Das Buch
Ein Flüstern streicht über die nebeligen Fjorde des Landes Vigriðs. Ein Flüstern, das von der Wiederkehr der Götter erzählt, welche sich einst im Kampf gegeneinander selbst vernichtet haben. Und dennoch haben die Götter ihre Spuren in der Welt der Sterblichen hinterlassen: Finstere Wesen streifen durch die Wälder und Berge und bedrohen die Sterblichen. Drei Menschen erleben ein Abenteuer, so düster wie das erlöschende Nordlicht: Eine Jägerin auf der Suche nach ihrem entführten Sohn. Die Tochter eines Jarls, die nichts mehr liebt als den Kampf. Und ein Sklave, der die gefürchtetsten Krieger Vigriðs besiegen will: die Blutgeschworenen. Ihre Entscheidungen werden ihre Welt neu schmieden, doch zuvor erheben sich die toten Götter erneut …
Der Autor
John Gwynne studierte an der Brighton University, wo er später auch unterrichtete. Er spielte Kontrabass in einer Rock’n’Roll-Band, bereiste die USA und lebte in Kanada. Heute ist er verheiratet, hat vier Kinder und führt in England ein kleines Unternehmen, das alte Möbel restauriert. Nach seiner preisgekrönten Saga »Die Getreuen und die Gefallenen« und der daran angelehnten Reihe »Blut und Knochen« beginnt mit »Nordnacht« Gwynnes nächste große Fantasy-Serie: die »Saga der Blutgeschworenen«.
Von John Gwynne bereits erschienen
Macht. Die Getreuen und die Gefallenen 1
Bosheit. Die Getreuen und die Gefallenen 2
Jähzorn. Die Getreuen und die Gefallenen 3
Ungnade. Die Getreuen und die Gefallenen 4
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JOHN GWYNNE
Nordnacht
Die Saga der Blutgeschworenen
Band 1
Deutsch von Wolfgang Thon
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel
»The Shadow of the Gods (The Bloodsworn Saga 1)«
bei Orbit, an imprint of Little, Brown Book Group London.
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Copyright der Originalausgabe © 2021 by John Gwynne
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Blanvalet
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Waltraut Horbas
Umschlaggestaltung: Anke Koopmann | Designomicon
Umschlagmotiv: Shutterstock.com (Duda Vasilii; shimonfoto; KHIUS)
Karte: Tim Paul Illustration
BL · Herstellung: sam
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-27358-3
V002
www.blanvalet.de
Da fliegt die schattendüstere Drachengöttin,
Die strahlende Schlange, Ausgeburt der Dunkelmond-Hügel;
Sie fliegt über die Ebene, und in ihren Krallen
Baumeln Leichen.
DIE VÖLUSPÁ
ORKA
Im Jahr 297 von Friðaröld, Zeitalter des Friedens
»Der Tod ist ein Teil des Lebens«, flüsterte Orka ihrem Sohn ins Ohr.
Obwohl Breca mit dem Eschenspeer in seiner kleinen verkrampften Faust weit ausholte und auf das Rentier vor ihnen zielte, sah sie das Zögern in seinen Augen, bemerkte es an seinem verbissenen Kiefer.
Er ist zu weich für diese Welt des Schmerzes, dachte Orka. Sie wollte ihn schelten, doch eine Hand legte sich auf ihren Arm. Neben Brecas kleiner Faust war sie riesig und rau, im Gegensatz zu der weichen Haut des Jungen.
»Warte.« Thorkel stieß eine Atemwolke durch seinen geflochtenen Bart. Er stand neben ihr, groß und fest wie ein Fels.
Orkas Wangenmuskeln arbeiteten, und ihr lag eine harte Zurechtweisung auf der Zunge.
In dieser brutalen Welt braucht es deutliche Worte.
Aber sie blieb stumm.
Die Frühlingssonne sandte helle Tupfer durch die sanft schwankenden Zweige in Richtung Boden und funkelte auf vereisten Schneeflecken; der letzte Raureifkuss des Winters in diesem waldigen Bergland in eisiger Höhe. Ein Dutzend Rentiere äste auf einer Lichtung. Die Herde aus Kühen und Kälbern wurde von einem Bullen mit einem gewaltigen Geweih bewacht, während sie in Ruhe fraßen und Moos und Flechten von Bäumen und Felsbrocken kratzten.
Brecas Blick veränderte sich plötzlich, er holte tief Luft und hielt den Atem an, bevor er förmlich explodierte. Er drehte die Hüfte, und sein Arm schoss nach vorn. Das scharfe Eisen des Speers teilte zischend die Luft, und Stolz erfüllte Orkas Brust. Es war ein guter Wurf; schon in dem Augenblick, als sich Brecas Hand vom Speer löste, wusste sie, dass er sein Ziel treffen würde.
Doch im selben Herzschlag blickte das Rentier, auf das Breca seinen Speer schleuderte, von dem Stamm auf, an dem es Flechten gekaut hatte. Seine Ohren zuckten, und mit einem Satz sprang es vorwärts. Der Rest der Herde reagierte sofort. Die Tiere setzten über Baumstämme hinweg und flüchteten tiefer in den Wald. Brecas Speer schlug in den Baumstamm und blieb mit zitterndem Schaft stecken. Einen Moment später hörte man das Krachen von Zweigen aus östlicher Richtung, und eine Gestalt brach durch das Unterholz. Ein riesiges Tier mit schieferfarbenem Fell und langen Krallen stürmte auf die Lichtung. Die Rentiere flohen in alle Richtungen, als das Raubtier zwischen sie sprang, ohne jedoch auch nur auf sie zu achten. Blut quoll aus einer Reihe von Wunden, Geifer schimmerte auf den langen Zähnen, und seine rote Zunge hing ihm aus dem Maul. Im nächsten Moment war es im dämmrigen Wald verschwunden.
»Was … Was war das?« Brecas fragender Blick wanderte zwischen Vater und Mutter hin und her.
»Ein Woelven.« Thorkel lief los, denn an Verstohlenheit war jetzt nicht mehr zu denken. Er drängte sich durch die Zweige des Dickichts auf die Lichtung, den schweren Speer in der Faust. Orka und Breca folgten ihm. Thorkel ging auf ein Knie, zog mit den Zähnen einen Handschuh aus, tauchte die Finger in das Blut des Wolfs und fuhr damit über seine Zungenspitze. Er spuckte aus, richtete sich auf und folgte der Blutspur zum Rand der Lichtung. Dort blieb er stehen und spähte in die Dunkelheit.
Breca ging zu seinem Speer, dessen Blatt bis zur Hälfte in den Stamm einer Kiefer eingedrungen war, und versuchte ihn herauszuziehen. Doch so sehr er sich auch anstrengte, die Waffe rührte sich nicht. Er blickte Orka an. Seine graugrünen Augen leuchteten in dem blassen schmutzigen Gesicht mit der geraden Nase und dem kräftigen Kinn, umrahmt von rabenschwarzem Haar. Er ähnelte so sehr seinem Vater und war so anders als sie – bis auf die Augen. Er hatte Orkas Augen.
»Ich hab ihn verfehlt.«
Orka packte den Schaft mit ihrer behandschuhten Rechten und zog den Speer heraus.
»Ja.« Sie gab Breca seinen Speer, der einen halben Arm kürzer war als ihrer und der von Thorkel.
»Das war nicht deine Schuld.« Thorkel stand immer noch am Rand der Lichtung und starrte in die Dämmerung. Ein dicker Zopf seines schwarzen, von grauen Strähnen durchzogenen Haares hing unter der Wollmütze heraus.
»Der Woelven hat sie erschreckt.«
»Warum hat er kein Rentier gerissen?«, fragte Breca, während er seinen Kurzspeer von Orka zurücknahm.
Thorkel hob die Hand und zeigte seine blutigen Fingerspitzen. »Er war verwundet und dachte nicht an sein Abendessen.«
»Wer kann einem Woelven so etwas antun?«, erkundigte sich Breca.
Die beiden Erwachsenen schwiegen.
Orka ging zum anderen Ende der Lichtung, den Speer stoßbereit, während sie das dunkle Loch in dem Dickicht untersuchte, aus dem der Wolf aufgetaucht war. Sie hielt inne und legte den Kopf schief. Ein schwaches Geräusch waberte wie Nebel durch den Wald.
Schreie.
Breca ging zu ihr, den Speer mit beiden Händen gepackt und in die Dunkelheit gerichtet.
»Thorkel«, sagte Orka gepresst und blickte über die Schulter zu ihrem Mann. Der starrte immer noch in die Richtung, in die der verletzte Wolf verschwunden war. Mit einem letzten Blick schüttelte er seine pelzbedeckten Schultern, drehte sich um und ging zu ihr.
Weitere Schreie ertönten, schwach und weit entfernt.
Orka und Thorkel wechselten einen vielsagenden Blick.
»Asgrims Gehöft liegt in dieser Richtung«, sagte sie.
»Harek.« Breca meinte Asgrims Sohn. Sie hatten zusammen am Strand von Fellur gespielt, wenn Orka und Thorkel die Siedlung besucht hatten, um Vorräte einzutauschen.
Wieder drang ein schwacher Schrei zwischen den Bäumen hindurch.
»Wir sollten nachsehen«, murmelte Thorkel. Orka brummte zustimmend.
Ihre Atemwolken umhüllten sie, als sie durch den Kiefernwald gingen. Der Boden war dicht mit Nadeln bedeckt. Es war Frühling, und in der Welt unten gab es die ersten Anzeichen neuen Lebens. Aber der Winter klammerte sich an die bewaldeten Hügel wie ein störrischer alter Krieger, der seine Vergangenheit nicht loslassen wollte. Sie gingen hintereinander, Orka an der Spitze. Ihr Blick glitt stetig von dem Wolfspfad, dem sie folgten, zu den tiefen Schatten um sie herum. Alter, vereister Schnee knirschte unter ihren Füßen, als der Wald sich lichtete und sie auf einen Kamm traten. Nach Westen fielen scharf steile Klippen ab, und Wolkenfetzen trieben am freien Himmel unter ihnen. Orka blickte hinunter. Dünne Rauchsäulen der Herdfeuer erhoben sich tief unten von Fellur. Das Fischerdorf lag am östlichen Rand eines tiefen blauschwarzen Fjords, dessen ruhiges Wasser in der blassen Frühlingssonne schimmerte. Möwen kreisten kreischend darüber.
»Orka«, sagte Thorkel. Sie blieb stehen und drehte sich um.
Thorkel entkorkte einen Wasserschlauch und gab ihn Breca, der trotz der Kälte rot im Gesicht war und schwitzte.
»Seine Beine sind nicht so lang wie deine.« Thorkel lächelte in seinen Bart. Die Narbe auf seiner Wange, die bis zum Kiefer reichte, verzerrte seinen Mund.
Orka blickte den Pfad zurück, dem sie folgten, und lauschte. Sie hatte jetzt schon eine Weile keine Schreie mehr gehört, also nickte sie Thorkel zu und griff nach ihrer eigenen Wasserflasche.
Sie setzten sich kurz auf einen Felsen und blickten über das grünblaue Land, wie Götter, die auf dem Scheitelpunkt der Welt saßen. Im Süden mündete der Fjord von Fellur ins Meer. Dort erstreckte sich eine zerklüftete Küstenlinie nach Westen und nach Süden, durchsetzt und vernarbt von tiefen Fjorden und Meeresarmen. Eisengraue Wolken ballten sich über dem Meer zusammen und verhießen Schnee. Weit im Norden zog sich eine bewaldete, schneebedeckte Bergkette über das Land. Sie erstreckte sich über den ganzen Horizont von Osten nach Westen. Ab und zu schimmerten blanke Felswände, die uralten Wurzeln der Berge. Aus dieser Entfernung waren sie nur graue Flecken.
»Erzähl mir noch mal von der Schlange Snaka«, bat Breca, als sie alle auf die Berge blickten.
Orka sagte nichts, sondern hielt ihren Blick auf die welligen Gipfel gerichtet.
»Würde ich dir jetzt diese Sagengeschichte erzählen, kleiner Mann, würden dir Nase und Finger erfrieren. Und wenn du aufstehst, um weiterzugehen, würden deine Zehen wie Eis abbrechen«, erwiderte Thorkel.
Breca sah ihn mit seinen graugrünen Augen nur an.
»Ach, du weißt genau, dass ich diesem Blick nichts abschlagen kann!« Thorkel stieß eine mächtige Atemwolke aus. »Also gut, dann die kurze Geschichte.« Er zog die nadelgebundene Wollmütze herunter und kratzte sich am Kopf. »Alles, was du vor dir siehst, ist Vigrið, die Ebene der Schlacht. Das Land der zerstörten Reiche. Auf jedem Flecken dieses Landes, zwischen Meer und Bergen und noch hundert Wegstunden dahinter, haben die Götter gekämpft und sind gefallen. Snaka war der Vater von allen; einige sagen, er war der Größte unter ihnen.«
»Er war ganz sicher der Größte.« Brecas Stimme und seine großen Augen waren ernst.
»Erzähle ich die Geschichte oder du?« Thorkel hob eine dunkle Braue.
»Du, Vater.« Breca senkte den Kopf.
Thorkel brummte. »Natürlich war Snaka der Größte. Er war der Älteste und der Vater der Götter. Sie nannten ihn Ältester, und er war ungeheuer groß. Das wärst du auch, wenn du dich jeden Tag, seit die Erde geboren wurde, sattgefressen hättest. Aber seine Kinder waren auch nicht zu verachten. Der Adler, der Bär, der Wolf, der Drache, und noch eine ganze Heerschar anderer. Familie kämpfte gegen Familie, bis Snaka von seinen Kindern getötet wurde und fiel. Sein Todessturz zerschmetterte die Welt, zertrümmerte ganze Reiche, schleuderte sie hoch in den Himmel, und das Meer strömte herein. Diese Berge sind alles, was von ihm übrig ist. Seine Knochen sind jetzt von der Erde bedeckt, die er aufgewühlt hat.«
Breca pfiff durch die Zähne. »Das muss ein Anblick gewesen sein!«
»Ja, Junge, das muss es wohl. Wenn Götter in den Krieg ziehen, ist das keine Kleinigkeit. Die Welt wurde durch ihren Untergang zerstört.«
»So ist es«, warf Orka ein. »Und durch Snakas Sturz wurde die Vaesen-Grube geöffnet, und die Kreaturen mit Reißzähnen und Klauen und dunkler Macht, die in der Unterwelt hausten, wurden in unser Land des Himmels und des Meeres gelassen.« Von ihrem Standort aus sah die Welt rein und unverdorben aus, ein wunderschöner wilder Teppich, der sich in Gold, Grün und in Blautönen über die Landschaft erstreckte.
Aber Orka wusste, dass die Wahrheit eine blutgetränkte Saga war.
Sie sah nach rechts und bemerkte auf dem Boden die Blutstropfen von dem verletzten Woelven. In ihrem Geist sah sie, wie die Tropfen sich vergrößerten, zu Pfützen wurden, während immer mehr Blut spritzte und geisterhafte Körper fielen, zerhackt und zerschmettert, Stimmen kreischten …
Es ist eine Welt aus Blut. Aus Zähnen und Klauen und scharfem Eisen. Ein kurzes Leben und ein qualvoller Tod.
Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Thorkel berührte sie über Brecas Kopf hinweg. Sie holte scharf Luft, blinzelte und atmete dann bebend aus, verdrängte die Bilder.
»Das war ein guter Wurf«, sagte Thorkel und tippte mit seiner Wasserflasche gegen Brecas Speer, obwohl er Orka ansah.
»Aber ich habe ihn verfehlt«, murmelte Breca.
»Mein erster Wurf bei meiner ersten Jagd ging auch daneben«, antwortete Thorkel. »Und ich war elf Sommer, wohingegen du erst zehn bist. Und dein Wurf war besser als meiner. Der Woelven hat dir deine Beute geraubt, stimmt’s, Orka?« Er fuhr Breca mit seiner großen Hand durch das Haar.
»Es war ein guter Wurf.« Orka betrachtete die Wolken im Westen, die nähergekommen waren. Ein Westwind blies sie vor sich her, und sie schmeckte den Schnee in der Brise. Es war eine scharfe Kälte, die wie Frost in ihrer Brust knisterte. Sie schob den Korken in ihre Wasserflasche, stand auf und ging weiter.
»Erzähl mir mehr von Snaka!«, rief Breca ihr nach.
Orka blieb stehen. »Hast du deinen Freund Harek so schnell vergessen?«, fragte sie missbilligend.
Breca senkte den Blick, stand auf und folgte ihr.
Orka führte sie weiter, zurück in den Kiefernwald, wo die Geräusche so unheimlich gedämpft wurden. Die Welt um sie herum schien zu schrumpfen, die Schatten bewegten sich, und sie stiegen weiter in die Hügel hinauf. Als sie höher kamen, wurde die Welt um sie herum grau. Wolken verschleierten die Sonne, und ein kalter Wind zischte durch die Zweige der Bäume.
Orka benutzte ihren Speer als Stab, als der Untergrund steiler wurde und sie feuchte Steine hochklettern musste, die wie Stufen neben einem schäumenden Bach emporführten. Eisiges Wasser spritzte hoch, tränkte ihre Wadenbinden und drang in ihre Stiefel. Eine Strähne ihres blonden Haars löste sich aus ihrem Zopf, und sie schob sie sich hinter das Ohr. Sie verlangsamte das Tempo, als sie an Brecas kürzere Beine dachte, obwohl ihr Blut kribbelte und ihre Muskeln summten. Wie immer, wenn sie Gefahr witterte.
»Wappne dich«, sagte Thorkel hinter ihr. Und dann roch Orka es auch.
Der metallische Geruch von Blut, der stechende Gestank von entleerten Gedärmen.
Der Ruch des Todes.
Das Gelände befand sich auf einem ebenen Plateau, das von Bäumen gerodet worden war. Ein großes Blockhaus mit einem Grasdach tauchte vor ihnen auf, neben einer Handvoll von Außengebäuden. Sie schmiegten sich an eine Felswand. Ein Palisadenzaun umgab das Blockhaus und die Außengebäude. Die Palisaden waren größer als Orka.
Asgrims Gehöft.
Auf der östlichen Seite des Anwesens schlängelte sich ein Pfad den Hügel hinab, bis hinunter zur Siedlung Fellur und dem Fjord.
Orka machte ein paar Schritte und blieb dann stehen, den Speer gesenkt, als Breca und Thorkel das Plateau erreichten.
Die breiten Tore des Palisadenzaunes waren aufgestoßen worden, und ein Körper lag dazwischen auf dem Boden, die Gliedmaßen verdreht und unnatürlich regungslos. Ein Torflügel knarrte im Wind. Orka hörte, wie Breca zischend ausatmete.
Orka erkannte an den breiten Schultern und dem stahlgrauen Haar, dass es sich um Asgrim handelte.
Eine Schneeflocke senkte sich auf Orkas Wange, wie ein prickelnder Kuss.
»Breca, bleib hinter mir«, befahl sie, als sie langsam weiterging. Krähen flatterten von Asgrims Leichnam hoch und flogen kreischend davon. Sie setzten sich auf die Wipfel der Bäume, und eine bezog Posten auf einem Torpfeiler und beobachtete sie.
Es schneite jetzt stärker, und der Wind trieb die Flocken über das Plateau.
Orka blickte auf Asgrim hinunter. Er trug eine Wolltunika, eine Hose und einen guten Fellmantel. Ein Reif aus dunklem Silber umspannte seinen Oberarm. Sein Haar war grau, er war schlank und muskulös, was man durch die zerrissene Tunika sah. Einer seiner Stiefel war ihm vom Fuß gefallen. Neben ihm lagen ein zerbrochener Speer und eine blutige Faustaxt. Er hatte ein Loch in der Brust, und das Blut hatte die wollene Tunika dunkel gefärbt.
Orka kniete sich hin, nahm die Axt, drückte sie Asgrim in die Hand und bog die bereits steif werdenden Finger darum.
»Reise mit einer Klinge in der Faust über die Seelenstraße«, flüsterte sie.
Breca hinter ihr atmete schwer. Das war der erste tote Mensch, den er sah. Tote Tiere hatte er schon oft gesehen. Er hatte bereits mehrfach beim Schlachten geholfen, für ihr Abendessen, kannte das Ausnehmen und Häuten, das Tränken von Sehnen zum Nähen und Binden, das Gerben des Leders für die Stiefel, für ihre Gürtel und die Scheiden ihrer Scramasaxe. Aber einen toten Menschen zu sehen, brutal aus dem Leben gerissen, war etwas völlig anderes.
Jedenfalls beim ersten Mal.
Zudem hatte Breca diesen Mann gekannt. Er hatte den Lebensfunken in ihm gesehen.
Orka ließ ihrem Sohn einen Moment Zeit, als er mit großen Augen dastand und die Leiche anstarrte. Er atmete schnell und unregelmäßig.
Der Boden um Asgrim war aufgewühlt und das Gras platt getreten. Undeutliche Stiefelabdrücke. Ein paar Schritte entfernt hatte Blut das Gras getränkt. Spuren auf dem Boden führten von der Stelle fort, als hätte sich jemand weggeschleppt.
Also hat Asgrim jemanden niedergestreckt.
»War er das, der geschrien hat?« Breca starrte immer noch Asgrims Leiche an.
»Nein.« Orka betrachtete die Wunde in Asgrims Brust. Es war ein Stich ins Herz, also war der Tod schnell eingetreten. Und das war auch gut so, denn seine Leiche war bereits von Aasvögeln angefressen worden. Die Krähen hatten seine Augen und Lippen in blutig klaffende Wunden verwandelt. Orka berührte Asgrims Gesicht und öffnete den Kiefer, um in seinen Mund zu sehen. Sie sah nur das Zahnfleisch und blutige Löcher und runzelte finster die Stirn.
»Wo sind seine Zähne?«, flüsterte Breca.
»Das müssen Tennúr gewesen sein«, gab Orka zurück. »Sie lieben die Zähne von Menschen mehr, als ein Eichhörnchen Nüsse liebt.« Sie sah sich um und suchte die Baumgrenze und die schroffen Klippen nach einem Anzeichen von den kleinen zweibeinigen Kreaturen ab. Einzeln waren sie lästig, im Rudel jedoch konnten sie mit ihren spitzen Fingern und rasiermesserscharfen Zähnen tödlich sein.
Thorkel ging um Orka herum und trat vorsichtig durch das Tor in die Umfriedung. Er schwenkte den Speer in einem weiten Bogen, während er sich suchend umsah. Dann blieb er stehen und blickte zu dem knarrenden Tor hoch.
Orka trat über Asgrim hinweg und folgte Thorkel in das Gehöft.
Eine Leiche war an das Tor genagelt, mit weit gespreizten Armen und schlaff herunterhängendem Kopf.
Idrun, Asgrims Ehefrau.
Sie war nicht so schnell gestorben wie ihr Gemahl.
Man hatte ihr den Bauch aufgeschlitzt, und ihre Eingeweide lagen in einem Haufen vor ihr auf dem Boden, verdreht wie Kletterpflanzen an einer alten Eiche. Sie dampften noch, als der Schnee auf die schimmernden Gedärme fiel. Ihr Gesicht war eine Grimasse des Schmerzes.
Sie hat geschrien.
»Wer macht so etwas?«, murmelte Thorkel.
»Vaesen?«, meinte Orka.
Thorkel deutete auf tief eingeritzte, kantige und gerade Runen auf dem Tor. »Eine Schutzrune.«
Orka schüttelte den Kopf. Diese Runen würden alle Vaesen bis auf die Mächtigsten zurückhalten. Sie warf einen Blick zurück auf Asgrim und die Wunde in seiner Brust. Zudem benutzten Vaesen nur selten Waffen, weil die Natur sie bereits mit dem Handwerkszeug für Tod und Gemetzel ausgestattet hatte. Sie sah die dunklen Flecken im Gras, geronnenes Blut.
Und Blut war auch auf Asgrims Faustaxt. Es waren andere hier, verwundet, aber wenn sie gefallen sind, wurden sie von hier weggeschafft.
»Waren das Menschen?«, murmelte Thorkel.
Orka zuckte mit den Schultern und dachte nach.
»Alles Lügen«, murmelte sie schließlich. »Sie nennen das das Zeitalter des Friedens, weil der uralte Krieg vorbei ist und die Götter tot sind, aber wenn das Frieden ist …«
Sie blickte zum Himmel mit seinen dunklen, schweren Wolken hoch. Es schneite jetzt stärker. Dann musterte sie wieder die Leichen. »Das ist das Zeitalter von Sturm und Mord …«
»Wo ist Harek?«, fragte Breca plötzlich.
VARG
Varg drehte im Laufen den Kopf und blickte über die Schulter. Er stolperte, fing sich wieder und rannte dann weiter. Das felsige Ufer wich jetzt schwarzem Sand und Kieseln, als der Fluss breiter wurde und der dichte Wald und die Klippen, die ihn eingeengt hatten, sich lichteten und zurückwichen, je näher er dem Fjord kam. Er konnte bereits den Marktflecken Liga riechen, von dem ihm zahllose Gerüche und Geräusche entgegenwehten.
Wieder warf er einen Blick über die Schulter, aber von seinen Verfolgern war nichts zu sehen. Doch sie waren da, das wusste er und beschleunigte seine Schritte.
Wie lange bin ich gelaufen? Neun Tage, zehn?
Er legte die Hand auf den Lederbeutel an seinem Gürtel, sog die salzige Luft ein und rannte weiter.
Seine Beine brannten, seine Lunge schmerzte, und ständig lief ihm Schweiß in die Augen. Aber er behielt sein Tempo bei, atmete tief und machte lange Schritte.
Ich könnte ewig rennen, wenn da nur genug Boden vor mir wäre. Aber die Klippen haben mich zum Meer gelenkt, und es ist nah. Wohin jetzt? Was soll ich tun?
Panik ergriff ihn.
Sie dürfen mich einfach nicht erwischen.
Er lief weiter, und der Kies knirschte unter seinen zerfetzten Wendeschuhen.
Der Fluss mündete in den Fjord und wurde breiter, wie der Kiefer einer Schlange, die sich anschickte, ihre Beute zu verschlingen. Liga kam in Sicht, ein Marktflecken und Hafen, der am südöstlichen Ufer des Fjords errichtet worden war. Varg kam langsam zum Stehen, stemmte seine Hände auf die Knie und blickte auf die Stadt. Eine dicht gedrängte, stinkende Ansammlung von Gebäuden erstreckte sich über einen weiten Strand mit schwarzem Sand, so hoch, wie die Hänge des Fjords es erlaubten. Eine Palisadenwand umringte die Stadt und schützte die Gebäude und die Menschen, die sich dahinter drängten. Die Stadt erhob sich auf einem Hang, und auf einer kleinen Erhebung stand eine mit Grassoden gedeckte Langhalle mit von Schnitzereien verzierten, gedrehten Säulen. Sie wirkte wie ein Jarl auf dem Hohen Sitz seiner Methalle, von dem aus er seine Leute betrachtet. Eine Rauchwolke von den Herden hing über der Stadt und verbreitete den Gestank von Fett und Öl. Stege und Molen ragten in das blauschwarze Wasser des Fjords hinein, und zahllose Schiffe dümpelten sanft im Hafen. Eines hob sich mit seinem geschwungenen Bug und dem schlanken Rumpf von allen anderen ab, ein Drakkar, ein Drachenschiff, das aussah wie ein Wolf inmitten einer Schafherde. Darum herum drängten sich schlanke Byrdings und zahllose Knarrs, die dicken Bäuche gefüllt mit Handelswaren von Orten, von denen Varg bestimmt noch nie gehört hatte. Er wusste nicht einmal, wie alt er war, aber seit er sich erinnern konnte, hatte er dreißig harte Winter gezählt und ebenso viele erschöpfende Sommer, die er in Ketten auf Kolskeggs Gehöft geschuftet hatte. Es lag nur zwanzig Wegstunden in nordöstlicher Richtung am Fluss, und in all den Jahren hatte sein Herr ihn niemals nach Liga oder auf eine seiner vielen Handelsreisen mitgenommen.
Nicht, dass er unbedingt mitgewollt hätte. Der Gestank widerte ihn an, obwohl bei der Mischung aus Fett und brutzelndem Fleisch sein Magen rumorte. Und der Gedanke, so nahe bei so vielen Menschen zu sein, überstieg sein Fassungsvermögen. Er machte ein paar unsichere Schritte zurück, zu der Flussrinne, durch die er gelaufen war.
Aber ich kann nicht zurück. Sie werden mich fangen. Ich muss weiter. Ich brauche einen Galdurmann oder eine Seiðrhexe.
Er rieb sich den struppigen Kopf, griff in seinen Umhang und zog einen dicken Eisenkragen heraus. Dann suchte er in einer anderen Tasche und fand den Schlüssel, öffnete den Kragen, legte erschauernd das kalte Eisen um seinen Hals und ließ es zuschnappen. Er schloss es ab und schob den Schlüssel dann wieder in seine Tasche. Einen Moment stand er da und verdrehte mit verzerrtem Gesicht den Hals. Bebend holte er Luft, richtete sich auf, klopfte den Schmutz von seiner Tunika und zog die Kapuze seines Mantels über den Kopf. Dann ging er weiter.
Ein breites, mit Schutzrunen versehenes Tor stand weit offen, und zwei Wachen in Kettenhemden waren daneben postiert. Ein Graubart, der auf einem Baumstumpf saß, und eine jüngere Frau, die ihr dunkles Haar zu einem festen Zopf geflochten hatte. Ein Scramasax hing an ihrem Gürtel, und in der Faust hielt sie einen Speer. Sie beäugte Varg, während er näherkam, trat vor und stellte sich ihm in den Weg.
»Was führt dich nach Liga?«, wollte sie wissen.
»Ich suche eine Unterkunft für meinen Herrn«, erwiderte Varg, ohne den Blick zu heben. »Er hat mir befohlen vorauszugehen.« Vage deutete er hinter sich, zum Flusstal.
Die Wächterin betrachtete ihn von Kopf bis Fuß, blickte dann über seine Schulter auf die menschenleere Mündung des Flusses.
»Wie soll ich wissen, ob das stimmt? Wer ist dein Herr? Setz die Kapuze ab!«
Varg dachte über die möglichen Antworten nach, wog ab, wozu das führen könnte, was sie verraten würden. Langsam zog er die Kapuze zurück und zeigte sein stoppeliges Haar, sein mit Schlamm und Schweiß verschmiertes Gesicht. Er öffnete den Mund, um zu antworten, als ein Fuhrwerk hinter ihm vorbeirollte. Es wurde von zwei Ochsen gezogen, und ein reich gekleideter Händler saß auf dem Kutschbock. Eine Handvoll Freigelassener mit Speeren und Prügeln in den Fäusten folgten ihm.
»Lass den Mann durch, Slyda«, brummte der Graubart gleichgültig.
»Mein Herr ist Snepil«, erwiderte Varg. Es war der erste Name, der ihm in den Sinn gekommen war. Snepil würde ihm schwerlich folgen, denn als Varg ihn das letzte Mal gesehen hatte, waren Snepils Augen aus den Höhlen getreten, und er hatte seinen letzten rasselnden Atemzug getan, als Varg das Leben aus ihm herausgewürgt hatte. Varg wusste nicht mehr, wie seine Hände sich um den Hals des Mannes gelegt hatten; er erinnerte sich nur noch daran, dass Snepils Röcheln schließlich den roten Nebel in seinem Kopf durchdrungen hatte.
Die Frau betrachtete ihn noch einmal, dann trat sie zur Seite und winkte ihn durch.
Varg setzte die Kapuze wieder auf und verschwand in Liga wie eine Laus in einem Bart. Die Gerüche und Geräusche schlugen wie eine mächtige Welle über ihm zusammen. Holzhäuser säumten breite, schlammige Straßen, und überall waren Händler. Sie priesen lautstark ihre Waren an, die sie auf aufgebockten Tischen entlang der Straße feilboten. Ballen aus gefärbtem Tuch, Knochennadeln und Kämme, Axtköpfe, Messer, reich verzierte Scheiden aus Leder, Umhangfibeln aus Bronze, Amulette, Holzschalen, Bündel aus Leinen und Wolle, Ballen aus Wolfs- und Bärenhäuten, Rentierhäute, Felle von Baummardern und Füchsen. Varg bestaunte Walrosshauer und Elfenbein. Andere verkauften Trinkhörner für Met und Bier, in blubbernden Kesseln über Feuergruben kochte Kaninchen- und Rindereintopf, in denen Rüben und Karotten schwammen, und die vor Fett glänzten. Geviertelte Scheiben Walfleisch, geräucherter Hering und Kabeljau hingen an Gestellen. Ein Händler verkaufte sogar Körperteile von Vaesen, getrocknetes Blut von Faunir, einen Trollzahn, groß wie eine Faust, eine Schüssel voller Augäpfel von Skraelingen, den Bewohnern Grönlands, und eine Halskette aus dem gewobenen Haar eines Froa-Geistes. Es war endlos und überwältigend.
Sein Magen verkrampfte sich und rief ihm ins Gedächtnis, dass er vor sehr langer Zeit das letzte Mal etwas gegessen hatte. Er wusste nicht genau, wie lange es her war, mindestens aber drei, vielleicht sogar vier Tage. Da hatte er mit viel Glück einen Lachs aus dem Fluss fischen können. Er ging zu einem Händler, der bei einem großen Kessel mit Eintopf stand und mit einem Hackmesser das Beingelenk einer Wildsau teilte. Der Händler hatte einen mächtigen Bauch und einen fusseligen Bart, trug pelzgefütterte Stiefel und eine schöne Tunika aus grüner Wolle. Auch wenn die Brettchenweb-Stickerei am Hals und den Ärmeln ausgewaschen und zerfranst war.
Varg starrte in den Kessel mit dem Eintopf. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, und seine Eingeweide hatten zu schmerzen begonnen.
»Willst du was Warmes in den Bauch?« Der Händler legte das Hackmesser beiseite und nahm eine Schüssel zur Hand.
»Ja, das wäre gut«, erwiderte Varg.
»Ein halbes Bronzestück«, verlangte der Händler und sah dann Varg genauer an. Er stellte die Schale auf den Tisch, schob Vargs Kapuze zurück und betrachtete argwöhnisch sein stoppeliges Haar.
»Verschwinde, du schmutziger Thrall!«, beschimpfte ihn der Händler dann.
»Ich kann zahlen«, antwortete Varg.
Der Händler hob eine Braue. »Ha! Dann lass deine Münzen sehen«, meinte er.
Varg griff in seinen Umhang, zog einen Beutel heraus, öffnete die Lederschnur und angelte nach einer Bronzemünze. Er warf sie auf den Tisch des Händlers. Die Münze rollte ein Stück weit und blieb dann liegen. Das geprägte Profil zeigte einen Frauenkopf mit einer scharfen Nase, das Haar zu einem festen Knoten im Nacken zurückgebunden.
»Eine Helka.« Das Gesicht des bärtigen Händlers zuckte.
»Königin Helka«, wies ihn Varg zurecht. Er hatte sie nie persönlich gesehen, sondern nur von ihr gehört, von ihrer Überheblichkeit, ihrer Überzeugung, dass sie halb Vigrið beherrschen und kontrollieren konnte, und von ihrer Rücksichtslosigkeit ihren Feinden gegenüber.
»Sie nennt sich nur Königin, damit sie uns Steuern abpressen kann«, knurrte der Händler.
»Du willst sie also nicht?« Varg griff nach der Münze.
»Das habe ich nicht gesagt.« Der Händler hielt die Hand auf.
Schneller als der Mann hätte blinzeln können, schnappte sich Varg das Hackmesser, das der Händler auf die Tischplatte gelegt hatte, und hackte die Münze in zwei Stücke. Er hob eine Hälfte auf und ließ die andere Hackbronze auf dem Tisch liegen.
»Wie kommt ein dreckiger Thrall überhaupt an eine Börse mit Helka-Münzen? Und wo ist dein Herr?« Der Händler beäugte ihn misstrauisch.
Varg sah ihn an und streckte dann langsam seine Hand nach der Hackbronze aus.
Der Händler zuckte mit den Schultern, füllte mit einer Kelle den Napf und reichte ihn Varg.
»Und auch etwas von dem Brot da«, verlangte Varg. Der Händler schnitt eine dicke Scheibe von einem Brot mit schwarzer Kruste ab.
Varg tunkte das Brot in den Eintopf und saugte daran. Das Fett lief ihm über das Kinn in den neu gewachsenen Bart. Der Eintopf war wässrig und zu heiß, aber er schmeckte für Varg wie die pure Freude. Er schloss die Augen, tunkte sein Brot ein, saugte und schlürfte, bis von dem Brot nichts mehr übrig war. Dann trank er den Rest des Eintopfs aus dem Napf.
Anschließend stellte er ihn hin und rülpste.
»Ich habe schon etliche hungrige Männer gesehen«, stellte der Händler fest, »aber du …« Er pfiff und grinste schief.
»Gibt es einen Galdurmann oder eine Seiðrhexe in Liga?« Varg wischte sich mit dem Ärmel Soße vom Kinn.
Der Händler schlug hastig ein Runenzeichen über seiner Brust und runzelte die Stirn. »Nein. Was willst du überhaupt von solchen Leuten?«
»Das ist meine Sache.« Varg hielt inne. »Das geht nur meinen Herrn an. Weißt du, wo ich einen finden kann?«
Der Händler wollte sich schon abwenden, als Varg die andere Hälfte der Bronzemünze auf den Tisch legte. Der Mann nickte anerkennend. »Die Blutgeschworenen haben hier gestern angelegt. Unter ihnen befindet sich eine Seiðrhexe.«
Die Blutgeschworenen!
Die Blutgeschworenen waren in ganz Vigrið berühmt, und wahrscheinlich sogar darüber hinaus. Es war eine Bande von Söldnerkriegern, die sich selbst dem höchsten Bieter andienten. Sie jagten Vaesen-Monster, suchten Götterrelikte für wohlhabende Jarls, kämpften bei Grenzstreitigkeiten und bewachten die Wohlhabenden und Mächtigen. Über sie sangen die Skalden an den Herdfeuern viele Lieder.
»Wo sind sie?«, erkundigte sich Varg.
»Du findest sie im Langhaus von Liga, sie sind Gäste von Jarl Logur.«
»Danke.« Varg griff in seinen Beutel und warf ein weiteres Stück Hackbronze auf den Tisch.
»Und wofür ist das?«, wollte der Händler wissen.
»Für dein Schweigen. Du hast mich nie gesehen.«
»Sagt wer?« Der Händler sah sich um und lächelte unter seinem Bart, während er die Münzen einstrich.
Vargs Hand zuckte vor und packte das Handgelenk des Mannes. Er starrte ihm lange in die Augen, ließ ihn dann los und nahm mit derselben Handbewegung das Hackmesser vom Tisch. Er wog es in der Hand.
»Wie viel?«
»Das kannst du haben«, erwiderte der Händler gleichgültig.
Varg nickte, schob das Hackmesser in seinen Mantel, setzte die Kapuze wieder auf und verschwand in der Menge.
Er ging durch die Straßen von Liga, vorbei an einer Kaianlage, in der es vor Geschäftigkeit nur so summte. Frauen und Männer entluden eine frisch eingelaufene Händler-Knarr. Sie hatte einen ausladenden Bauch und lag tief im Wasser. Varg glaubte das gedämpfte Wiehern von Pferden aus dem Rumpf zu hören. Zwei ganz ähnlich aussehende Schiffe ruderten gerade in den Hafen. Eine Gruppe von sonderbar aussehenden Frauen und Männern ging von Bord der vertäuten Knarr. Sie trugen Fellkappen, Pelze und mit Silber besetzte Kaftane. Ihre Hosen mit einem bis zu den Knien reichenden Schritt waren blau-orange gestreift, die Beine mit Wadenwickeln vom Knie bis zum Knöchel umwickelt. Ihre Haut war dunkel wie gegerbtes Leder, und sie wurden von einer Handvoll Krieger in langen Mänteln mit Lamellenplatten begleitet, die wie Schuppen schimmerten, wenn sie sich bewegten. An ihren Hüften hingen Krummsäbel, die Männer hatten lange Schnauzbärte und waren auf den Köpfen bis auf einen langen Zopf kahlrasiert. Varg hielt inne und starrte sie an, als sie sich umdrehten und Seeleuten auf dem Schiff etwas zuschrien. Laufplanken wurden auf den Steg heruntergelassen, und Krane auf der Mole schwangen über den offenen Frachtraum des Schiffs.
»Woher kommen die?«, fragte Varg eine Hafenarbeiterin, die mit einer dicken Taurolle über der Schulter an ihnen vorbeieilte.
»Iskidan«, knurrte sie, ohne innezuhalten.
»Iskidan.« Varg stieß einen Pfiff aus. Das Land lag jenseits des Meeres, weit im Süden. Varg hatte Geschichten über Iskidan gehört, von breiten Flüssen und Grassteppen, von glühender Sonne und von Gravka, der großen Stadt. Irgendwie hatte er es für eine Legende gehalten, einen Ort, an den man sich während der harten, tristen Wintermonate in Gedanken flüchten konnte.
Varg warf einen letzten Blick auf die Fremden und ging weiter. Er bog in eine andere Straße ein, die bergauf bis zu einem Hang an den Klippen führte, die über der Stadt aufragten. Jarl Logurs Methalle schmiegte sich an ihren Fuß. Der Gestank nach Fisch ließ nach, je höher er kam, wich dem nach Urin und Exkrementen. Man hatte Stufen in die Straße geschlagen, die zu einem breiten Torbogen führten. Dahinter waren die dicken Balken der Methalle zu sehen. Auf der Treppe drängten sich Frauen und Männer Schulter an Schulter. Varg blieb einen Moment stehen, suchte nach einer Lücke und drängte sich dann zwischen einer Frau und einem Mann hindurch, in dem Versuch, die Treppe weiter hinaufzugelangen.
Jemand packte ihn an der Schulter.
»Warte, bis du an der Reihe bist, wie alle anderen auch.« Die Frau war dunkelhaarig, hatte ein kantiges, scharfes Gesicht und kalte Augen. Sie trug eine wollene Tunika und einen pelzgefütterten Mantel. Am Waffengurt um ihre Taille hingen ein Scramasax und eine Faustaxt.
»Ich will zu den Blutgeschworenen«, erwiderte Varg.
»Ha, das wollen wir alle!«, gab die Frau zurück. »Was macht dich so besonders?«
Varg sah sie an und musterte dann die Menge um sich herum. »Sie alle sind wegen der Blutgeschworenen hier?«, erkundigte er sich.
»Sicher!«, knurrte die Frau. »Weshalb sonst?«
»Warum?«, fragte Varg.
»Auf ihrem Drakkar gibt es eine leere Seekiste und einen freien Riemen«, antwortete die Frau.
»Eine leere Seekiste?«
»Bist du schwachsinnig?« Sie tippte mit ihrem harten Finger gegen seine Schläfe. Das gefiel Varg überhaupt nicht. »Einer der Blutgeschworenen wurde getötet, und sie halten einen Waffengang ab, um seinen Platz neu zu besetzen.«
»Ah.« Varg nickte, als es ihm dämmerte.
»Also, warte ab, bis du dran bist.« Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Oder hast du es besonders eilig, deinen Arsch in den Dreck zu setzen?«
Die Umstehenden lachten.
Varg senkte einfach nur den Blick und wartete.
Die Menge rückte langsam die Stufen hoch, und als Varg der Methalle näherkam, hörte er laute Rufe, die von Schmerzensschreien untermalt wurden. Unaufhörlich kamen Menschen mit blutigen Gesichtern die Treppe hinab. Einige stöhnten und wurden von anderen gestützt. Andere wurden bewusstlos hinuntergetragen.
Varg erreichte schließlich die oberste Stufe und blickte über die Schultern der Wartenden vor ihm. Ein Bogengang führte zu einem freien Feld vor Jarl Logurs Methalle. Das große Gebäude aus mit Schnitzwerk geschmückten Baumstämmen stand auf einem soliden Steinfundament. Vor der Halle war der Boden aufgewühlt und schlammig, und überall schimmerten dunkle Flecken. Krieger umringten das Feld, etwa sechzig von ihnen. Es waren harte Frauen und Männer, von denen einige Brynjur aus Kettenhemden trugen und Schwerter an den Hüften hatten. Varg hatte erst einmal in seinem Leben ein Schwert gesehen: als ein Drengr des örtlichen Jarls Kolskeggs Hof aufgesucht hatte, um die fälligen Steuern für Königin Helka einzutreiben. Varg hatte vermutet, dass sein Schwert mehr wert war als alle Güter, die auf ein Fuhrwerk geladen worden waren, mehr auch als die Kiste mit Münzen, die Kolskegg dem Mann ausgehändigt hatte.
Jetzt starrte Varg den kahlköpfigen, muskulösen Krieger an. Sein geflochtener Bart war mehr grau als schwarz, ein Schwert steckte in einer einfachen Scheide an seiner Hüfte, er trug ein schönes Brynja aus genieteten Ringen und an den Armen und um den Hals Reifen aus Gold und Silber. Das Schwert und das Brynja allein waren wahrscheinlich mehr wert als Kolskeggs Gehöft. Das Todeshandwerk versprach Wohlstand. Der kahlköpfige Mann sprach mit einer schwarzhaarigen Frau mit blauen Tätowierungen auf Kinn und Hals. Die Seiðrhexe.
Varg blinzelte überrascht, als er den eisernen Kragen um ihren Hals sah, und griff sich unwillkürlich an die Kehle. Der alte Krieger stützte sich auf eine lange Axt, während er sprach. Das Schaftende war auf den Boden gepflanzt, und der einschneidige Axtkopf hatte einen brutalen Haken. Varg war an Äxte gewöhnt. Die Schwielen an seinen Händen zeugten von langen Jahren des Umgangs damit, aber diese Axt war nicht fürs Holzhacken gedacht, sondern um zu töten. Varg wandte den Blick ab, weil ihn beim Anblick dieser Waffe ein unbehagliches Gefühl durchströmte. An den Gürteln der Krieger auf dem Platz hingen eine Vielzahl unterschiedlicher Waffen. Auf dem Rücken trugen sie große runde Schilde, die sie zum Teil an die Wand und die Stufen der Methalle gelehnt hatten. Einige waren hellblau wie der Winterhimmel, mit einem roten Segel in der Mitte. Varg erkannte darin das Wappen von Jarl Logur. Aber die meisten Schilde rund um den Platz waren rabenschwarz mit roten Flecken, als hätte jemand Blutstropfen auf jeden Schild gespritzt.
In der Mitte des Platzes kämpften zwei Männer. Oder eher, wie es Varg schien, ein Mann und ein Baum. Der Kleinere war schnell auf den Füßen, hatte einen Rundschild in einer Hand und tänzelte um den größeren Mann herum. Der war nackt bis zur Taille, seine Wollhose wurde von einem einfachen Strick um seinen Bauch gehalten, und sein geflochtener roter Bart reichte ihm bis zur Taille. Er war massig, mit kräftigen Gliedmaßen, und seine Muskeln traten hervor wie die Wurzeln einer alten Eiche. Jetzt täuschte der kleinere Mann einen Angriff von der rechten Seite an, sprang nach links, trat vor und hämmerte dem Rotbart den Schildbuckel in die Rippen. Dann rammte er ihm die Rechte in den Bauch. Die Reaktion des Rotbarts bestand in einem Grunzen. Dann holte er aus und erwischte den kleineren Mann am Hinterkopf, als der sich gerade duckte und zurückspringen wollte. Er taumelte ein Dutzend Schritte rückwärts, als hätte er keine Kraft mehr in den Beinen. Der Rotbart stampfte hinter ihm her.
»Name!«
Varg blinzelte und riss seinen Blick von dem Spektakel los.
»Deinen Namen!« Der Mann lehnte mit verschränkten Armen an dem Torpfosten. Er war etwa so groß wie Varg und schlank, sein rotes Haar war fein säuberlich zu einem Zopf geflochten, und der penibel getrimmte Bart glänzte geölt. Er trug ebenfalls ein sorgfältig gepflegtes Brynja aus genieteten Ringen, und die Scheide seines Scramasax war reich verziert.
»Varg«, sagte Varg. Seine natürliche Reaktion auf einen Befehl war, ohne nachzudenken zu gehorchen. Auf Kolskeggs Gehöft zog jedes Zögern einen Schlag oder die Peitsche nach sich.
»Varg wer?«
Varg sah ihn verständnislos an.
Der schlanke Mann seufzte.
»Also, es läuft so«, erklärte er. »Ich sage Name, und du nennst mir deinen ganzen Namen. Ich zum Beispiel bin Svik Hrulfsson, oder Strubbelhaar, weil mein Haar niemals zerzaust ist. Fangen wir noch mal von vorne an. Name?«
»Ich weiß nicht.« Varg zuckte die Achseln. »Ich kenne weder den Namen meines Vaters noch meiner Mutter.«
Svik betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. »Bist du sicher, dass du das tun willst?«
»Was will ich tun?«
»Gegen Einar Halbtroll kämpfen.«
»Ich will gegen gar keinen kämpfen«, antwortete Varg. »Und schon gar nicht gegen jemanden mit dem Namen Halbtroll.« Er holte tief Luft. »Ich will die Dienste eurer Seiðrhexe dingen.«
Svik blinzelte. »Vol verdingt sich nicht.« Er warf einen Blick auf die tätowierte Frau, die sich mit dem kahlköpfigen Mann unterhielt.
»Ich muss aber mit ihr sprechen«, sagte Varg. »Es ist … wichtig.«
»Sicher, für dich vielleicht. Aber für uns wahrscheinlich nicht«, erwiderte Svik gleichgültig.
»Ich muss wirklich mit ihr reden!« Varg spürte, wie Panik in ihm aufstieg.
»Was ist denn so wichtig? Brauchst du einen Liebestrank? Willst du eine hübsche Thrall auf deinem Hof besteigen?«
»Nein!« Varg schrie es fast. Dann runzelte er überrascht die Stirn. »Woher weißt du, dass ich von einem Hof komme?«
»Du bist ein Thrall, deinem Haar und deinem Halskragen nach. Dazu dürr wie ein hungriges Rindvieh. Und deine Hände kennen harte Arbeit.« Svik zuckte mit den Schultern.
»Ich will keinen Liebestrank. Es geht um Wichtigeres.«
»Wichtiger als ein Mädchen?« Svik hob eine Braue. »Hätte nicht gedacht, dass es so etwas gibt.«
Die Wartenden hinter Varg lachten.
»Ich brauche eure Seiðrhexe für eine Akáll.«
Sviks Miene verfinsterte sich. »Eine Beschwörung? Das ist eine ernste Sache.«
»Es ist auch eine ernste Angelegenheit.« Varg berührte den Beutel an seinem Gürtel.
»Trotzdem lautet die Antwort Nein«, beschied ihm Svik. »Vol setzt ihre Talente nur für die Blutgeschworenen ein, für niemanden sonst. Man kann sie nicht dingen. Selbst wenn Königin Helka persönlich diese Stufen heraufmarschierte und darum bäte, wäre die Antwort die gleiche.«
Varg spürte, wie seine Hoffnung schwand und sich Kälte in seiner Magengrube ausbreitete.
Ein Krachen und Bersten lenkte Vargs Aufmerksamkeit wieder in Richtung des Platzes. Der hünenhafte Krieger, Einar Halbtroll, schlug mit der Faust gegen den Schild des anderen Kriegers. Das Holz zersplitterte.
»Warum hat Einar keinen Schild?«, erkundigte sich Varg.
»Um den anderen zumindest eine Chance zu geben.« Svik zuckte die Achseln und beugte sich vor. »Aber es ist keine wirklich große Chance«, flüsterte er.
Einar packte seinen kreischenden Widersacher am Hals und im Schritt, hob ihn hoch und schleuderte ihn dann zu Boden. Ein dumpfes Dröhnen, und das Kreischen verstummte abrupt. Der Mann am Boden rührte sich nicht mehr. Frauen und Männer liefen zu ihm und trugen den bewusstlosen Krieger vom Platz.
Varg betrachtete Einar, der massig und bedrohlich dastand. Nur ein paar rote Flecken auf seinem Körper bezeugten, dass er bestimmt bereits zwei Dutzend Kämpfe hinter sich hatte. Dann wandte sich Varg Svik zu.
»Ich werde gegen ihn kämpfen«, erklärte er.
ORKA
Orka ging neben dem Fuhrwerk her, auf dessen Pritsche die Leichen von Asgrim und seiner Frau Idrun lagen. Eine grobe, an einigen Stellen bereits blutgetränkte Wolldecke bedeckte sie. Orka sah sich um. Der Wald um sie herum lichtete sich, und der Boden wurde flacher, als sie über den verschlungenen Pfad nach Fellur hinabgingen, dem Fischerdorf am Ufer des Fjords.