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Cristina Alger hat einen Abschluss vom Harvard College und der NYU Law School. Bevor sie Autorin wurde, hat sie als Finanzanalystin und als Wirtschaftsanwältin gearbeitet. Sie lebt mit ihrem Ehemann und ihren Kindern in New York.

Außerdem von Cristina Alger lieferbar:

Das Kartenhaus. Macht ist ein gefährliches Spiel. Thriller

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Cristina Alger

Safe Place

Du denkst, hier bist du sicher

Thriller

Aus dem Englischen
von Sabine Thiele

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Girls like us bei G. P. Putnam’s Sons, New York.

Zitat nach Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Vier Romane in einem Band. Fischer Verlag. Frankfurt (Main) 2007.

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Copyright © 2019 by Cristina Alger

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022
by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: © Getty Images / Oleg Smirnov

Redaktion: Christine Neumann

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-26911-1
V002


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Für mein Mädchen. Für jedes Mädchen.

Denn sein Wunsch, dem Geschehen, dem

er angehörte, einen Anfang zu setzen, begegnete

derselben Schwierigkeit, auf welche ein solches

Bemühen immer stößt: der Schwierigkeit eben,

daß jeder einen Vater hat und daß kein Ding zuerst

und von selber ist, Ursache seiner selbst, sondern

ein jedes gezeugt ist und rückwärts weist, tiefer

hinab in die Anfangsgründe, die Gründe und

Abgründe des Brunnens der Vergangenheit.

Thomas Mann

Eins

Am letzten Dienstag im September verstreuen wir die Asche meines Vaters vor der Küste von Long Island.

Zu viert fahren wir mit Glenn Dorseys Fischerboot raus, im Gepäck haben wir die Urne und eine Kühltasche mit Guinness. Wir steuern gen Westen, auf Orient Point zu, wo Dad und Dorsey samstags immer Weißen Thunfisch und Seebarsch geangelt haben. An einem ruhigen Punkt bei Orient Shoal ankern wir. Dorsey sagt ein paar Worte über Dads Loyalität: seinem Land gegenüber, seiner Gemeinschaft, seinen Freunden, seiner Familie. Er fragt mich, ob ich auch etwas sagen möchte, doch ich schüttele den Kopf. Die Männer glauben, dass ich gleich anfange zu weinen, aber in Wahrheit habe ich nichts zu sagen. Ich hatte meinen Vater seit Jahren nicht gesehen. Ich bin nicht traurig. Nur taub.

Nachdem Dorsey fertig gesprochen hat, neigen wir eine Minute lang unsere Köpfe in respektvollem Schweigen. Ron Anastas, ein Detective der Mordkommission des Suffolk County Police Departments, kämpft gegen die Tränen an. Vince DaSilva, Dads erster Partner, bekreuzigt sich und murmelt leise etwas vom Heiligen Geist. Alle drei Männer besuchen jeden Sonntag die Messe in St. Agnes in Yaphank. Oder zumindest haben sie das früher getan. Wir waren auch immer dort. Abgesehen von ein paar Hochzeiten habe ich keinen Fuß mehr in eine Kirche gesetzt, seit ich die Insel vor zehn Jahren verlassen habe. Ich bin froh, dass wir heute im Freien sind. Die Luft in St. Agnes war immer abgestanden und stickig, auch nachdem die Sommerhitze abgeklungen war. Ich höre immer noch das Surren des alten Ventilators beim Eingang, spüre immer noch in meiner verschwitzten Handfläche die Kante des verknitterten Dollarscheins, den ich auf den Sammelteller legen werde. Bei der Erinnerung krümme ich mich innerlich.

Es ist ein ruhiger Tag. Ein Sturm ist vorhergesagt, aber noch ist der Himmel klar und wolkenlos. Dorsey schweigt ein bisschen länger als notwendig. Er hat die Hände vor dem Körper verschränkt, und seine Lippen bewegen sich wie im leisen Gebet. Die Jungs werden unruhig. Vince räuspert sich, und Ron verlagert sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Wir sollten es hinter uns bringen. Dorsey blickt auf, reicht mir die Urne. Ich öffne sie. Die Männer sehen zu, wie die Asche meines Vaters vom Wind verweht wird.

Ich glaube, meinem Vater hätte dieses Begräbnis gefallen. Kurz und inbrünstig. Ohne offizielle Zeremonie. Er ist draußen auf dem Wasser, an dem einzigen Ort, an dem er je Frieden gefunden hat. Während des Gottesdienstes rutschte Dad immer wie ein Schuljunge herum. Wir saßen ganz hinten, damit wir vor dem Abendmahl hinausschlüpfen konnten. Dad hat immer gesagt, dass er den Geschmack der alten Hostien und des schlechten Weins nicht mochte. Schon damals wusste ich, dass er log. Er wollte einfach nicht beichten.

Als alles vorbei ist, verteilt Dorsey das Guinness, und wir sprechen einen Toast. Auf das kurze Leben von Martin Daniel Flynn. Dad war gerade zweiundfünfzig geworden, als er auf einem seiner Motorräder vom Montauk Highway abgekommen ist. Es ist kurz nach zwei Uhr morgens passiert. Wahrscheinlich war er stark betrunken, auch wenn niemand das laut ausgesprochen hätte. Schuldzuweisungen bringen jetzt nichts mehr. Laut Dorsey waren Dads Reifen abgefahren, die Straße nass, der Nebel hat seine Sicht behindert. Ende der Geschichte.

Dorsey gibt den Ton an bei den Jungs. Von allen vieren ist er die Karriereleiter am schnellsten hochgeklettert. Er hat als Erster seine goldene Marke bekommen und dann rasch Dad und Ron Anastas zur Mordkommission geholt. Nachdem er Chief geworden war, sorgte er dafür, dass Vince DaSilva zum Inspektor des dritten Bezirks befördert wurde. Das Revier ist für einige der härteren Ecken der Insel zuständig: Bay Shore, Brentwood, Brightwaters, Islip. Dort haben alle vier Männer ihre ersten Jahre als Streifenpolizisten verbracht. Und dort hat mein Vater auch meine Mutter kennengelernt, Marisol Reyes Flynn. Dad hat den dritten Bezirk immer ein Kriegsgebiet genannt. Für ihn war er das auch.

Dorsey und Dad kannten sich schon ihr Leben lang. Unsere Familien sind seit drei Generationen im Suffolk County ansässig. Wir sind aus Schull eingewandert, einem kleinen Dorf an Irlands zerklüfteter Südwestküste. Sie haben immer gewitzelt, dass wir wahrscheinlich alle irgendwie miteinander verwandt sind. Die Männer sehen auf jeden Fall so aus. Beide waren groß und dunkelhaarig, mit grünen Augen und kantigen, harten Gesichtern. Mein Vater trug sein Haar das ganze Leben lang militärisch kurz geschoren. Dorsey hatte im Lauf der Jahre viele verschiedene Frisuren, darunter auch einen Schnurrbart und Koteletten. Doch wenn er die Haare, wie jetzt, kurz trägt, könnte man ihn aus der Entfernung für meinen Vater halten.

Wir werfen die Angeln aus, und die Jungs erzählen Geschichten von ihren Anfängen auf dem dritten Revier. Die guten, alten Zeiten. Als Officer in Zivilkleidung tauchten sie unrasiert und in Vans und Led-Zeppelin-T-Shirts bei der Arbeit auf. Wenn sie am Abend zuvor zu viel getrunken hatten, duschten sie nicht, sondern rollten sich nur aus dem Bett und fuhren mit ihren Schrottkarren herum, auf der Suche nach Ärger. Der ließ nicht lange auf sich warten. Gangs beherrschten damals wie heute das kriminelle Geschehen im dritten Bezirk. Die Zahl der Gewalttaten ist hoch, Drogen sind überall. Das Suffolk County an sich ist wohlhabend, aber im dritten Bezirk lebt fast die Hälfte der Leute an oder nur wenig über der Armutsgrenze. Dad hat immer gesagt, dass es keinen besseren Übungsplatz für einen Cop gäbe als dieses Revier, weshalb auch so viele der hohen Tiere im Suffolk County Police Department sich von dort hochgearbeitet haben.

Dorsey sagt, dass Dad der härteste Cop des dritten Reviers war und der beste Lehrer, den ein junger Streifenpolizist sich wünschen konnte. Die Jungs nicken zustimmend. Vielleicht ist es wahr. Dad hatte einen unerschütterlichen, fast schon biblischen Sinn für Gut und Böse. Doch er verhielt sich auch widersprüchlich. Er verabscheute Zigaretten und Drogen, aber legte seine Leber gern in Scotch ein. Er kassierte regelmäßig Spieler ein, veranstaltete jedoch eine monatliche Pokerrunde, an der Bezirksstaatsanwälte und ein paar bekannte Richter von der ganzen Insel teilnahmen. Von allen Verbrechern verabscheute er am meisten Menschen, die Frauen und Kinder missbrauchten, aber einmal sah ich, wie er meine Mutter so fest ins Gesicht schlug, dass sein Handabdruck danach rot auf ihrer Haut leuchtete. Dad hatte seinen eigenen Kodex. Ich habe früh gelernt, ihn nicht infrage zu stellen. Oder zumindest nicht laut.

Dads Gerechtigkeitsempfinden war von der harten Sorte. Seine Lektionen vergaß man nicht so schnell. Dorseys Lieblingsgeschichte von meinem Vater war, wie er einmal Anastas befahl, sich in der Gerichtsmedizin auf eine Bahre unter ein Laken zu legen. Ein Grünschnabel namens Rossi, frisch von der Academy, war seit Kurzem bei ihnen. Sein Vater war Richter, und Rossi hielt sich dadurch für etwas Besseres. Er trug immer Designerklamotten zur Arbeit – Armani und Hugo Boss –, und das passte Dad überhaupt nicht. Er nahm Rossi also mit in die Gerichtsmedizin und ließ ihn das Laken zurückschlagen. Anastas erhob sich mit einem Aufschrei, und Rossi pinkelte seine Sechshundert-Dollar-Hosen voll. Danach kaufte er wie alle anderen bei JCPenney ein.

Dorsey hat die Geschichte schon hundert Mal erzählt, aber er trägt sie noch mal vor, und wir lachen alle, als hätten wir sie noch nie gehört. Es ist schön, mich an die lustigen Seiten meines Vaters zu erinnern, weil er tatsächlich so sein konnte. Er konnte den ganzen Abend schweigen und dann eine auf den Punkt gebrachte Bemerkung raushauen. Dorsey und ich lächeln uns an. Ich nicke dankbar. So will ich mich heute an meinen Vater erinnern. Nicht wegen seines Jähzorns. Nicht wegen seiner Traurigkeit. Und nicht wegen des Alkohols, der ihn sich schließlich nachts auf einem ruhigen Abschnitt des nassen Highways geholt hat.

Irgendwann geht die Sonne am Horizont unter, und der Himmel färbt sich pflaumenblau. Dorsey beschließt, nach Hause zu fahren. Als wir in den Hafen in Hampton Bays einlaufen, ist es dunkel. Wir transportieren deutlich mehr als unser zulässiges Kontingent an Seebarsch, aber mit drei Cops an Bord – vor allem diesen drei Cops, die, wie mein Vater, alle hier im County geboren wurden und wahrscheinlich auch hier sterben werden – wird keiner einen Ton über Fangbeschränkungen sagen. Diese Männer sind das, was Lokalhelden in Hampton Bays noch am nächsten kommt, vor allem Dorsey.

Die Jungs haben ordentlich getankt. Sie reden laut und wiederholen sich, und auf dem Parkplatz umarmen sie mich fest, nicht nur einmal, sondern zwei-, dreimal. Anastas lädt mich zum Abendessen zu ihm ein. Ich lehne ab, sage, ich bin müde, brauche Zeit für mich, um alles zu verarbeiten. Er wirkt erleichtert. Ron hat eine Frau, Shelley, und drei Kinder. Er braucht keine mürrische Achtundzwanzigjährige in seinem Haus. DaSilva steckt mitten in einer Scheidung. Ich schätze mal, dass er in der nächsten Bar verschwindet, wenn wir hier fertig sind.

Nach einer letzten Runde Witze stolpern Anastas und DaSilva in verschiedene Richtungen davon. Beide fahren in Minivans weg, Wagen mit Platz für Kindersitze und Lacrosse-Schläger und Fahrgemeinschaften zur Schule. Dorsey deutet auf die silberne Harley-Davidson Sportster, mit der ich hergefahren bin. Sie war Dads Lieblingsmaschine. Er hat sie vor Jahren günstig gekauft und sie im Lauf der Zeit restauriert. Vor dem Unfall hatte Dad vier Motorräder. Jetzt sind es nur noch drei. Seine Babys, wie er sie immer genannt hat. Jedes akribisch hergerichtet und penibel instand gehalten. Sie haben seine Freizeit verschlungen wie hungrige Küken.

»Heißer Ofen.« Dorsey legt mir den Arm um die Schultern und drückt mich väterlich. Er hat seine Highschoolliebe geheiratet und sie ein paar Jahre später bei einem Autounfall verloren. Er hat nie wieder geheiratet, hat keine Kinder. Auf Dads Wunsch hin wurde er mein Patenonkel, eine Aufgabe, die er sehr ernst nimmt. Meine vier Großeltern sind bereits tot. Meine Eltern waren Einzelkinder, wie ich. Dorsey ist jetzt das, was von meiner Familie noch übrig ist. Trauer durchzuckt mich. Ich wünschte, wir wären enger in Kontakt geblieben.

»Ja«, sage ich und lege den Kopf an seine Schulter. »Ein schönes Motorrad. Ich vermisse das Fahren.«

»Hast du keines in D. C.?«

»Ich bin nicht oft genug dort, um mich darum zu kümmern.«

»Du bist bei jedem neuen Fall woanders, hm.«

»Ich kann super packen. Seit der Academy lebe ich aus dem Koffer.«

»Dein Dad war genauso. Deshalb mochte er Camping wahrscheinlich so gern.«

»Er hat mir viel beigebracht.« Ich mache einen Schritt auf das Motorrad zu.

»Fühlst du dich fit genug für so eine schwere Maschine? Ich kann dich auch heimfahren.«

Ich winke ab. »Mach dir keine Gedanken.«

»Es ist dunkel. Die Straße könnte nass sein.«

»Mir geht’s gut, wirklich.« Ich weiß, was er denkt. Er ist betrunken, und ich habe auch genug intus, um über der Promillegrenze zu sein. Im Gegensatz zu meinem Vater weiß ich aber, wann ich aufhören muss. Ich trinke nie so wie Dad. Zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Wie viele Agents hebe ich mir das Trinken für zu Hause auf.

»Du weißt, dass ich schon immer mit diesem Bike fahren wollte.« Ich lächele, versuche, die Stimmung aufzuheitern. »Dad hat mich immer gezwungen, an den Wochenenden daran zu arbeiten, aber ich hatte zu viel Angst, ihn zu fragen, ob ich es mal fahren dürfte.« Wir lachen beide.

»Marty hat seine Bikes geliebt.«

»O ja. Bei einem Brand hätte er sicher zuerst sie gerettet und dann erst mich geholt.«

»Sag das nicht.« Dorsey schüttelt tadelnd den Kopf. »Dein Dad hat dich mehr geliebt, als dir klar ist.«

»Weißt du, was mit dem Motorrad passiert ist? Mit dem er in der Nacht gefahren ist, meine ich.« Das wollte ich schon länger fragen, hatte aber noch nicht den richtigen Moment gefunden. Es kam mir immer so oberflächlich vor, nachdem ich gerade meinen Vater verloren hatte. Aber es ist eines der vielen Dinge, die ich noch klären möchte, bevor ich endgültig von hier abhaue.

Dorsey überlegt mit gerunzelter Stirn. »Man hat es auf den Abschlepphof gebracht. Wahrscheinlich ist es noch dort. Ich kann das überprüfen.«

»Nicht ins Kriminallabor?«

»Nein. Es war ja ziemlich eindeutig ein Unfall. Ich habe die Freigabe unterschrieben. Tut mir leid, ich habe nicht daran gedacht, es zu dir bringen zu lassen. Es ist sowieso Schrott.« Er verzieht das Gesicht, als ihm klar wird, wie das klingt. »Sorry. Ich meinte nur …«

»Ich weiß, was du sagen wolltest. Schon okay. Dann hole ich es am besten am Abschlepphof ab, oder?«

»Ich kann veranlassen, dass sie es für dich zum Schrottplatz bringen, wenn du möchtest. Spart dir Zeit.«

»Nein, schon gut. Ich würde das gern selbst erledigen.«

»Nell, es ist nicht zu retten. Das Bike. Es ist schlimm zugerichtet. Ich weiß nicht, ob du so was sehen willst.«

»Ich bin ein großes Mädchen. Ich weiß, was nach einem tödlichen Unfall übrig bleibt.«

»Natürlich weißt du das. Aber es ist etwas anderes, wenn es die Familie betrifft.« Dorsey wendet den Blick ab. Seine Augen sind feucht vor Tränen.

Ich nicke nachdenklich. »Du hast recht. Ich rufe morgen beim Abschlepphof an. Ist Cole Haines immer noch der Chef?«

»Ja. Cole wird sich um alles kümmern. Ich melde mich morgen früh bei dir.« Er sieht zu, wie ich mich auf das Motorrad setze. »Hör mal, hast du dich bei Howie Kidd gemeldet?«

»Dads Anwalt? Ja. Er kommt morgen vorbei, um das Erbe zu besprechen. Gut, dass du mich erinnerst. Ich hatte es vergessen.«

»Soll ich dabei sein? Wäre kein Problem. Ich könnte mit dir den Papierkram durchgehen.«

»Nein, schon gut. Danke. Es wird sicher nicht kompliziert.«

»Okay. Also, ruf an, wenn du was brauchst. Diese Sachen können einem ganz schön über den Kopf wachsen.«

»Danke. Für alles.« Er legt zwei Finger an die Stirn zum Gruß und geht davon. Ich starte den Motor, und er dreht sich noch mal mit einem letzten traurigen Lächeln um.

»Hey, Schatz?«

»Ja?«

»Habe dich lieb.«

»Ich habe dich auch lieb«, erwidere ich mit rauer Stimme. Es ist lange her, dass ich diese Worte zu jemandem gesagt habe.

Ich fahre vor Dorsey vom Parkplatz. Nach so vielen Stunden auf dem Boot tut es gut, sich zu bewegen. Die kalte Luft macht mich wieder wach. Ich knattere den Sunrise Highway entlang, über die Ponquogue Bridge, bis zum Haus am Ende der Dune Road.

Das Haus gehört jetzt mir, auch wenn es mir schwerfällt, es so zu sehen. Das wird sowieso nicht lange so bleiben. Ich kann mir nicht leisten, es zu behalten, und muss es verkaufen. Und selbst wenn, wäre es sinnlos. Seit dem Collegeabschluss vor sechs Jahren habe ich keinen Urlaub gemacht. Ich brauche kein altes Haus auf der South-Fork-Halbinsel von Long Island, in einem County, das ebenso viele schlechte wie gute Erinnerungen für mich bereithält.

Mein Großvater, Darragh Flynn, den ich Pop genannt habe, hat das Haus damals in den 1950ern gebaut, als man hier noch mit einem Polizistengehalt ein Stück Land mit Meerblick kaufen konnte. Heute würde es mindestens eine halbe Million Dollar kosten. Das Haus ist in etwa so charmant und geräumig wie ein Wohnmobil. Ich weiß, dass jeder potenzielle Käufer wahrscheinlich nur an dem Land darunter interessiert ist. Es ist ein gedrungener, verwitterter Kasten mit verblichenen grauen Schindeln und billigen Schiebetüren. Dennoch hat es einen gewissen Charme. Eine Veranda verläuft um das ganze Haus mit Blick auf die Shinnecock Bay im Norden und Wiesen mit Gräsern zu allen Seiten. Ich hasse die Vorstellung, dass jemand dieses Stück Marschland plattmacht, um eine Protzvilla mit Pool und Tennisplatz daraufzustellen. Ich weiß, dass mein Vater das auch furchtbar fände.

Vor über einer Woche bin ich hergekommen, nachdem Dorsey mir am Telefon das mit Dad erzählt hatte. Ich habe keine Ahnung, wann ich wieder fahre. Immerhin habe ich keinen Job, zu dem ich zurückkehren müsste. Ich wohne in einem kleinen Apartment ohne Fahrstuhl in Georgetown, das mir nicht fehlt, mit einer unzuverlässigen Klimaanlage, aus der es auf den Küchenboden tropft. Aus dem indischen Restaurant im Erdgeschoss riecht es ständig nach Curry. Meine Nachbarn sind junge Doktoranden, die gern Gras rauchen und nach Mitternacht laut Techno hören, bei dessen Bass meine Wände vibrieren. Manchmal streiten sie auch oder haben lautstarken Sex. Ich überlege oft, mich zu beschweren, mache es aber nie. Ich schlafe ja sowieso nicht viel. Wenn wir uns im Flur sehen, nicken sie höflich und gehen weiter. Sie haben garantiert keine Ahnung, was ich so mache. Wenn sie wüssten, dass ich in der Strafverfolgung arbeite, würden sie mit dem Gras vorsichtiger sein. Doch woher hätten sie es auch wissen sollen. Ich bin oft wochenlang weg. Wenn ich zu Hause bin, komme und gehe ich zu ungewöhnlichen Uhrzeiten, verlasse die Wohnung frühmorgens und kehre oft erst weit nach Mitternacht zurück. Ich habe keine Haustiere, keine Pflanzen, keinen Partner. Ein Großteil meines Besitzes passt in eine große Reisetasche. Ich frage mich, wann es ihnen auffallen wird, dass ich weg bin. Vielleicht nie.

Als Einziger hat mich bisher mein Boss beim FBI, Sam Lightman, angerufen, der Leiter der Behavioral Analysis Unit, der Einheit für Verhaltensanalyse. Letzten Monat habe ich jemanden bei einem Einsatz erschossen. Sein Name war Anton Reznik. Er war ein Mitarbeiter von Dmitri Nowak, einem der umsatzstärksten Schmuggler der russischen Mafia, der Drogen und Frauen in die Vereinigten Staaten schleust. Reznik wurde aus offensichtlichen Gründen unter seinen Freunden der Schlächter genannt. Niemand, den ich vermissen werde. Dennoch ist es nie schön, einen Menschen zu töten, und dieses Mal hat es mich besonders mitgenommen. Zum einen hat mich bei dem Schusswechsel eine Kugel an der Schulter erwischt. Genau genommen hatte ich Glück. Ein paar Zentimeter weiter rechts, und sie hätte die Oberarmarterie getroffen und mich quasi umgehend getötet. Stattdessen habe ich meine Marke und meine Waffe gegen ein paar Stiche eingetauscht, Krankschreibung bei vollem Gehalt und die Visitenkarte eines auf posttraumatisches Belastungssyndrom spezialisierten Therapeuten, den das Bureau empfiehlt. Die Ärzte sagen, dass meine Schulter mittlerweile verheilt sein müsste, und das ist sie auch so gut wie. Manchmal fühlt sie sich noch wund an, vor allem am Abend, aber das liegt wahrscheinlich daran, dass ich keine Zeit hatte, die Physiotherapie zu machen, um die Muskeln unter der Wunde zu stärken. Das Bureau denkt, mein Kopf sollte mittlerweile auch wieder in Ordnung sein. Das ist er aber noch nicht. Vielleicht war er es auch nie.

Der Tod meines Vaters hat mir ein wenig Aufschub verschafft. »Nimm dir die Zeit, die du brauchst«, sagte Lightman, als ich es ihm erzählt habe. Wir wussten beide, dass er eigentlich meinte: »so wenig Zeit wie möglich«. Ich merke, dass Lightman langsam die Geduld verliert. Ziemlich sicher machen ihm die höheren Ränge Druck, mich entweder wieder zu einem Fall zu schicken oder aus der Abteilung zu befördern. Mittlerweile glaube ich, dass Letzteres das Beste wäre.

Ich schenke mir ein ordentliches Glas von Dads Macallan ein und ziehe mich mit einer Wolldecke auf die Vorderveranda zurück. Ich trinke leise und allein, so wie er wahrscheinlich an vielen Abenden, bis die Sterne am Himmel stehen. Ich horche auf das Rauschen des Meeres und die leise Musik, die aus einer der Bars auf der anderen Seite der Bay dringt.

Es ist vorbei. Nichts wird mich je mehr hierher zurückziehen, nach Hause. Keine Feiertage oder Geburtstage oder Hochzeiten von Menschen, die vor langer Zeit mal Freunde waren, an die ich jetzt aber nicht mehr denke. Ich werde mich nicht mehr verpflichtet fühlen, meinen Vater anzurufen, und ich werde keine Schuldgefühle mehr haben, wenn ich es nicht mache. Ich kann seine Sachen verbrennen, das Haus verkaufen, muss nie wieder ins Suffolk County zurückkehren. Zum ersten Mal seit Jahren muss ich nicht nachhelfen, um schlafen zu können. Ich strecke mich auf der Verandacouch aus, lege die Füße auf den Tisch aus Treibholz, schließe die Augen und lasse mich von der Dunkelheit mitreißen.

Zwei

Das Schreien einer Möwe weckt mich. Ich schlage die Augen auf. Es ist hell, und ein paar Sekunden lang muss ich mich orientieren. Erschrocken setze ich mich auf und mustere meine Umgebung. Die ausgeblichene graue Veranda. Die Weite um mich herum. Ich habe ganz vergessen, was für ein einzigartiges Vergnügen es ist, unter dem endlosen Himmel aufzuwachen.

Die Luft ist anders als noch vor ein paar Tagen, beißender. Ich rieche Salz und Torf und zum ersten Mal noch etwas anderes: Feuerholz. Aus einem Kamin ein paar Häuser weiter steigt Rauch auf. Ich stehe auf und sehe den grauen Wolken nach, wie sie im schieferfarbenen Himmel verschwinden.

Der Herbst ist da. Meine Lieblingsjahreszeit auf der Insel. Die Farben verblassen von lebhaften Grün- und Blautönen zu sanfterem Braun und Grau. Licht sprenkelt die Marsch. Hinter der Veranda steht ein Schmuckreiher bewegungslos in einem Meer aus Sumach und Rutenhirse. Blitzschnell stößt der Vögel den Schnabel ins Wasser und fängt einen Killifisch. Der Reiher legt den Kopf in den Nacken und schluckt seine Beute am Stück. Dann verwandelt er sich wieder in eine Statue und wartet geduldig auf sein nächstes Opfer. Als ich klein war, habe ich sie stundenlang beobachtet, die strahlend weißen Federn bewundert und die langen, anmutigen Hälse. Ich fand, sie sahen wie Ballerinas aus. Pop hat mir erzählt, dass sie vor Jahren fast ausgestorben waren, weil Frauen ihr Gefieder so sehr mochten, dass sie sie töten und daraus Hüte anfertigen ließen. Das hat mir mein kleines Herz gebrochen.

Reiher sind rücksichtslose Killer, hat Pop mir auch erzählt. Sie wissen, wie sie ihre Flügel ausbreiten müssen und dabei ihren Schnabel verstecken, damit kleinere Fische im Schatten Schutz vor der Sonne suchen. Manchmal kann man sehen, wie sie ihre schilfrohrdünnen Beine auf rhythmische, hypnotische Art bewegen. Es sieht aus, als ob sie tanzen. Doch in Wahrheit scheuchen sie damit Beute vom Grund unter ihren Füßen auf. Wenn sich etwas bewegt, schlagen sie zu. Mit diesem Wissen ging es mir besser. Wir töten sie. Sie töten dafür kleine Fische.

Bald wird das Wasser hier kalt werden. Die Reiher, wie die Regenpfeifer und die Möwen, werden nach Süden ziehen müssen, um überleben zu können. Eines Morgens werde ich aufwachen, und sie werden weg sein. Als Kind habe ich an diesem Tag immer getrauert. Der Vogelzug bedeutete das Ende der Freiluftsaison und den Beginn eines langen Winters, währenddem ich mit Dad im Haus eingesperrt war. Die Winter auf Long Island sind kalt und dunkel. Wer sie hier verbringt, trinkt meistens während der harten Monate mehr, und mein Vater war da keine Ausnahme. Ich frage mich, ob ich noch hier bin, wenn die Vögel aufbrechen, oder ob ich da auch schon im Süden bin. Wahrscheinlich sollte ich ans Packen und Abreisen denken.

Ich öffne die Schiebetür und gehe zurück ins Haus. Im Badezimmer drehe ich den Wasserhahn auf und spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht. Ich fülle ein Glas bis zum Rand und trinke es aus, versuche, zu viel Scotch auf nüchternen Magen gestern Abend entgegenzuwirken. Ich mustere mein Spiegelbild. Ich habe abgenommen. Meine Wangenknochen stechen hervor. Die haselnussbraunen Augen scheinen tiefer in ihren Höhlen zu liegen. Ich koche mir schon seit einer Weile nichts Vernünftiges mehr. Ich weiß nicht mehr, wann ich das letzte Mal geduscht habe. Mit der Schulter ist alles anstrengend. Ich ermüde leicht, selbst wenn ich mir nur die Haare wasche. Der Verband wird nass und muss gewechselt werden, und das ist im Moment ganz schön viel Aufwand. Ich erwarte ja sowieso nicht viel Gesellschaft. Dennoch bin ich über meinen Anblick erschrocken. Man sieht, dass ich mich nicht um mich kümmere.

Ich stelle die Dusche an. Ich muss mich zusammenreißen, bevor Howard Kidd am Nachmittag vorbeikommt. Ich muss Dokumente unterschreiben, Konten auflösen. Ein Haus verkaufen, Rechnungen bezahlen. Meine Kleider lasse ich auf den Fliesenboden fallen. Es rumpelt in der Leitung, dann ergießt sich bourbonfarbenes Wasser aus dem Duschkopf. Rost. Die Leitungen müssen ausgetauscht werden. Ebenso wie das Dach, die Veranda, die angeschlagenen Fliegengittertüren. Eines der Fenster ist beim letzten Hurrikan zersplittert, und niemand hat sich die Mühe gemacht, es zu ersetzen. Wenn die Hurrikansaison anfing, hat mein Vater die Fenster immer mit Brettern zugenagelt. Die Spuren der Nägel sind noch in den Holzrahmen zu sehen. Jeder Makler wird mir sagen, dass ich sie übermalen soll, wenn ich das Haus verkaufen will. Aber ich liebe die kleinen Löcher. Als Kind habe ich mit den Fingern immer jede Erhebung und jede Niete befühlt. Sie sind Narben von Kämpfen, die dieses Haus ausgefochten und gewonnen hat.

Eigentlich müsste man das ganze Haus ersetzen, das ist mir klar. Es bringt nichts, es zu streichen und neue Fliegengitter einzubauen, wenn ein Käufer es sowieso mit großer Wahrscheinlichkeit abreißen wird. Vielleicht muss ich nur aufräumen, damit alles ordentlich aussieht. Persönliche Besitztümer wegräumen, die Jagdtrophäen meines Vaters abnehmen: den Hirschkopf mit den glänzenden, toten Augen. Den Speerfisch über der Eingangstür. Ich muss dafür sorgen, dass die Klimaanlage nicht leckt und dass der Kühlschrank nicht mehr dieses seltsame, rasselnde Geräusch von sich gibt, als pfiffe er aus dem letzten Loch. Ich habe immer noch nicht die Kleider meines Vaters aus seiner Kommode geräumt. Seine Bürotür ist abgesperrt, ebenso wie sein Waffenschrank. Die Waffen müssen weg. Seine Zahnbürste auch, deren struppige Borsten über den Rand seines Waschbeckens ragen. Die Asche meiner Mutter steht wahrscheinlich immer noch ganz hinten im Büroschrank, in der Urne mit dem Messinghals, der schon lange nicht mehr poliert wurde. Ich weiß nicht sicher, ob die Urne noch da ist, aber ich würde darauf wetten. Noch habe ich es nicht übers Herz gebracht, nachzusehen.

Ich will Dads Bike vom Abschlepphof holen. Wenn es überhaupt zu reparieren ist, will ich es behalten. Wenn nicht, bringe ich es selbst zum Schrottplatz. Das ist etwas Persönliches, nichts, was ich an Cole Haines delegieren möchte. Das Motorrad verdient, genau wie mein Vater, einen ordentlichen Abschied.

So viel Verwaltungskram muss noch erledigt werden. Allein der Gedanke daran erschöpft mich. Ich habe ihn ignoriert, gehofft, er würde einfach verschwinden, wie der Nebel, der frühmorgens über dem Haus hängt. Aber das wird er natürlich nicht. Außer mir kann sich niemand darum kümmern.

Das Wasser aus dem Duschkopf wird klar, und ich trete darunter. Es ist kalt, aber das ist gut, es vertreibt die Spinnweben in meinem Kopf, und ich werde wach. Das Wasser hier im Haus war immer schon heikel. Mein Vater, Soldat durch und durch, hat auf kalte Duschen geschworen. Als Teenager habe ich ihn dafür gehasst, dass ich mich mit kaltem Wasser waschen sollte. Er selbst hat zwei Minuten geduscht, vielleicht drei. Es wirkte immer wie eine Bestrafung, als würde er Buße für die Sünden der vorherigen Nacht tun. Kurze, harte, eiskalte Duschen. Er verstand nicht, wie lange ein Teenagermädchen brauchte, um sich die Haare zu waschen, sie mit Spülung zu behandeln, die Beine zu rasieren. Oder vielleicht kapierte er es, wollte mich aber auch bestrafen. Als ich fünfzehn war, habe ich mir die Haare abgeschnitten, mit meiner eigenen Schere. Mein Vater fand es gut, applaudierte geradezu. Er hielt Föhn und Lockenstab für Oberflächlichkeiten, vor allem für ein Mädchen, das Sport trieb und sich nicht besonders um sein Aussehen kümmerte. Da hatte er recht. Seither trage ich die Haare kurz.

Ich trete aus der Dusche und trockne mich ab, hole den letzten Verband aus der Schachtel unter dem Waschbecken und verbinde meine Schulter. Dann schlüpfe ich in Jeans und ein langärmeliges T-Shirt, mit Löchern für die Daumen, damit die Ärmel nicht verrutschen. Ich schlüpfe in mein Schulterholster und ziehe darüber eine alte Fleeceweste vom FBI, die ich mal von Lightman geborgt und nicht wieder zurückgegeben habe.

Aus der Nachttischschublade hole ich meine Smith & Wesson. Es ist meine eigene Waffe, die ich trage, seit das Bureau meine Dienstpistole letzten Monat konfisziert hat. Ich schiebe sie in den Schultergurt, den die lange Weste verdeckt. Ich werde sie noch eine Weile mitführen, zumindest so lange, bis Dmitri Nowak – der Mann, den wir verhaften wollten, als ich Anton Reznik erschossen habe – in Gewahrsam ist. Nowak ist sicher nicht gerade glücklich darüber, dass ich seinen Lieblingsschlächter getötet habe. Ich bin erst sicher, wenn er hinter Gittern sitzt, und vielleicht selbst dann nicht. Außer Nowak habe ich mir in sechs Jahren beim FBI viele Feinde gemacht. Feinde mit gutem Gedächtnis und gewalttätiger Veranlagung. Ich werde wahrscheinlich immer eine Waffe bei mir tragen. Dad hat es auch so gemacht. Er bewahrte ein ganzes, wohlgepflegtes Arsenal in seinem Schrank im Büro auf, natürlich verschlossen. Wenn er wach war, trug er eine Waffe, und er schlief mit einer in Reichweite; meistens lag sie in seiner Nachttischschublade. Er wäre gar nicht auf den Gedanken gekommen, es anders zu machen. In seiner Welt war man entweder Jäger oder Beute. Reiher oder Killifisch.

In der Küche setze ich Kaffee auf. Dann suche ich die Nummer des Abschlepphofes des SCPD in Westhampton heraus und wähle. Ich weiß, dass Cole nicht da sein wird, dafür ist es zu früh, und ich bin froh, dass ich mich nicht über Dads Tod unterhalten muss, was für ein toller Cop er war, wie es mir jetzt geht. Ich hinterlasse eine kurze Nachricht mit meinem Namen und meiner Mobilnummer und sage, dass ich gern so bald wie möglich vorbeikommen und Dads Motorrad abholen würde. Ich will es schnell hinter mich bringen, ohne viel Aufhebens. Hoffentlich ist das Bike wenigstens noch in einem Stück. Bei der Vorstellung, dass es entzweigerissen ist oder nur noch ein Haufen Schrott, verkrampft sich mein Magen. Im nüchternen Licht des Morgens betrachtet hat Dorsey recht. Ich habe zwar schon viele Tatorte gesehen, aber es ist etwas anderes, wenn die Familie betroffen ist.

Sobald genug Kaffee durchgelaufen ist, gieße ich mir eine Tasse ein und gehe nach draußen auf die hintere Veranda. Nach einem Schluck klingelt mein Handy. Ich stelle die Tasse ab, überprüfe die Nummer. Sam Lightman. Ich knirsche mit den Zähnen, und nach einem Moment nehme ich ab.

»Flynn.«

»Wie geht es dir, Nell?«

»Verdammt großartig.«

»Wie geht’s der Schulter?«

»Nur ein Kratzer.«

»Und wie war die Beerdigung deines Vaters?«

»Ist vorbei.«

»Klingt, als könntest du jetzt wieder heimkommen.«

»Willst du mich denn heimholen?«

Lightman räuspert sich, wie immer, bevor er eine schlechte Nachricht überbringt. »Nun, ich habe deswegen mit Maloney gesprochen.«

Paul Maloney ist der stellvertretende Direktor des Office of Professional Responsibility, eine Abteilung des FBI, von deren Existenz ich bis vor einem Monat nichts gewusst hatte und mit der ich hoffentlich auch nie wieder etwas zu tun haben werde. Nach der Schießerei hat Maloney darauf bestanden, dass ich bei Dr. Ginnis in Therapie gehe, einem Psychiater, der für das FBI arbeitet. Ginnis berichtet an Maloney, und Maloney entscheidet letztendlich, ob ich wieder dienstfähig bin. Ich habe das Gefühl, dass er mich erst wieder gesundschreibt, wenn ich getan habe, was er von mir will, und das heißt ziemlich viel Therapie, der ich bisher aus dem Weg gegangen bin.

»Und?«

»Maloney macht sich Sorgen. Er hat gesagt, dass du deine Termine nicht einhältst.«

»Ich brauche keine Physiotherapie. Es geht mir gut.« Ich lege meine Hand auf die Schulter, taste mit den Fingern, ob die Wunde noch empfindlich ist. Ist sie. Ich höre auf.

»Nicht nur die Physiotherapie. Du musst auch zu Dr. Ginnis gehen.«

»Ich habe mit Ginnis gesprochen.«

»Nell, jetzt komm schon. Du kannst nicht einfach nur einmal vorbeischauen und dann alles für erledigt erklären.«

»Es ist nicht meine Schuld, dass ich aus D. C. wegmusste.«

»Natürlich nicht. Aber ihr hättet die Sitzungen am Telefon abhalten können. Ginnis muss einen umfassenden Bericht über deine mentale Verfassung abliefern. Erst dann kannst du mit einer positiven Bewertung deiner Dienstfähigkeit rechnen.«

»Schon verstanden.«

»Wir brauchen dich hier, Nell. Ich brauche dich.«

»Bettelst du?«

»Das würde ich, wenn es etwas helfen würde.«

»Kannst du Ginnis nicht dazu bringen, dass er ein Formular unterschreibt oder so was? Ich will nicht auf einer Couch liegen und über meine Kindheit sprechen.« Ich klinge störrisch, was sogar mich selbst ärgert.

»Das verlangt auch niemand von dir.«

»Doch, genau das will er. Er hat eine Couch. Ich habe sie gesehen. Ich habe darauf gelegen. Einmal. Das hat mir gereicht.«

Lightman lacht widerwillig. »Nun, er ist Psychiater. Das gehört zu seinem Job. Vielleicht geht es dir danach tatsächlich besser.«

»Wie wäre es, wenn wir die Typen finden, die mir die Schulter zerschossen haben? Dann ginge es mir wirklich besser.«

»Uns allen, Nell. Wir arbeiten daran.«

»Strengt euch mehr an. Oder lasst mich zurückkommen, und ich übernehme das für euch. Ich habe Nowak acht Monate gejagt. Niemand ist näher an dem Fall als ich.«

Lightman seufzt. »Ich mache mir Sorgen um dich, Nell. Du hattest einen höllischen Monat. Ich kann dich nicht guten Gewissens auf so einen gefährlichen Auftrag schicken. Das weißt du. Du musst dich um dich selbst kümmern. Ich kann dir andere Namen beschaffen, wenn Ginnis nicht der Richtige ist.«

»Ginnis ist schon in Ordnung.«

»Dann sprich mit ihm. Dafür ist er da. Ginnis hat als Kind auch seine Mom verloren. Er ist auf einer Militärbasis aufgewachsen. Nur er und sein Vater.«

»Und?«

Lightman seufzt wieder. »Und daher denke ich, dass ihr einiges gemeinsam habt.«

»Na gut. Ich rede mit ihm. Aber erwarte keine Wunder.«

»Mache ich nicht. Ich gebe ihm deine Handynummer. Du kannst mich auch anrufen. Ich weiß, wie es ist, wenn man jemanden tötet. Es ist brutal, Nell. Es lässt einen nicht los, und es kann einen echt verkorksen, wenn man nicht aufpasst.«

Ein Auto nähert sich auf der Dune Road, dann höre ich das Knirschen von Rädern auf dem Schotter vor dem Haus.

»Danke für die Aufmunterung. Da kommt gerade jemand. Ich muss aufhören.«

Ich lege auf, bevor Lightman protestieren kann. Meine Hand gleitet zur Pistole. Es ist Tag. Die Auffahrt ist in der Nähe des Parkplatzes, der zum Strand gehört. Manchmal verwechseln Leute die beiden Wege. Trotzdem – ich erwarte niemanden, vor allem nicht so früh. In meiner Situation sind Überraschungsbesucher nicht gerade willkommen.

Ich gehe über die Veranda und presse mich an die Hausecke. Die Holzschindeln drücken sich in meine Schulterblätter. Eine Fliege, die zwischen dem Gitter und dem Fenster gefangen ist, surrt aufgeregt herum. Ich wappne mich, die Waffe bereit in der Hand. Ein kleiner Vogelschwarm, den der Besucher aufgeschreckt hat, flattert aus dem Strandhafer empor. Sie sind so scheu wie ich und genauso wenig an Gäste gewöhnt.

Ich zähle die Schritte. Fünf bis zum Treppenabsatz. Ein großer Mann ist zu sehen. Einen kurzen Moment gerate ich in Panik. Von hinten sieht er aus wie Dmitri Nowak.

Mein Herzschlag beschleunigt sich. Der Zeigefinger legt sich auf den Abzug. Ich trete aus dem Schatten.

Ich muss nichts sagen, der Mann hebt von sich aus langsam die Hände. »Ich bin’s, Nell, Lee.« Er dreht sich vorsichtig um.

Als ich sein Gesicht sehe, senke ich die Waffe.

»Lee Davis. Himmel noch mal. Du hast mich zu Tode erschreckt.«

»Hallo, Kleine.« Lee hat mich immer Kleine genannt, auch wenn wir im selben Alter sind. Wahrscheinlich liegt es daran, dass er gute dreißig Zentimeter größer ist als ich. Er kommt zu mir und umarmt mich so fest, dass ich vor Schmerzen stöhne.

»Was ist los?« Er gibt mich frei und sieht mich besorgt an.

»Nichts, nur eine Fleischwunde.« Ich tippe auf meine Schulter und spüre, wie die Farbe in mein Gesicht zurückkehrt. »Eine Kugel hat mich vor einem Monat leicht gestreift. Die Stelle ist immer noch ein wenig wund.«

»Leicht gestreift. Das hätte auch dein Dad sagen können. Ich bin froh, dass du sonst in Ordnung bist.«

»Mir ging’s nie besser.«

Er nickt, und wir mustern uns gegenseitig von oben bis unten. Er hat sich seit unserer gemeinsamen Zeit an der Hampton Bays Highschool kaum verändert. Groß und zaundürr. Seine Schultern runden sich nach vorne, als könne er die Menschen, die kleiner sind als er, schlecht hören. Sein früher pechschwarzes Haar ist jetzt von ein paar grauen Strähnen durchzogen. Er findet es wahrscheinlich furchtbar, aber meiner Meinung nach sieht er sehr erwachsen damit aus. Sein jungenhaftes Gesicht ist immer noch sommersprossig und faltenlos. Er ist auf zurückhaltende Weise attraktiv, und das gefällt mir. Ich schiele zu seiner Hand. Kein Ring, was mich überrascht. Er hat immer wie jemand gewirkt, der mit Anfang dreißig seine Kinder zum Fußball kutschiert.

Lee war auf der Highschool mit netten Mädchen zusammen, Hockeyspielerinnen und Cheerleaderinnen, die dauernd gelächelt und ihre Haare beim Lachen nach hinten geworfen haben. Die so getan haben, als gäbe es mich nicht. Ich habe mich bemüht, sie genauso offen zu ignorieren, aber es war sowieso allen egal, was ich von ihnen hielt. Ich war nur die Ruhige, Dünne, die eine schwarze Lederjacke in der Schule trug und in der neunten Klasse Matheunterricht auf Collegeniveau erhielt. Die, deren Vater bei der Mordkommission und deren Mutter ein Mordopfer war. Der brutale Mord an meiner Mutter war ein großes Gesprächsthema in unserer Gegend gewesen. Noch Jahre später wurde darüber getuschelt, über sie, über uns. Unnötig zu sagen, dass man mir in der Schule weiträumig aus dem Weg ging.

»Tut mir leid wegen der Begrüßung«, sage ich und fahre mir mit der Hand durchs Haar. »Berufsrisiko.«

Lee winkt ab, als sei am frühen Morgen eine Pistole vor der Nase keine große Sache. »Wie war die Beerdigung? Dorsey hat erzählt, dass es schön war.«

»Das war es auch. Ich glaube, Dad hätte es so gewollt.«