skriber, die mit einem Handelshaus ins Geschäft kommen wollen. Vier schmierige Skriber, die ihre Entwürfe verkaufen und schnelles Geld verdienen wollen. Das ist alles. Kein Grund zur Sorge.«
»Ich sehe die Mauer.« Gregor drehte das Steuerrad und verlangsamte die Fahrt auf Kriechtempo.
Orso schaute nach vorn. »Äh, tja … Ich gebe zu, das ist ein wenig beunruhigend.«
Die Campo-Mauern der Michiel-Handelsgesellschaft tauchten im strömenden Regen auf. Anscheinend hatten die Michiels seit Sancias letztem Besuch wesentliche Umbauten vorgenommen. Die Mauerwände waren mit grauen Steinen um etwa zwölf Meter erhöht worden, was recht aufwändig gewesen sein musste. Doch was Sancias Aufmerksamkeit erregte, war das, was sich obenauf befand: eine Reihe großer, langer Bronzekästen, etwa alle hundert Fuß auf der Mauer verankert, jeder einzelne auf einer Art Drehgestell.
»Das sind verdammt viele Arbalesten-Geschütze«, murmelte Orso.
Sancia musterte die reglosen, dunklen Geschütze im Regen. Ein Vogel flog dicht an einem davon vorbei, dessen Luke sogleich aufschnappte. Langsam drehte sich der längliche Kasten und verfolgte die Flugbahn des Tiers wie die Augen einer Katze eine vorbeiziehende Fledermaus. Das Geschütz stufte den Vogel offenbar nicht als Gefahr ein und kehrte in seine ursprüngliche Position zurück.
Sancia wusste, wie diese skribierten Waffen funktionierten: Die Kästen waren mit Bolzen gefüllt, deren Sigillen sie davon überzeugten, dass sie übernatürlich schnell fliegen konnten. Das Entscheidende war jedoch, dass man die Geschütze darauf skribiert hatte, Blut zu erkennen. Nahm eine Geschützbatterie Blut wahr, das einer unbekannten Person gehörte, richtete sie sich auf sie aus, feuerte alle Bolzen ab und zerfetzte das Ziel. Die Skriber, die die Geschütze entworfen hatten, hatten viel Mühe darin investiert, dass die Geschütze keine Munition mehr an streunende Tiere vergeudeten. Vor allem nicht auf die Grauaffen, die die Batterien anfangs sehr verwirrt hatten.
Ihre Lösung war zwar nicht elegant, aber sie funktionierte. Die Leute näherten sich inzwischen keiner Campo-Wand mehr.
»Wer garantiert uns, dass diese Dinger nicht uns in Stücke schießen?«, fragte Gregor.
Ihr Wagen rollte durch eine Pfütze, graubraunes Wasser spritzte zu beiden Seiten auf und sickerte in die Bodenbretter.
»Ich schätze, das finden wir gleich heraus«, erwiderte Orso.
Das Tor des Michiel-Campos lag direkt vor ihnen. Sancia sah die Wachen aus ihren Ständen treten, die Waffen im Anschlag.
»Da kommen sie«, sagte Gregor.
Der Wagen hielt an einem Kontrollpunkt vor dem Tor an. Zwei Wachmänner näherten sich, beide schwer gepanzert, einer trug eine sehr moderne Arbaleste. Der zweite Michiel-Wachmann blieb etwa sechs Meter von der Kutsche entfernt stehen, die Waffe gesenkt, während sich der erste Gregor näherte und ihm bedeutete, sich zu erkennen zu geben.
Gregor öffnete die Tür und kletterte hinaus, was den Michiel-Wächter nervös machte – Gregor war etwa einen Kopf größer als er und trug eine leichte Lederrüstung mit dem Symbol von Haus Gründermark.
»Ihr kommt aus Gründermark?«, fragte der Wachmann.
»Ja«, antwortete Gregor.
»Ich habe den Befehl, Euch alle zu durchsuchen, bevor Ihr ins Campo eingelassen werdet.«
»Verstanden.«
Sie stiegen einer nach dem anderen aus der Kutsche und standen im Regen, während der Mann sie abtastete. Danach kontrollierte er das Fahrzeug, einen ziemlich schlecht skribierten Wagen, den Gregor von einem Eisenhändler gemietet hatte; die Räder vergaßen manchmal, in welche Richtung sie rollen sollten. Aber das gehörte zur Strategie: Je mehr sie wie glücklose Geschäftsleute aussahen, desto glaubhafter war ihre Tarnung.
Der Wachmann öffnete das Heckfach. Darin befand sich eine große Holztruhe mit Bronzeschloss.
»Und das«, sagte die Wache, »ist die vereinbarte … Ware?«
Orso schnaubte. »In der Tat.«
»Ich muss sie untersuchen.«
Orso zuckte mit den Schultern und schloss die Truhe auf. Im Inneren lagen einige Bronzeplatten, in die zahlreiche Sigillen eingearbeitet waren, ein paar Skribier-Werkzeuge und viele große Bücher.
»Das ist alles?«, fragte der Wachmann.
»Geistiges Eigentum bietet nie einen sonderlich eindrucksvollen Anblick«, behauptete Orso.
Die Wache schloss die Heckklappe. »Sehr gut. Ihr könnt weiterfahren.« Er überreichte jedem von ihnen eine Passierplakette: einen kleinen Bronzeknopf mit eingravierten Sigillen. »Die sorgen dafür, dass die Mauergeschütze und die anderen Abwehranlagen euch nicht als Bedrohung einstufen. Beachtet nur: Die Plaketten verlieren in fünf Stunden ihre Gültigkeit. Danach werden euch alle Abwehrmaßnahmen des Campos als Eindringlinge betrachten.«
Orso seufzte. »Und ich dachte schon, ich würde das Campo-Leben vermissen.«
Sie stiegen wieder in den Wagen. Das Bronzetor knackte, schwang langsam auf, und Gregor lenkte ihr kleines, schäbiges Gefährt hindurch.
»Teil eins ist erledigt«, sagte Orso vom Vordersitz aus. »Wir sind drin.«
Aber Sancia wusste, dass dies nur der leichte Teil gewesen war. Sehr bald würde alles deutlich schwieriger werden – besonders für sie.
Erneut drückte Berenice ihre Hand. »Wir handeln überlegt«, flüsterte sie. »Und schenken anderen die Freiheit. Das ist doch, was wir tun, stimmt’s?«
»Ja«, sagte Sancia. »Es ist nur so: Normalerweise breche ich einfach ein, wenn ich ein Handelshaus ausrauben will, und mache vorher keinen Termin und spaziere durchs Vordertor.«
Ratternd drang der Wagen aufs Gelände vor.
Sancia war nie in den inneren Enklaven des Michiel-Campos gewesen, daher wusste sie nicht genau, was sie hier erwartete. Die Michiels zeigten das größte Geschick, wenn es um die Manipulation von Wärme und Licht ging. Sie waren dafür bekannt, unerträgliche Kunstsnobs zu sein, und besaßen einen der beeindruckendsten Campos von Tevanne. Doch während Gregor den Wagen in die Tiefen des Campos steuerte, stellte Sancia fest, dass sie diesen Anblick nicht erwartet hatte.
Gläserne Gebäude säumten die Straßen, wanden sich empor und liefen ineinander. Ihre Innenräume schimmerten in einem warmen, bezaubernden Licht. Ganze Wände waren dazu umfunktioniert, Kunstwerke zur Schau zu stellen, ihre Oberflächen verschoben und veränderten sich und zeigten wunderschöne Entwürfe, die sich bewegten.
Und dann waren da noch die Sonnen.
Sancia stierte eines der Gebilde an, das sich soeben näherte. Die meisten Campos bevorzugten Schwebelaternen, die Michiels hingegen hatten sich anscheinend nicht damit zufriedengegeben. Statt Laternen hatten sie eine Art riesige glitzernde Leuchtkugel geschaffen, die langsam wie eine Miniatursonne etwa hundert Meter über den Straßen der Stadt schwebte und alles in eine Art Tageslicht tauchte. Bereits am helllichten Tag wäre der Anblick verblüffend gewesen, im strömenden Regen jedoch war er besonders eindrucksvoll.
»Verrogelte Hölle«, brummte Sancia.
»Allerdings«, stimmte ihm Berenice zu. »Angeblich kann man die Sonnen von oben sehen, wenn man auf manchen Türmen der Stadt steht.«
»Selbstgefälliger Blödsinn«, murmelte Orso. »Dummes Geschwätz.«
Sie rumpelten weiter zwischen den Türmen hindurch, bis man sie am nächsten Tor anhielt und anwies, in eine Kutsche voller Michiel-Wachen umzusteigen. Die Gründermarker gehorchten. Gregor holte die verschlossene Kiste, und der Wagen fuhr weiter zum innersten Heiligtum des Michiel-Campos, nahe beim Illustris, dem Hauptgebäude des Handelshauses.
Das war jedoch nicht ihr Ziel. Stattdessen rumpelte die Kutsche auf ein hohes violett schimmerndes Bauwerk zu, das mit winzigen Rundfenstern versehen war: der Amtssitz des Hypatus, in dem die Michiel-Skriber mit Sigillen und Logik experimentierten, stets auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, die Realität umzugestalten.
Sie hielten an der Eingangstreppe und kletterten aus der Kutsche, während die Michiel-Wachen ihre verschlossene Kiste trugen. Niemand war da, um sie zu begrüßen. Vielmehr wurden sie hineingeführt, durch Glaskammern und leuchtende Wände die Treppe hinauf, bis sie schließlich in einen hohen Raum gelangten. Er wirkte wie eine Art Theater, mit einer Bühne, gleichwohl war der Zuschauerbereich mit Sofas, Kissen und zahllosen Tellern mit Essen vollgestopft.
Sancia starrte die Speisen an. Sie musste schon seit einer ganzen Weile nicht mehr hungern, trotzdem konnte sie den Anblick kaum fassen: Pasteten, Eintöpfe, geräuchertes Fleisch und Schokolade, alles fein säuberlich auf gestaffelten, goldenen Tellern angerichtet. Es gab auch etliche Krüge mit Wein, und Sancia fiel auf, dass Orso sie interessiert beäugte.
»Ich dachte, wegen der Sklavenaufstände in den Plantagen müssten alle den Gürtel enger schnallen«, sagte sie.
»Das Essen dürfte für die hochrangigen Hypatus-Beamten des Campos sein«, antwortete Berenice leise. »Ihnen fehlt es an nichts, trotz der Umstände.«
Ein Michiel-Wachmann deutete zum Tisch auf der Bühne. »Ihr könnt dort mit dem Aufbau beginnen. Der Hypatus wird in Kürze hier sein.«
Sancia sah zu, wie sich die Wachen in den Ecken des Raumes postierten. Das war nicht überraschend. Ihr war klar, dass man sie hier keine Sekunde aus den Augen lassen würde.
Orso näherte sich dem Tisch. »Das wird doch funktionieren?« Er deutete auf das Objekt auf der Tischplatte, das die meisten für einen merkwürdigen Ofen gehalten hätten. Doch selbst der unerfahrenste Skriber hätte darin eine große Hitzekammer erkannt, die ein Testlexikon enthielt – eine viel kleinere, schlichte Version der riesigen Lexiken, mit denen man die Gründerhäuser in ganz Tevanne betrieb.
Berenice musterte die Oberfläche der Kammer. »Das Lexikon ist viel fortschrittlicher als alle, die wir momentan verwenden.«
Orso schnaubte. »Natürlich. Wir haben nicht umsonst eine Million Duvoten darin investiert.«
»Aber … wir kriegen es zum Laufen, stimmt’s?« Berenice sah Sancia an.
Die beugte sich vor und studierte die Hitzekammer, die das Testlexikon enthielt. Vor allem prüfte sie die Verkleidung, denn wenn sie ihre Technologie den Michiels vorführen wollten, musste das Ganze luftdicht sein. »Wir müssen die Kammer hier und hier versiegeln«, sagte sie und wies auf zwei Fugen, die sie für undicht hielt. »Ansonsten sollte es funktionieren.«
»Prüf’s noch mal«, bat Orso sie. »Unsere Entwürfe müssen funktionieren.«
Seufzend öffneten Berenice und Sancia ihre Holzkiste, entnahmen ihr ein paar zerkratzte Lupengläser und inspizierten die Heizkammer gründlich, auf der Suche nach einem Mangel. Sancia kam sich wie ein Physikus vor, der einen Patienten auf Pestbeulen untersuchte.
Sie blickte zu Berenice auf, die sich die Lupe fest vors Auge geklemmt hatte. »Hast du für später schon irgendwelche Pläne?«
Ihre Freundin sah sie verwirrt an. »Hä?«
»Ich dachte, wir könnten zu einem Puppenspiel gehen. Pasqual hat eine Art skribierter Giraffenpuppe, die ziemlich beeindruckend sein soll.«
Berenice gestattete sich ein sardonisches Lächeln. »Ach ja?«
»Ja. Vielleicht könnten wir in einer Taverne vorbeischauen.«
»Den neuesten Rohrwein kosten.«
»Eine Schüssel Safranreis.«
»Oder gezuckerten Rotschwanz.«
»Ja«, sagte Sancia. »Und dann zum Puppenspiel. Klingt das gut?«
»Klingt wunderbar.« Berenice klemmte sich wieder die Lupe vors Auge und machte sich an die Arbeit. »Das würde ich um nichts in der Welt verpassen wollen. Aber vielleicht …«
»Vielleicht morgen.«
»Morgen wäre besser, ja. Obwohl, wenn ich drüber nachdenke, übermorgen.«
»Ist sogar noch besser?«
»Ganz genau.«
Sancia lachte grimmig. »Natürlich.«
Das war ein alter Witz zwischen ihnen. So gern sie ihre Werkstätte verlassen und sich amüsieren wollten, sie wussten beide, dass sie das mit ziemlicher Sicherheit nicht schafften. Vermutlich würden sie auch in dieser Nacht bis zum Morgengrauen Definitionsplatten und -tafeln skribieren, um ihr altes Lexikon wieder in Schuss zu bringen.
Eines Tages, dachte Sancia, werde ich eine Frau sein, die immer Zeit für ihre Freundin hat und nur dann arbeitet, wenn sie muss.
In diesem Moment öffnete sich die Türe, und eine sonore Stimme rief: »Orso Ignacio! Schon ewig nicht mehr gesehen!«
Die Gründermarker wandten sich um und sahen etwa zwanzig gut gekleidete Männer in den Raum strömen. Sie alle wirkten wie geleckt, jedes Haar saß perfekt, ihre Gewänder zeigten keine einzige Falte. Viele hatten sich komplizierte Linien und Muster auf die Gesichter gemalt – die übliche Aufmachung der Stadtelite. Sogar diejenigen unter ihnen, die modisch nicht auf dem neuesten Stand wirkten, hatten sich offensichtlich mit großer Sorgfalt hergerichtet.
Angeführt wurden sie von einem hochgewachsenen, dünnen Mann, der selbstgefällige Zufriedenheit ausstrahlte. Sein weiß geschminktes Gesicht wies goldene Ringe um die Augen auf, und sein bis zum Bauchnabel offenes Gewand gab den Blick auf seinen straffen Oberkörper frei. Er hatte sich die dunkle Haut seltsamerweise eingeölt.
»Armand Moretti«, sagte Orso mit geheuchelter Freude. »Es ist so schön, Euch zu sehen.« Er trat mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. Es war, als würde er sich einem bizarren Spiegel nähern: auf der einen Seite Orso, groß und ungepflegt, mit irrem Blick und zerzaustem Haar, so knochig und spindeldürr; auf der anderen Seite Armand Moretti, der Hypatus der Michiel-Handelsgesellschaft, etwa ebenso groß und alt wie Orso, jedoch eher die Art Mann, die regelmäßig zur Pflege der Haut in Milch badete.
»Es ist so nett von Euch, dass Ihr hergekommen seid, Orso!«, sagte Moretti und schüttelte ihm die Hand. »Und ich bin ja so froh, dass ich Euch aushelfen kann. Wann habt Ihr Euer Handelshaus gegründet? Vor einem Jahr? Vor zweien?«
»Eigentlich vor fast drei Jahren«, erwiderte Orso.
»Wirklich? Ist das schon so lange her? Eurem aktuellen Status zufolge dachte ich, das läge noch nicht so lange zurück. Tja, Leuten, die ich von früher kenne, reiche ich immer gern eine helfende Hand.«
»Ach ja?« Offenbar musste Orso die herablassende Bemerkung erst verdauen.
Moretti ließ den Blick durch die Runde schweifen und musterte Berenice besonders gründlich. Mit wallender Robe näherte er sich ihr. »Ah! Und … wer ist dieses betörende Geschöpf, das Ihr irgendwie dazu gebracht habt, für Euch zu arbeiten?«
»Das ist Berenice Grimaldi«, antwortete Orso rundheraus. »Unsere Projektleiterin.«
»Ach ja? Ich muss sagen, sie ist viel angenehmer anzuschauen als unser Projektleiter.«
Berenice verbeugte sich. »Es ist mir eine Ehre, den berühmten und renommierten Armand Moretti von der Michiel-Handelsgesellschaft kennenzulernen.«
»Und auch noch höflich.« Moretti strich ihr über die Wange. »Ich versichere Euch, die Freude ist ganz meinerseits.«
Bislang hatte Sancia sich kaum gerührt, doch nun wurde es ihr allmählich zu viel. Mit zu Fäusten geballten Händen stellte sie sich hinter Berenice, doch ihre Freundin winkte ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.
Sancia wechselte einen Blick mit Orso. Wir müssen die Sache ins Rollen bringen, dachte sie, sonst verliere ich die Beherrschung und zerstampfe den Kopf dieses dummen Arschlochs zu Pudding.
Morettis Blick richtete sich auf Sancia, und er stutzte. Seine Reaktion wunderte sie nicht. Sie war klein, vernarbt, hatte einen fast kahlrasierten Schädel und trug dunkelbraune Kleidung, in der sie eher aussah wie ein abtrünniger Mönch – definitiv nicht wie jemand, mit dem sich Moretti je freiwillig abgeben würde. Sie sah in sein verdutztes Gesicht.
»Und … und wer ist das?«, fragte er.
Gregor trat vor. »Das ist Sancia Grado, unsere Direktorin für Innovation. Und ich bin Gregor Dandolo, Sicherheitschef.« Er verbeugte sich.
»Ah ja!«, sagte Moretti. »Der berühmte Wiedergänger von Dantua. Was für ein Fang für Orso, dass Ihr für seinen kleinen Laden im Gemeinviertel arbeitet. Das ist so herrlich transgressiv! Gewiss rauft sich Eure Mutter deswegen die Haare.«
Gregor lächelte verhalten und verneigte sich erneut.
Moretti klatschte in die Hände. »Und heute sehen wir Eure berühmte Schichtenkiste, ja? Eure neue Lexikontechnik?«
»Ja.« Orso schloss die Truhe auf, öffnete schwungvoll den Deckel, nahm einen dicken Wälzer heraus und legte ihn auf den Tisch. »Hier sind alle wichtigen Definitionen und Protokolle, die Ihr Euch ansehen solltet. Wir übergeben sie Euch nach der Demonstration. Die meisten ergeben für Euch mehr Sinn, wenn Ihr gesehen habt, wie man sie richtig anwendet.«
Ein älterer Michiel-Skriber ergriff das Wort. »Und das ist die Technik, die Ihr in der Nacht des Berges eingesetzt habt?« Sein starkes Lispeln wirkte auf Sancia wie eine affektierte Marotte. »Die Gravitationstechnik, mit deren Hilfe Ihr die Candianos angreifen konntet?«
Orso war sprachlos. Diese Technik hatte es ihnen in der Tat ermöglicht, eines der vier Handelshäuser Tevannes zu vernichten. Daher waren er und seine Gefährten davon ausgegangen, dass dies für die übrigen drei Häuser ein ziemlich heikles Thema wäre, und er hatte beschlossen, es nicht anzuschneiden.
Und doch … schien es die Michiel-Skriber überhaupt nicht zu irritieren. Sie sahen Orso mit verhaltenem Interesse an, als hätten sie sich nur danach erkundigt, ob jemandes Cousin heiraten würde oder nicht.
»Äh, ja«, sagte Orso schließlich hüstelnd. »Das ist korrekt. Allerdings ist diese Technik hier ausgereifter.«
»Fantastisch.« Der Skriber nickte. »Faszinierend.«
»Glaubt nicht, dass Ihr hier durch die Blume sprechen müsst, Orso«, sagte Moretti. »Immerhin waren die Candianos unsere Konkurrenten. Dank Euch konnten wir einen Großteil ihrer Enklaven zu einem Spottpreis erwerben.« Er schenkte sich ein Glas Wein ein und hob es feierlich. »Einschließlich des Berges.«
»Oh«, sagte Orso nervös. »Dann … dann … lasst uns fortfahr...«
»Wollt Ihr nicht zuerst Eure Bezahlung in Empfang nehmen?«, unterbrach Moretti ihn.
Sancia wusste sofort, warum Orso erstarrte: Er hatte das Geld ganz vergessen und fragte sich nun, ob er sich damit verraten hatte.
»Äh, natürlich.« Orso verneigte sich. »Ich wollte nicht unverschämt wirken.«
Moretti grinste, leerte sein Weinglas und schnippte mit den Fingern, woraufhin ein Dienerjunge mit einer kleinen Holztruhe vortrat. »Macht Euch keine Sorgen. Sechzigtausend Duvoten sind alles andere als unverschämt.«
Der Diener öffnete die Truhe. Die Gründermarker starrten auf die vielen Gold- und Silber-Duvoten.
Verrogelte Hölle, dachte Sancia. So viel Geld hab ich in meinem gottverdammten Leben noch nie gesehen.
Ihr kamen Orsos Worte in den Sinn: Zur Hölle mit dem Geld. Wenn wir die Sache richtig machen, haben wir etwas, das viel wertvoller ist als alle goldenen Kerzenständer und skribierten Werkzeuge im Hypatus-Gebäude zusammen.
Momentan schien es Orso jedoch schwerzufallen, sich daran zu erinnern. »Sehr gut«, sagte er mit erstickter Stimme. »Danke, Armand.«
»Aber gewiss doch.« Moretti machte ein Handzeichen, und der Dienstbotenjunge schloss die Truhe, um sie sodann in eine Ecke zu tragen und dort abzustellen.
Moretti schenkte sich theatralisch Wein nach. »Ihr dürft fortfahren.« Er leerte den Kelch und grinste seine Besucher an. »Versetzt mich in Erstaunen.«
»Für die Demonstration brauchen wir einen Kasten, vorzugsweise aus Eisen oder Stahl«, sagte Orso. »Bronze ist ein wenig zu schwach. Der Kasten sollte ungefähr so groß sein wie unser Testlexikon.«
Moretti schlenderte zu einem riesigen Kissen und wies mit einem Fingerschnippen den Dienerjungen an: »Hol ihm einen!«
Der kleine Junge eilte davon, und Moretti ließ sich auf das Kissen fallen. Die anderen Skriber folgten seinem Beispiel und drapierten sich auf Sofas und Stühlen.
Moretti tunkte eine Pflaume tief in einen Topf mit heißer Schokolade und zerbiss sie schmatzend, während er Sancia und Berenice bei der Arbeit am Testlexikon zuschaute.
Die Kunst des Skribierens war fast immer ein zweistufiger Prozess. Der erste Schritt wirkte sehr schlicht: Ein Skriber brachte eine Sigillen-Platte an jenes Objekt an, das er verändern wollte, häufig irgendwo in dessen Innerem, um die Gravuren zu schützen. In die Platte waren Sigillen geritzt, meist zwischen sechs und zehn. War die Platte mit dem Objekt verbunden, überzeugten die Sigillen es davon, sich der Realität zu widersetzen – daher auch der Begriff Überzeugungsplakette.
Aber eine solche Plakette wirkte lediglich schlicht. In Wahrheit wurde jede ihrer sechs bis zehn Sigillen durch eine zweite Komponente unterstützt: eine Definitionsplatte, die in einem Lexikon in der Nähe aufbewahrt wurde. Und die verrichtete die eigentliche Arbeit, denn eine Definitionsplatte bestand aus Tausenden handschriftlichen Sigillen-Abfolgen, die alle hochkomplizierte Argumente bildeten, stark genug, um ein physisches Objekt dazu zu zwingen, der Realität zu trotzen. Die Sigillen der Überzeugungsplakette legten lediglich fest, auf welchen Argumenten sie fußten.
Die Erstellung einer Definitionsplatte erforderte wochenlange Tests und Analysen. Solche Experimente klangen für die meisten langweilig, und sie waren es auch. Wurden sie jedoch nicht korrekt durchgeführt, konnte dies darin gipfeln, dass der Kopf oder Rumpf eines Menschen plötzlich implodierte. Aus diesem Grund war jede funktionierende Definitionsplatte in Tevanne ein Vermögen wert.
Und genau so etwas hoben Berenice und Sancia behutsam aus ihrem Kasten und brachten es im kleinen Lexikon an: eine Definitionsplatte, von ihnen persönlich angefertigt, um die Realität auf eine Weise zu manipulieren, die für die Michiels äußerst einträglich wäre.
»Und mit dieser Methode«, lispelte der ältere Skriber, »schaffen es Eure Leute … die Realität zu duplizieren?«
»Nicht ganz«, antwortete Orso, während der Dienerjunge mit einem Rollwagen zurückkehrte, auf dem ein Eisenkasten lag. »Sie werden vielmehr beide Kammern davon überzeugen, dass in ihnen dieselbe Realität herrscht. Die Außenwelt wird danach nicht bestimmen können, ob sich das Testlexikon in der Heizkammer befindet, in dem Eisenkasten, den Ihr uns gebracht habt, oder in beiden zugleich.«
Moretti verengte die Augen zu Schlitzen. »Und das bedeutet?«
»Das bedeutet, sobald die beiden Kammern miteinander gekoppelt sind, könnt Ihr die leere Kiste auf dem Rollwagen überallhin mitnehmen.« Orso klopfte auf den Eisenkasten, an dem Sancia und Berenice arbeiteten. »Dann habt Ihr stets die Definitionen eines Lexikons dabei.«
Die Michiel-Skriber hatten ihre Speisen und Getränke ganz vergessen. Das konnte Sancia ihnen nicht verdenken – immerhin hatte Orso ihnen soeben beiläufig die Lösung für die größten Einschränkungen des Skribierens präsentiert.
Herkömmliche Lexiken enthielten Abertausende sorgsam abgestimmter Definitionen und Argumente, die die Realität auf eine Weise manipulierten, gegen die sie sich normalerweise sträubte. Sie waren riesig, kompliziert und enorm teuer, was bedeutete, dass ihr Bau und Transport horrend schwierig waren.
Doch skribierte Objekte wie Bolzen, Schlitten und Laternen funktionierten nur, wenn sie nicht mehr als zwei Kilometer von einem Gründerlexikon weg waren. Entfernte man sich zu weit davon, erkannte die Realität immer genauer, welche Eigenschaften das Objekt in Wahrheit hatte, bis sie die Überzeugungstafel des Objekts schließlich komplett ignorierte, ganz gleich, wie sorgfältig deren Sigillen komponiert waren.
Kurz gesagt, es war erheblich billiger, einen schlichten Eisenkasten davon zu überzeugen, dass er ein Lexikon enthielt, als ein zweites Lexikon zu bauen. Unfassbar billiger. So unkompliziert, als bräuchte man nicht länger kilometerlange Bewässerungsgräben anzulegen, sondern könnte mit einem Zauberstab und einem magischen Spruch eine sprudelnde Wasserquelle aus dem Boden entstehen lassen.
»Unterliegt diese Methode irgendwelchen Einschränkungen?« Inzwischen klang Moretti deutlich weniger affektiert.
»Tja, anfangs war die duplizierte Realität in der gekoppelten Kiste ziemlich instabil, je länger man sie aufrechterhielt«, erwiderte Orso. »Damit will ich sagen, sie ist letztlich immer explodiert.«
»Aber wir haben dieses Problem gelöst«, warf Berenice schnell ein.
Orso nickte. »Ja, es war viel Arbeit, wir haben die Instabilität beseitigt.«
»Zeigt mir bitte die Definition«, bat Moretti.
»Wir haben sie bereits verbaut«, sagte Berenice.
»Ich weiß. Aber ich würde sie gern sehen.«
Stirnrunzelnd löste Orso die Definitionsplatte, nahm sie aus dem Lexikon und zeigte sie ihm. Es handelte sich um eine etwa fünfundvierzig Zentimeter breite Bronzescheibe, die mit Abertausenden von winzigen Gravuren bedeckt war, alle in Berenices sorgfältiger Handschrift.
Moretti stand auf, ging hinüber und beugte sich über die Scheibe. Dann nickte er und trat zurück. »Ich verstehe«, sagte er. »Faszinierend.«
»Kann die Technik auch in größerem Maßstab angewandt werden?«, fragte der lispelnde Skriber – offenbar hatte er die Campo-Lexiken im Sinn.
»Wäre möglich.« Orso brachte die Scheibe wieder im kleinen Lexikon an. »Aber da unsere Handelsgesellschaft keine Gründer-Lexiken hat, mit denen wir im Gemeinviertel experimentieren könnten, kann ich die Frage nicht verlässlich beantworten.«
Die Michiel-Skriber grinsten einander an.
»Wir haben uns jedoch mit dem zweitgrößten Problem befasst, das Lexiken mit sich bringen«, fuhr Orso fort. »Der Aufbau eines Lexikons ist zwar schwierig und teuer, aber die Kosten fallen nur einmalig an. Will man hingegen ständig alle vorhandenen Campo-Lexiken auf dem neuesten Stand halten … dann wird das ziemlich teuer, nicht wahr?«
Das Grinsen wich aus den Mienen sämtlicher Skriber. Aller Blicke waren auf Orso gerichtet, während Sancia und Berenice an der eisernen Kiste werkelten wie Bühnenassistenten bei einem Zaubertrick.
»Wie meint Ihr das?«, hakte Moretti nach.
»Nun, da ich selbst ein ehemaliger Hypatus bin, weiß ich, dass es Tage, Wochen oder gar Monate dauert, eine kurze Definition zu erarbeiten.« Orso tätschelte das Lexikon, das er ihnen soeben gezeigt hatte. »Man muss jede einzelne Sigille des Arguments sorgfältig auf eine Bronzeplatte schreiben, ehe man sie in ein Gründerlexikon einfügen kann. Und man kann die Platten und Scheiben nicht in Massenproduktion herstellen, denn würde dabei eine Sigille auch nur geringfügig deplatziert, könnte das ein Riesenunheil anrichten. Man muss sie also alle von Hand eingravieren … Was bedeutet, dass es weit über ein Jahr dauern kann, eine neue Definition im gesamten Campo zu installieren.«
»Ja«, sagte Moretti ungeduldig. »Und?«
»Nun, die Wiege eines Gründerlexikons … das Element, das alle Definitionen enthält …« Orso brach ab und tippte sich nachdenklich ans Kinn – ein wenig zu dramatisch, wie Sancia befand. »Wir fanden heraus, dass sich dieses Element mühelos mit einem Zwilling koppeln lässt.«
Die Michiel-Skriber sahen einander an.
Moretti blickte zu der mit Samt ausgekleideten Kiste. »Wollt Ihr damit etwa sagen, dass wir, statt für all unsere Lexiken Hunderte von Definitionsplatten von Hand zu schreiben …« Er stockte.
»Ja?«, hakte Orso nach.
»Wir … Wir könnten Eure Technik nutzen, um alle Wiegen in unseren Campo-Lexiken zu koppeln?«
»Ja.«
»Und wenn man nur einen Satz Definitionsplatten in ein Gründerlexikon installieren würde … würden alle übrigen Lexiken glauben, dass sie diese Argumente enthalten?«
»Ja.«
»Und dann würden all unsere ausformulierten Argumente überall gelten?«, fragte Moretti.
Orso nickte, als wäre es Morettis Idee gewesen statt seine. »Das könnte definitiv funktionieren, ja.«
Die Michiel-Skriber saßen nicht mehr zusammengesunken auf ihren Stühlen. Die meisten hatten sich aufgerichtet, vorgebeugt oder waren sogar aufgestanden.
Sancia sah ihnen an, was sich in ihren Köpfen abspielte: Sie berechneten die Arbeitsstunden, die sie einsparen würden, und erkannten die Effizienz, mit der sie campoweit operieren könnten. Und es würde auch eine ganze Reihe von Sicherheitsbedenken zerstreuen, denn Skriben-Definitionen waren meist der wertvollste Besitz eines Campos: Lexiken mochten das Herz eines Campos sein, die Definitionen hingegen waren das Blut. Selbst wenn sie Orsos Technik nur in kleinem Maßstab anwenden könnten, wäre das für sie revolutionär.
»Und es steht alles hier.« Orso legte die Hand auf den riesigen Wälzer auf dem Tisch. »Gewiss werden so kluge Köpfe wie Ihr rasch damit umgehen können.«
»Erst die Demonstration!«, forderte Moretti begierig. »Ich will mich vergewissern, dass es funktioniert.«
Orso verbeugte sich. »Natürlich.«
Berenice und Sancia machten sich daran, sorgfältig die nötigen Marker am Eisenkasten anzubringen. Nach einer halben Stunde waren sie fertig.
»Erledigt!« Berenice trat zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Die Michiel-Skriber erhoben sich, näherten sich der Bühne und studierten die Änderungen, die beiden Frauen am Testlexikon, der Heizkammer sowie am Eisenkasten vorgenommen hatten. Ihre Arbeit wirkte täuschend schlicht – nicht mehr als ein bisschen Bronze, ein paar Platten und sorgfältig handgravierte Sigillen.
»Die Scheibe ist noch nicht aktiv, oder?«, fragte der lispelnde Skriber argwöhnisch.
Orso schenkte ihm ein dünnes Lächeln. »Nein. Die Skriben entfalten erst ihre Wirkung, wenn das Lexikon eingeschaltet und hochgefahren ist. Erst dann haben wir die Realität erfolgreich mit der zweiten Kiste gekoppelt.«
»Aber wie wollt Ihr beweisen, dass es funktioniert?«, hakte der lispelnde Skriber nach.
»Nun«, sagte Orso, »es gibt mehrere Möglichkeiten, wie wir …«
»Nein, darum kümmern wir uns«, unterbrach ihn Moretti und winkte einen Skriber aus dem hinteren Teil des Raumes zu sich, der mit einer eigenen Truhe vortrabte. Sie war jedoch nicht aus mattem Holz wie die von Orso, sondern aus Silber und Bronze.
Moretti öffnete die Truhe. Im Inneren lagen eine weitere Definitionsplatte sowie eine skribierte Laterne. Er wandte sich mit breitem Lächeln Orso zu. »Auch wenn Eure Demonstration vermutlich Euren Behauptungen standhalten wird, möchte ich nicht, dass Ihr die Erfindung mit Euren Werkzeugen vorführt. Vielmehr würde ich lieber sehen, ob Eure Technik mit unserer funktioniert. Unsere Definition hier bewirkt, dass sich diese Laterne einschaltet … aber nur, wenn sie nicht mehr als dreißig Zentimeter von dem Lexikon entfernt ist, das sie unterstützt.«
Orso nickte langsam. »Ihr wollt also das Testlexikon einschalten, die kleine Laterne auf den Kasten stellen und ihn aus dem Raum rollen, um zu sehen, ob die Laterne weiterbrennt?«
»Genau«, bestätigte Moretti. »Wir rollen ihn in einen Bereich des Campos, den Ihr ganz sicher noch nie zuvor gesehen habt. Ihr oder Eure Angestellten.«
Die Michiel-Skriber sahen Orso an, doch der zuckte nur mit den Schultern und sagte: »Geht klar.«
Morettis Lächeln verblasste ein wenig. Er nickte seinen Leuten zu. »Fahrt fort.«
Vorsichtig platzierten die Michiel-Skriber ihre Skriben-Definition im Testlexikon. Dann schlossen sie die Klappe des Kastens, versiegelten das Lexikon und schalteten es ein.
Etwa die Hälfte der Michiel-Skriber wich aus Angst vor einer Explosion zurück. Doch zu der kam es nicht. Lediglich der Rollwagen, auf dem die Eisenkiste stand, quietschte kurz, als hätte ihn jemand mit einem Dreihundertpfundgewicht beladen …
Was, wie Sancia wusste, auch zutraf. Die Testlexiken wogen viele hundert Pfund. Wenn die eiserne Kiste glaubte, dass sie jetzt eins enthielt, hatte sich ihr Gewicht dadurch entsprechend erhöht.
Orso deutete auf die Laterne. Moretti hob sie an und schaltete sie ein.
Zuerst geschah nichts, doch als er sie auf den Eisenkasten stellte, leuchtete sie plötzlich hell auf und brannte gleichmäßig weiter.
Der lispelnde Skriber keuchte auf. Moretti starrte die Laterne an, die Augen nach wie vor zusammengekniffen.
Orso zeigte auf die Tür. »Wenn Ihr die Kiste nach draußen bringen möchtet«, sagte er, »begleiten meine Innovationsdirektorin und ich Euch gern, um Eure Fragen zu beantworten.« Er winkte Sancia zu sich. »Derweil bleiben Berenice und Gregor hier und stellen sicher, dass nichts schiefgeht.«
Moretti warf Sancia einen angewiderten Blick zu. »Warum muss ausgerechnet diese Kreatur uns begleiten?« Er sah zu Berenice. »Warum nicht sie?«
»Ah«, sagte Orso. »Nun … Berenice ist ausgesprochen kompetent. Ich weise kompetentes Personal am liebsten Leuten zu, die … äh … weniger kompetent sind«, erklärte er.
Sancia und Gregor wechselten einen Blick. Wie charmant.
Moretti lächelte und setzte dann ein ungeheuer falsches Grinsen auf. »Natürlich. Das ergibt durchaus Sinn.«
Zwei Michiel-Skriber schoben den Rollwagen zur Tür hinaus. Moretti und die anderen folgten ihnen, zusammen mit Sancia und Orso.
Sancia atmete tief durch. Zeit, sich ans Werk zu machen.