Maria Grund wurde in einem Vorort von Stockholm geboren. Sie arbeitete viele Jahre als Drehbuchautorin in London und New York und lebt heute auf der schwedischen Insel Gotland. Ihr großes Thriller-Debüt Fuchsmädchen wurde für den Crimetime Award nominiert sowie von der Swedish Academy of Crime Fiction als bestes Debüt des Jahres ausgezeichnet.

Fuchsmädchen in der Presse:

»Einer der fesselndsten Thriller des Jahres. Mit gekonnter Sprache baut Maria Grund Spannung auf. Man kann dieses Buch kaum aus der Hand legen.«
Aus der Begründung der Swedish Crime Fiction Academy zum Preis für das beste Debüt des Jahres

»Ein begnadetes Debüt mit einer ganz einzigartigen Stimme.« Dagens Nyheter

»Maria Grund führt dynamische und interessante Figuren ein und liefert einen originellen Plot. Ein nervenaufreibender und filmischer Ermittlerkrimi, der Startschuss einer vielversprechenden Autorin.«
Aus der Nominierung für den Crimetime Award

»Ein beeindruckendes Debüt!« Uppsala Nya Tidning

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Maria Grund

Fuchs
­mädchen

Thriller

Aus dem Schwedischen von
Sabine Thiele

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Dödssynden bei Modernista, Stockholm.


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Copyright © 2020 by Maria Grund

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Published by arrangement with Partners in Stories.

Umschlag: bürosüd GmbH

Umschlagmotiv: www.buerosued.de; Mauritius Images / Volodymyr Burdiak / Alamy

Redaktion: Marie-Sophie Kasten

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27068-1
V002

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Der Nebel hüllt ihn ein. Auf dem weichen Moos kommt der Junge schnell voran. Er weicht den Dornen aus, die seine Haut ritzen, und den Ästen, die sich nach seinen Augen und seinem Haar strecken. Die nackten Beine und Füße sind eiskalt. Ohne die schützende Baumwolle der Unterhose hätten die Peitschenhiebe der Wurzelschösslinge ihn schon längst zu Fall gebracht.

Verzweifelt springt er über Sturmholz und rennt zwischen den eng stehenden Kiefern und vermodernden Eschen hindurch. Immer schneller schlägt sein Herz, bis es den Schmerz beinahe übertönt. Und die Stimmen, die ihn aus den Schatten hinter ihm jagen.

Hätte sich nicht vor ihm das Loch aufgetan, seinen Fuß umklammert und ihn zu Fall gebracht, wäre er vielleicht entkommen. Doch als er mit dem Gesicht auf dem bemoosten Stein aufprallt, die Arme ausgestreckt wie am Kreuz, und sich seine Augen nach hinten verdrehen, hört er sie immer näher kommen:

»Tötet den Wolf, tötet den Wolf, tötet den Wolf …«

KAPITEL EINS

Sanna Berling sieht sich in dem leeren, ausgebrannten Zimmer um. Die Sonne fällt durch die salzverkrusteten, staubigen Fenster und taucht alles in schmutziggelbes Licht. Der durchdringende Geruch nach Rauch und Schimmel setzt sich im Rachen fest. Bei jedem Besuch erscheint ihr der Raum noch dunkler. Vielleicht weil die Bäume vor dem Haus ungehindert wachsen dürfen, vielleicht kommt es ihr aber auch nur so vor, weil sie so unerträglich müde ist.

Vorsichtig streicht sie mit den Fingern über eine rußige Stelle, und eine vergilbte Kindertapete kommt zum Vorschein. Mit geschlossenen Augen streift sie mit der Hand an der Wand entlang, während sie zur Tür geht. Im Türrahmen bleibt sie wie immer bei den Buchstaben stehen, die darin von ungelenker Kinderhand eingeritzt sind, und berührt sie mit den Fingerspitzen: »HAU AB«.

Als sie ins Freie tritt, steigt ein Schwarm kleiner Vögel aus dem großen, absterbenden Baum vor dem Haus. Ihre Flügelschläge erfüllen die Luft, während sie hektisch davonflattern, als müssten sie vor einem Unwetter fliehen.

Vor ihr erstreckt sich eine weite Landschaft. Dieser ganze Teil der Insel – von den angrenzenden Feldern und Wiesen, die bis zum Weg reichen, über die Kirche und noch weiter bis zur kargen Küste – ist Ödland. Da klingelt ihr Handy. Sie nimmt den Anruf an, lauscht der Stimme am anderen Ende.

»Ich bin gerade hier«, antwortet sie. »Lehn ab. Ich verkaufe nicht. Noch nicht.«

Sie erntet lautstarken Protest, verzieht jedoch keine Miene, während sie zu ihrem schwarzen Saab geht. Beim Wegfahren folgt ihr der Hof im Rückspiegel, als würde er sie mit seinen verkohlten, blinden Fenstern beobachten.

Aus dem Autoradio ertönt knackend die Stimme eines Vertreters der Kommunalverwaltung: »… die harten Restriktionen und Maßnahmen der letzten Jahre haben die Region vor große soziale Herausforderungen gestellt und unser Sicherheitsempfinden auf vielfältige Weise beschädigt. Dennoch haben sie nicht zu einem ausgeglichenen Budget geführt … Wir müssen an einem Strang ziehen und weitere Einsparungen vornehmen, ohne gleichzeitig noch mehr Unterkünfte, Einrichtungen und andere wichtige Institutionen zu schließen, auf die die wachsende Gruppe von der Gesellschaft Ausgestoßener und Bedürftiger angewiesen ist …«

Sie schaltet das Radio aus und den CD-Spieler ein und gibt Gas. Robert Johnson and Punchdrunks’ »Rabbia Fuori Controllo« dröhnt aus den Lautsprechern, während vereinzelte Höfe und Häuser neben der Straße vorbeiziehen. Sonst besteht die Landschaft aus Wiesen, Feldern und dunklen Waldabschnitten. Dann wird der kleine Hauptort der Insel sichtbar, bevor Sanna schließlich in ein Industriegebiet einbiegt. Vor ihr erstrecken sich rissiger Asphalt und Container hinter hohen, mit Stacheldraht verstärkten Zäunen.

Ein junger Mann in einem T-Shirt-Kleid mit Puffärmeln, weitem Kragen und dicken Schulterpolstern bewegt sich ruckartig an einer Ampel. Eine Augenbraue fehlt, die andere ist mit Filzstift hoch auf der Stirn aufgemalt. Seine Füße stecken in schmuddeligen Badeschlappen, und jedes Mal, wenn er den rechten Fuß aufsetzt, zuckt er wie ein verletzter Hund. Als sie an ihm vorbeifährt, scheint er sich für ein paar Sekunden zu entspannen. Er sieht sie schüchtern an, erkennt sie wieder. Sie bremst ab, holt etwas vom Rücksitz, lässt das Fenster herunter und wirft ihm eine Strickjacke aus Wolle zu. Er wickelt sich hastig darin ein und murmelt etwas, vielleicht einen Dank.

Sie fährt auf eine schmale Schotterstraße und an einem Grundstück mit Wohnwagen und Zelten vorbei. Ein Hund bellt irgendwo im Dunkeln, als sie rechts abbiegt und auf das unansehnliche Schild mit der Aufschrift »Garage« zurollt.

Die Tür schleift knarzend und quietschend über den Betonboden. Sie schaltet eine Lampe in der Ecke ein, die ein weiches Licht auf das Feldbett mit der Decke und dem Kissen wirft. Über dem Bett ist der Raum niedriger als in der restlichen Garage, wo sie den Saab ein wenig schief abgestellt hat, mit dem Schlüssel in der Zündung.

Sie wirft ein paar Rechnungen und Werbeflyer auf einen Stuhl, schlüpft aus dem kurzen schwarzen Wollmantel und lässt ihn auf den Boden fallen, bevor sie ihre Hose auszieht. Dann streift sie sich ein Paar Kopfhörer über die Ohren.

Den Schlüssel zur Garage und ihre Polizeimarke wirft sie auf den Campingtisch, der gleichzeitig als Nachttisch fungiert. Sie landen auf einem Gegenstand, einem kleinen runden Handspiegel, auf dem »Erik« steht. Dann drückt sie drei kleine lilafarbene Tabletten aus einem Blister und schluckt sie.

Ihr Blick wird bereits verschwommen und geht ins Leere, als sie sich auf das Feldbett legt.

»Ich komme«, flüstert sie und versinkt in der Dunkelheit.

Die Türglocke der diensthabenden Apotheke läutet laut und vernehmlich, als Eir Pedersen über die Schwelle tritt. Sie bewegt sich rasch und leicht nach vorn gebeugt, die Schultern hochgezogen, die Augen voll nervöser Energie. Sie sieht, wie die Apothekerin hinter dem Tresen sie beobachtet, als sie mit der Hand in die Innentasche der engen Lederjacke greift. Diskret, aber beunruhigt. Eir erkennt diesen Blick, sie ist ihn ge­wohnt. Die Frau in dem weißen Kittel hat auch bestimmt eine Hand am Alarmknopf. Sie könnte etwas sagen, um die Situation zu entspannen, doch dafür hat sie nicht die Energie. Sie geht einfach nur zum Tresen und legt zwei Ausweise darauf. Mit dem Zeigefinger tippt sie leicht auf einen der beiden.

»Es müsste ein Rezept für Tabletten und Tropfen vorliegen. Ich bekomme die Tropfen.«

Die Apothekerin betrachtet die Ausweise, tippt etwas in den Rechner und sieht Eir unter ihrem Pony hervor an.

»Finden Sie es nicht?«, fragt Eir. »Gibt es ein Problem? Falls ja, dann können Sie folgende Nummer anrufen …«

»Nein, alles in Ordnung«, antwortet die Frau rasch und verschwindet in den Nebenraum zu den Medikamentenschub­laden.

Eir sieht sich in dem kleinen Laden um. Alles steht ordentlich an seinem Platz. Der hübsche alte Steinboden ist sauber, die Beleuchtung ungewöhnlich sanft für eine Apotheke. Vom Festland her kennt sie Apotheken, die großen klinischen Containern mit kaltem Neonlicht an der Decke und vollgestellten Regalen ähneln. Hier fühlt sie sich dagegen an einen altmodischen Süßigkeitenladen erinnert.

»Bitte sehr«, unterbricht die Apothekerin ihren Gedanken­gang. »Haben Sie sonst noch einen Wunsch?« Sie legt ein Fläschchen Methadon in eine Tüte und schiebt diese über den Tresen.

Eir liest den Preis auf dem Kassendisplay ab und bezahlt. »Gibt es noch einen kürzeren Weg nach Korsparken als den an der Trabrennbahn entlang?«

»Sie meinen, Korsgården?«, korrigiert die Apothekerin sie.

»Ja, genau.«

»Von dem Platz hier vor der Tür gehen Sie die Anhöhe da drüben hinauf. Hinter der Stadtmauer folgen Sie der Hauptstraße und gehen dann über den Sportplatz bei der früheren Eishockeyhalle.«

»Vielen Dank.«

Eir wendet sich zur Tür.

»Ich würde allerdings trotzdem den Weg über die Trabrennbahn nehmen«, sagt die Apothekerin noch. »Um diese Uhrzeit.«

Die kleine, von einer Mauer umgebene Stadt liegt still im Herbstdunkel. Die Gassen winden sich wie Schlangen um den schräg abfallenden Platz. Das Kopfsteinpflaster ist feucht, und einige hartnäckige Blätter glänzen im Dunkeln an den verholzten Rosenbüschen.

Es beginnt zu regnen. Eir hat Gewitter schon immer geliebt, sie fühlt sich dann ruhig und befreit und rundum entspannt. Doch jetzt fallen nur ein paar magere Tropfen zu Boden.

Schon wenige Schritte hinter der hübsch beleuchteten Stadtmauer verändert sich die Umgebung. Mehr Schaufenster sind vernagelt, immer öfter sieht sie schrottreife Autos und mit Graffiti beschmierte Straßenschilder. Die Straßen werden weniger. Sie nimmt eine Abkürzung über eine Straßenbaustelle und einen Sportplatz, bis sie zu einem heruntergekommenen Wohngebiet mit älteren Reihenhäusern und dicht aneinandergedrängt stehenden, niedrigen Mietshäusern kommt. Gartenmöbel stehen verloren herum, die Mülltonnen quellen über. Ein Stück weiter vorne besprühen gerade zwei junge Mädchen ein Garagentor mit Farbe.

Eines hebt den Kopf, als Eir sich nähert, sprüht dann aber gleichgültig weiter. Auf dem Garagentor leuchtet in grellpinker Schrift das Wort »STIRB«.

»Wohnt ihr hier?«, fragt Eir ruhig.

»Was?«, sagt das Mädchen. Sie hat pechschwarze Locken, trägt große Ringe in den Ohren, an ihrem Hals prangt eine Totenkopftätowierung.

Eir stopft die Tüte mit dem Methadon in die Innentasche ihrer Jacke und zieht den Reißverschluss hoch.

»Ist das eure Garage?«, fragt sie weiter.

Die Mädchen sehen einander an, versuchen, die Situation einzuschätzen. »Ja, das ist unsere Garage«, erwidert die eine.

Eir holt ihr Handy hervor, doch der Akku ist leer. Sie seufzt resigniert. »Wenn ich also an dem Haus dahinten klingele, wird eure Mutter aufmachen?«

Das andere Mädchen – mager und durchtrainiert mit rasiertem Kopf und einem großen Drachen auf dem Pulloverärmel – geht langsam um sie herum. Aus dem Augenwinkel sieht Eir, dass sie ein Messer gezogen hat und es hinter dem Handgelenk versteckt.

»Kümmer dich nicht darum, wenn du nicht eins auf die Fresse willst, du verdammte …«, zischt sie und kommt einen Schritt näher.

Eir beendet den Satz, indem sie dem Mädchen ihren Ellbogen ins Gesicht rammt. Die Angreiferin stolpert nach hinten, lässt das Messer fallen und greift sich an die Nase. Da wirft sich ihre Freundin mit der Totenkopftätowierung auf Eir und zieht sie nach hinten. Ein Schlag trifft ihren Mund, doch dann bekommt Eir den Arm des Mädchens zu fassen und bringt es zu Fall, sodass es mit dem Kopf gegen die Gehsteigkante prallt.

»Du hast mir meine verdammte Nase gebrochen …«, knurrt das Drachenmädchen.

Eir dreht sich um. Die andere steht vornübergebeugt da und presst den Pullover gegen die Nase.

»Du bist ja völlig irre!«, kreischt sie.

Eir packt ihren Arm und will sie gerade zum Gehsteig zerren, als sich das Totenkopfmädchen von hinten auf sie stürzt und wild mit der Spraydose fuchtelt. Eir duckt sich und krallt sich in den Locken der Tätowierten fest. Währenddessen hat das Drachenmädchen sich das Messer wieder geschnappt, doch Eir packt sein Handgelenk so fest, dass es die Klinge fallen lässt. Schnell tritt Eir das Messer unter ein Auto.

Sie schleift das Drachenmädchen über den Asphalt zum Garagentor, merkt dabei jedoch, dass sie beobachtet wird. Hinter einer Gardine in dem dunklen Haus neben der Garage steht ein junges Mädchen im selben Alter wie diejenigen, mit denen Eir gerade gerungen hat. Das Licht wird eingeschaltet, und eine ältere Frau im Morgenmantel erscheint am Fenster.

Sie scheucht das Mädchen fort und wählt eine Nummer auf ihrem Handy. Anhand der Lippenbewegungen erkennt Eir, dass sie mit der Polizei sprechen möchte, wobei sie nervös die Straße hinunterschaut.

Eir richtet sich auf, atmet tief durch und versucht sich zu beruhigen. Sie wischt das Blut von dem Riss in ihrer Lippe, schiebt die Hände in die Taschen und geht weiter.

KAPITEL ZWEI

Alles ist mit Raureif überzogen, als Sanna am nächsten Morgen zu dem alten Kalksteinbruch auf der Ostseite der Insel fährt.

Das türkisfarbene Wasser in dem riesigen Krater liegt still da. An der Kante steht ein Krankenwagen, der Pick-up der Polizeitaucher und ein Streifenwagen, dessen Türen offen stehen. Die Taucher rollen gerade ihre Neoprenanzüge zusammen und verstauen sie auf der Ladefläche des Pick-ups. Ein Mädchen liegt auf einer Bahre in einem offenen Leichensack. Behutsam schiebt jemand ihre langen roten Haare hinein.

Sanna stellt den Wagen ab und steigt aus. Der Boden ist fest unter ihren Stiefeln und voller Wurzeln, Steine und Kaninchenlöcher. Hier und da liegt Müll, den Badegäste zurückgelassen haben; Plastikbesteck, Eisverpackungen und eine leere, gesprungene Weinflasche. Sie hört das Meer in einigen Kilometern Entfernung an die Steinstrände schlagen, wie fast überall auf der Insel.

Der Kalksteinbruch ist ein beliebter Badeplatz. Verglichen mit den überfüllten Buchten, in denen man endlos ins Meer hinauswaten muss, kann man hier einfach ins Wasser springen und sich abkühlen. Doch zu dieser Jahreszeit ist der Ort verlassen. Die einzigen Anzeichen, dass sich hier sonst Menschen aufhalten, sind außer dem Müll auf dem Boden ein rostiger Badesteg und zwei kleine Umkleideschuppen hinter einem Gehölz.

Niedergeschlagen betrachtet sie die Leiche auf der Bahre. Aus der Ferne sieht sie klein und mager aus, die Füße sind abgespreizt wie bei einem toten Vogel.

Kriminalkommissar Bernard Hellkvist steigt aus seinem Wagen und wirft ihr einen Blick zu. Sanna denkt daran, wie verärgert er am Telefon geklungen hat. Der große, kräftige und breitschultrige Mann war morgens schon immer schlecht gelaunt gewesen, und heute ist es nicht anders. Jetzt wippt er auf und ab und schlingt die Arme gegen die Kälte um den Brustkorb. Eine Zigarette hängt zwischen seinen schmalen Lippen, und nach einem letzten Zug lässt er den Stummel auf den Boden fallen. Wie immer sieht er aus, als hätte er einen Kater. Er kneift die Augen zusammen und nickt ihr knapp zu.

»Und das alles an einem Sonntag«, knurrt er. »Heute hätte ich mir das Spiel angeschaut.«

»Wo sind die anderen?«, fragt Sanna.

»Jon war schon hier, ist aber wieder gefahren. Gibt nicht mehr viel zu tun. Ich hätte dich nicht anrufen sollen, du müsstest eigentlich gar nicht hier sein. Aber bevor wir sie hochgeholt haben, wusste ich ja noch nicht, ob es Selbstmord war.«

»Ich hatte sowieso nichts vor.«

Er lächelt und sieht dann auf seinem Handy nach der Uhrzeit.

»Wissen wir, wer sie ist?«, fragt Sanna.

»Mia Askar, vierzehn Jahre, fast fünfzehn. Offiziell haben wir sie noch nicht identifiziert, aber ihre Mutter war vor ein paar Tagen auf dem Revier und hat sie als vermisst gemeldet. Sie hatte ein Foto dabei und sie sehr detailliert beschrieben. Deshalb weiß ich, dass es sich um das verschwundene Mädchen handelt. Die Jugend von heute ist so verdammt selbstsüchtig.«

Sanna wirft ihm einen scharfen Blick zu.

»Okay, okay«, rudert er zurück. »Tut mir leid. Aber ein bisschen wütend darf ich doch wohl sein? Es geht schließlich um meinen jüngsten Enkel und außerdem sein erstes Auswärtsspiel.«

»Bald kannst du den ganzen Tag Fußball schauen. Jetzt sind es ja nur noch zwei Wochen.«

»Ich weiß. Es kann mir gar nicht schnell genug gehen.«

Sanna seufzt. »Was ist mit der Spurensicherung?«, fragt sie.

»Es war doch Selbstmord.«

»Aber die Techniker sind auf dem Weg?«

»Sie sind im Norden, dort gab es einen Einbruch in eine alte Kaserne. Und auch wenn sie nicht beschäftigt wären, weißt du doch, dass sie wegen so einem Scheiß längst nicht mehr kommen.«

Sanna schluckt ihre Verärgerung hinunter. Bernard nennt Selbstmord immer »Scheiß«. Vielleicht weil Selbstmord auf der Insel immer öfter vorkommt, oder weil die Polizei mittlerweile nur noch »aufräumt und wegschafft«.

»Wenn du wirklich willst, dass wir uns mit ihnen anlegen, damit sie herkommen …«, fügt er trotzig hinzu.

»Handschuhe?« Sie streckt ihm die Hand entgegen, ohne ihn anzusehen.

Er angelt nach einer Schachtel im Wagen und wirft ihr das Gewünschte zu. »Wie willst du eigentlich ohne mich zurechtkommen?«, meint er grinsend.

Sanna antwortet nicht. Bernard rückt den abgewetzten Gürtel in seiner Cordhose zurecht und folgt ihr zur Bahre.

»Ein Hundespaziergänger hat sie gefunden«, berichtet er. »Sie trieb da draußen, wo das Wasser am tiefsten ist. Hat den armen Kerl fast zu Tode erschreckt. Er dachte, er hätte eine Wassernymphe gesehen.«

»Wohnt er hier in der Nähe?«

»Nein. Hier wohnt doch niemand in der Nähe. Er hat gesagt, dass er manchmal mit seinem Hund hierherfährt und spazieren geht.«

Das Mädchen auf der Bahre trägt nur eine löchrige Jeans. Das wellige rote Haar klebt an ihren Wangen, den Schultern und den Brüsten, fast wie eine zweite Haut. Sie hat etwas Friedliches an sich. Wären da nicht die blauen Lippen und die krampfhaft gespreizten Zehen, hätte sie auch einfach nur tief schlafen können.

Sanna zieht sich mit einem schnappenden Geräusch die Latexhandschuhe über, umrundet die Leiche und betrachtet die Hände des Mädchens. Keine Kratzer, die Nägel sind sauber und ordentlich geschnitten. Vorsichtig dreht sie die Hände nach außen und sieht die Schnittwunden an den Handgelenken.

»Du, ich habe gehört, dass du gestern schon wieder ein fettes Angebot abgelehnt hast«, bemerkt Bernard. »Jons Schwester arbeitet doch bei dem neuen Maklerbüro«, fährt er fort, als sie nicht antwortet. »Alle wissen daher, dass du wieder Millionen Kronen für den Hof ausgeschlagen hast …«

»Die Leute reden zu viel.«

»Möglich. Aber wäre es nicht trotzdem schön?«

Sanna sieht ihn wütend an.

»Loszulassen, meine ich.«

»Das habe ich.«

»Ja, aber du weißt ja, dass du immer noch …«

»Ich habe alles, was ich brauche«, unterbricht sie ihn.

Er blinzelt in das bleiche Sonnenlicht. »Na ja, du weißt ja, wie ich darüber denke.«

Die Schnitte an den Handgelenken des Mädchens sind gerade und tief. In einer Wunde scheint sich Rost zu befinden, doch als Sanna die Substanz berührt, zerkrümelt sie wie Sand.

»Bald ist Eriks Geburtstag«, sagt sie und merkt sofort, wie sich Bernards Laune verschlechtert.

»Ja, stimmt. Er wäre wie alt geworden …? Vierzehn?«

»Fünfzehn.«

Bernard lächelt unbeholfen. Vorsichtig legt sie die Hände des Mädchens wieder an den Körper.

»Wir haben immer gesagt, dass wir ihm da draußen auf dem Hof Mopedfahren beibringen wollen, damit er dann zu diesem Geburtstag seinen Führerschein machen kann«, erzählt sie. »Patrik hatte schon zu Eriks Geburt ein Dakota-Motorrad gekauft und es selbst auf Vordermann gebracht.«

»Puch Dakota? Ein Klassiker.«

Sie schweigt.

Bernard versucht es erneut. »Ja, ich weiß, dass es beschissen ist. Aber er kommt nicht zurück. Und Patrik auch nicht. Du bist ja noch keine alte Frau und auch nicht total hässlich, du könntest noch mal jemanden kennenlernen. Glaubst du nicht, dass dein Mann das gewollt hätte? Dass du dein Leben weiterlebst?«

Sie untersucht weiter schweigend die Leiche des Mädchens.

»Eins ist auf jeden Fall sicher«, fährt Bernard fort. »Er ist nicht mehr auf dem Hof. An dem Grundstück festzuhalten, damit die beiden noch länger bleiben, ist nur eine Lüge. Wenn du meinen Rat willst, tu dir einen Gefallen und verkauf. Sieh nach vorne.«

Sie mustert aufmerksam das Gesicht des Mädchens, kann jedoch keine Spuren von Gewalt entdecken. Dann lässt sie den Blick über den Boden um sie herum schweifen. Nichts, nicht einmal ein Insekt.

»Habt ihr Rasierklingen gefunden oder etwas anderes, mit dem sie sich umgebracht hat?«

Bernard sieht langsam ungehalten aus. »Hier gibt es nichts mehr zu tun. Außer dem Papierkram und dass wir die Familie benachrichtigen müssen. Oder willst du persönlich ins Wasser gehen und nach Rasierklingen suchen?«

Einer der Polizeitaucher nähert sich, bleibt stehen und weiß offensichtlich nicht, an wen er sich wenden soll.

»Was gibt es?«, fragt Sanna.

»Ich wollte nur sagen, dass wir das so gelassen haben.« Er deutet auf die Haare des Mädchens.

In den dichten roten Wellen ist ein fester Strick zu sehen. Er ist dick, aus Baumwolle und um etwas gewickelt, das wie ein schwarzes Gummiband aussieht. Auch wenn es nur etwa einen halben Meter lang ist, hat es sich in den Haaren im Nacken verfangen.

»Ich meine nur, dass so etwas wie Algen und Müll, was sich an den Leichen im Wasser verfängt, von allein abfällt, wenn wir sie rausholen«, erklärt er. »Aber das hier sitzt fest. Und nachdem ja keine Spurensicherung da ist …«

»Darüber müsst ihr euch keine Gedanken machen«, sagt Bernard.

»Habt ihr etwas im Wasser gesehen, von dem der Strick stammen könnte?«, fragt Sanna.

»Nein«, antwortet der Mann. »Aber in dem See treibt alles Mögliche herum. Es lässt sich nicht sagen, woher die Schnur stammen könnte.«

»Danke«, erwidert Sanna. »Ist der Leichenwagen auf dem Weg?«

»Ja.«

»Eine Obduktion ist doch nur Zeit- und Ressourcenverschwendung«, murmelt Bernard, als der Taucher davoneilt.

»Du weißt, dass sie in solchen Fällen immer durchgeführt wird.«

Er sieht zur Hüfte des Mädchens. Über dem Jeanssaum hat jemand eine Zahl auf die Haut geschrieben: 26. Die blaue Farbe ist verblichen, als ob sie schon lange auf der Haut war. Oder als ob jemand versucht hätte, sie abzuwaschen.

»Sagt dir das was?«, fragt Sanna.

Er schüttelt den Kopf. »Aber es sieht aus, als ob das von einem Edding stammt. Meine Enkelkinder malen sich damit an, sobald sie so einen Stift in die Finger bekommen. Und wenn man Pech hat, kriegt man die Farbe ewig nicht mehr runter. Sie hält sogar eine Wäsche bei fünfundneunzig Grad aus. So etwas hat sie wahrscheinlich auch gemacht.«

Sanna dreht noch einmal die Hände des Mädchens um. »Sie hat das nicht selbst getan.«

»Doch, das hat sie«, beharrt er müde. »Sie hat sich die Handgelenke aufgeschlitzt. Das siehst du doch. Und jetzt hör auf.«

»Nicht das. Ich meinte die Zahl. Die hat sie sich nicht selbst auf den Leib geschrieben.«

Sie stellt sich ans andere Ende der Bahre. Bernard folgt ihr.

»Jemand anders hat das aufgemalt, jemand, der vor ihr stand.«

»Okay, okay …«, erwidert Bernard. »Dann war es eben ihr Freund oder irgendeine Freundin. Trotzdem ist das ganz eindeutig Selbstmord.«

»Also, sind wir hier fertig?«, drängt er, als Sanna nicht antwortet.

»Wurde Eken informiert?«

»Ja.« Bernard lächelt hinterhältig. »Er hat sich total gefreut, dass ich ihn wegen eines Teenagerselbstmordes aufgeweckt habe.«

»Du weißt, dass wir ihn anrufen sollen.«

»Es ist seine letzte Ferienwoche, und er ist Tausende Kilometer weit weg.«

»Ich glaube, dort gibt es auch Telefone.«

»In ein paar Tagen ist er doch wieder da. Im Moment kann er ja sowieso nichts machen.«

Sanna schweigt. Ernst »Eken« Eriksson ist ihr Vorgesetzter. Geliebt. Gefürchtet. Respektiert. Vor einem Jahr war er an Arthrose erkrankt und kam nach einiger Zeit zurück in die Arbeit, doch manche Bewegungen fallen ihm immer noch schwer. Der Urlaub im Warmen, um die Beschwerden zu lindern, ist seine erste richtige Auszeit seit über zehn Jahren. Eigentlich sollen sie während seiner Abwesenheit jemanden vom Festland hinzuziehen, doch das macht niemand.

»Okay«, sagt Bernard und lächelt müde. »Was meinst du – sollen wir den Rest erledigen, damit wir dann noch etwas von unserem Sonntag haben?«

Er bietet keinen schönen Anblick, denkt Sanna. Milchige Augen, schlaffe Wangen. Er will nur von hier weg. So war es schon die ganzen letzten Jahre, er hat sein Feuer verloren und das Interesse an seinem Beruf.

Ein Fischadler erhebt sich von einem großen, länglichen Gegenstand auf einem hohen Holzpfahl auf der anderen Seite des Kalksteinbruchs.

»Das da drüben ist eine Überwachungskamera.«

Bernard kneift die Augen zusammen.

»Hat schon jemand den Code aufgeschrieben?«, fragt Sanna. »Überprüft, wo das Videomaterial gespeichert wird?«

»Was? Die ist wahrscheinlich von der Badesaison im Sommer übrig und jetzt nicht eingeschaltet.«

»Falls doch, kann sie uns aber genau zeigen, was passiert ist.«

»Aber was zum … Das meinst du nicht ernst, oder?«

»Ach ja, habt ihr einen Abschiedsbrief oder irgendwas in die Richtung gefunden? Wenn sie sich das Leben genommen hat, hat sie vielleicht etwas zurückgelassen, was man finden soll?«

»Nichts.«

»Auch kein Handy?«

Bernard seufzt und schüttelt den Kopf.

»Hast du oder jemand anders ihren Facebook-Account überprüft? Instagram? Irgendeine andere Plattform?«

»Wir haben uns die Social-Media-Profile angesehen, als die Mutter sie als vermisst gemeldet hat. Keine neuen Posts seit ein paar Tagen, keine Hinweise. Und auch fast keine Freunde. Traurig.«

Sanna überlegt. »Ist jemand aus der Familie im Strafregister aufgeführt? Habt ihr das gecheckt?«

Bernard seufzt wieder und klingt noch verärgerter. Dann drückt er ihr seinen Notizblock gegen die Brust, krempelt die Ärmel hoch und marschiert auf den Pfahl zu, auf dem die Kamera montiert ist. Dort angekommen mustert er die rostige Eisenleiter, die daran angebracht ist, bevor er sie packt und nach oben klettert.

»Also, ich habe ein Foto des Codes gemacht. Himmel, es wird so schön sein, wenn ich dich los bin«, sagt er mit einem schiefen Grinsen, als er zurückkommt.

»Entschuldigung?«

Beide drehen sich um. Eine Frau in den Dreißigern mit rissigen Lippen steht leicht gebeugt und fragend vor ihnen.

»Sanna Berling?« Sie streckt die Hand aus. »Eir Pedersen. Deine neue Partnerin.«

Bernards Nachfolgerin, wenn er in Rente geht. Sie sieht anders aus, als Sanna erwartet hätte. Sie hatte mit einer geschliffenen, tadellos gepflegten Bürokratin gerechnet. Eir hat eher das wettergegerbte Aussehen eines Menschen, der unter der Brücke auf einem zusammengefalteten Pappkarton schläft. Sie tritt aufgekratzt von einem Fuß auf den anderen und wirkt fast schon übermütig.

Sie mustert die Umgebung, während der Leichenwagen die Türen schließt und Mia Askar abtransportiert. Bernard folgt ihm in seinem Auto. Sanna überlegt, ob sie Eir fragen soll, warum sie heute schon auftaucht, wenn sie die neue Stelle doch eigentlich erst morgen antritt. Doch sie hat keine Lust, sich zu unterhalten. Bei einem Telefonat vor ein paar Wochen hatte Eir ruhig geklungen, doch jetzt wirkt sie alles andere als beherrscht. Sie geht hektisch umher, die abgestoßenen Schuhe sind nicht richtig zugeschnürt, und es sieht aus, als wäre Salzwasser oder etwas anderes darauf getrocknet.

Ihr Vorgesetzter auf dem Festland hatte zwar gesagt, dass Eir »nie mal runterfährt«, doch dass sie eigentlich eine Zwangsjacke bräuchte, hatte er nicht erwähnt. Stattdessen hatte er betont, dass ihr Vater ein bekannter Jurist und Diplomat ist. Vermutlich, um den Schock abzumildern, wenn man ihr das erste Mal begegnete und sie nicht dem Bild eines wohlerzogenen Mädchens in einem Arbeitszimmer mit teuren, dunklen Mahagonimöbeln und schweren Samtgardinen entsprach.

»Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich hergekommen bin«, sagt Eir. »Ich war erst auf dem Revier, und dort hat man gesagt, dass du hier bist. Man hat mir einen Wagen gegeben, und da dachte ich, was soll’s!«

»Bist du nicht gestern erst hergezogen?«

»Und?«

»Ist es nicht ein wenig seltsam, seinen neuen Job an einem Sonntag anzutreten und nicht bis zum nächsten Tag zu warten?«

Eir gibt keine Antwort.

»Bekommst du nicht erst eine Einweisung auf dem Revier?«, fragt Sanna.

»Das erledige ich morgen früh. Hm, keine Spurensicherung vor Ort«, bemerkt Eir. »Selbstmord?«

»Vermutlich.«

»Auf dem Revier hat man mir gesagt, es handele sich um ein junges Mädchen.«

Sanna nickt.

»Soll ich mich um irgendetwas kümmern?«

»Das können wir morgen machen.«

»Aber ich würde verflixt gerne jetzt etwas tun. Ich kann’s irgendwie kaum erwarten.« Eir scharrt mit dem Fuß. Sanna ignoriert sie.

»Ansonsten könntest du mir ja vielleicht Zugang zu deinen Unterlagen verschaffen, damit ich mich in deine anderen offenen Fälle einarbeiten kann?«, fährt Eir fort.

Sanna seufzt, genervt von der seltsamen, übereifrigen und verwirrenden Gestalt, die neben ihr Richtung Auto hereilt.

»Was denn?«, meint Eir mit herausforderndem Grinsen. »Hast du Angst, dass ich deine Arbeit besser als du erledige, oder was?«

»Nein. Aber ich habe gerade keine Zeit, für deine Unterhaltung zu sorgen.«

»Wie bitte?«

»Als man mir sagte, dass du Bernards Nachfolgerin wirst, habe ich dich überprüft. Wohlhabendes Elternhaus. Internat. Gelangweilt und aufmüpfig. Polizeiakademie. Gelangweilt und kaum irgendwo einzusetzen, trotz hervorragender Ergebnisse. Nationale operative Abteilung. Gelangweilt und nicht teamfähig.«

Nun seufzt Eir genervt. »Komm schon«, sagt sie. »Gehen wir einen Kaffee trinken und lernen uns ein wenig besser kennen.«

»Bis morgen.«

»Blöde Kuh«, knurrt Eir leise, als Sanna weiter zum Auto eilt.

»Was war das?« Sanna dreht sich um.

»Nichts.«

Während Sanna den Wagen aufsperrt, wiederholt sie im Kopf das Lob, mit dem Eirs Vorgesetzter sie angekündigt hat. Ignorier die Bemerkung, denkt sie.

»Ich frage mich nur, warum du ausgerechnet mich ausgewählt hast«, ruft Eir und eilt ihr nach. »Wenn du das alles schon über mich wusstest.«

»Das habe ich nicht.«

»Hm?«

»Ich habe dich nicht ausgewählt.«

»Ach so?«

»Nein. Es gab niemand anderen.«

Eir lacht.

»Was ist daran so lustig?«

»Weil ich mich hier überhaupt nicht beworben habe. Mein Chef ist dafür verantwortlich und hat auf eigene Faust meine Bewerbung hergeschickt. Na, das Arschloch hat mich sowieso nie leiden können.« Im selben Moment bereut sie ihre Worte.

Sanna verzieht die Lippen zu einem zufriedenen Lächeln. »Ach wirklich? Ich kann mir gar nicht vorstellen, wieso.«

Eir klopft mit der Handfläche gegen ihren Schenkel. »Mir ist da etwas eingefallen«, sagt sie, ohne auf Sannas Bemerkung einzugehen.

»Und was?«

»Also, wenn es ein Selbstmord war, wie ist das Mädchen dann hierhergekommen? Ich sehe kein Fahrrad oder irgendwas anderes, und bis zur Hauptstraße ist es verdammt weit.«

Sanna nickt. Der Wald, der den Kalksteinbruch umgibt, wirkt plötzlich dunkel und bedrohlich. Vor allem ist er dicht und schwer zugänglich. Nur ein Weg führt hindurch, und zu Fuß wäre man da eine ganze Weile unterwegs. Sie holt ihr Handy aus der Tasche.

»Ja, ich bin’s«, sagt sie, als Bernard sich meldet. »Es tut mir leid, aber du musst leider wieder herkommen. Wir müssen die Umgebung ordentlich absuchen. Das Mädchen muss ja irgendwie in den Steinbruch gekommen sein. Jon soll noch mal kommen oder wen du sonst erwischst. Und ruf mich danach an.«

Sanna legt auf und sieht zu Eir, deren Wangen rot von der Kälte sind.

»Komm mit.«

»Wohin geht’s?«, fragt Eir überrascht und lächelt.

»Ich wollte das eigentlich selbst erledigen. Aber jetzt fahr mir mit deinem Auto hinterher.«

Es ist, als ob jemand Lara Askar in den Kopf schießt. Als ob ihr Körper in dem sauberen Flur einfach zerspringt, während Sanna und Eir sie bitten, mitzukommen und ihre Tochter zu identifizieren. Die Frau ist hochgewachsen und hübsch, mit denselben feuerroten welligen Haaren und stechend blauen Augen wie ihre Tochter. Doch die Nachricht lässt sie geradezu verblassen. Sie bricht auf dem Boden zusammen, und die beiden Polizistinnen bringen kein Wort mehr aus ihr heraus, bis die Sanitäter kommen. Als sie ihr in den Krankenwagen helfen, flüstert sie: »Nein, nicht die beiden.«