Dominic Sandbrook
Aus dem Englischen
von Knut Krüger
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Für Arthur
Copyright Text © 2021, Dominic Sandbrook, all rights reserved
Die englische Originalausgabe erschien 2021
unter dem Titel »Adventures in Time: The Second World War«
bei Particular Books, einem Imprint von Penguin Press, London
© 2021 für die deutschsprachige Ausgabe bei cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Übersetzung: Knut Krüger
Lektorat: Andreas Rode
Umschlaggestaltung und -illustration: Nele Schütz Design/Sonja Gebhardt
mk • Herstellung: AJ
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-27409-2
V002
www.cbj-verlag.de
Inhalt
Prolog: 6. Juni 1944
TEIL 1
IN DIE FINSTERNIS
1Der Mann, der Postkarten abmalte
2Der große Abenteurer
3Die aufgehende Sonne
TEIL 2
DER STURM BRICHT LOS
4Entfesselte Wölfe
5Blitzkrieg
6Die kleinen Schiffe
7Großbritannien allein
TEIL 3
MITTERNACHT
8Codename: Igel
9Unternehmen Barbarossa
10In der Hölle
11Tora! Tora! Tora!
12Die Bahnstrecke des Todes
TEIL 4
ZEITENWENDE
13Der Wüstenfuchs
14Showdown in Stalingrad
15Geheimsache Enigma
16Wir werden nicht schweigen
17Der Kampf um den Pazifik
TEIL 5
ENDSPIEL
18Die Alliierten schlagen zurück
19Die Höhle des Ungeheuers
20Enola Gay
21Sieg
NACHWORT
Prolog
6. Juni 1944
Während ein peitschender Wind das dunkle Wasser des Ärmelkanals aufwühlte, bereitete sich ein stämmiger junger Mann auf den wichtigsten Einsatz seines Lebens vor.
Sein Name war Leonard Schroeder, doch jeder nannte ihn Max. Er war fünfundzwanzig Jahre alt und zu Hause warteten seine Frau und sein kleiner Sohn auf ihn.
Aber zuerst musste er seinen Job erledigen.
Als Junge in den USA war Max gemobbt wurden, was er nie vergessen hatte. Er wusste, was es hieß, wenn auf einem herumgetrampelt wurde. Wie es war, sich verletzt und verängstigt zu fühlen. Jetzt konnte er der Welt ein für alle Mal zeigen, dass die Tyrannen letztendlich nicht gewinnen würden.
Während das Schiff durch die Nacht stampfte, war Max auf dem Weg zu seinem Brigadegeneral, um letzte Anweisungen zu erhalten. Alles war bereit. Eine enorme Anspannung lag in der Luft.
Der D-Day war gekommen, die umfangreichste Landeoperation aller Zeiten. Tausende und Abertausende Amerikaner, Briten und Kanadier vereinigten sich, um sich der mächtigen deutschen Kriegsmaschinerie entgegenzustellen.
In wenigen Stunden würden sie an den Stränden der Normandie landen und ihr Leben riskieren, um dem grausamsten Regime der Weltgeschichte die Stirn zu bieten.
Irgendjemand musste zuerst an Land gehen und das Schicksal hatte dafür den aus dem Bundesstaat Maryland stammenden Captain Max Schroeder ausersehen.
Jetzt, da sie sich die Hände schüttelten und einander viel Glück wünschten, legte ihm der Colonel den Arm um die Schultern und sagte bewegt: »Also los, machen wir Ihnen die Hölle heiß!«
Max war so aufgeregt, dass er kaum ein Wort über die Lippen brachte. Der historische Moment hatte ihm die Sprache verschlagen. Schließlich entgegnete er nur: »Dann sehen wir uns am Strand, Colonel.«
Auf dem Deck war es brechend voll. Überall waren schweigende Männer, die im Dunkeln auf ihren Einsatz warteten. Der Regen prasselte herab. Max hörte nichts anderes als das Dröhnen der Schiffsmotoren.
Plötzlich erwachte ein Lautsprecher knisternd zum Leben. Es war die Stimme des Oberkommandierenden, der ihnen eine letzte Botschaft mit auf den Weg gab.
»Soldaten, Seeleute und Piloten der alliierten Streitkräfte!«, begann die Stimme. »Unsere große Mission hat begonnen! Die Augen der Welt sind auf uns gerichtet. Die Hoffnungen und Gebete aller friedliebenden Menschen begleiten euch!«
Nachdem der Lautsprecher verstummt war, kehrte Max in Gedanken versunken in sein Quartier zurück. Eine Sache musste er noch erledigen, dann war er bereit.
Er nahm einen Stift und schrieb seiner Frau einen Brief. Margaret und er kannten einander seit der Highschool. Es war eine Teenagerliebe gewesen, doch jetzt würde er sie vielleicht niemals wiedersehen.
Er schrieb ihr, wo er war und was er tat und dass er sie liebte. Dann machte er sich auf den Weg.
Es war 2.30 Uhr am Morgen. Die französische Küste hüllte sich in Dunkelheit.
Schroeder stand neben seinen Männern an Deck und wartete auf den Befehl, das Landungsfahrzeug zu Wasser zu lassen. Unter seinem Helm hatte er als Glücksbringer ein Foto seiner Frau befestigt.
Der Befehl kam. Gebeugt unter der Last ihres Marschgepäcks drängten die Männer auf das kleinere Landungsfahrzeug, das in schwerer See heftig hin und her schwankte.
»Viel Glück, vierte Division!«, schepperte es aus dem Lautsprecher.
Ein Ruck, dann waren sie unterwegs. Max’ Hände schlossen sich um sein Sturmgewehr. Seine Männer standen dicht an dicht, ihre Gesichter bleich vor Kälte und Anspannung.
Stunden vergingen, während sie durch die Dunkelheit schaukelten. Um 4.30 Uhr zeichnete sich die Küste der Normandie als graue Linie vor ihnen ab.
Um kurz vor sechs schimmerte im Osten das erste Licht der Morgensonne auf.
Sie hörten Gewehrsalven und Explosionen, während die Schlachtschiffe der Alliierten die deutsche Verteidigungslinie unter Beschuss nahmen. Sie waren jetzt sehr nah dran.
Dann kam die Landung. Um genau 6.28 Uhr hörte Max das Knirschen von Kies unter dem Schiffsrumpf.
Die Rampe krachte nach unten, seine Füße setzten sich in Bewegung, und plötzlich watete er durchs trübe und kalte Wasser, das ihm bis zu den Hüften reichte. In seinen Ohren gellte das Gewehrfeuer. Hinter ihm kämpften sich seine Männer durch die Wellen. Vor sich sah er einen niedrigen Damm aus Beton.
Sein Herz pochte, er taumelte weiter, bis er schließlich Sand unter seinen Stiefeln spürte – den Sand der Normandie. Es war ein grauer, kühler Morgen und Max Schroeder hatte gerade Geschichte geschrieben.
Aber darüber konnte er jetzt nicht nachdenken. Er musste mit seinen Männern möglichst schnell den Strand überqueren, um dem feindlichen Feuer zu entgehen.
Max keuchte, sein Marschgepäck war vom Seewasser durchtränkt, während sie dem Damm entgegenliefen. Er blieb kurz stehen und schaute sich um. Fast alle hatten es inzwischen an den Strand geschafft. Zum Glück.
Aber sie durften nicht warten. Sie mussten weiter vorrücken, am Damm vorbei, hinein in die Dünen. Die Deutschen hatten das Gelände vermint, doch Max hatte den Befehl, sich nicht aufhalten zu lassen.
Als sie ins Landesinnere vordrangen, verließ ihn sein Glück. Er wurde unter Beschuss genommen, zwei Kugeln trafen seinen linken Arm.
Obwohl das Blut seinen Ärmel durchdrang, spürte er keinen Schmerz. Er stand unter Schock, außerdem hatte er einen Job zu erledigen. Er rief seinen Männern zu, weiter vorzurücken, bis zum ersten Dorf.
Doch als sie dort ankamen, wurde ihm klar, wie schwer er verletzt war. Plötzlich wurde ihm schwindelig. Sein Blick verschwamm, seine Beine knickten ein …
Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Max erwachte. Er lag in einem Zelt, umgeben von Ärzten. Einer von ihnen beugte sich vor. »Wir müssen Ihren Arm amputieren«, sagte eine Stimme.
Dann verblasste das Bild ebenso wie Max’ Bewusstsein.
Licht. Blinzelnd öffnete er die Augen.
Er war wach. Er war am Leben. Er versuchte sich zu bewegen und bemerkte, dass sein linker Arm immer noch da war.
Benommen sah er sich um. Er war nicht mehr in Frankreich. Er war in England, in einem Militärkrankenhaus.
Als Erstes ging ihm durch den Kopf, dass er an die Front und zu seinen Männern zurückkehren müsste, doch die Ärzte sagten ihm, dies sei unmöglich. Ihm stünden mehrere Operationen bevor, doch wenn er Glück habe, könne sein Arm gerettet werden. Für ihn sei der Krieg beendet.
Desillusioniert ließ er sich in das Kissen sinken. So lange hatte er sich auf seinen Einsatz vorbereitet und nun sollte alles vorbei sein.
Wenige Tage später brachte eine Krankenschwester ihm ein paar Zeitungen, doch er schüttelte nur den Kopf und wollte nichts lesen.
»Schauen Sie doch!«, forderte sie ihn lächelnd auf. »Sie sind zum Helden geworden!«
Max Schroeder, der erste Mann, der an der Küste der Normandie an Land ging und die Befreiung Frankreichs vom Naziregime einleitete, hat sich nie als Held betrachtet. Als ein Zeitungsjournalist ihn ein halbes Jahrhundert später so bezeichnete, wollte er davon nichts wissen.
»Fünf meiner Männer haben damals in der Normandie ihr Leben gelassen«, sagte er mit Entschiedenheit. »Sie allein sind Helden.«
Doch auch lange nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Geschichte von Max immer noch lebendig. Die Geschichte des jungen Manns, der den Ozean überquerte, um einem fremden Land den Frieden zu bringen. Die Geschichte des Mannes, der sich der Tyrannei entgegenstellte und »Nein!« sagte.
Max hatte sich geirrt. Er war tatsächlich zum Helden geworden, auch wenn er zu bescheiden war, sich dies einzugestehen.
Doch in anderer Hinsicht hatte er völlig recht. Er war einer von zahllosen jungen Männern und Frauen, die ihre Angst überwanden und angesichts des Schreckens ihr Bestes taten.
Der blutigste Konflikt der Weltgeschichte, der Zweite Weltkrieg, hat den Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts verändert. Jagdbomber flogen über britische Felder, Panzer bekämpften sich auf der russischen Steppe, Schlachtschiffe waren im Pazifik im Einsatz. Und im Herzen seiner zerstörten Hauptstadt riss ein hasserfüllter Mann sein ganzes dunkles Reich mit in den Abgrund.
Vor allem war der Zweite Weltkrieg jedoch die Geschichte von unzähligen ganz normalen Menschen, die gegen ihren Willen in diesen Konflikt hineingezogen wurden.
Der Schuljunge, der gegen die feindlichen Bomber kämpfte. Das Schulmädchen, das sich mutig und entschlossen den ausländischen Invasoren entgegenstellte. Die Seeleute, die ihren Landsleuten zu Hilfe kamen. Die Informatiker, die nicht zu entschlüsselnde Codes knackten.
Die Soldaten, die sich durch Wüsten und Urwälder kämpften. Die Matrosen, die in ständiger Angst vor Torpedos lebten. Die Frauen, die nächtelang in Fabriken arbeiteten. Die Musiker, die spielten, während die Bomben einschlugen.
Sie alle waren Heldinnen und Helden – und dieses Buch erzählt ihre Geschichte.
Als alles vorbei war, hatten sie ganz unterschiedliche Erinnerungen. Doch in einem waren sie sich einig.
Alles hatte mit einem jungen Mann begonnen, der sein Geld mit dem Abmalen von Postkartenmotiven verdiente.
TEIL 1 – IN DIE FINSTERNIS
1
Der Mann, der Postkarten abmalte
Im Sommer des Jahres 1910 war die Stadt Wien in Ferienlaune.
Sonnenlicht glitzerte auf Dächern und Türmen der österreichischen Hauptstadt. Im berühmten Vergnügungspark, dem Prater, erhob sich ein gewaltiges Riesenrad in den Himmel, in dessen roten Gondeln zufriedene Tagesausflügler saßen.
Dreißig Gehminuten vom Prater entfernt, in einer ruhigen, nur selten besuchten Straße, saß ein junger Mann in einem spärlich beleuchteten Raum und malte die Motive von Ansichtskarten ab.
Er war so unscheinbar, dass die meisten von uns seinen Anblick sofort wieder vergessen hätten: ein wenig kleiner als der Durchschnitt, mit einem blassen, ernsten Gesicht und kurzen, dunklen Haaren. Er trug verschlissene Kleidung und ausgetretene Schuhe.
Das einzig Auffällige in ihm waren seine Augen: klar und unerschütterlich, von fast hypnotischem Blau. Wen er ansah, der konnte sich seinem Blick nicht entziehen.
Nun, da die Geräusche der Stadt durch das halb geöffnete Fenster drangen, war der Mann in seine Arbeit versunken, während sein Pinsel über das Papier wanderte.
Nur wenige Leute kannten seinen Namen. Er wohnte im Männerheim in der Meldemannstraße, einer Unterkunft für all diejenigen, die sich eine Wohnung in der Stadt nicht leisten konnten. Dort, im Lesesaal, malte er seine Bilder.
Er war einundzwanzig Jahre alt. In seinem Leben war kaum einmal etwas Interessantes passiert, was sich vermutlich auch niemals ändern würde.
Das Licht der Welt hatte er am Karsamstag des Jahres 1889 in Braunau am Inn erblickt, einem verschlafenen Dorf an der Grenze zwischen dem österreichischen und dem deutschen Kaiserreich.
Sein Vater war ein strenger und jähzorniger Mann gewesen, der ihn aus geringstem Anlass geschlagen und körperlich gezüchtigt hatte.
Seine Mutter hingegen war ruhig und sanft. Ihr Foto hing zeit seines Lebens neben dem Bett ihres Sohnes.
Als Kind war er genauso wie alle anderen Jungen auch. Er spielte Räuber und Gendarm mit seinen Freunden und sang im Kirchenchor. Er las Geschichten über Cowboys und Indianer und träumte von Abenteuern in lichtdurchfluteten Wäldern.
Doch im Laufe der Jahre verdüsterte sich der Himmel. Sein jüngerer Bruder starb an den Masern. Sein Vater wurde immer launischer und fast jeden Abend gab es erbitterten Streit.
Als der Junge elf Jahre alt war, schickten ihn seine Eltern in Linz, der nächstgrößeren Stadt, zur Schule. Er brauchte jeden Tag eine Stunde für den Schulweg und kannte niemanden in Linz. Es fiel ihm schwer, Freunde zu finden, worunter auch seine schulischen Leistungen litten.
Allmählich verlor er jeden Ehrgeiz und träumte lieber von den großen Helden der deutschen und österreichischen Geschichte.
Eines Tages fragte ihn sein Vater, was er im Leben erreichen wolle. Der Junge antwortete, er wolle Künstler werden.
»Ein Künstler? Nur über meine Leiche!«, rief sein Vater.
Als der Junge dreizehn war, starb sein Vater unerwartet. Jetzt war er zumindest »der Mann im Haus« und konnte tun und lassen, was ihm gefiel.
Im Jahr 1905, im Alter von 16 Jahren, überredete er seine Mutter, von der Schule abgehen zu dürfen. Tagsüber malte er, die Abende verbrachte er im Theater. Er kleidete sich ganz in Schwarz und hatte einen Spazierstock mit Elfenbeinknauf.
So vergingen zwei Jahre. Aus dem Jungen wurde ein junger Mann, der der Welt beweisen wollte, was in ihm steckte. Im Herbst zog er in die österreichische Hauptstadt.
Wien war eine bunte, schillernde Stadt mit Einwohnern verschiedenster Herkunft: Österreichische Offiziere stellten ihre prächtigen weißen Uniformen zur Schau, tschechische Politiker debattierten in den Kaffeehäusern, Juden in schwarzen Kaftanen eilten zur nächsten Synagoge.
Angesichts dieser Vielgestaltigkeit fühlte der junge Mann sich verloren. Lange hatte er davon geträumt, an der Kunstakademie zu studieren, aber dann fiel er bei der Aufnahmeprüfung durch. Seine Probezeichnungen wurden als »ungenügend« bewertet.
Gegen Ende des Jahres 1907 starb seine Mutter. Nun war der junge Mann vollkommen auf sich allein gestellt.
Zurück in Wien, schlenderte er durch die Parks, voller Zorn darüber, dass die Welt ihm nicht das geben wollte, was er von ihr verlangte.
Die meisten Abende verbrachte er nach wie vor im Theater. Ein ums andere Mal sah und hörte er die Opern Richard Wagners und war fasziniert von der germanischen Götter- und Sagenwelt, von Zwergen, Drachen und Walküren.
In seinen Augen war er selbst ein großer germanischer Held. Eines Tages würde er über die blutgetränkten Körper seiner Feinde triumphieren.
Die Realität verweigerte ihm jedoch die Verwirklichung seiner Träume. Er bewarb sich ein zweites Mal an der Kunstakademie und wurde zum zweiten Mal abgelehnt. Er hatte Schwierigkeiten, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, und hielt sich soeben über Wasser, indem er im Männerwohnheim weiterhin Postkartenmotive abmalte und die Bilder zum Verkauf anbot.
Aus Wochen wurden Monate, aus Monaten Jahre.
Im Frühjahr 1913 beschloss der junge Mann, sein Glück auf der anderen Seite der Grenze, in München, zu versuchen. Aus Österreich hatte er sich ohnehin nie viel gemacht. Er hasste den österreichischen Vielvölkerstaat, vor allem die Juden, und betrachtete sich lieber als Deutschen.
Zunächst malte er Bilder für Touristen, doch nach einem Jahr veränderte sich alles.
Am 1. August 1914 erklärte Deutschland Russland den Krieg. Der Erste Weltkrieg hatte begonnen. Am nächsten Tag versammelten sich die patriotisch gesinnten Massen im Herzen von München. Darunter ein blasser junger Mann mit dunklem Haar, dessen blaue Augen vor Enthusiasmus leuchteten.
Sein Name war Adolf Hitler und voller Freude sah er dem Krieg entgegen.
Für die meisten jungen Männer war der Erste Weltkrieg eine Reise in die Hölle. Der nicht enden wollende Albtraum einer Kriegsmaschinerie, die rund 17 Millionen Menschen das Leben kostete.
Für den Mann, der Postkartenmotive abmalte, war er ein persönlicher Wendepunkt. Später erklärte Adolf Hitler, er sei am Tag der Kriegserklärung »auf die Knie gesunken« und habe »dem Himmel gedankt«. Nach Jahren des Umhertreibens hatte sein Leben eine Richtung gefunden.
Nach wenigen Wochen erreichte er die Westfront, wo Deutsche, Franzosen und Engländer sich in tiefen Schützengräben gegenüberlagen, die sich wie Wunden durch den europäischen Kontinent zogen.
Dort wurde er als Meldegänger eingesetzt, der den Soldaten an der Front Meldungen und Befehle übermittelte, während unter ihm der Boden bebte und über ihm die Granaten pfiffen. Fast jeden Tag starben Menschen um ihn herum.
Von nun an war er davon überzeugt, dass das Leben ein einziger schrecklicher Kampf war. Wer seine Feinde tötete, blieb am Leben. Doch wer Mitleid mit ihnen empfand, wurde ebenfalls getötet.
Für seine Kameraden blieb der zum Gefreiten beförderte Hitler ein Außenseiter, der niemals lächelte. Sie nannten ihn »den Künstler«.
Sein Mut zumindest sollte sich auszahlen. Nachdem er trotz schweren Geschützfeuers eine Nachricht überbracht hatte, erhielt er das Eiserne Kreuz. Im Oktober 1916 wurde er durch einen Granatsplitter am linken Oberschenkel verwundet.
Im Herbst 1918 stand die deutsche Armee am Rande einer Niederlage. Zu Hause hungerten die Menschen und waren demoralisiert. Die Lage wurde von Tag zu Tag aussichtsloser.
Im Oktober geriet Hitler als Meldegänger in einen britischen Senfgasangriff. Es gelang ihm, seine letzte Nachricht zu überbringen, doch am nächsten Morgen seien seine Augen »in glühende Kohlen verwandelt« und um ihn her alles finster gewesen, wie er später schrieb.
Zwei Wochen später erfuhr er im Lazarett, dass Deutschland zusammengebrochen war. In den Straßen drängten sich die Massen, der Kaiser hatte abgedankt, der Krieg war vorbei.
In dieser Nacht verbarg Hitler sein Gesicht im Kopfkissen und vergoss – zum ersten Mal seit dem Tod seiner Mutter – bittere Tränen.
Es war alles umsonst gewesen. Während er und seine Freunde sich aufgeopfert hatten, waren ihnen Feiglinge und Verräter in den Rücken gefallen und hatten sie um den Sieg betrogen – so dachte er voller Empörung.
Doch es sollte noch schlimmer kommen. Als er aus dem Lazarett entlassen wurde, versank Deutschland im Chaos. Staatliche Strukturen lösten sich auf und mit ihnen alle Gewissheiten des Alltags.
Im außerhalb vor Paris gelegenen Schloss von Versailles arbeiteten die Staatsführer von Großbritannien, Frankreich und den USA einen Friedenvertrag aus, der Deutschland zwang, die alleinige Verantwortung für den Ersten Weltkrieg zu übernehmen.
Laut dem Versailler Vertrag musste das Deutsche Reich zahlreiche Gebiete an seine Nachbarn abtreten. Die Größe seiner Armee inklusive der Marine und Luftwaffe wurde deutlich begrenzt. Außerdem musste Deutschland enorme Summen – sogenannte Reparationen – an die Alliierten zahlen, um für die im Krieg erlittenen Schäden aufzukommen.
Für Hitler und seine Gleichgesinnten war dieser Vertrag eine Demütigung. Am meisten alarmierten ihn jedoch die Vorgänge in seiner neuen Heimat München.
Als er dorthin zurückkehrte, war die Stadt nicht wiederzuerkennen. In der unter den Folgen des Krieges leidenden Stadt herrschte eine aufgewühlte, hasserfüllte Atmosphäre.
Im Frühjahr 1919 riefen sozialistische Revolutionäre die Räterepublik aus, wollten die deutsche Geschichte hinwegfegen und eine neue Welt gleicher Menschen schaffen. Doch das Experiment dauerte nicht lange an.
Nach vier Wochen wurde es von den national-konservativ gesinnten Reichswehrtruppen und den antidemokratischen Freikorps brutal beendet. Durch die Straßen von München rann das Blut.
Im Herbst 1919 wurde Hitler vom Aufklärungskommando der Reichswehr mit einer besonderen Mission betraut. Während das alte Deutschland in Trümmern lag, wurden in dieser Zeit viele neue Parteien gegründet, die um die Gunst der Bevölkerung buhlten. Hitler wurde zu einer Versammlung der Deutschen Arbeiterpartei geschickt, um herauszufinden, was diese für Ziele hatte.
Am Abend des 12. September war er im Zentrum von München unterwegs und suchte nahe dem mittelalterlichen Isartor das Sterneckerbräu, eine bekannte Gastwirtschaft, auf.
In einem Raum im ersten Stock waren etwa zwanzig Leute versammelt. Er nahm einen Platz am Ende des Raumes ein. Ein Mann betrat die Bühne und begann über das zu sprechen, was seiner Ansicht nach falsch lief in Deutschland.
Nachdem der Vortrag vorbei war, stellte jemand eine Frage. Dann geschah etwas Außerordentliches.
Plötzlich war Hitler auf den Beinen. Und ehe er selbst wusste, wie ihm geschah, brachen die Worte in einem wilden Strom aus Wut und Verbitterung aus ihm heraus.
Später erinnerte sich kaum jemand an den genauen Inhalt seiner Worte. Dafür wussten alle noch sehr genau, wie er gesprochen hatte. Es war die zornige Abrechnung eines Manns gewesen, dessen Leben bisher nur aus Niederlagen bestanden hatte und der die Welt nun für sein Scheitern verantwortlich machte.
Während er sprach, wurde es um ihn her immer stiller. Alle hörten ihm aufmerksam zu, zunächst überrascht, dann fasziniert. Als Hitler sich wieder setzte, war der Raum mit Energie geladen.
Der Postkartenmaler hatte seine Bestimmung gefunden. Sein Leben würde sich komplett ändern.
Wenige Wochen später trat Hitler der Deutschen Arbeiterpartei bei. Doch obwohl er auf verschiedenen Versammlungen im gesamten Stadtgebiet sprach, hätte sich wohl niemand vorstellen können, dass er sich einst zum Herrscher über ganz Europa aufschwingen würde.
Was bekamen die Leute von ihm zu hören, wenn sie Parteiveranstaltungen in den großen Münchner Wirtshäusern besuchten?
Seine Auftritte gestalteten sich immer sehr ähnlich. Hitler begann langsam und mit ruhiger Stimme. Doch im Laufe seines Vortrags wurde er zusehends lauter und temperamentvoller, seine Augen blitzten, eine Locke fiel ihm in die Stirn, die am Ende vom Schweiß glänzte.
Oft steigerte er sich in einen regelrechten Wutausbruch hinein und schrie seine Botschaft schließlich in die Menge, die vor Begeisterung tobte.
Was sahen die Menschen in ihm? Sie sahen einen Gefreiten, einen einfachen Soldaten, der ihnen zurief, was sie hören wollten.
Seine Botschaft war simpel. Deutschland sei betrogen worden, die politischen Führer seien ihrem eigenen Volk in den Rücken gefallen und hätten sich den schändlichen Friedensvertrag von Versailles aufzwingen lassen.
Und wer trug an alledem die Hauptverantwortung? Die eigentlichen Schurken in diesem Spiel waren für Hitler die Juden, die angeblich die feigen Politiker kontrollierten. Sie hätten den Deutschen das Geld gestohlen und von Anfang an den Untergang des Deutschen Reichs angestrebt.
Viele Menschen wussten, dass dies eine Lüge war, noch dazu eine sehr alte. Deutsche Juden kontrollierten weder die Politik noch hatten sie den Leuten Geld gestohlen. Im Krieg hatten jüdische Soldaten mit großer Tapferkeit gekämpft. Der Offizier, der Hitler für das Eiserne Kreuz vorgeschlagen hatte, war selbst Jude.
Doch viele, die Hitlers Reden lauschten, glaubten ihm. Nach so vielen Demütigungen tat es gut, jemandem die Schuld in die Schuhe schieben zu können.
Für viele Männer und Frauen in den Wirtshäusern zeichnete sich zudem eine neue Bedrohung am Horizont ab. Denn ein weiteres großes Reich wurde zu dieser Zeit von einer Revolution erschüttert – Russland. Dort war die kommunistische Partei an die Macht gelangt, hatte die Zarenfamilie ermordet und versprochen, eine neue Ordnung totaler Gleichheit zu schaffen.
Millionen von Russen waren bereits ermordet worden. Der Gedanke, dass auch Deutschland kommunistisch werden könnte, machte vielen Menschen Angst.
Für Adolf Hitler waren das ideale Voraussetzungen. Die Angst der Menschen half ihm, seine Botschaft des Hasses zu verbreiten.
Im Laufe der Monate wurde sein Publikum immer zahlreicher. Die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) wurde im Februar 1920 in Nationalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (NSDAP) umbenannt. 1921 wurde Adolf Hitler Vorsitzender der Partei.
Um Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg anzulocken, ähnelte das Erscheinungsbild der Partei einer Armee, mit Rangabzeichen und Uniformen. Die Parteifahne wurde von Hitler selbst entworfen. Sie zeigte ein schwarzes Hakenkreuz in einem weißen Kreis auf rotem Grund. Im asiatischen Raum ist so ein Kreuz mit abgewinkelten Armen seit Tausenden von Jahren als Swastika bekannt.
In Deutschland ging der Albtraum weiter. Im Jahr 1923 war die Staatskasse leer und das Geld nichts mehr wert. Ein Laib Brot kostete zu dieser Zeit 163 Mark, im Juni bereits 1630 Mark, Im Oktober 9 Millionen und im November sage und schreibe 233 Billionen Mark.
Die Ersparnisse der Menschen waren von heute auf morgen verloren. Die Mark war schließlich so wenig wert, dass die Leute mit einer Schubkarre voller Geldscheine zum Einkaufen gingen. Die ganze Gesellschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch. Geschäfte und Firmen wurden geschlossen, selbst die Straßenbahnen in den Städten stellten ihren Betrieb ein.
Hitler glaubte, dass seine Zeit nun gekommen sei. Am Abend des 8. November 1923 versammelte er seine Anhänger im Münchner Bürgerbräukeller, stellte sich auf einen Stuhl und schoss mit seiner Pistole in die Decke. Dies sei der Moment, rief er, in dem die Nationalsozialisten die Macht an sich reißen und Deutschland vor dem Untergang bewahren müssten. Der sogenannte Hitlerputsch hatte begonnen.
Am nächsten Morgen zogen die Putschisten durch die Münchner Innenstadt in Richtung Feldherrnhalle. Doch der Umsturz schlug fehl. Hitler konnte fliehen, wurde jedoch am 11. November festgenommen und zu fünf Jahren Haft in der Festung Landsberg verurteilt. Nach neun Monaten wurde er »wegen guter Führung« vorzeitig entlassen.
Entmutigt fühlte er sich keineswegs, sondern schrieb während der Haft sein Buch »Mein Kampf«, in dem er seine Vision von der Zukunft Deutschlands zu Papier brachte.
Das Leben, schrieb er, sei ein Kampf ums Überleben. Die Menschheit teile sich in konkurrierende Rassen. Die Deutschen seien die »Herrenrasse«, dazu ausersehen, die Schmach des Ersten Weltkriegs zu tilgen und ihren angestammten Platz als Herrscher über Europa einzunehmen.
Seinem Weltbild zufolge war er der Erbe jener Ordensritter, die im Mittelalter von Deutschland aus in den Osten Europas gezogen waren und dort ihren eigenen Staat begründet hatten. Nun sah sich Hitler als derjenige, der seine Armeen tief nach Russland hineinführen würde, um ein neues Reich im Osten zu gründen. Seine Zukunftsvisionen kannten weder Mitgefühl noch Menschlichkeit. Sie kannten nur das Recht des Stärkeren. Der Schwächere hingegen müsse getötet und versklavt werden. Und für die Juden, die er als »Todfeind« des deutschen Volks bezeichnete, würde es keine Gnade geben.
Die Juden, schrieb er, seien an allem Unglück der Deutschen schuld. Sie seien habgierig, heimtückisch und grausam und müssten aus Deutschland entfernt werden, ehe sie das Land zerstörten.
Der nächste Krieg müsse also im Zeichen einer totalen Vernichtung der Juden stehen.
In »normalen« Zeiten wäre Hitlers Botschaft vermutlich auf taube Ohren gestoßen. Die Leute hätten sie als das erkannt, was sie war: als furchterregende Fantasie einer gescheiterten Existenz, als wahnsinnigen Fiebertraum eines einsamen, wütenden Mannes.
Doch es waren keine normalen Zeiten. Deutschland war ein verbittertes und gebrochenes Land. Nahezu jede Familie hatte großes Leid und persönliche Verluste erfahren. Sobald Hitler aus der Haft entlassen wurde, hatte das Schicksal den Nazis eine mächtige Hand gereicht.
Im Oktober 1929 wurden die Banken der Welt von einer plötzlichen Panik ergriffen. Der New Yorker Börsencrash war der Beginn einer Weltwirtschaftskrise, in deren Verlauf viele Unternehmen in Konkurs gingen, der Welthandel zum Erliegen kam und Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren.
In jeder deutschen Stadt bangten die Menschen um ihre Existenz. Die kümmerlichen Ersparnisse waren schnell aufgebraucht. Die Speisekammern leerten sich.
Schon bald wurde überall um Essen und Arbeit gebettelt. An Straßenecken standen verlorene Gestalten, die Schilder um den Hals trugen: »Übernehme JEDE Arbeit«.
Die Stimmung war angespannt und aggressiv. Auf den Straßen der Hauptstadt Berlin lieferten sich die Kommunisten Straßenschlachten mit Hitlers gefürchteten SA-Truppen, der paramilitärischen Kampforganisation der NSDAP.
Angesichts der Entwicklung in Russland fragten sich viele Deutsche, ob die Nazis nicht doch die richtige Antwort auf die kommunistische Bedrohung seien.
Immer mehr Geschäftsleute unterstützten die NSDAP auch finanziell und im Sommer 1932 bekam Hitlers Partei bei der Reichstagswahl fast 14 Millionen Stimmen.
Die Sonne verblasste. Die Blätter färbten sich braun. Der Schnee kam.
An Weihnachten gab es Millionen von Arbeitslosen. Als die Kirchenglocken das neue Jahr verkündeten, lebten Tausende hungernd und frierend auf den Straßen.
In diesem Moment begingen die deutschen Politiker einen entscheidenden Fehler.
Seit Monaten hatten sie sich über den richtigen Weg gestritten, um Deutschland aus der Misere zu führen. Jetzt boten diese wohlhabenden, gut vernetzten Männer in ihrer Verzweiflung Hitler an, das Land zu regieren.
Sie betrachteten ihn als ihre Marionette. Adolf Hitler, so dachten sie insgeheim, sollte ruhig toben, wie er wollte, solange sie die Fäden in der Hand hielten. Er sollte ihnen vor allem die Kommunisten vom Hals schaffen – danach würde sie auch ihn wieder loswerden.
So war ihr Kalkül, doch sie ahnten nicht, wie dieser Mann, den sie für ihre Zwecke einspannen wollten, wirklich war.
Am 30. Januar 1933 um 11.30 Uhr wurde der Mann, der einst Postkartenmotive abgemalt hatte, als neuer Reichskanzler des Deutschen Reichs vereidigt.
In dieser Nacht wurde die Dunkelheit von Fackeln erhellt. SA-Truppen marschierten zu Tausenden durch Berlin. Ihre Helme glänzten im Schein der Flammen, ihre schweren Stiefel dröhnten wie Trommelschläge. »Heil Hitler!«, skandierten sie.
Dieser Moment des Triumphs deutete bereits an, wie die Zukunft aussehen würde.
Unter den Zuschauern der Parade war die 15-jährige Melita Maschmann. Sie glaubte leidenschaftlich an Hitlers Versprechungen und war sicher, dass er Deutschland zu alter Größe führen würde.
In dieser Nacht hatten ihre Eltern sie auf die Straße mitgenommen. Als die SA-Truppen mit ihren Hakenkreuzflaggen an ihr vorbeimarschierten, empfand Melita ein »brennendes Verlangen«, sich der neuen Bewegung anzuschließen und ihr Leben in den Dienst ihres Landes zu stellen.
Dann löste sich plötzlich einer der SA-Leute aus seiner Reihe und schlug einem Mann in der Menge brutal ins Gesicht, nur wenige Meter von Melita entfernt.
Ihre Eltern zogen sie rasch mit sich fort, doch Melita wurde das Bild des am Boden liegenden, blutenden Manns nicht mehr los. Es verfolgte sie tagelang, wie sie später in ihren Erinnerungen schrieb.
Der Mann war eines der ersten Opfer von Hitlers Diktatur, doch er sollte nicht ihr letztes sein.