Cover

Stiller als der Tod

Dario Correnti ist das Pseudonym zweier erfolgreicher italienischer Autoren. Ihr Thrillerdebüt »Kälter als der Tod« ist in 15 Ländern erschienen.

 

Kälter als der Tod in der Presse:

»Ein fesselnder Thriller – spannend, düster und überraschend«

Corriere della Sera

»Ein rasanter Thriller, der auf einer wahren Begebenheit beruht – spannend und mit einer guten Portion Ironie«

La Lettura

»Ein Thriller, der wahnsinnig schnell Fahrt aufnimmt«

L’Arena

»Ein düsterer, komplexer und faszinierender Thriller«

L’Eco di Bergamo

 

 

 

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DARIO CORRENTI

STILLER

ALS DER

TOD

THRILLER

Aus dem Italienischen
von Brigitte Lindecke

Die italienische Originalausgabe erschien 2019
unter dem Titel Il destino dell’orso bei Giunti Editore, Mailand.

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Copyright © 2019 by Dario Correnti

First published in Italy by Giunti Editore 2019

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Cover: www.buerosued.de

Covermotiv: © mauritius images / Roberto Moiola / Alamy

Redaktion: Sigrun Zühlke

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-26193-1
V001

www.penguin-verlag.de

Teil eins

Juli

17. Juli

»Kommt überhaupt nicht infrage.«

»Du kannst nicht immer Nein sagen, Marco«, insistiert der Ressortleiter. »Komm schon, es sind nur dreitausend Zeichen.«

»Wozu braucht man einen Kommentar? Was soll ich über einen Typen schreiben, der von einem Bären zerfleischt wurde? Willst du einen historischen Abriss von Herzog über Annaud bis Iñárritu? Frag doch einen von euren vielen Schriftstellern, für Geld geben die zu allem ihren Senf dazu. Warum nervst du mich mit so was?«

»Damit hättest du wenigstens mal wieder einen Auftrag, Marco. Ab und zu musst du doch mal was tun.«

»Seit ich in Rente bin, drückt ihr mir immer den Mist aufs Auge, den sonst keiner will. In der Reihenfolge: der Typ, den es beim Wingsuit-Fliegen an einem Felsen zerlegt hat, das Interview mit der Frau, die behauptet hat, ohne ihr Wissen geschwängert worden zu sein, Liebesbetrüger auf Facebook. Natürlich sage ich da Nein. Frag dich doch mal selbst, Roberto.«

»Hör zu, ich bitte dich um einen Gefallen. Dem Chefredakteur liegt daran, er kannte ihn.«

»Den Bären?«

»Ach, leck mich doch.« Dennoch muss Roberto lachen. Er bekommt von Besana nie, was er will, aber er mag ihn trotzdem. »Das Opfer ist ein großer Industrieller, Achille D’Ambrosio.«

»Eher ein großer Pleitier.«

»Stimmt, aber schreib das bitte nicht. Er ist gerade bei lebendigem Leib zerfleischt worden. Man hat seinen Kopf einen Kilometer weiter gefunden.«

»Heiliger Strohsack. Wo bitte ist das denn passiert, in Kanada?«

»In der Schweiz. In irgendeinem Wald in Graubünden.«

»Na schön, ich seh mir mal die Meldungen der Presseagenturen an.«

»Danke.« Der Ressortleiter seufzt erleichtert.

»Aber das ist das letzte Mal. Komm mir bloß nicht wieder mit solchem Unsinn.«

»Versprochen. Wir sehen uns heute Abend auf der Party. Du kommst doch, oder?«

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel Lust ich darauf habe. Da ist mir der Bär fast lieber.«

»Aber die ganze Redaktion wird da sein.«

»Eben.«

»Die Piatti macht dir die Hölle heiß, wenn du sie nicht begleitest.«

»Sie hat mich heute schon dreimal angerufen.«

Fluchend schaltet Besana den Computer ein. Der Vorfall hat sich in der Nähe des Ofenpasses ereignet, oberhalb von Zernez. D’Ambrosio war einen Tag zuvor verschwunden, und gegen Abend, nachdem er nicht ins Hotel zurückgekehrt war, wurde er als vermisst gemeldet. Wo genau er hingegangen war, konnte niemand sagen, nur, dass er im Nationalpark Steinböcke fotografieren wollte. Die Bergwacht schickte ihre Rettungshubschrauber los, Suchtrupps mit Hunden schwärmten aus. Doch das Gebiet war zu groß. Einen Tag später wurde der Leichnam durch Zufall entdeckt: Ein Förster fand ihn auf seinem Kontrollgang durch die Wälder unterhalb des Piz Daint. Der Bär hatte ein Halsband mit Sender getragen, der allerdings kaputt war und bereits seit Monaten keine Signale mehr sendete. Dennoch war bekannt, dass er sich in der Gegend aufhielt, weil er in Val Müstair bereits einige Kälber, zwei Schafe und einen Esel gerissen hatte.

Die Meldung geht noch weiter ins Detail, und Besana verliert allmählich die Geduld. Der Hauptverdächtige ist männlich, wiegt 189 Kilo, trägt den Namen M18, genannt Fulvio wegen seines falbfarbenen Fells. Er ist der Bruder von M13 und Sohn von KJ7, einer Bärin aus dem Trentino, wo er 2011 geboren wurde.

»Studienabschluss? Sexuelle Ausrichtung?« Besana schnaubt und streichelt seinen Hund, der die Schnauze auf sein Bein gelegt hat. »Ich muss jetzt die Biografie eines Sohlengängers schreiben. Schau mich nicht so an, Becks. Das ist doch eine gute Nachricht für dich. Eines Tages wird ein pensionierter Journalist auch deine Biografie schreiben.«

Becks wedelt mit dem Schwanz. Kaum zu glauben, dass er ihn anfangs gar nicht haben wollte, als Ilaria ihm den Hund geschenkt hatte. Bring ihn ins Tierheim zurück, hatte er gesagt. Ihn nach dem Bier zu benennen, war eine gute Entscheidung gewesen. Jetzt hat er ihn gerade mal seit ein paar Monaten und kann schon nicht mehr ohne ihn.

Becks war in einem Schuhkarton im Müllcontainer gefunden worden. Jetzt reicht er Besana bis zur Wade. Er ist eine Kreuzung aus einem Yorkshireterrier, einem Dackel und irgendwelchen anderen Mischungen. Sein Schwanz ist überproportional lang, wer weiß, von wem er den geerbt hat, die Beine sind kurz, die Schnauze ist die eines undefinierbaren Rassehundes. Und wenn man ihn streichelt, grunzt er vor Glück.

Besana beginnt wieder zu lesen. Nach ersten Informationen aus Sicherheitskreisen soll der Mann einen Schwächeanfall erlitten haben und erst in der Nacht von dem Tier angefallen worden sein. Da die Gegend nicht vom Handynetz abgedeckt ist, konnte er keine Hilfe rufen. Der Bär hat den Körper einen guten Kilometer von Kopf und Rucksack fortgeschleift und mit Laub bedeckt, um die Mahlzeit zu einem späteren Zeitpunkt fortzusetzen. Zum Zeitpunkt des Angriffs lebte der Mann noch.

17. Juli

Besana probiert das einzige elegante Hemd an, das er besitzt, und flucht, weil er den Kragen nicht zubekommt. Vielleicht hat er zugenommen, aber er gibt lieber der Waschmaschine die Schuld. Bestimmt ist das Hemd beim Schleudern eingelaufen. Na schön. Dann zieht er eben keine Krawatte an, auch wenn eine Dame der gehobenen Mailänder Gesellschaft zum Essen eingeladen hat. Ihm doch egal. Er hat ohnehin nicht die geringste Lust hinzugehen, aber das Buch des Chefredakteurs wird vorgestellt, da darf er nicht fernbleiben.

Während er den Rasierschaum auf den Wangen verteilt, klingelt es an der Tür. Es ist noch nicht mal sechs, aber Ilaria ist schon da. Becks bellt wie verrückt, springt an ihr hoch und leckt ihr das Gesicht ab.

»Becks, runter mit dir«, ruft sie. »Du zerreißt mir noch den Rock.«

Besana mustert sie. »Was hast du denn da an, Piattola?«

»Warum? Stimmt was nicht damit?«

»Es sieht aus wie die Gardine meiner Oma.«

»Danke, Marco. Ich bin schon bis obenhin voll mit Angstlösern, deine aufmunternden Worte haben mir gerade noch gefehlt.«

Ilaria folgt Besana, der sich noch zu Ende rasieren muss, bis an die Badezimmertür, um ihm Gesellschaft zu leisten. Becks trägt ihr unermüdlich ein vollgesabbertes Stück Kordel hinterher, damit sie es für ihn durch den Flur zieht.

»Weißt du, wie ich gelernt habe, mich zu rasieren? Durch Das Mädchen und der Mörder«, erzählt Besana, während er den Rasierer über die linke Wange gleiten lässt. »Alain Delon spielt Trotzkis Attentäter. Bevor er zur Tat schreitet, rasiert er sich. Bis zu dem Tag hatte ich wirklich keine Ahnung, ich wusste nie, wie ich an die Haare unter dem Kinn rankomme. Der Film war eine Offenbarung.«

Ilaria lacht. »Du bereitest dich also auf ein Verbrechen vor?«

»Heute Abend sind sicher jede Menge Leute da, die ich liebend gern ins Jenseits befördern würde.«

»Ich hab in der Redaktion gehört, dass morgen ein Artikel von dir erscheint. Worüber hast du geschrieben?«

»Vergiss es«, brummt Besana und schneidet sich prompt.

»Du hast ja eine Laune.«

»Ich will dich mal sehen, nachdem du einen Tag lang über einen Typen geschrieben hast, der bei lebendigem Leib von einem Bären zerfleischt wurde.«

»Ah, der Pleitier.«

»Das darf ich noch nicht mal schreiben, er war ein Freund des Chefredakteurs.«

Ilaria schaut zum wiederholten Male auf ihre Uhr. »Beeil dich, sonst kommen wir zu spät.«

»Aber es ist doch erst sechs.«

»Schon, aber wir müssen noch einen Parkplatz suchen. Das ist dort nicht so einfach.«

»Es gibt ja auch noch Carsharing, Piatti. Die Flotte besteht aus Smarts, die kriegst du sogar in deine Handtasche. Fährst du?«

»Ich bin in der Fahrprüfung durchgefallen.« Ilaria senkt den Blick.

»Schon wieder?«

»Ich bin immer so aufgeregt, und dann passieren mir die dümmsten Sachen. Heute habe ich den Außenspiegel abgefahren. Als ich den Knall gehört habe, wusste ich, das war’s jetzt.«

»Piatti, früher oder später musst du doch mal die Prüfung schaffen. Ich kann nicht ewig den Chauffeur für dich spielen.«

»Ich weiß, ich weiß. Ich versuche es noch einmal mit einer anderen Fahrschule. In meiner hab ich keinen besonders guten Ruf mehr.«

Besana zieht sein blaues Jackett über, er schwitzt jetzt schon.

»Ich bin fertig«, sagt er.

»Die hat ja gar keine Knöpfe mehr«, stellt Ilaria fest.

»Macht nichts, geht eh nicht mehr zu.«

17. Juli

»Bei zwei Dingen sollte man niemals sehen, wie sie gemacht werden: Wurst und Zeitungen«, sagt Besana gerade, während er sich Vitello tonnato auf den Teller lädt.

Ilaria sitzt mit ihrem Glas ganz allein in einer Ecke. Sie ist mondäne Abendveranstaltungen nicht gewohnt und weiß nicht, was sie sagen soll. Nachdem sie ihre Kollegen begrüßt hat, sind ihr die Gesprächsthemen ausgegangen.

»Ist der Platz noch frei?«, fragt eine Frau mit einem Teller Quinoasalat in der Hand.

»Natürlich, natürlich, bitte«, antwortet Ilaria wohlerzogen.

»Ich hab Sie doch schon mal irgendwo gesehen«, sagt die Frau. »Bei Ceci zu Hause?«

»Ich kenne keine Ceci.« Ilaria zuckt entschuldigend die Schultern.

»Dann bei Lilli?«

»Nein, tut mir leid.«

Die Frau ist vermutlich in ihren Sechzigern, jung geblieben, aber von einer gesellschaftlich akzeptierten Jugendlichkeit: bunte Brille und Overknee-Lackstiefel mit hohen Absätzen.

»Ich bin Marta.« Die Frau streckt ihr die Hand hin, die voller Ringe ist.

Der kleine Salon beginnt sich zu füllen. Ilaria fühlt sich ein wenig unwohl und überlegt angestrengt, worüber sie mit der Frau reden könnte.

»Und was machen Sie so?«

»Ich bin Bäuerin«, erwidert die Frau.

Aber die anderen ringsum lachen, als nehme Marta sie auf den Arm.

»Sie ist Künstlerin«, sagt eine Blonde, deren Haut vor lauter Vitaminspritzen beinahe durchscheinend wirkt.

»Wirklich?«

»Ich mache Skulpturen aus Wachs«, erklärt Marta.

»Wie Medardo Rosso?«

Der Name sagt ihr offensichtlich nichts.

»Ich mache andere Sachen«, erwidert sie ausweichend.

Und dann erzählt sie, sie habe schon als Kind gewusst, dass sie Künstlerin sei. Sie seien vier Geschwister gewesen, und alle perfekt, mit Ausnahme von ihr, die immer auf die Dächer ausbüxste und an Legasthenie litt. Sie war Linkshänderin und wurde korrigiert, ein furchtbares Trauma. Und sie las auch falsch herum, von rechts nach links.

»Als ich dann die Fotokopierer entdeckte, aus denen die Blätter gespiegelt herauskamen, verstand ich, dass ich eine Begabung habe.«

Sie habe sich für Physik eingeschrieben, weil elektromagnetische Wellen und Spiritismus sie faszinierten.

»Ich habe nie einen Abschluss gemacht, aber in den Jahren an der Uni habe ich viel gelernt. Wenn man die Gravitationstheorie kennt, weiß man alles über Geister.«

Ilaria nickt stumm.

»Aber jetzt beschäftige ich mich mit biodynamischer Landwirtschaft. Unser Familiensitz verfügt über einen großen Park, dort baue ich vor allem Heidelbeeren an.«

Sie holt ihr Handy hervor und zeigt Ilaria Fotos von ihrem Esel, der Sir Simon heißt.

»Wie das Gespenst von Canterville«, präzisiert sie.

Dann zeigt sie ihr ein Album ihres Lieblingshuhns Berenike, so genannt zu Ehren des Gespenstes des Portikus der Octavia. Während sie durch ihre Bilder scrollt, sieht Ilaria auch kurz Fotos von Kindern vorbeiblitzen, vermutlich ihre Enkel, aber sie scrollt weiter, lieber möchte sie ihr ihren Esel in allen möglichen Posen zeigen. Dann aber hält sie inne. Nachdenklich betrachtet sie das Foto eines Bären. Zieht es mit den Fingern auseinander, um es zu vergrößern.

»Das ist Fulvio«, sagt sie.

»Haben Sie auch einen Bären?«

»Nein, das ist das Foto, dass ich für die Petition ausgesucht habe. Armer Kerl, sie wollen ihn erschießen. Aber er hat den Mann nicht getötet.«

»Meinen Sie den Industriellen, der in der Schweiz gestorben ist?«

»Achille. Ich kannte ihn gut. Natürlich war ich auch erschüttert. Aber der Bär hat damit nichts zu tun, das ist ein Justizirrtum.«

In dem Moment taucht Besana auf. Ilaria lächelt und winkt ihn heran. »Zufällig beschäftigt mein Kollege sich gerade mit dem Fall«, sagt sie.

»Wirklich?«

Sofort packt die Frau Besana am Arm. »Hören Sie, er ist unschuldig! Dieser Bär ist unschuldig!« Dann blickt sie sich besorgt um. »Es ist nicht gut, hier darüber zu sprechen. Hier sind zu viele Leute, wir können niemandem vertrauen. Aber Sie sind Journalist, Sie müssen die Wahrheit erfahren. Wenn Sie wollen, komme ich morgen zu Ihnen in die Redaktion und erzähle Ihnen alles.«

Besana nickt und versucht, sich loszumachen. Aber Marta hält ihn immer noch fest, reckt den Hals und geht mit dem Mund ganz nah an sein Ohr heran.

»Achille ist vergiftet worden, genau wie die anderen«, flüstert sie und starrt ihn mit angsterfüllten Augen an.

17. Juli

»Corrado! Ich wusste gar nicht, dass du auch hier bist, ich hab dich gar nicht gesehen.«

Auf dem Weg nach draußen trifft Besana auf der Treppe einen Kollegen, Corrado Frangi, der nach dreißig Jahren in der Wirtschaftsredaktion ebenfalls in Rente gegangen ist, aber immer noch den Leitartikel schreibt. Er ist ein bisschen schwerer geworden, sieht aber ansonsten in seinem blauen Anzug tadellos aus.

»Ach, es waren so viele Leute da«, erwidert Frangi und umarmt ihn. »Warum trinken wir nicht noch einen kleinen Grappa in der Bar unten an der Ecke, wie in alten Zeiten?«

»Der Chef wirkte nicht sehr bekümmert über den Tod seines Freundes«, beginnt Besana, nachdem sie sich in der Bar einen Platz gesucht haben.

»Na ja, Freund scheint mir auch ein bisschen übertrieben. Er war ein paar Mal auf seiner Jacht zu Gast.«

»Immerhin Freund genug, um mich zu bitten, nicht den Begriff Pleitier zu verwenden, wenn ich über ihn schreibe.«

»Das ist vernünftig«, erwidert Frangi. »Sonst hättest du schneller eine Klage am Hals, als du gucken kannst. Schließlich gab es noch kein endgültiges Urteil, bisher wurde er lediglich in erster Instanz wegen Veruntreuung verurteilt. Er hätte jetzt in Berufung gehen müssen.«

Wütend knallt Besana das leere Glas auf den Tisch. »Wenn ich schon nicht Pleitier schreiben darf, dann hätte ich wenigstens gern verkrachte Existenz geschrieben, was aufs Gleiche hinausläuft. Mag sein, dass er noch mal um eine Gefängnisstrafe herumgekommen wäre, aber seine Angestellten hat er in die Scheiße geritten.«

»Die Sache ist etwas komplizierter«, beginnt sein Kollege zu erklären, während er sich die Krawatte zurechtrückt. »Wir reden hier über eine Sicherheitsfirma, die er vor ungefähr zwanzig Jahren gekauft hat. Die Firma lief nicht gut, die Geldtransporter, die er hätte überwachen sollen, sind mehrfach ausgeraubt worden, und die Versicherungen wollten nicht mehr zahlen. Am Ende waren die Schulden erdrückend, und die Banken verloren die Geduld. Gleichzeitig schwand das Barvermögen im Firmentresor. Man hat ihn beschuldigt, das Geld, Millionen von Euro, selbst herausgenommen zu haben, um sich Oldtimer, Motorboote, Rennräder und sogar Wurstschneidemaschinen zu kaufen.«

»Und, stimmt das etwa nicht?«, fragt Besana.

»Wer weiß das schon. Ich bin ein Verfechter des Rechtsstaates und behalte bis zum endgültigen Urteil, das es nicht mehr geben wird, meine Meinung für mich.«

»Das endgültige Urteil hat jetzt der Bär gesprochen.«

»Du bist immer noch der Alte, Marco.«

»Also, hat mich gefreut, dich zu sehen, Corrado.« Besana erhebt sich von seinem Stuhl. »Die Runde geht auf mich. Gute Nacht.«

Während er leicht benebelt vom Alkohol nach Hause geht, denkt Besana noch einmal über Corrado und ihre so unterschiedlichen Lebenswege nach. Sie hatten zusammen als Praktikanten angefangen. Jeden Abend um elf, zwölf Uhr hatten sie den stellvertretenden Chefredakteuren ihre Artikel gebracht und waren danach noch etwas trinken gegangen. Einmal hatten sie sich sogar ein Mädchen geteilt. Und nun seht ihn euch an, Corrado, trotz seines Alters immer noch fein herausgeputzt, und noch immer wird er gelegentlich ins Fernsehen eingeladen, um über Machenschaften in der Wirtschaft zu reden. Aber Wirtschaft und Finanzen sind natürlich auch etwas völlig anderes als Kriminalreportagen.

Der eine verkehrt mit Bankern, Industriellen und Politikern und wird in die Salons der feinen Gesellschaft eingeladen. Der andere klappert auch als alter Mann noch die Kriminalkommissariate ab und schreibt über zerstückelte Frauen oder von Bären zerlegte Pleitiers. Wenn er nur an den ehemaligen Chefredakteur denkt, gegen den wegen Betruges ermittelt wurde, weil er, um die Verkaufszahlen zu schönen, Abonnenten erfand und Ausgaben drucken ließ, die direkt wieder eingestampft wurden. Heute ist er Direktor einer staatlichen Behörde. Deshalb ist es von Vorteil, da zu katzbuckeln, wo es zählt: Wenn du fällst, kommt immer von irgendwoher eine Hand, die dir wieder aufhilft. Erst recht, wenn du ein paar schöne Dokumente in der Schublade hast, mit denen du jemanden erpressen kannst. Als einsamer Wolf hingegen, der Tag und Nacht pflichteifrig vor sich hin schuftet, lässt man dich gnadenlos fallen. »Was bin ich doch für ein Idiot«, sagt er laut zu sich selbst. Ein vorbeigehendes Paar dreht sich nach ihm um und schüttelt dann lachend den Kopf.

17. Juli

Ilaria schließt die Badezimmertür hinter sich ab und blickt sich um. Das Badezimmer ist so groß wie ihre ganze Wohnung. Es gibt sogar einen Sessel, für den Fall, dass einen auf dem Weg von der Dusche zur Badewanne die Müdigkeit überfällt. Die Dusche selbstverständlich mit integriertem Dampfbad, die Badewanne mit Massagestrahl wie im Schwimmbad. Auf einer endlosen Marmorplatte ruhen zwei Waschbecken, daneben nur ein paar Parfümflakons. Ansonsten erinnert das Bad eher an ein Gewächshaus, so voll ist es mit Pflanzen. Oder an ein Wohnzimmer, mit dem riesigen Kristallleuchter. Vor allem die wie im Hotel ordentlich zusammengerollten Handtücher haben es ihr angetan. Irgendjemand muss sie immer wieder in Form bringen. Da hört sie auf einmal Stimmen. Sie erkennt ihre Kolleginnen. Der Türgriff wird ein paarmal heruntergezogen, dann geben sie auf. Ilaria sitzt auf der Toilette, schafft es aber nicht, Pipi zu machen. Ihre Anwesenheit hinter der Tür stört sie. Sie lachen die ganze Zeit. Habt ihr gesehen, wie die sich wieder angezogen hat? Sie sieht aus wie aus dem Versandhauskatalog. Erneut Gelächter.

Ilaria nimmt ein Stück von dem superweichen Toilettenpapier, es ist sogar parfümiert. Sie versucht, sich zu konzentrieren. Aber nichts zu machen. Also streckt sie den Arm nach dem Bidet aus und dreht den Wasserhahn auf, vielleicht hilft ihr ja das Geräusch fließenden Wassers.

Doch das Gegacker vor der Tür lähmt sie. Vor allem, als ihr bewusst wird, dass sie von ihr reden. Die Piattola, sagen sie. Bei der Zeitung nennen sie alle so. Piattola, Klette. Oder Transuse. Oder noch schlimmer, Filzlaus. Ein gehässiger Spitzname, den man ihr gleich zu Beginn verpasst hat, als sie noch Praktikantin war. Eine Verballhornung ihres Nachnamens, Piatti. Auch Besana nennt sie manchmal so, aber auf eine liebevolle, reinigende Weise, beinahe als könne er damit das grausame kollektive Ritual unwirksam machen.

In der Redaktion schließen wir schon Wetten ab, sagt gerade eine Kollegin. Kommt sie heute im Jogginganzug? Mit Gummistiefeln? Im grellen neonfarbenen T-Shirt? Wir sterben jedes Mal fast vor Lachen. Aber am besten ist es, wenn sie versucht, elegant auszusehen. Habt ihr ihren Rock heute gesehen? Als hätte sie ihn sich aus dem Sofabezug meiner Oma genäht!

Ilaria zieht die Toilettenspülung, auch wenn es ihr nicht gelungen ist, Wasser zu lassen. Sie wäscht sich die Hände, einfach nur wegen des Vergnügens, diese Handtücher durcheinanderzubringen. Dann schnuppert sie an den Parfüms, aber keines gefällt ihr. Schließlich befeuchtet sie ihren Zeigefinger und reibt sich die verwischte Wimperntusche unter dem Auge weg. Dann öffnet sie die Tür.

Die drei Kolleginnen starren sie mit offenem Mund an. Ilaria erwidert ihren Blick. »Entschuldigt, dass es so lange gedauert hat. Ich musste schnell die Vorhänge fotografieren. Ich suche noch nach einem schönen Stoff für eine Hose.«

Als sie mit der U-Bahn nach Hause fährt, schwört sie sich, nie wieder auf eine Redaktionsparty zu gehen. Der Chefredakteur hat sie nicht einmal erkannt, aber er kann sich ohnehin nie an ihren Namen erinnern. Sie ist zu ihm gegangen, um ihn zu begrüßen, und er hat ihr nur verlegen zugenickt. Wer ist die denn? Und jedes Mal, wenn sie sich neben ihren Ressortleiter setzen wollte, den einzigen Menschen, den sie etwas besser kennt, ist er unter irgendeinem Vorwand aufgesprungen, als sei es unschicklich, mit einer wie ihr gesehen oder, schlimmer noch, fotografiert zu werden. Entschuldige, ich hol mir nur schnell was zu trinken. Entschuldige, ich will mal sehen, was es am Büfett gibt. Entschuldige, ich muss kurz einen Freund begrüßen. Von den anderen ganz zu schweigen, die ohnehin nie das Wort an sie richten. Nie wieder will sie so gedemütigt werden. Was hat sie denn überhaupt falsch gemacht? Noch nie wurde auch nur eine Zeile von dem, was sie geschrieben hat, dementiert. Behandelt man sie nur deshalb von oben herab, weil sie keinen Glamour hat? Weil sie diesen oder jenen nicht kennt? Weil sie einfach nur ihre Arbeit macht und sonst nichts?

18. Juli

Ilaria kommt gegen elf in die Redaktion. Sie geht jeden Tag bei der Zeitung vorbei, auch wenn sie immer noch keine feste Stelle hat. Selbst dass sie einen Serienmörder entlarvt hat, hat daran nichts geändert. Als der Chefredakteur sie damals in sein Büro gerufen hatte, dachte sie: Jetzt ist es so weit, jetzt stellen sie mich ein. Doch der Chefredakteur wollte sie nur beglückwünschen. Ausgezeichnet, Piatti. Aber mit Komplimenten kann man keine Rechnungen bezahlen. Offen gestanden hatte sie etwas mehr erwartet. Dann hatte sich der Chefredakteur eine halbe Stunde lang über die katastrophale Lage der Zeitung ausgelassen, Verluste über Verluste, und war dann aufgestanden, weil er zu einer Besprechung musste. Ausgezeichnet, Piatti, ausgezeichnet. Machen Sie weiter so. Sie sind sehr wichtig für uns. Ciao, ciao. Auf Wiedersehen. Dann hatte er ihr die Hand gegeben. Ein lausiger Händedruck, und das war’s dann auch gewesen.

Ihr war nur geblieben, seine Abschiedsworte wörtlich zu nehmen – auf Wiedersehen, ein Gruß unter Leuten, die sich nur vorübergehend trennen – und von da an weiterhin jeden Vormittag bei der Zeitung zu erscheinen.

Nun winkt Roberto sie zu sich und zeigt ihr ein Foto auf dem Bildschirm seines Computers. »Ist das nicht die Frau, mit der du gestern auf der Party gesprochen hast?«

»Ja, warum? Was ist mir ihr?«

Roberto deutet auf eine Eilmeldung der Presseagentur. Raubmord in Mailänder Innenstadt. »Man hat sie für eine Gucci-Handtasche ermordet«, sagt er.

»Oh, nein! Das ist ja verrückt.«

»Schreibst du mir was drüber?«

»In Ordnung.«

Während Ilaria zu Fuß zur Polizeiwache in der Via Fatebenefratelli eilt, ruft sie Besana an. »Marco, die Frau, mit der wir gestern Abend gesprochen haben, ist ermordet worden.«

»Die mit dem Bären?«

»Genau, Marta Guerra. Sie ist auf dem Heimweg überfallen worden. Ich bin gerade auf dem Weg zur Polizeiwache.«

Auf der anderen Seite herrscht Schweigen. Besana überlegt. »Piattola? Du nimmst doch wohl den Unsinn, den sie von sich gegeben hat, nicht ernst?«

»Sie war vollkommen irre, ich weiß. Aber es ist schon ein merkwürdiger Zufall, findest du nicht?«

»Soll ich dir sagen, wie viele Raubüberfälle es pro Jahr in Mailand gibt? Ungefähr fünfzehntausend. Und einige gehen leider nicht gut aus.«

»Entschuldige, ich bin da. Ich rufe dich später wieder an«, sagt Ilaria nicht sonderlich überzeugt.

Sie betritt das Gebäude und fragt nach Hauptkommissar Ricci, zu dem sie mittlerweile ein ausgezeichnetes Verhältnis hat. Dann nimmt sie im Laufschritt die Treppe und erreicht sein Büro.

»Ich bin in Eile, Ilaria, ich habe gleich eine Besprechung«, sagt er, »also ganz kurz: Sie wurde durch einen Schlag auf den Kopf getötet, mit einer Schlagwaffe, die wir bislang noch nicht identifiziert haben. Wir sichten derzeit die Aufnahmen aus den Überwachungskameras.«

»Kann ich sie sehen?«

»Natürlich, Filangeri begleitet dich.«

»Seid ihr sicher, dass es sich um einen Raubüberfall handelt?«

»Hundertprozentig. Der Angreifer hat die Handtasche mitgenommen. Vermutlich ein Ausländer.«

»Gibt es viele Handtaschendiebstähle in der Gegend?«

»Nicht allzu viele, es ist ja kein Vorort. Aber es kommt schon mal vor.«

»Und wer hat sie gefunden?«

»Ein Anwalt, der gerade seinen Wagen geparkt hatte. Er hat sofort den Notarzt gerufen. Er kannte sie, er hat uns gleich ihre Personalien gegeben, und wir haben bereits ihre Tochter verständigt.«

»Kannst du mir ihre Kontaktdaten geben?«

»Ich leite dir ihre Handynummer weiter, sie wohnt im CityLife.« Dann steht er auf. »Warum interessierst du dich so sehr für einen Handtaschenraub?«

»Weil ich erst gestern Abend auf einer Party mit ihr gesprochen habe«, erwidert Ilaria. Einen Moment lang ist sie versucht, ihm von ihrer Unterhaltung zu erzählen, doch dann beißt sie sich auf die Lippe. Auch er würde nur sagen, dass die Frau eine Verrückte war. Doch Ilaria hat ein komisches Gefühl bei der Sache, und das lässt ihr keine Ruhe.

18. Juli

Es ist Mittag, Ilaria wartet in einem Restaurant nahe der Zeitung auf Besana. Endlich erblickt sie ihn, wie er zusammen mit Becks das Lokal betritt, der ihn mit fröhlichem Schwanzwedeln zielstrebig zu ihrem Tisch zieht, der immer derselbe ist. Becks staubt hier oft ein paar Fleischreste ab, daher seine Vorfreude. Marco setzt sich, während der Hund sich zu Ilarias Füßen niederlässt, die ihm gleich ein paar Grissini zusteckt. Die Kellnerin wartet gar nicht erst auf die Bestellung, Besana nimmt ohnehin immer das Gleiche: Puntarelle mit Anchovis, Artischockensalat, Schinken, Büffelmozzarella und Rosmarinfoccacia. Und eine schöne Flasche kühlen Gewürztraminer, weil es so warm ist.

»Ich hab mir das Video aus einer Überwachungskamera angesehen, die über einer Toreinfahrt an der Straße angebracht ist«, beginnt Ilaria sofort. »Die Aufnahme ist nicht sehr deutlich, es war ja dunkel und die Kamera ziemlich weit weg. Das Gesicht des Täters ist nicht zu erkennen. Aber man kann dennoch sehr gut sehen, wie die Sache sich abgespielt hat. Und drei Dinge haben mich verblüfft, die definitiv ungewöhnlich sind.«

»Piattola, ich weiß, worauf du hinauswillst, aber da geh ich nicht mit«, entgegnet Besana und schenkt ihr Wein ein.

»Hör mich doch erst mal an«, beharrt sie. »Der Täter schlägt der Frau dreimal brutal auf den Kopf und entreißt ihr erst dann die Tasche. Findest du das nicht ein bisschen übertrieben für einen Handtaschenräuber?«

»Vermutlich wollte er sie nur bewusstlos schlagen.«

»Na schön, nur mal angenommen, es war so. Erinnerst du dich noch an ihre Armbanduhr? Die war von Cartier. Warum hat er die nicht mitgenommen? Und die Ringe? Die waren echt. Das ist die zweite Sache, die ungewöhnlich ist.«

»Vielleicht ist er gestört worden«, erwidert Besana, »vielleicht hat er jemand kommen sehen.«

»Es ist mindestens fünf Minuten lang nicht mal ein Auto vorbeigefahren. Ich habe es überprüft.«

»Und die dritte Anomalie?«

»Das ist das Interessanteste, Marco. Natürlich hat man auch sämtliche anderen Überwachungskameras der näheren Umgebung ausgewertet, aber der Räuber taucht nirgendwo mehr auf. Er hat sich in Luft aufgelöst. Aber irgendwie muss er doch nach Hause gekommen sein. Die einzige Erklärung ist, dass er in einem der Häuser in unmittelbarer Nähe des Tatorts verschwunden sein muss. Hältst du es für wahrscheinlich, dass ein Handtaschendieb in einem solchen Viertel wohnt?«

»Aber warum sonst hätte jemand diese Irre umbringen sollen? Sie hatte nicht alle Tassen im Schrank, das war doch offensichtlich. Ich bitte dich, Ilaria, du bist nicht fest angestellt, und der Chefredakteur ist kein Freund von Verschwörungstheorien. Du tust dir damit keinen Gefallen.«

»Aber weißt du denn nicht mehr, was sie gesagt hat? Achille ist vergiftet worden wie all die anderen. Welche anderen?«

18. Juli

Ilaria betritt die Hadid-Residenzen zum ersten Mal. Sie ist mit Diletta, Marta Guerras Tochter, verabredet. Aber erst wird sie von einem Portier zurückgehalten, der sich telefonisch vergewissert, ob sie nach oben darf, dann von einer singhalesischen Haushälterin in blauer Schürze, die sie bittet, einen Augenblick im Eingang zu warten, die Signora sei am Telefon. Die Luxus-Penthouse-Wohnung erstreckt sich über zwei Stockwerke. Sie ist ringsum verglast und mit wenigen ausgewählten Designermöbeln eingerichtet. In dem weitläufigen Raum spielen drei Kinder Fangen. Das kleinste, ein Mädchen, schlittert über das Parkett, rasselt gegen Ilarias Beine und sieht an ihr hoch. »Warum ziehst du dich so komisch an?«

Ilaria möchte ihr am liebsten einen Tritt verpassen, doch stattdessen lächelt sie. »Wie heißt du denn?«

»Sveva. Und das ist mein Bruder Leone«, sagt das Mädchen und zeigt auf einen kleinen Irrwisch, der jetzt auf dem Sofa auf und ab hüpft.

In dem Moment ist ein vorwurfsvolles Rufen zu vernehmen, vermutlich die Mutter. »Cosimaaa! Hör auf, Chandra an den Haaren zu ziehen!«

Dann kommt Diletta mit eiligen Schritten herein. »Entschuldigen Sie, die Babysitterin holt gerade meinen Mann vom Flughafen ab. Er arbeitet in London«, sagt sie und streicht sich die Haare zurück. Ihre Augen sind geschwollen, sie ist ungeschminkt und barfuß, trägt jedoch eine Seidentunika von Etro. »Es ist alles ein bisschen schwierig im Augenblick.«

»Das kann ich mir vorstellen«, erwidert Ilaria.

Diletta fragt sie leise, ob sie sich im Arbeitszimmer unterhalten können, damit die Kinder sie nicht hören, doch noch ehe sie darin verschwinden können, ist schon Leone bei ihnen.

»Mama, Mama! Im Fernsehen reden sie über Oma. Sie sagen, sie haben sie umgebracht, um ihr fünfzig Euro und eine Gucci-Handtasche zu klauen. Stimmt das?«

Diletta beugt sich zu ihm hinunter und nimmt ihn in den Arm.

»Wir reden heute Abend darüber, wenn Papa zurück ist. Versprich mir, deinen Schwestern nichts zu sagen, ja? Ihr könnt ein bisschen Peppa Wutz gucken.«

»Aber kommt man so denn trotzdem in den Himmel?«

»Was meinst du mit trotzdem, mein Schatz?«

»Auch ohne Geld?«

Ilaria muss sich zusammenreißen, um nicht loszuprusten. Zum Glück hat Diletta ihr den Rücken zugekehrt, um die Tür zu schließen. »Jetzt bin ich für Sie da.«

»Ich werde Ihnen nicht viel Zeit stehlen, versprochen«, beginnt Ilaria. »Wie ich Ihnen am Telefon schon sagte, ich bin nicht wegen eines Interviews hier.«

»Umso besser«, seufzt Diletta, »die lassen mir keine Ruhe.« In dem Moment klingelt das Handy. »Entschuldige, Franci, ich rufe dich später zurück, ich habe Besuch.« Sie schaltet den Klingelton aus, doch schon vibriert das iPhone auf dem Tisch erneut.

»Ich wollte mit Ihnen sprechen, weil ich Ihre Mutter gestern Abend getroffen habe. Und sie hat da ein paar Dinge gesagt, die mich sehr bestürzt haben.«

Diletta erstarrt, offensichtlich fürchtet sie, was ihre Mutter gesagt haben könnte. »Sie war ein ungewöhnlicher Mensch«, sagt sie dann kühl.

»Sie hatte gerade erst erfahren, dass einer ihrer Freunde gestorben ist«, sagt Ilaria aufs Geratewohl.

»Ach ja, natürlich, Achille. Eine furchtbare Geschichte.«

»Richtig. Und sie schien sehr erschüttert. Sie sagte, dass der Bär nichts damit zu tun hätte.« Ilaria bemüht sich, ihre Informationen häppchenweise preiszugeben, um ihr Gegenüber nicht zu erschrecken.

»Gott, dieser Bär. Sie hat mich bestimmt fünfmal deswegen angerufen! Sie wollte eine Petition aufsetzen, damit er nicht getötet wird. Meine Mutter war überzeugte Tierschützerin, fast schon ein bisschen fanatisch.«

»Das habe ich bemerkt. Sie hat mir Fotos von Sir Simon gezeigt.«

Dilettas Augen füllen sich mit Tränen, sie schüttelt den Kopf. »Auf ihrem Nachttisch standen keine Bilder ihrer Enkelkinder, sondern ein Porträt des Esels. Aber so war sie nun mal.«

»Ich wollte mit Ihnen sprechen, weil Ihre Mutter an einem gewissen Punkt etwas gesagt hat, was mich sehr beunruhigt hat.« Ilaria schluckt. »Sie war der Ansicht, dass D’Ambrosio nicht von dem Bären getötet, sondern vergiftet wurde.«

Diletta verdreht die Augen. »Noch so eine ihrer Obsessionen: Gift.«

»Also halten Sie das für eher unwahrscheinlich? Sie meinen, ihre Theorie war unbegründet?«

Diletta schüttelt gerührt den Kopf. »Arme Mama«, sagt sie schließlich. »Sie war so leicht zu beeinflussen.«

18. Juli

Als Ilaria wieder auf die Via Senofonte hinaustritt und ihr Handy einschaltet, findet sie eine Nachricht von Commissario Ricci vor. Sofort ruft sie ihn zurück.

»Entschuldige, Max, mein Telefon war aus.«

»Ich wollte dir nur sagen, dass der Gerichtsmediziner davon ausgeht, dass die Kopfverletzungen von einem Eispickel stammen könnten.«

»Einem Eispickel, mit dem man das Eis für Cocktails zerkleinert?«

»Nein, einem Eispickel für Bergwanderer, mit gezackter Haue.«

»Findest du es normal, dass ein Handtaschendieb mit einem Eispickel herumläuft?«

»Ganz sicher nicht. Wir ermitteln schon in die Richtung.«

»Na gut, danke, Max. Halt mich auf dem Laufenden.«

Im Laufschritt kehrt Ilaria in die Redaktion zurück, um den Artikel zu schreiben. Sie schaltet den Computer ein, öffnet ein neues Dokument und hält inne. Sie ruft die Facebook-Seite von Marta Guerra auf, die ihre Tochter glücklicherweise noch nicht gelöscht hat. Wahrscheinlich ist sie noch nicht dazu gekommen, weil sie erst einmal den Schock verdauen und obendrein die Bestattung organisieren muss. Ilaria will so viel wie möglich speichern, bevor es zu spät ist. Sie holt ihr Tablet heraus, das Besana ihr geschenkt hat, und fotografiert Screenshot für Screenshot jeden einzelnen Post. Einige ziemlich überspannt, keine Frage, aber es sind auch rätselhafte Posts darunter (»Wenn der Bär erschossen wird, hebe ich nie wieder die drei Finger der rechten Hand«). In vielen Posts bezieht sie sich auf eine Giftmörderin des achtzehnten Jahrhunderts, Giovanna Bonanno, auch bekannt als die »Alte mit dem Essig«, die 1789 in Palermo gehängt wurde. Das Motto, das Marta Guerra für ihr Profil gewählt hat, ist in Altgriechisch. Ilaria übersetzt: Möge kein Nichteingeweihter eintreten. Was mag das zu bedeuten haben?

Es ist spät geworden, der Redaktionsschluss naht. Vielleicht sollte sie einfach abgeben. Ilaria schreibt den Artikel schnell runter, entschließt sich dann jedoch, noch zu bleiben.

Roberto verabschiedet sich. »Bis morgen, Piatti.«

Es dämmert, auf den Fluren haben die Putzfrauen inzwischen träge mit ihrer Arbeit begonnen. Doch sie rührt sich nicht von ihrem Platz. Sie öffnet eine neue Mail und schreibt an den Gerichtsmediziner in Chur, der den Leichnam untersucht hat. Zu ihrer Überraschung antwortet er sofort und gibt ihr sogar seine Handynummer. Ilaria ruft ihn sofort zurück.

Nach dem Gespräch mit dem Mediziner ruft Ilaria den Ressortleiter an: »Roberto, ich muss dich kurz sprechen.«

»Weißt du, wie spät es ist? Meine Frau hat heute Geburtstag. Ich bitte dich, Ilaria. Willst du, dass ich mich auch noch scheiden lasse? Eins sage ich dir gleich, ich habe nicht vor, wie Besana zu enden.«

»Entschuldige.«

»Na schön, jetzt bin ich eh aufgestanden und steh draußen vor dem Restaurant, also schieß los.«

In so wenigen Worten wie möglich beschreibt Ilaria ihm Marta Guerras Facebook-Seite und nutzt die letzten wertvollen Sekunden, das soeben erfolgte Gespräch mit dem Gerichtsmediziner aus Chur zusammenzufassen.

»Verstehst du? Er hat D’Ambrosios Leichnam gerade eben obduziert.«

»Und er hat tatsächlich gesagt, dass er vergiftet wurde? Können wir ihn zitieren?«

»Nein, das besser nicht. Aber er musste zugeben, dass der Fall komplizierter ist und der Bär nicht die alleinige Todesursache. Gib mir eine Chance, nur eine einzige. Lass mich mit Besana in die Schweiz fahren. Bitte.«

»Besana will mit dem Fall nichts zu tun haben. Ich musste ihn auf Knien anflehen, damit er mir fünfzig Zeilen dazu schreibt. Was glaubst du, was ich mir alles von ihm anhören musste.«

»Ich rede mit ihm«, schlägt Ilaria vor.

»Wenn du meinst«, erwidert Roberto skeptisch, dann seufzt er. »Mir käme ein Artikel über den zerfleischten Typen jedenfalls sehr gelegen. Und irgendjemanden müssen wir ja schicken.«

»Vielleicht kann ich ihn ja überreden, wenn ich ihm sage, dass Becks sicher Spaß daran hätte, über Almwiesen zu tollen.«

»Marco ist verrückt nach dem Hund. Er kommt schon nicht mehr in die Redaktion, weil er ihn nicht mitbringen darf.«

»Eben.«

18. Juli

Als Ilaria gegen Mitternacht nach Hause kommt, sieht sie sich trostlos um. Sie hat schon seit einer Woche keine Wäsche mehr gewaschen, der Wäschekorb quillt über. Und in der Küche gibt es kein einziges sauberes Glas mehr. Wann hat sie das letzte Mal die Bettwäsche gewechselt? Es sieht schlimmer aus als bei Besana. Vielleicht ist es das, was der Job des Krimimalreporters aus einem macht. Oder die Einsamkeit.

Sie hat noch nichts gegessen, und so öffnet sie den Kühlschrank. Aber es ist nur ein Joghurt darin, obendrein abgelaufen. Tatsächlich klebt an der Kühlschranktür ein Zettel: Einkaufen! Dreimal unterstrichen. Seit zehn Tagen hängt er da. Sie schaut auf ihre Deliveroo-App. Sie könnte sich Frühlingsrollen und gebratenen Reis mit Gemüse bestellen. Aber sie fällt fast um vor Müdigkeit. Vermutlich würde sie schon einschlafen, bevor das Essen da wäre.

Sie geht unter die Dusche und stellt fest, dass das Duschgel leer ist. Sie hasst Seife, aber sie hat keine andere Wahl. Früher oder später muss sie sich unbedingt mal einen Tag freinehmen. So kann es nicht weitergehen. Während sie sich abtrocknet, fragt sie sich, ob das wirklich das Leben ist, das sie sich gewünscht hat.

Vielleicht hat sie es sich ja nicht so vorgestellt. Aber sie ist auch selbst schuld. Sie kann sich einfach nicht distanzieren, nie. Da stirbt eine Frau, die sie zufällig kennengelernt, mit der sie sich gerade mal fünf Minuten unterhalten hat, und schon fühlt sie sich verantwortlich. Das ist doch nicht normal. Ein Bär tut, was Bären eben tun, und frisst, was ihm unterkommt. Aber sie fühlt sich verpflichtet herauszufinden, was dahintersteckt. Dabei ist es vielleicht nur ein grausames, seit Urzeiten bestehendes Naturgesetz.

Einmal war sie bei einer Psychologin. Alle haben ihr gesagt, dass das bei ihrer Vergangenheit unbedingt notwendig sei. Es war eine tüchtige und freundliche junge Diplompsychologin, aber sie war nicht lange hingegangen. Auch, weil die Sitzungen zu teuer waren. »Sie haben das Bedürfnis, sämtliche Verbrechen der Welt aufzuklären, weil Sie den Mord an Ihrer Mutter nicht verhindern konnten. Sie müssen sich von diesem sinnlosen Schuldgefühl befreien, Ilaria.« Sinnloses Schuldgefühl. Der Ausdruck geht ihr noch heute manchmal durch den Kopf.

Hätte sie den Mord an ihrer Mutter verhindern können? Natürlich nicht. Und aufklären schon gar nicht, als Sechsjährige. Dass der Täter ihr Vater war, war das Letzte, was sie sich hätte vorstellen können. Im Gegenteil, nach dem Verschwinden ihrer Mutter hat sie sich um ihn gekümmert, als sei er das eigentliche Opfer. Ist es das, was sie sich nicht verzeihen kann? Ist das der Knoten, den sie lösen muss?

Sie hat ihm die Wäsche gewaschen, obwohl sie noch ein Kind war. Sie konnte das. Mama hatte es ja auch getan. Und sie hatte es sich von ihrer Mutter abgeschaut, es war für sie wie ein Spiel gewesen. Vierzig Grad, richtig? Und hier drücken? Sie wusste auch mit dem Geschirrspüler umzugehen, oft hatte sie ihn eingeräumt. Es hatte ihr Freude bereitet. Da sind viele Töpfe drin, soll ich das Intensivprogramm einschalten? Einmal hatte sie sogar versucht zu bügeln und sich dabei die Hand verbrannt. Die schmerzhafte Erfahrung hatte sie wieder zum Kind werden lassen: Sie weinte und brüllte. Mama, Mamaaaa. Doch der Schmerz über den Tod ihrer Mutter hatte sie von einem zum anderen Moment in eine Erwachsene von einem Meter dreiundzwanzig verwandelt. Die, in Abwesenheit des zuständigen Elternteils, die Wohnung sauber hielt, kochte, Wäsche wusch und den Geschirrspüler ein- und ausräumte. Damit sich der Vater nicht allein und vernachlässigt fühlte.

Ilaria schaut sich verwundert um, als ihr klar wird, was für ein Saustall ihre eigene Wohnung geworden ist. Im Grunde eine gesunde Reaktion für die Tochter einer vom eigenen Ehemann ermordeten Hausfrau.

19. Juli

»Habt ihr die Anruflisten überprüft?«, fragt Ilaria Commissario Ricci.

»Natürlich, aber da ist nichts Besonderes zu finden. Außer dass Marta Guerra an dem Tag, an dem sie ermordet wurde, neun Mal D’Ambrosios Frau angerufen hat. Wahrscheinlich wollte sie ihr ihr Beileid aussprechen.«

»Neun Mal?«

»Tja, sie war halt ein bisschen verrückt. Das sagen alle.«

»Und wo war Signora D’Ambrosio zu dem Zeitpunkt? War sie mit ihrem Mann in der Schweiz?«

»Nein, sie war am Meer, in Sizilien.«

Erneut studiert Ilaria aufmerksam die Anrufliste. Dann hebt sie den Kopf.

»Die Anrufe sind alle ganz kurz, alle nur vierzig, fünfzig Sekunden lang.«

»Vielleicht wollte die D’Ambrosio nicht gestört werden«, erwidert Ricci.

»Findest du das nicht ein bisschen aufdringlich?«

»Worauf willst du hinaus, Ilaria?«

»Ich weiß auch nicht.« Doch dann entschließt sie sich zu reden, damit der Kommissar ihr folgen kann. Sie erzählt ihm von ihrem Gespräch mit Marta Guerra.