Buch
Vor über zwanzig Jahren wurde Patricia Lockwood während eines Raubüberfalls entführt und schwer misshandelt. Wochen später gelang ihr durch einen glücklichen Zufall die Flucht, doch ihr Peiniger wurde nie gefasst. Auch die wertvollen Gemälde, die damals der illustren Lockwood-Familie gestohlen wurden – ein Vermeer und ein Picasso –, blieben verschollen.
Bis in einem New Yorker Apartment neben einer Leiche eines der Bilder gefunden wird – zusammen mit dem Koffer, den der Entführer Patricia damals zu packen zwang. Zeit für Patricias Cousin, Windsor Horne Lockwood III., den Dingen auf den Grund zu gehen. Dabei hat Win, wie seine wenigen Freunde ihn nennen, ganz eigene Ermittlungsmethoden: hochintelligent, skrupellos und mit scheinbar endlosen Ressourcen ausgestattet ist er wild entschlossen, den Fall zu lösen. Selbst als dieser Fall die dunkelsten Geheimnisse seiner Familie ans Tageslicht zu bringen droht …
Weitere Informationen zu Harlan Coben und zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.
HARLAN COBEN
Nichts
bleibt
begraben
Thriller
Aus dem Amerikanischen
von Gunnar Kwisinski
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Win« bei Grand Central Publishing, New York/Boston.
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Deutsche Erstveröffentlichung August 2021
Copyright © der Originalausgabe 2021 by Harlan Coben
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021
by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Redaktion: Anja Lademacher
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: © Arcangel/Yolande de Kort; Arcangel/Peter Greenway; FinePic®, München
TH · Herstellung: ik
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-25970-9
V001
www.goldmann-verlag.de
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Für Diane und Michael Discepolo
Mit Liebe und Dankbarkeit
Es ist der Wurf, der die Meisterschaft entscheiden wird. Langsam und im hohen Bogen fliegt der Ball auf den Korb zu.
Mir ist das egal.
Alle anderen im Lucas Oil Stadium in Indianapolis starren mit offenen Mündern auf den Ball.
Ich nicht.
Ich starre auf die andere Seite des Felds. Zu ihm hinüber.
Natürlich habe ich einen Platz am Spielfeldrand auf Höhe der Mittellinie. Rechts neben mir sitzt ein Marvel-Superheld-Schauspieler der ersten Garde in einer Art Kompressions-T-Shirt, das jeden einzelnen Muskel hervorhebt – Sie kennen ihn –, und links von mir präsentiert der umjubelte Rap-Mogul Swagg Daddy, dem ich vor drei Jahren seinen Privatjet abgekauft habe, ein Modell seiner eigenen Sonnenbrillenmarke. Ich mag Sheldon (das ist Swagg Daddys richtiger Name), sowohl als Menschen als auch seine Musik, allerdings begrüßt er die Leute so überschwänglich und fröhlich, dass ich es als extrem unterwürfig empfinde und vor Scham im Boden versinken möchte.
Ich selbst trage einen maßgeschneiderten dunkelblauen Nadelstreifenanzug aus der Savile Row, ein Paar handgefertigte bordeauxfarbene Bedfordshire-Schuhe von Basil, dem besten Schuhmacher von GJ Cleverley’s eine Limited Edition Lily-Pulitzer-Seidenkrawatte in Rosa und Grün und die Sonderanfertigung eines Hermès-Einstecktuchs, das mit himmlischer Präzision aus der linken Brusttasche hervorschaut.
Ich bin ein echter Dandy.
Außerdem bin ich – für alle, die nicht zwischen den Zeilen lesen können – reich.
Der Ball, der durch die Luft fliegt, wird über den Ausgang des gehypten College-Basketballturniers entscheiden, das auch als »March Madness« bekannt ist. Schon seltsam, wenn man sich das überlegt. All der Schweiß und die Tränen, das Taktieren, der Talentaufbau und das Training, dazu die unzähligen Stunden, in denen die Spieler allein vor der Garage auf den Korb werfen, die Dribbel- und Passübungen, das Gewichteheben und die Steigerungsläufe, die man so oft wiederholt, bis man sich übergibt, all die Jahre in den unterschiedlichsten, aber immer miefigen Sporthallen. Basketballgruppen für Kinder, Basketballsommercamps, Basketballjugendturniere, Highschool-Basketball, Sie verstehen schon, was ich meine – und im Endeffekt läuft alles nur darauf hinaus, dass eine simple orangefarbene Kugel den Regeln der Physik folgend genau in diesem Moment auf einen metallischen Zylinder zufliegt.
Entweder geht der Ball daneben und die Duke University gewinnt, oder er geht rein und die South State University und ihre Fans stürmen zum Feiern auf den Platz. Der Marvel-Superheld war auf der South State University. Swagg Daddy hat, so wie ich, die Duke University besucht. Beiden sieht man die Erregung an. Die lärmende Menge verstummt vor Anspannung. Die Zeit scheint langsamer zu vergehen.
Noch einmal: Obwohl meine Alma Mater beteiligt ist, ist mir das egal. Ich kann mit dem ganzen Fanrummel nichts anfangen. Es interessiert mich nicht, wer einen Wettbewerb gewinnt, an dem ich nicht aktiv teilnehme – oder jemand, der mir am Herzen liegt. Ich frage mich oft, warum andere Leute so etwas tun.
Ich nutze die Zeit, um mich auf ihn zu konzentrieren.
Er heißt Teddy Lyons und ist einer der übertrieben vielen Assistenztrainer auf der Bank von South State. Er ist gut einen Meter achtzig groß und kräftig, ein fescher, fleischiger Bauerntrampel. Big T – er möchte so genannt werden – ist dreiunddreißig Jahre alt, und dies ist bereits sein vierter Job als College-Coach. Soweit ich weiß, ist er ein ganz ordentlicher Taktiker, sein Spezialgebiet ist jedoch die Talentsuche.
Die Hupe ertönt und verkündet das Ende der Spielzeit. Der Ausgang des Wettbewerbs ist noch immer offen.
Es ist so still in der Arena, dass ich tatsächlich höre, wie der Ball auf den Ring trifft.
Swagg umklammert mein Bein. Der Marvel-Superheld drückt mir einen muskulösen Trizeps auf die Brust, als er erwartungsvoll die Arme ausbreitet. Der Ball prallt einmal, zweimal, dann ein drittes Mal auf den Ring, als wollte dieses leblose Objekt die Menge piesacken, bevor es völlig eigenständig über Sieg oder Niederlage entscheidet.
Ich behalte weiterhin Big T im Auge.
Als der Ball schließlich vom Ring rollt und zu Boden fällt – eindeutig ein Fehlwurf –, explodiert der Bereich der Arena, in dem die Blue-Devil-Fans sitzen. Am Rand meines Sichtfelds sacken alle auf der South-State-Bank zusammen. Ich mag das Wort »niederschmetternd« nicht – es ist ein seltsames Wort –, aber hier passt es. Sie sacken zusammen und wirken tatsächlich niedergeschmettert. Ein paar kollabieren und brechen in Tränen aus, als die Realität der Niederlage langsam in ihr Bewusstsein vordringt.
Nicht so Big T.
Marvel-Superheld lässt sein hübsches Gesicht in seine Hände sinken. Swagg Daddy umarmt mich. »Wir haben gewonnen! Win!«, schreit er. Dann überlegt er kurz: »Oder klingt ›Wir sind Gewinner, Win‹ besser?«
Ich runzele die Stirn. Das Stirnrunzeln sagt ihm, dass ich Besseres erwartet habe.
»Ja, schon gut«, sagt Swagg.
Ich kann ihn kaum hören. Das Getöse ist mehr als ohrenbetäubend. Er beugt sich weiter zu mir herüber.
»Meine Party wird fantastisch!«
Er läuft aufs Feld und mischt sich unter die Feiernden. Mit ihm stürmt der Rest der ausgelassen jubelnden Masse auf den Platz und verschluckt ihn. Ein paar Leute klopfen mir im Vorbeigehen auf den Rücken. Sie wollen mich zum Mitfeiern animieren, ich aber bleibe sitzen.
Wieder halte ich nach Teddy Lyons Ausschau, doch der ist verschwunden.
Aber nicht lange.
***
Zwei Stunden später sehe ich Teddy Lyons wieder. Er stolziert auf mich zu.
Ich befinde mich in einem Dilemma.
Ich werde Big T verletzen. Daran führt kein Weg vorbei. Ich bin mir noch nicht sicher, wie, aber auf jeden Fall wird er schwere körperliche Schäden davontragen.
Das ist nicht mein Dilemma.
Mein Dilemma ist das Wie.
Nein, ich habe keine Angst, erwischt zu werden. Dieser Aspekt ist komplett durchgeplant. Big T hat eine Einladung zu Swagg Daddys Party bekommen. Und so kommt er gerade durch die Tür, die er für den VIP-Eingang hält. Was er aber nicht ist. Eigentlich findet hier nicht einmal die Party statt. Es dröhnt zwar laute Musik durch den Korridor, aber das ist nur Show.
In diesem Lagerhaus sind nur Big T und ich.
Ich trage Handschuhe. Ich bin bewaffnet – das bin ich immer –, obwohl ich die Waffen nicht brauchen werde.
Big T kommt näher, also kehren wir zurück zu meinem Dilemma: Schlage ich ohne Vorwarnung zu, oder gebe ich ihm das, was manche Leute als eine faire Chance betrachten würden?
Es geht mir nicht um Moral oder Fair Play oder so etwas. Wie die allgemeine Bevölkerung dies bezeichnen würde, ist mir egal. Ich habe mir im Laufe der Jahre schon diverse Kratzer geholt. Wenn man in den Kampf zieht, sind sämtliche Regeln schnell hinfällig. Beißen, treten, mit Sand werfen, Waffen benutzen, man tut einfach, was nötig ist. In richtigen Kämpfen geht es ums Überleben. Da gibt es weder Preise noch Belobigungen für Fairness. Es gibt einen Sieger und einen Verlierer. Weiter nichts. Ob man dabei »geschummelt« hat, ist völlig egal.
Kurz zusammengefasst: Bei dieser abscheulichen Kreatur habe ich nicht die geringsten Skrupel zuzuschlagen, auch wenn sie noch nicht bereit ist. Ich habe keine Angst davor, ihn mit einem – um es umgangssprachlich auszudrücken – »billigen Trick« zu überrumpeln. Eigentlich hatte ich sogar genau das geplant: Ich wollte ihm eine verpassen, solange er noch unvorbereitet ist. Mit einem Schläger, einem Messer oder dem Pistolenkolben. Bring es zu Ende.
Und wo liegt jetzt das Dilemma?
Das Dilemma ist, dass es mir nicht ausreicht, ihm die Knochen zu brechen. Ich will auch seinen Geist brechen. Und wenn ein harter Kerl wie Big T einen vermeintlich fairen Kampf gegen meine zierliche Wenigkeit verliert – ich bin älter, viel kleiner und leichter und viel attraktiver (daran gibt es keinen Zweifel), also das Paradebeispiel eines verweichlichten Dandys –, würde das Big T wahrhaft demütigen.
Und genau das will ich erreichen.
Er ist nur noch wenige Schritte von mir entfernt. Ich treffe meine Entscheidung, trete vor und versperre ihm den Weg. Big T bleibt stehen und runzelt die Stirn. Er starrt mich einen Moment lang an. Ich lächle ihm zu. Er erwidert das Lächeln.
»Ich kenn Sie«, sagt er.
»Was Sie nicht sagen.«
»Sie sind vorhin beim Spiel gewesen. Haben am Spielfeldrand gesessen.«
»Schuldig«, sage ich.
Er streckt seinen riesigen Handschuh aus, um mir die Hand zu schütteln. »Teddy Lyons. Man nennt mich Big T.«
Ich schüttele seine Hand nicht. Ich starre sie an, als hätte er sie gerade aus dem Anus eines Hundes gezogen. Big T wartet einen Moment, wie erstarrt, dann zieht er seine Hand zurück, als wäre sie ein kleines Kind, das getröstet werden muss.
Ich lächle ihm wieder zu. Er räuspert sich.
»Wenn Sie mich entschuldigen würden …«
»Das würde ich nicht, nein.«
»Was?«, fragt er.
»Sie sind etwas schwer von Kapee, nicht wahr, Teddy?« Ich seufze. »Nein, ich würde und werde Sie nicht entschuldigen. Für Sie gibt es keine Entschuldigung. Können Sie mir jetzt folgen?«
Sein Blick verfinstert sich wieder. »Haben Sie irgendein Problem?«
»Hm. Was lässt sich darauf entgegnen?«
»Hä?«
»Ich könnte sagen: ›Nein, aber Sie haben ein Problem‹, oder ›Ich? Danke mir geht’s bestens‹, oder etwas in der Art, aber ehrlich gesagt klingen all diese humorigen Repliken in meinen Ohren nicht ganz richtig.«
Big T wirkt perplex. Eigentlich will er mich einfach beiseiteschieben. Andererseits erinnert er sich, dass ich zwischen all den Prominenten saß und somit jemand Bedeutendes sein könnte.
»Äh«, sagt Big T, »ich geh dann mal auf die Party.«
»Nein, das tun Sie nicht.«
»Wie bitte?«
»Hier gibt es keine Party.«
»Wenn Sie sagen, hier gibt es keine Party …«
»Die Party findet zwei Blocks entfernt statt«, sage ich.
Er stemmt die Handschuhe in die Hüfte. Eine klassische Trainerpose. »Was zum Teufel soll das hier?«
»Ich habe Ihnen die falsche Adresse zusenden lassen. Die Musik? Das ist nur Show. Der Security-Mann, der Sie vorne über den VIP-Eingang reingelassen hat? Er arbeitet für mich und ist sofort verschwunden, nachdem Sie durch die Tür getreten sind.«
Big T blinzelt zweimal. Dann tritt er näher an mich heran. Ich weiche keinen Zentimeter zurück.
»Was soll das werden?«, fragt er.
»Ich werde Ihnen eine Tracht Prügel verpassen, Teddy.«
Oh, sein Lächeln wird immer breiter. »Sie?«, fragt er. Seine Brust hat jetzt fast die Ausmaße der Spielwand in einem Squashcourt. Er kommt noch näher und blickt mit dem Selbstvertrauen eines großen, kräftigen Mannes auf mich herab, der dank seiner Statur noch nie kämpfen musste oder auch nur zum Kampf herausgefordert wurde. Das ist die dilettantische und amateurhafte Vorgehensweise, auf die Big T in solchen Situationen am liebsten zurückgreift – er bedrängt seinen Gegner mit seinem massigen Körper und wartet, dass der klein beigibt.
Ich gebe natürlich nicht klein bei. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und sehe ihm in die Augen. Und jetzt erkenne ich, dass erste Zweifel seinen Blick trüben.
Ich warte nicht länger.
Mich so zu bedrängen war ein Fehler. Es vereinfacht meine erste Aktion. Ich lege die Fingerspitzen meiner rechten Hand so zusammen, dass sie eine Art Pfeilspitze formen, und ramme ihm diese Spitze auf den Kehlkopf. Er stößt ein gurgelndes Geräusch aus. Gleichzeitig trete ich ihm mit dem Spann seitlich gegen das rechte Knie, das, wie meine Recherchen ergeben haben, zwei Kreuzbandoperationen hinter sich hat.
Es knackt.
Big T fällt wie eine Eiche.
Ich hebe das Bein an und trete kräftig mit der Ferse zu.
Er stößt einen Schrei aus.
Ich trete noch einmal zu.
Er stößt einen Schrei aus.
Ich trete noch einmal zu.
Stille.
Den Rest erspare ich Ihnen.
Zwanzig Minuten später erscheine ich auf Swagg Daddys Party. Ein Security-Mann führt mich ins Hinterzimmer. Hier kommen nur drei Arten von Leuten rein – schöne Frauen, berühmte Gesichter und dicke Brieftaschen.
Wir lassen es bis fünf Uhr morgens krachen. Dann fährt eine schwarze Limousine Swagg und meine Wenigkeit zum Airport. Der Privatjet steht vollgetankt bereit.
Swagg verschläft den Rückweg nach New York City. Ich dusche – ja, mein Jet hat eine Dusche –, rasiere mich und kleide mich in einen grauen Kiton-K50-Business-Anzug.
Am Flughafen erwarten uns zwei schwarze Limousinen. Zum Abschied verwickelt Swagg mich in eine Art komplizierte Handschlagsumarmung. Er fährt mit einer Limousine zu seinem Anwesen in Alpine. Ich fahre mit der anderen direkt zu meinem Büro in einem 48-stöckigen Wolkenkratzer an der Park Avenue in Midtown. Das Lock-Horne-Building ist seit seiner Vollendung im Jahr 1967 im Besitz meiner Familie.
Auf dem Weg nach oben mache ich kurz im dritten Stock Station. In diesen Räumen befand sich die Sportagentur meines besten Freunds, die er jedoch vor ein paar Jahren aufgegeben hat. Danach habe ich sie zu lange leer stehen lassen, weil die Hoffnung zuletzt stirbt. Ich war sicher, dass mein Freund es sich anders überlegen und zurückkehren würde.
Das tat er nicht. Und so geht das Leben weiter.
Die neuen Mieter sind Fisher & Friedman, die sich selbst als »Anwaltskanzlei für Verbrechensopfer« vermarkten. Noch deutlicher formulieren sie es auf ihrer Website, die mich von ihnen überzeugt hat:
Wir helfen Ihnen, den Vergewaltigern, den Stalkern, den Mistkerlen, den Trollen, den Perverslingen und den Psychos direkt in die Eier zu treten.
Unwiderstehlich. Wie schon bei der Sportagentur, die diese Räume früher belegte, bin ich auch in dieser Firma stiller Teilhaber.
Ich klopfe an. Als Sadie Fisher »Herein« sagt, öffne ich die Tür und stecke den Kopf hinein.
»Viel Arbeit?«, frage ich.
»Soziopathen haben gerade Hochsaison«, sagt Sadie, ohne von ihrem Computermonitor aufzublicken.
Da hat sie natürlich recht. Aus diesem Grund habe ich in die Kanzlei investiert. Es gefällt mir, dass sie sich für die Unterdrückten und Geprügelten einsetzen, betrachte die aus Verunsicherung gewalttätig werdenden Männer – es sind fast immer Männer – allerdings auch als eine Wachstumssparte.
Schließlich sieht Sadie mich an. »Ich dachte, du wolltest zum Spiel nach Indianapolis.«
»Da war ich auch.«
»Ach richtig, der Privatjet. Manchmal vergesse ich, wie reich du bist.«
»Nein, tust du nicht.«
»Stimmt. Also, was gibt’s?«
Sadie trägt eine heiße Bibliothekarinnenbrille und einen rosafarbenen Hosenanzug, der eng anliegt und ihre Rundungen hervorhebt. Sie hat mir erklärt, dass das Absicht ist. Als sie anfing, Frauen zu vertreten, die sexuell belästigt und missbraucht worden waren, hatte man ihr geraten, sich konservativ zu kleiden und eher konturlose, unauffällige und damit gewissermaßen »unschuldige« Garderobe zu tragen, Sadie hielt das jedoch für Victim Blaming, weil den Frauen damit die Verantwortung zugeschoben wurde.
Und ihre Reaktion? Mach es genau umgekehrt.
Ich weiß nicht recht, wie ich das Thema ansprechen soll, also sage ich einfach: »Ich habe gehört, dass eine deiner Mandantinnen im Krankenhaus liegt.«
Das weckt ihre Aufmerksamkeit.
»Würdest du es für angebracht halten, ihr etwas zu schicken?«, frage ich.
»Was denn zum Beispiel, Win?«
»Blumen vielleicht. Oder Schokolade.«
»Sie liegt auf der Intensivstation.«
»Ein Stofftier. Luftballons.«
»Luftballons?«
»Irgendetwas, um ihr zu sagen, dass wir an sie denken.«
Sadie sah wieder auf ihren Monitor. »Das Einzige, was unsere Mandanten sich wünschen, ist etwas, das wir ihnen anscheinend nicht bieten können: Gerechtigkeit.«
Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, schweige dann aber doch, weil ich mich für Diskretion und Klugheit statt für Zuspruch und Angeberei entscheide. Als ich mich umdrehe und gehen will, sehe ich, dass zwei Personen – eine Frau und ein Mann – zielstrebig auf mich zukommen.
»Windsor Horne Lockwood?«, sagt die Frau.
Schon bevor sie ihre Marken herausholen, weiß ich, dass sie von einer Strafverfolgungsbehörde sind.
Sadie weiß das auch. Automatisch steht sie auf und kommt zu mir. Ich habe eine Menge Anwälte, die mich in geschäftlichen Angelegenheiten vertreten. Wenn es um persönliche Belange ging, ist aber mein bester Freund, der in diesen Räumen ansässige Sportagent, eingesprungen, der auch eine Anwaltszulassung besitzt. Denn in ihn hatte ich volles Vertrauen. Jetzt, da er – zumindest zeitweilig – aus dem Spiel ist, hat Sadie diese Rolle offenbar instinktiv übernommen.
»Windsor Horne Lockwood?«, wiederholt die Frau.
So heiße ich. Oder, wenn man es ganz genau nimmt, Windsor Horne Lockwood III. Ich stamme, wie schon der Name verrät, aus altem Geldadel und sehe auch aus, wie man es von Personen aus diesen Kreisen erwartet: rötliche Haut, blonde, leicht ergraute Haare, fein ziselierte patrizische Gesichtszüge, eine etwas hochmütige Körperhaltung. Ich bemühe mich, nicht zu verheimlichen, wer oder was ich bin. Ich weiß auch nicht, ob ich das könnte.
Ich überlege, was ich bei der Sache mit Big T vermasselt habe. Ich bin gut. Ich bin sogar sehr gut. Aber ich bin nicht unfehlbar.
Wo hatte ich einen Fehler gemacht?
Sadie ist schon fast neben mir. Ich warte. Statt selbst zu antworten, überlasse ich ihr die Antwort. Sie fragt: »Wer will das wissen?«
»Ich bin Special Agent Karen Young vom FBI«, sagt die Frau.
Young ist schwarz. Sie trägt ein dunkelblaues Hemd mit Button-down-Kragen unter einer taillierten mittelbraunen Lederjacke. Sehr modisch für eine FBI-Agentin.
»Und das ist mein Partner Special Agent Jorge Lopez.«
Lopez ist eher ein typischer Vertreter seiner Zunft. Sein Anzug hat die Farbe nassen Asphalts, seine rötliche Krawatte macht einen etwas traurigen Eindruck.
Sie zeigen uns ihre Dienstmarken.
»Worum handelt es sich?«, fragt Sadie.
»Wir würden gerne mit Mr Lockwood reden.«
»Das hatte ich schon mitbekommen«, erwidert Sadie scharf. »Worum geht es?«
Young lächelt und steckt ihre Marke wieder ein. »Es geht um einen Mord.«
Wir haben uns schnell in eine Sackgasse manövriert. Young und Lopez wollen mich ohne weitere Erklärungen irgendwohin mitnehmen. Sadie will nichts davon wissen. Irgendwann greife ich ein, und wir finden eine Art Übereinkunft. Ich werde mit ihnen fahren. Sie werden mich nicht ohne einen Anwalt vernehmen.
Sadie, deren Weisheit größer ist als ihre dreißigjährige Lebenserfahrung vermuten lässt, gefällt das nicht. Sie nimmt mich zur Seite und sagt: »Sie werden dich trotzdem befragen.«
»Das ist mir bewusst. Dies ist nicht mein erstes Aufeinandertreffen mit der Polizei.« Auch nicht mein zweites, drittes oder … aber das braucht Sadie nicht zu wissen. Aus drei Gründen will ich weder Zeit schinden noch auf eine »anwaltliche Vertretung« bestehen: Erstens hat Sadie einen Gerichtstermin, von dem ich sie nicht abhalten will. Zweitens: Wenn es um Teddy »Big T« Lyons geht, will ich aus unmittelbar einleuchtenden Gründen nicht, dass Sadie so direkt mit der Sache konfrontiert wird. Und drittens bin ich neugierig, was den Mord angeht, und schon genetisch mit einem überbordenden Selbstbewusstsein ausgestattet. Was will man machen?
Wir steigen in den Wagen und starten Richtung Uptown. Lopez fährt, Young ist Beifahrerin, ich sitze hinten. Seltsamerweise geht eine nahezu greifbare Unruhe von ihnen aus. Beide versuchen, professionell aufzutreten – was sie ja auch tun –, aber ich spüre das, was darunterliegt. Dieser Mord ist anders, ungewöhnlich. Sie versuchen, das zu verbergen, doch ihre Erregung ist wie ein Pheromon, das mir unweigerlich in die Nase steigt.
Anfangs versuchen Lopez und Young es mit der üblichen Schweigetechnik. Die Idee dahinter ist recht banal: Die meisten Menschen ertragen die Stille nicht und tun alles, um das Schweigen zu brechen, selbst wenn sie dazu etwas sagen müssen, mit dem sie sich selbst belasten.
Ich bin fast beleidigt, dass sie es bei mir mit dieser Methode probieren.
Natürlich lasse ich mich nicht locken. Ich lehne mich zurück, lege die Fingerspitzen aneinander und starre wie ein Tourist bei seinem ersten Besuch in der großen bedrohlichen Stadt aus dem Autofenster.
Schließlich sagt Young: »Wir wissen Bescheid über Sie.«
Ich greife in die Jackentasche und drücke eine Taste auf meinem Handy. Ab jetzt wird das Gespräch aufgezeichnet. Es wird direkt in eine Cloud übertragen, falls meine neuen FBI-Freunde bemerken, dass ich das Gespräch aufgezeichnet habe, und beschließen, es zu löschen oder das Handy zu zerstören.
Ich bin jederzeit auf alles vorbereitet.
Young dreht sich zu mir um. »Ich sagte, wir wissen Bescheid über Sie.«
Ich schweige.
»Sie haben früher ein paar Sachen fürs FBI erledigt«, sagt sie.
Dass sie von meiner Verbindung zum FBI wissen, überrascht mich, ich lasse es mir jedoch nicht anmerken. Direkt nach meinem Abschluss an der Duke University habe ich ein paar Aufträge erledigt, was allerdings streng geheim war. Die Tatsache, dass ihnen das jemand erzählt hat – es muss von ganz oben kommen –, bestätigt einmal mehr, dass es sich um einen äußerst ungewöhnlichen Mordfall handelt.
»Wie man hört, waren Sie ziemlich gut«, sagt Lopez und sieht mir über den Rückspiegel in die Augen.
Ein schneller Wechsel von Schweigen zu Schmeichelei. Ich reagiere weiterhin nicht.
Wir fahren die Central Park West hinauf, die Straße, in der ich wohne. Die Chancen, dass dieser Mord etwas mit Big T zu tun hat, sinken rapide. Zum einen weiß ich, dass Big T überlebt hat, wenn auch keinesfalls unversehrt. Und wenn das hier mit der Angelegenheit in Verbindung stehen würde, wären wir jetzt Richtung Downtown zum Hauptquartier am Federal Plaza 26 unterwegs und nicht in der Gegenrichtung zu meinem Domizil im Dakota Building, Ecke Central Park West und 72nd Street.
Ich denke darüber nach. Da ich allein lebe, kann es sich nicht um einen geliebten Menschen handeln. Vielleicht hat ein Gericht einen Durchsuchungsbefehl für mein Apartment ausgestellt, und sie haben etwas gefunden, das mich belastet oder das sie mir anhängen wollen, aber auch das kann ich mir nicht recht vorstellen. Der diensthabende Portier hätte mich informiert. Eine meiner versteckten Alarmanlagen hätte eine Meldung an mein Handy geschickt. Außerdem bin ich nicht so leichtsinnig und lasse etwas herumliegen, was die Polizei auf mich aufmerksam machen würde.
Zu meiner Überraschung fährt Lopez, ohne zu halten, am Dakota vorbei und weiter Richtung Uptown. Sechs Blocks später, als wir am American Museum of Natural History vorbeifahren, entdecke ich zwei Streifenwagen des New York Police Department an der 81st Street vor dem Beresford, einem anderen berühmten Luxusapartmenthaus aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg.
Lopez mustert mein Gesicht im Rückspiegel. Ich sehe ihn an und runzele die Stirn.
Die Uniformen der Beresford-Portiers sind anscheinend von denen sowjetischer Generäle aus den späten Siebzigern des letzten Jahrhunderts inspiriert. Als Lopez hält, dreht Young sich um und fragt: »Kennen Sie jemanden in diesem Gebäude?«
Ich lächele sie schweigend an.
Sie schüttelt den Kopf. »Gut, gehen wir.«
Lopez rechts von mir, Young links, führen sie mich geradewegs durch die Marmorlobby zu einem wartenden, holzgetäfelten Aufzug. Als Young auf den Knopf für das oberste Stockwerk drückt, wird mir klar, dass wir uns in höhere Gefilde begeben – sowohl wörtlich als auch im übertragenen, vor allem aber im finanziellen Sinn. Einer meiner Mitarbeiter, ein Vizepräsident bei Lock-Horne-Securities, besitzt ein »Classic Six«-Apartment im vierten Stock des Beresford mit einem etwas eingeschränkten Blick auf den Park. Er hat dafür mehr als fünf Millionen Dollar bezahlt.
Young dreht sich zu mir um und sagt: »Irgendeine Idee, wohin es geht?«
»Aufwärts?«, sage ich.
»Witzig.«
Ich klimpere bescheiden mit den Augen.
»In die oberste Etage«, sagt sie. »Waren Sie dort schon mal?«
»Ich glaube nicht«, sage ich.
»Wissen Sie, wer da wohnt?«
»Ich glaube nicht.«
»Ich dachte, bei euch Reichen kennt jeder jeden.«
»Man soll die Menschen nicht auf Stereotype reduzieren«, sage ich.
»Aber Sie waren doch bestimmt schon einmal in diesem Gebäude, oder?«
Bevor ich mir die Antwort ersparen kann, öffnet sich die Fahrstuhltür mit einem Ping. Ich hatte angenommen, dass wir direkt in ein imposantes Apartment treten würden – Fahrstühle enden oft direkt in Penthouse-Suiten –, aber wir stehen in einem dunklen Korridor. An den Wänden schwere kastanienbraune Stofftapeten. Wir gehen nach rechts durch eine offene Tür zu einer schmiedeeisernen Wendeltreppe. Lopez stapft sie hinauf, und Young signalisiert mir, dass ich ihm folgen soll. Das tue ich.
Es ist alles voll Gerümpel.
Fast zwei Meter hohe Stapel aus alten Zeitungen, Magazinen und Büchern säumen den Rand der Treppe. Wir müssen im Gänsemarsch nach oben gehen – ich sehe ein Time Magazine von 1998 – und uns selbst dann noch immer wieder zur Seite drehen, um durch die engsten Stellen zu kommen.
Der Gestank nimmt einem den Atem.
Es ist zwar ein Klischee, aber an diesem Klischee ist etwas dran: Nichts stinkt so sehr wie ein verwesender Leichnam. Young und Lopez halten sich Nase und Mund zu. Ich nicht.
Das Beresford hat vier Türme, an jeder Ecke einen. Wir erreichen den Treppenabsatz im Nordostturm. Wer auch immer hier hoch oben in einem der prestigeträchtigsten Gebäude Manhattans wohnt (oder gewohnt hat, um genau zu sein), war ein echter sammelwütiger Messie. Wir können uns kaum rühren. Vier Kriminaltechniker klettern in voller Montur im Chaos herum und durchsuchen es.
Der Reißverschluss des Leichensacks ist schon verschlossen. Ich bin überrascht, dass sie den Leichnam noch nicht nach draußen gebracht haben, aber an dieser Sache ist einfach alles seltsam.
Ich habe immer noch keine Ahnung, was ich hier soll.
Young zeigt mir ein Foto, von dem ich annehme, dass es den Toten zeigt – geschlossene Augen, der Körper bis unters Kinn mit einem weißen Laken bedeckt. Ein älterer Mann mit blassgrauer Haut. Ich schätze ihn auf Anfang siebzig. Er hat eine Glatze mit einem grauen Haarkranz, der an den Ohren zu lang ist, einen mächtigen, lockigen Bart dicht und schmutzig weiß – es sieht aus, als wäre er dabei gewesen, ein Schaf zu verspeisen, als das Foto entstand.
»Kennen Sie ihn?«, fragt Young.
Ich entscheide mich für die Wahrheit. »Nein.« Ich gebe ihr das Foto zurück. »Wer ist er?«
»Das Opfer.«
»Ja, danke, das hatte ich mir auch schon gedacht. Ich wollte wissen, wie er heißt.«
Die Agenten sehen sich an. »Wir wissen es nicht.«
»Haben Sie den Eigentümer des Apartments gefragt?«
»Wir gehen davon aus«, sagt Young, »dass er der Eigentümer ist.«
Ich warte.
»Dieses Turmzimmer wurde vor fast dreißig Jahren von einer nicht rückverfolgbaren Briefkastenfirma gekauft.«
Eine nicht rückverfolgbare Briefkastenfirma. Damit kenne ich mich aus. Ich nutze selbst häufig ähnliche Finanzinstrumente, weniger, um der Besteuerung zu entgehen, auch wenn das oft ein positiver Nebenaspekt ist. Vermutlich ähnlich wie unserem verstorbenen Messie geht es mir dabei vor allem um die Anonymität.
»Keine Papiere?«, frage ich.
»Bisher haben wir nichts gefunden.«
»Die Mitarbeiter im Gebäude …«
»Er hat allein gelebt. Pakete und Ähnliches wurden unten an der Treppe abgelegt. In den oberen Etagen des Gebäudes gibt es keine Security-Kameras, oder wenn es sie doch geben sollte, sagen sie es uns nicht. Die Hausgebühren wurden von der Briefkastenfirma immer pünktlich bezahlt. Den Portiers zufolge war der Eremit – so haben sie ihn genannt – ein hundertprozentiger Einsiedler. Er hat das Haus nur sehr selten verlassen, und selbst dann hat er das Gesicht mit einem Schal verdeckt und hat einen geheimen Ausgang im Keller benutzt. Der Manager hat ihn erst heute Morgen gefunden, weil der Gestank bis ins Stockwerk darunter vorgedrungen war.«
»Und im ganzen Haus weiß keiner, wer er ist?«
»Bisher haben wir niemanden gefunden«, sagt Young, »aber wir gehen noch von Tür zu Tür.«
»Damit stellt sich natürlich eine Frage«, sage ich.
»Und die wäre?«
»Warum bin ich hier?«
»Das Schlafzimmer.«
Young scheint eine Antwort von mir zu erwarten. Sie bekommt aber keine.
»Folgen Sie mir.«
Als wir uns nach rechts wenden, habe ich einen wunderbaren Blick auf das riesige Planetarium des American Museum of Natural History gegenüber und den Central Park in seiner ganzen Pracht. Aus meiner Wohnung habe ich auch einen beneidenswerten Blick über den Park, allerdings ist das Dakota nur neun Stockwerke hoch, während wir hier in der zwanzigsten Etage oder höher sind.
Ich bin nicht leicht zu überraschen, aber als ich das Schlafzimmer betrete – als ich sehe, warum man mich hierhergebracht hat –, bleibe ich wie vom Schlag getroffen stehen. Ich rühre mich nicht. Ich starre es nur an. Ich versinke in der Vergangenheit, als wäre das Bild vor mir ein Zeitportal. Ich bin ein achtjähriger Junge, der sich auf Lockwood Manor in den Salon seines Großvaters schleicht. Der Rest der Großfamilie ist noch draußen im Garten. Ich trage einen schwarzen Anzug und stehe allein auf dem edlen Parkettboden. Das war, bevor die Familie zerbrochen ist – oder im Rückblick vielleicht genau der Moment, in dem die ersten Risse entstanden. Großvaters Begräbnis. Dieser Salon, sein Lieblingsraum, wurde mit einem süßlich riechenden Desinfektionsmittel ausgesprüht. Der vertraute, beruhigende Geruch seines Pfeifentabaks dominiert aber. Ich genieße ihn. Behutsam strecke ich eine Hand aus, lege sie auf das Leder seines Lieblingssessels, als würde er jeden Moment darin erscheinen – mit Strickjacke, Hausschuhen, Pfeife und allem Drum und Dran. Schließlich nimmt mein achtjähriges Ich all seinen Mut zusammen, und ich setze mich in den Ohrensessel. Als ich das tue, blicke ich auf die Wand über dem Kamin, so wie Großvater es oft tat.
Ich weiß, dass Young und Lopez meine Reaktion beobachten.
»Wir haben erst gedacht«, sagt Young, »dass es eine Fälschung sein muss.«
Ich starre weiter, so wie ich es als Achtjähriger in diesem Ledersessel tat.
»Also haben wir uns aus dem Met dort drüben gegenüber im Park eine Kuratorin geschnappt«, fährt Young fort. Met ist in diesem Fall die Kurzform für das Metropolitan Museum of Art. »Sie will das Bild noch einmal abnehmen und ein paar Tests machen, um ganz sicherzugehen, ist aber eigentlich davon überzeugt, dass es echt ist.«
Im Gegensatz zum Rest des Turms ist das Schlafzimmer des Messies sauber, ordentlich, übersichtlich und zweckmäßig eingerichtet. Das Bett an der Wand ist gemacht. Es hat kein Kopfteil. Bis auf eine Lesebrille und ein ledergebundenes Buch ist der kleine Tisch daneben leer. Ich weiß jetzt, warum ich hergeholt wurde – um mir den einzigen Gegenstand anzusehen, der an der Wand hängt.
Das Ölgemälde heißt einfach Mädchen am Klavier und ist von Jan Vermeer.
Ja, der Vermeer. Und ja, das Gemälde.
Dieses Meisterwerk ist klein, wie die meisten der nur vierunddreißig existierenden Vermeer-Bilder, nur etwa einen halben Meter hoch und vierzig Zentimeter breit, trotzdem hinterlässt es in seiner Schlichtheit und Schönheit einen überwältigenden Eindruck. Das Mädchen, das mein Urgroßvater vor fast hundert Jahren gekauft hatte, hing früher im Salon von Lockwood Manor. Vor über zwanzig Jahren hatte meine Familie dieses Gemälde, das nach heutigen Maßstäben geschätzte zweihundert Millionen Dollar wert ist, zusammen mit Picassos Der Leser, dem einzigen anderen Meisterwerk, das wir besaßen, als Leihgabe der Lockwood Gallery überlassen, die sich in der Founders Hall auf dem Campus des Haverford College befindet. Vielleicht haben Sie die Berichte über den nächtlichen Einbruch gelesen. Im Lauf der Jahre war immer wieder einmal zu hören gewesen, dass eines der beiden Kunstwerke gesehen wurde – der Vermeer zuletzt angeblich auf der Yacht eines Prinzen aus dem Nahen Osten. Keine dieser Spuren – einige habe ich persönlich überprüft – hat sich als richtig erwiesen. Es gab auch Mutmaßungen, dass der Diebstahl das Werk desselben Verbrechersyndikats gewesen wäre, das dreizehn Kunstwerke aus dem Isabelle Stewart Gardner Museum in Boston gestohlen hatte, darunter Werke von Rembrandt, Manet, Degas und ja, auch einen Vermeer.
Keins der gestohlenen Werke aus diesen beiden Raubüberfällen wurde wiedergefunden.
Bis jetzt.
»Irgendeine Idee?«, fragte Young.
Ich habe zwei leere Rahmen in Großvaters Salon aufgehängt, eine Hommage an die gestohlenen Werke, aber auch ein Versprechen, dass seine Kunstwerke eines Tages zurückkehren würden.
Dieses Versprechen hatte sich, allem Anschein nach, gerade zumindest zur Hälfte erfüllt.
»Und der Picasso?«, frage ich.
»Bisher keine Spur«, sagt Young, »aber wie Sie sehen, müssen wir noch ein bisschen was durchgucken.«
Der Picasso ist deutlich größer – mehr als einen Meter fünfzig hoch und über einen Meter breit. Wenn er hier wäre, hätten sie ihn vermutlich schon gefunden.
»Fällt Ihnen sonst noch irgendetwas dazu ein?«, fragt Young.
Ich deute auf die Wand. »Wann kann ich ihn abholen und nach Hause bringen?«
»Das wird noch eine Weile dauern. Sie wissen ja, wie das läuft.«
»Ich kenne einen renommierten Kunstkurator und -restaurator an der New York University. Sein Name ist Pierre-Emmanuel Claux. Ich möchte, dass er sich um das Werk kümmert.«
»Wir haben unsere eigenen Leute.«
»Nein, Special Agent, die haben Sie nicht. Wie Sie eben selbst sagten, haben Sie sich heute Morgen eine beliebige Person vom Met geschnappt, und …«
»Das war keinesfalls eine beliebige Person …«
»Das ist nicht zu viel verlangt«, unterbreche ich sie. »Die von mir vorgeschlagene Person ist wie kaum eine andere darin geschult, die Echtheit eines Kunstwerks zu verifizieren, sachgemäß damit umzugehen und es, falls nötig, zu restaurieren.«
»Wir werden darüber nachdenken«, sagt Young, um die Sache abzuschließen. »Sonst noch irgendetwas?«
»Wurde das Opfer erwürgt oder wurde ihm die Kehle durchgeschnitten?«
Wieder sehen sie sich an. Dann räuspert Lopez sich und fragt: »Woher wissen Sie …«
»Das Laken reichte ihm bis zum Kinn«, sage ich. »Auf dem Foto, das Sie mir gezeigt haben. Ich gehe davon aus, dass so die Wunde verdeckt werden sollte.«
»Darauf möchte ich lieber nicht eingehen, okay?«, sagt Young.
»Ist der Todeszeitpunkt bekannt?«, frage ich.
»Und darauf auch nicht.«
Zusammenfassung: Ich stehe unter Verdacht.
Ich weiß jedoch nicht recht, warum. Wenn ich die Tat begangen hätte, hätte ich das Bild auf jeden Fall mitgenommen. Oder vielleicht doch eher nicht. Vielleicht wäre ich so clever gewesen, ihn zu ermorden und das Gemälde zurückzulassen, damit sie es finden und meiner Familie zurückgeben.
»Fällt Ihnen noch etwas ein, was uns weiterhelfen könnte?«, fragt Young.
Die auf der Hand liegende Theorie lasse ich außen vor: Der Einsiedler war ein Kunsträuber. Er hatte den größten Teil seines Diebesguts zu Geld gemacht, die Einkünfte dazu genutzt, seine Identität zu verschleiern und eine anonyme Briefkastenfirma zu gründen, über die er die Wohnung gekauft hatte. Aus irgendeinem Grund – vermutlich, weil er das Bild liebte, oder einfach, weil es zu gefährlich war, es zu verkaufen – hatte er den Vermeer behalten.
»Also«, fährt Young fort, »waren Sie noch nie hier, oder?«
Sie fragt zu beiläufig.
»Mr Lockwood?«
Interessant. Offenbar glauben sie Beweise dafür zu haben, dass ich schon einmal in diesem Turm war. Das war ich nicht. Außerdem sind sie mit mir zum Tatort gefahren, was mehr als ungewöhnlich ist, nur um mich aus dem Konzept zu bringen. Wenn sie dem üblichen Protokoll bei einer Mordermittlung gefolgt wären und mich in einen Vernehmungsraum gebracht hätten, wäre ich auf der Hut gewesen und hätte mich zurückgehalten. Und wahrscheinlich hätte ich einen Anwalt mitgebracht.
Was, bitte sehr, glauben sie, gegen mich in der Hand zu haben?
»Ich danke Ihnen, auch im Namen meiner Familie, dass Sie den Vermeer gefunden haben. Ich hoffe, dass uns diese Entdeckung auch bald zu dem Picasso führt. Ich betrachte die Angelegenheit so weit als erledigt und würde gern in mein Büro zurückkehren.«
Young und Lopez gefällt das nicht. Young sieht Lopez an und nickt. Der verschwindet ins Nebenzimmer.
»Einen Moment noch«, sagt Young. Sie greift in ihre Mappe und zieht ein weiteres Foto heraus. Als sie es mir zeigt, bin ich schon wieder verblüfft.
»Erkennen Sie das, Mr Lockwood?«
Um Zeit zu gewinnen, sage ich: »Nennen Sie mich Win.«
»Erkennen Sie das, Win?«
»Sie wissen, dass ich das tue.«
»Es ist das Wappen Ihrer Familie, richtig?«
»Ja, das stimmt.«
»Wie Sie sich vorstellen können, wird es noch eine Weile dauern, bis wir die Durchsuchung der Wohnung des Opfers abgeschlossen haben«, fährt Young fort.
»Das sagten Sie bereits.«
»Im Schlafzimmerschrank haben wir jedoch einen Gegenstand gefunden.« Young lächelt. Mir fällt auf, dass es ein nettes Lächeln ist. »Nur einen?«
Ich warte.
Lopez kommt ins Zimmer zurück. Ihm folgt ein Techniker von der Spurensicherung, der einen Krokodillederkoffer mit brünierten Metallbeschlägen in der Hand hat. Ich erkenne den Koffer, traue aber meinen Augen nicht. Es ergibt einfach keinen Sinn.
»Kennen Sie den Koffer?«, fragt Young.
»Müsste ich das?«
Aber selbstverständlich kenne ich ihn. Vor vielen Jahren hatte Tante Plum jedem männlichen Familienmitglied einen solchen Koffer geschenkt. Sie waren alle mit dem Familienwappen und unseren Initialen verziert. Als sie ihn mir schenkte – ich war damals vierzehn –, habe ich mich sehr bemüht, nicht die Stirn zu runzeln. Ich habe nichts gegen teuer und luxuriös. Gegen vulgär und verschwenderisch dagegen schon.
»Ihre Initialen sind auf dem Koffer.«
Der Techniker kippt den Koffer leicht auf die Seite, damit ich das kitschige barocke Monogramm besser sehen kann:
WHL3.
»Das sind Sie, oder? WHL3 – Windsor Horne Lockwood der Dritte?«
Ich bewege mich nicht, sage nichts, lasse mir nichts anmerken. Allerdings und ganz ohne die Sache dramatisieren zu wollen, gerät meine Welt doch etwas ins Schlingern.
»Also, Mr Lockwood, wollen Sie uns erzählen, wie Ihr Koffer hierherkommt?«