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Zu diesem Buch

Dawn Edelstein hatte sich einst bei Ausgrabungen in Ägypten in einen Kollegen verliebt, mit dem sie alte Grabtexte entschlüsselte. Bis ein Telefonanruf ihr Leben komplett umkrempelte. Fünfzehn Jahre später ist Dawn verheiratet, hat eine Tochter im Teenager-Alter und arbeitet in Boston als Sterbebegleiterin. Als sie einen Flugzeugabsturz überlebt, drängt sich ihr die Frage auf, ob das gute Leben, das sie hat, noch viel besser hätte sein können. Auf der Suche nach der Antwort kehrt sie nach Ägypten zu dem Mann zurück, den sie einst leidenschaftlich liebte.

»Umwege des Lebens«, der beeindruckende neue Roman von US-Bestsellerautorin Jodi Picoult, setzt sich mit den großen Fragen auseinander, die uns in der Lebensmitte beschäftigen: Was ist uns wichtig, mit wem wollen wir leben und wie sterben? Und ist es möglich – und akzeptabel, Entscheidungen zu revidieren und einen anderen Weg einzuschlagen?

»Jodi Picoult ist eine geborene Erzählerin, die niemanden unberührt lässt.« Boston Globe

Zur Autorin

JODI PICOULT, geboren 1966 in New York, studierte in Princeton und Harvard. Seit 1992 schrieb sie mehr als zwanzig Romane, von denen viele auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste standen. Auch ihr neuester Roman »Umwege des Lebens« hat sofort den ersten Platz erobert. Die Autorin wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, wie etwa mit dem renommierten New England Book Award. Picoult lebt mit ihrem Mann und zahlreichen Tieren in Hanover, New Hampshire.

JODI PICOULT

Umwege
des Lebens

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Elfriede Peschel

C. Bertelsmann

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel The Book of Two Ways bei Ballentine Books, a division of Penguin Random House, New York.


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Copyright © 2020 der Originalausgabe by Jodi Picoult

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe by C. Bertelsmann
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: www.buerosued.de

This translation is published by arrangement with Ballantine Books,
an imprint of Penguin Random House, a division of Random House LLC.

Redaktion: Gerhard Seidl

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-26243-3
V002

www.cbertelsmann.de

FÜR FRANKIE RAMOS

Willkommen in der Familie (und bei meinen endlosen medizinischen Recherchefragen)!


UND FÜR KYLE FERREIRA VAN LEER

Der das Zweiwegebuch als Erster erwähnt und mich auf die Idee zu diesem Buch gebracht hat.

Sterben wäre ein ungeheuer großes Abenteuer.

J. M. BARRIE, Peter Pan

Prolog

In meinem Kalender finden sich viele Tote.

Als der Alarm meines Telefons losgeht, angle ich es aus der Tasche meiner Cargohose. Wegen der Zeitverschiebung hätte ich daran denken sollen, die Erinnerungsfunktion auszuschalten. Ich bin noch schläfrig, aber ich klicke auf das Datum und lese die Namen: Iris Vale. Eun Ae Kim. Alan Rosenfeldt. Marlon Jensen.

Ich schließe die Augen und mache das, was ich jeden Tag in diesem Moment tue: Ich denke an sie.

Iris, die zum Vögelchen zusammengeschrumpft war, als sie starb, hatte früher mal aus Liebe zu dem Mann, der eine Bank ausraubte, einen Fluchtwagen gefahren. Eun Ae war Ärztin in Korea gewesen, hatte ihren Beruf aber in den Vereinigten Staaten nicht ausüben können. Alan hatte mir stolz die Urne gezeigt, die er für die Asche seiner sterblichen Überreste gekauft hatte, und scherzhaft gemeint: Getestet habe ich sie noch nicht. Marlon hatte in seinem Haus sämtliche Toiletten erneuert, neue Böden gelegt und die Dachrinnen gesäubert, außerdem die für seine beiden Kinder gekauften Geschenke für ihre Abschlussprüfungen versteckt. War mit seiner zwölfjährigen Tochter in den Ballsaal eines Hotels gegangen und tanzte dort Walzer mit ihr, filmte alles mit seinem Mobiltelefon, sodass es am Tag ihrer Hochzeit ein Video geben würde, das sie beim Tanzen mit ihrem Vater zeigt.

Sie waren einmal meine Klienten. Jetzt bewahre ich sie als meine Geschichten auf.

In meiner Sitzreihe schlafen alle. Ich stecke das Telefon wieder ein und klettere dann vorsichtig über die Frau zu meiner Rechten, ohne sie zu stören – Passagieryoga –, um die Toilette im hinteren Teil des Flugzeugs aufzusuchen. Dort putze ich mir die Nase und schaue in den Spiegel. In meinem Alter hält dieser Blick noch Überraschungen bereit, weil ich noch immer damit rechne, eine jüngere Frau als die zu sehen, die mir zublinzelt. Wie die Knickfalten einer vertrauten Landkarte streben fächerförmige Linien weg von meinen Augenwinkeln. Würde ich den Zopf über meiner linken Schulter lösen, könnte man bei dieser schrecklichen Neonbeleuchtung die ersten grauen Strähnen in meinen Haaren entdecken. Wie jede vernünftige Frau um die vierzig, die einen Langstreckenflug vor sich hat, trage ich bequeme Cargohosen. Ich nehme mir ein paar Papiertücher und öffne die Tür in der Absicht, an meinen Platz zurückzukehren, aber im kleinen Bordküchenbereich drängeln sich die Flugbegleiter. Sie sind in einem einzigen Stirnrunzeln vereint.

Als ich auftauche, unterbrechen sie ihre Unterredung. »Würden Sie bitte zu Ihrem Platz zurückkehren, Ma’am«, werde ich aufgefordert.

Mir fällt auf, dass ihr Job sich gar nicht so sehr von meinem unterscheidet. In einem Flugzeug ist man nicht mehr an dem Ort, von dem man aufgebrochen ist, aber auch noch nicht dort, wohin die Reise geht. Man ist dazwischen gefangen. Eine Flugbegleiterin hilft dabei, diesen Übergang angenehm zu gestalten. Als Sterbebegleiterin tue ich dasselbe, nur dass die Reise vom Leben in den Tod führt und man am Ende nicht mit zweihundert anderen Reisenden aussteigt. Man geht allein.

Ich klettere wieder über die schlafende Frau auf dem Gangplatz und schnalle mich gerade an, als die grelle Deckenbeleuchtung anspringt und Leben in die Kabine kommt.

»Meine Damen und Herren«, verkündet eine Stimme, »wir sind eben vom Kapitän darüber informiert worden, dass wir eine geplante Notlandung durchführen werden. Bitte hören Sie auf die Anweisungen der Flugbegleiter und befolgen Sie diese.«

Ich erstarre. Geplante Notlandung. Das Oxymoron setzt sich hartnäckig fest.

Eine Schockwelle erfasst die Kabine und entlädt sich geräuschvoll, aber ohne Kreischen, ohne laute Schreie. Selbst das Baby hinter mir, das während der ersten beiden Flugstunden geschrien hatte, ist still. »Wir stürzen ab«, flüstert die Frau auf dem Gangplatz. »Oh mein Gott, wir stürzen ab.«

Sie liegt bestimmt falsch, schließlich gab es nicht mal Turbulenzen. Alles war ganz normal gewesen. Aber dann positionieren sich die Flugbegleiter in den Gängen und vollführen ein merkwürdiges Stakkato-Ballett von sicherheitsdienlichen Gesten, während über Lautsprecher die Anweisungen vorgetragen werden. Schnallen Sie sich an. Nehmen Sie die Klemmhaltung ein, sobald Sie dazu aufgefordert werden. Wenn das Flugzeug zum Stillstand gekommen ist, hören Sie die Aufforderung: Lösen Sie die Anschnallgurte. Steigen Sie aus. Lassen Sie alles zurück.

Lassen Sie alles zurück.

Für eine Frau, die sich ihren Lebensunterhalt mit dem Tod verdient, habe ich mir über meinen eigenen nicht viele Gedanken gemacht.

Ich habe gehört, dass sich im Angesicht des Todes das eigene Leben vor einem abspult.

Aber ich habe nicht Brian vor Augen, meinen Ehemann, dessen Pullover die Spuren unvermeidlichen Kreidestaubs der altmodischen Tafeln seines Physiklabors trägt. Und auch nicht Meret als kleines Mädchen, das mich bittet, unter dem Bett nachzusehen, ob sich dort Ungeheuer eingenistet haben. Meine Mutter sehe ich ebenso wenig, weder so wie am Ende noch wie früher, als Kieran und ich jung waren.

Stattdessen sehe ich ihn.

So deutlich, als wäre erst ein Tag vergangen, habe ich Wyatt mit weiß blitzenden Zähnen mitten in der ägyptischen Wüste vor Augen, wo ihm die Sonne auf den Hut brennt und der ständige Wind ihm den Sand als Schmutzstreifen um den Hals legt. Ein Mann, der fünfzehn Jahre lang nicht mehr Teil meines Lebens war. Ein Ort, den ich verlassen habe.

Eine nie beendete Dissertation.

Im Glauben der alten Ägypter musste man erst in der Gerichtshalle für unschuldig erklärt werden, bevor man ins Jenseits gelangte. Ihre Herzen wurden gegen die Feder der Maat aufgewogen, der Göttin der Wahrheit.

Ich bin mir nicht sicher, ob mein Herz bestehen wird.

Die Frau zu meiner Rechten betet leise auf Spanisch. Ich krame mein Telefon heraus, überlege, es einzuschalten und eine Nachricht zu schicken, obwohl ich weiß, dass es kein Signal gibt, aber es ist mir nicht möglich, den Knopf meiner Hosentasche zu öffnen. Eine Hand umfängt die meine und drückt sie.

Ich senke den Blick auf unsere Fäuste, so fest zusammengepresst, dass ihnen kein Geheimnis entweichen könnte.

Klemmhaltung, rufen die Flugbegleiter. Klemmhaltung!

Während wir vom Himmel fallen, frage ich mich, wer sich wohl an mich erinnern wird.

Sehr viel später sollte ich erfahren, dass die Flugbegleiter bei einem Flugzeugabsturz dem Notfallpersonal am Boden mitteilen, wie viele Seelen sich an Bord befinden. Seelen, nicht Menschen. Als wüssten sie, dass unsere Körper ohnehin nur für kurze Zeit auf der Durchreise sind.

Ich erfuhr auch, dass einer der Treibstofffilter sich während des Flugs zugesetzt hatte. Und dass den Piloten, als nach fünfundvierzig Minuten Flug die Alarmleuchte für den zugesetzten Treibstofffilter zum zweiten Mal aufleuchtete und alle ihre Versuche, ihn freizubekommen, ergebnislos blieben, bewusst wurde, dass sie eine Evakuierung zu Land vornehmen mussten. Man sagte mir, dass das Flugzeug kurz vor dem Flughafen Raleigh-Durham auf dem Fußballfeld einer Privatschule runterkam. Dort kollidierte eine Tragfläche mit der Tribüne, das Flugzeug kippte, rollte weiter und brach auseinander.

Sehr viel später erreichte mich die Information, dass sich die Reihe hinter mir vom Boden gelöst hatte und die drei Sitze mit der Familie und dem Baby aus dem Flugzeug hinausgeschleudert worden waren, was zum sofortigen Tod führte. Man berichtete mir von den sechs anderen, die zermalmt wurden, als das Metall nachgab, und von der Flugbegleiterin, die nie aus ihrem Koma erwachte. Ich las die Namen der Passagiere in den letzten zehn Reihen, die es nicht geschafft hatten, das Flugzeug zu verlassen, bevor der geborstene Treibstofftank explodierte.

Ich erfuhr, dass ich eine von sechsunddreißig Personen war, die sich selbst von der Absturzstelle entfernen konnten.

Benommen verlasse ich den Untersuchungsraum des Krankenhauses, in das man uns gebracht hatte. Im Flur spricht eine uniformierte Frau mit einem Mann, dessen Arm bandagiert wurde. Sie gehört zum Notfallteam der Fluglinie, das sich darum zu kümmern hat, dass wir ärztlich untersucht werden, frische Kleidung und Essen bekommen, und aufgeregte Familienmitglieder für uns einfliegt.

»Ms. Edelstein?«, spricht sie mich an, und mir wird blinzelnd bewusst, dass sie mich meint.

Vor einer Ewigkeit bin ich Dawn McDowell gewesen. Unter diesem Namen hatte ich veröffentlicht. Aber in meinem Pass und meinem Führerschein steht Edelstein. Wie bei Brian.

Sie hält eine Liste der Überlebenden des Absturzes in der Hand.

Macht neben meinem Namen ein Häkchen. »Wurden Sie schon von einem Arzt untersucht?«

»Noch nicht.« Ich schiele aufs Untersuchungszimmer.

»Okay. Sie werden sicherlich einige Fragen haben …?«

Das ist eine Untertreibung.

Warum bin ich am Leben und andere sind es nicht?

Warum habe ich diesen speziellen Flug gebucht?

Was wäre, wenn ich es nicht zum Check-in geschafft und den Flug verpasst hätte?

Wenn ich Tausende andere Entscheidungen getroffen hätte, die mich von diesem Absturz ferngehalten hätten?

Dabei muss ich an Brian und seine Theorie des Multiversums denken. Irgendwo in einer parallelen Zeitachse gibt es ein anderes Ich bei meiner eigenen Beerdigung.

Gleichzeitig denke ich – wieder und immer – an Wyatt.

Ich muss hier raus.

Mir ist nicht bewusst, dass ich das laut ausgesprochen habe, bis die Angestellte der Fluglinie darauf eingeht.

»Wenn wir die Bescheinigung des Arztes haben, steht es Ihnen frei zu gehen. Kommt jemand, um Sie abzuholen, oder sollen wir für Sie einen Flug buchen?«

Uns, den Glücklichen, hat man gesagt, dass wir ein Flugticket egal wohin bekommen können – zu unserem Ziel, zurück zu unserem Abflugort oder, falls nötig, auch anderswohin. Meinen Ehemann habe ich bereits angerufen. Brian hat angeboten, mich abzuholen, aber ich habe das abgelehnt. Ohne einen Grund zu nennen.

Ich räuspere mich. »Ich muss einen Flug buchen«, sage ich.

»Aber sicher.« Die Frau nickt. »Und wohin müssen Sie?«

Boston, überlege ich. Nach Hause. Aber aufgrund ihrer speziellen Fragestellung – müssen anstatt wollen – setzt sich mir ein anderes Ziel in den Kopf.

Ich mache den Mund auf und antworte.