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Bartholomäus Grill

AFRIKA!

RÜCKBLICKE IN DIE ZUKUNFT
EINES KONTINENTS

Siedler

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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagabbildung: © Eric Lafforgue/Art in All of Us/Corbis via Getty Images

Lektorat und Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

ISBN 978-3-641-27541-9
V001

www.siedler-verlag.de

INHALT

Adieu, Afrika!
Am Ende einer langen Dienstreise

Evas Kinder
Auf den Spuren unserer Urahnen im Süden Afrikas

Achtung, Bulldozer!
Der Kampf um die Demokratie in Tansania

Krieg und Frieden
Äthiopien, ein neues Modell für Afrika?

Ein Obama für Afrika
Von einem Geächteten, der auszog, Präsident Nigerias zu werden

Jerusalema!
Aufstieg und Niedergang des Hoffnungslandes Südafrika

Wo war Gott?
Rückkehr nach Ruanda, zwanzig Jahre nach dem Genozid

Der vergessene Massenmord
Nach dem Sturz des Diktators Mugabe holt Simbabwe die Vergangenheit ein

Mann ohne Hände
Wie ein Opfer des Bürgerkriegs in Sierra Leone sein Schicksal bewältigt

Gesang der Flussgeister
Siachilaba.
Oder: Die rettende Kraft der Musik

Vorprogrammierte Explosion?
Das schnelle Bevölkerungswachstum verschärft die Armut – und umgekehrt

Endstation Sehnsucht
Die Massenflucht aus Afrika, ein Hirngespinst rechter Populisten

Erst die Tiere, dann die Menschen
Die Folgen des Klimawandels werden zur größten Bedrohung für Afrika

In Afrikanistan
Warum der islamistische Terror nicht mit militärischen Mitteln besiegt werden kann

Fluch des Reichtums
Die Plünderung der Ressourcen.
Zum Beispiel Erdöl

Africa First!
Wege in die Zukunft

Was bleibt?
Von den Schwierigkeiten, über Afrika zu schreiben

ANHANG

Dank

Literaturempfehlungen

Bildteil

Namensverzeichnis

ADIEU, AFRIKA!

Am Ende einer langen Dienstreise

Eigentlich wollten wir ein kleines Kulturhaus im Dorf Longido bauen, eine Begegnungsstätte für die Massai, ein Volk von Halbnomaden, das keinen Platz mehr hat im modernen Tansania. Wir, das waren neun junge Leute aus Deutschland, Dritte-Welt-Bewegte, wie man damals, im Jahr 1980, sagte. Wir wollten Afrika retten. Unter der glühenden Sonne stellten wir Lehmziegel für das geplante Gebäude her, mussten aber bald feststellen, dass kein einziger Einheimischer mithalf. In ihren Augen waren wir naive Weißnasen, die sie mit einem sinnlosen Projekt beglücken wollten. Dabei stammte die Idee von einem ortsansässigen Massai, von Esto Mollel, der in Australien Soziologie studiert und sich ehrgeizige Entwicklungspläne für seine rückständige Region im Norden Tansanias ausgedacht hatte: Straßen, Kliniken, Staudämme. Das Kulturzentrum sollte der Anfang sein. Am Ende unserer dreiwöchigen Bemühungen war nicht ein Haus der Begegnung entstanden, sondern ein Hühnerstall im Garten unseres Gastgebers. Esto Mollel wurde zu einem guten Freund und war mein erster Mwalimu: ein Lehrer, der mir Afrika erklärte. Er ist im Januar 2000 im Alter von nur 52 Jahren verstorben, aber der Hühnerstall steht noch immer, unweit von seinem Grab. Als ich Ende 2019 das morsche Gemäuer besichtigte, kam es mir vor wie ein Sinnbild für die Entwicklung Afrikas, für einen Kontinent, der nach dem Ende der Kolonialzeit in den frühen 1960er Jahren mit hochfliegenden Erwartungen in die Unabhängigkeit aufgebrochen war – und sechs Jahrzehnte später eher bescheidene Fortschritte erzielt hat.

Afrika retten: Inspektion des Hühnerstalls, den unsere Solidaritätsgruppe im August 1980 aus selbst gemachten Lehmziegeln baute.

© Kleinowitz Stefan

In Tansania betrat ich im August 1980 erstmals afrikanischen Boden, hier sollte eine lange Liebesgeschichte beginnen, und von hier aus blicke ich zurück auf meine Zeit in Afrika: Es war ein Wechselbad der Gefühle, ein ständiges Hin- und Herpendeln zwischen Zuversicht und Enttäuschung, Hoffnung und Pessimismus.

Longido vor vierzig Jahren: ein langweiliges Nest unweit der Grenze zu Kenia, zweitausend Einwohner, zwei Buschschänken, kein Telefon, kein Strom, keine Trinkwasserversorgung. Mittlerweile leben hier siebenmal so viele Menschen, und Rose Mollel, Estos Witwe, schwärmt von den Errungenschaften. »Wir haben jetzt Elektrizität und fließendes Wasser. Und sogar eine kleine Klinik mit einem OP-Raum. Die Hauptstraße ist geteert, es gibt zwei Tankstellen und Funktürme für unsere Mobiltelefone.« Dazu ein Dutzend Spelunken, jede Menge sozialer Konflikte, mehr Wohlstand für wenige, mehr Armut für viele, weil es an Arbeitsplätzen mangelt.

Seit meinem ersten Besuch der örtlichen Primary School – Rose war seinerzeit Schulleiterin – hat sich die Zahl der Grundschüler auf 1118 nahezu verdoppelt. Die Klassenzimmer sind so ärmlich ausgestattet wie eh und je: primitive Pulte und Holzbänke, zersplitterte Schiefertafeln, Fenster ohne Scheiben, heißes Blechdach. »Wir haben gute Lehrprogramme, aber keine Lehrmittel«, sagt Julieth Godfrey. Die 57-jährige Lehrerin unterrichtet Mathematik. Sie zeigt auf ein Wandbild im Schulhof: ein Computer mit Zubehör, beschrieben in Kisuaheli: Skrini (Bildschirm), Kibodi (Tastatur), Waya (Kabel). Die Kinder kennen Computer nur als Zeichnung. Es gebe nur einen Rechner in der Schule, den nutze aber ausschließlich die Verwaltung, sagt Godfrey. »Es heißt, Bildung sei das wichtigste Mittel, um die Armut zu überwinden. Aber wir sind noch weit von diesem Ziel entfernt.«

Computer nur als Wandbild: mit der Lehrerin Julieth Godfrey in Longido.

© Kleinowitz Stefan

An Longido lässt sich ein Paradoxon studieren, das exemplarisch ist für Afrika: Der Kontinent ist vorangekommen – und gleichzeitig stehen geblieben.

In den vergangenen vier Jahrzehnten bin ich ungefähr zwei Millionen Kilometer innerhalb Afrikas geflogen und gefahren, um aus über fünfzig Ländern zu berichten. Nach all den ereignisreichen Jahren werde ich oft gefragt: Hat sich die Lage zwischen Khartum und Kapstadt, Dakar und Daressalam in dieser Zeitspanne verbessert? Oder geht es, wie häufig zu hören ist, stetig bergab? Meine Antwort lautet: sowohl als auch.

Aber schon die Frage ist falsch gestellt. Afrika wird oft als ein einziges Land wahrgenommen, als monolithische Krisenmasse, nicht als vielfältiger Erdteil mit 54 Nationen, die sich höchst unterschiedlich entwickelt haben. Es gibt eine Reihe von Failed States, durch Bürgerkriege ruinierte Staaten wie Südsudan oder Somalia. Es gibt mit Bodenschätzen gesegnete Länder wie Nigeria oder Angola, die ihren Reichtum verprassen. Länder wie Simbabwe oder Gambia, die von Gewaltherrschern zerstört wurden. Länder wie Südafrika, die sich in einer gefährlichen Abwärtsspirale befinden, oder wie Kenia, die sich irgendwie durchwursteln. Politisch stabile Länder wie Namibia, Ghana oder Senegal. Schließlich Länder, die wirtschaftlich erfolgreich sind: Botswana, Äthiopien, Ruanda, Tansania. Doch allerorten schlagen sich Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen mit den immer gleichen Problemen herum: mit Armut, Arbeitslosigkeit und Krankheit, mit der Unfähigkeit und Gier korrupter Eliten, mit Verteilungskämpfen um knappe Ressourcen, die durch die schnelle Zunahme der Bevölkerung und den Klimawandel verschärft werden. Von A wie Alphabetisierungsrate bis Z wie Zahnarztdichte – im globalen Vergleich ist Afrika in vielen Bereichen nach wie vor das Schlusslicht. Das kommt mir doch irgendwie bekannt vor, mögen sich Leser und Leserinnen sagen, die mein Buch Ach, Afrika kennen, denn darin stand schon 2003 der gleiche Befund. Seither hat sich an der schwierigen Gesamtlage wenig verändert.

Ich habe mit afrikanischen Ökonomen, Sozialwissenschaftlern und Historikern über die Ursachen debattiert, gelegentlich auch gestritten. Auffällig waren zwei diametral entgegengesetzte Sichtweisen. Da war einmal das große Lamento über den Zustand ihrer Staaten, über das Versagen der politischen Klasse, ja, über deren Verrat an ihren Völkern. Eine zum Klassiker gewordene Streitschrift der Kamerunerin Axelle Kabou liest sich wie eine Selbstbezichtigung: Die Afrikaner und Afrikanerinnen hätten ihre Misere größtenteils selbst herbeigeführt. Warum, verdammt noch mal, schaffen sie es nicht, sich aus eigener Kraft zu entwickeln? Noch krasser drückt es der simbabwische Publizist Kwame Muzawazi aus: »Der wahre Feind Afrikas im 21. Jahrhundert ist nicht der Kolonialismus: Es ist der schwarze Mann selbst, seine eigene Passivität, seine lethargische Herangehensweise an die eigenen Angelegenheiten … wir bewegen uns per Autopilot ins Nirgendwo.«

Die zweite Erklärung sieht Afrika immer und überall als Opfer, stets sind finstere Außenmächte für alle Übel verantwortlich, die Ex-Kolonialmächte, die Weltbank, die multinationalen Konzerne, die weißen Rassisten und so weiter. Der gegenwärtige Zustand des Kontinents könne »der niederträchtigen Geschichte des imperialen Westens angelastet werden«, postuliert der kenianische Schriftsteller Ngugi wa Thiong’o. Ein apodiktisches Urteil, das an den Offizier in Kafkas Erzählung In der Strafkolonie erinnert: »Der Grundsatz, nach dem ich entscheide, ist: Die Schuld ist immer zweifellos.« Die herrschenden Eliten Afrikas übernehmen solche Generalanklagen gerne, denn sie lenken vom eigenen Versagen ab, wecken im reichen Norden Schuldgefühle und bestärken die internationale Hilfsindustrie in ihrem häufig sinnlosen Aktivismus. Die Einwände afrikanischer Kritiker stoßen hingegen auf taube Ohren, Afrikaner und Afrikanerinnen werden viktimisiert, sie haben Opfer zu sein.

Beide Positionen – selbst verschuldet versus fremdverschuldet – greifen zu kurz. Denn es ist eine Mischung aus internen und externen Faktoren, die Afrika so große Probleme bereitet: einerseits die Spätfolgen des Kolonialismus und das räuberische Weltwirtschaftssystem, das der global entfesselte Kapitalismus noch räuberischer macht, andererseits die schlechte Regierungsführung in vielen Ländern und, drittens, die Synergien, die sich daraus ergeben, die Kollusion der einheimischen Machteliten mit ausländischen Partnern – mit Ölmultis, Bergbaumagnaten, Waffenhändlern, Steuerhinterziehern, Strategieberatern, Anwälten, Wirtschaftsprüfern und Bankern –, die helfen, die gestohlenen Milliarden in Steueroasen zu schleusen.

Axelle Kabou argumentiert stellenweise grobschlächtig, ihre Generalisierungen – »die Afrikaner« – sind ärgerlich. Doch bei allen Einschränkungen stimme ich ihrem Befund zu: Machtmissbrauch, Inkompetenz, Planlosigkeit und endemische Korruption sind die größten Entwicklungshemmnisse. Die politischen Eliten regieren seit der Unabhängigkeit souveräne Staaten, doch in vielen Fällen sind sie weder willens noch fähig, diese in eine bessere Zukunft zu führen. Ihre Herrschaft muss sich nicht legitimieren, sie beruht auf dem Recht des Stärkeren. Sie plündern ihre Nationen, bereichern sich maßlos und scheren sich einen Teufel um das Wohlergehen der Allgemeinheit. Die vielleicht größte Enttäuschung ist, dass auch meine Wahlheimat Südafrika in den Abgrund gewirtschaftet wird – das reichste Land des Kontinents, das nach der Überwindung der Apartheid ein leuchtendes Vorbild für Afrika war. Millionen von Südafrikanern, die in einer friedlichen Revolution für Freiheit, Gleichheit und Versöhnung gekämpft haben, sind desillusioniert. Spätestens in der Amtszeit von Präsident Jacob Zuma mussten sie feststellen, dass sie von einer Diebesbande regiert werden. Die einstigen Befreier haben nichts aus den postkolonialen Fehlentwicklungen gelernt, es ist, als würde sich die Geschichte wiederholen.

In den Gründerjahren war der Kontinent noch von den Nachwehen der Unabhängigkeit geprägt, in vielen jungen Staaten herrschten üble Militärdiktaturen, die sich von ihren ideologischen Verbündeten in Moskau, Washington oder Paris alimentieren ließen. Es kam serienweise zu Staatsstreichen, Despoten wurden gestürzt, neue Despoten stiegen auf. Als ich 1993 nach Südafrika übersiedelte, schien eine neue Epoche heraufzudämmern. In Berlin war die Mauer gefallen, der Kalte Krieg ging zu Ende. Das Rassistenregime der Apartheid, die letzte Bastion kolonialer Herrschaft, musste kapitulierten, Namibia war unabhängig geworden, überall auf dem Kontinent erscholl der Ruf nach Freiheit. Nationalkonferenzen arbeiteten fortschrittliche Verfassungen aus, in zahlreichen Ländern wurden Mehrparteiensysteme eingeführt. Doch der »Wind of Change« war nur ein laues Lüftchen. Schon bald erwies sich die von breiten Volksbewegungen erstrittene Demokratie nur als Fassade, hinter der die alten Machtstrukturen fortdauerten. Es galt und gilt jene Dialektik, die der französische Entwicklungsexperte Jean-Pierre Foirry formuliert hat: »Ein Land ist nicht nur arm, weil es schlecht regiert wird; es wird auch schlecht regiert, weil es arm ist.«

Dennoch habe ich Afrika nie als Weltsozialfall oder K-Kontinent abgeschrieben, als verlorenen Kontinent der Kriege, Krankheiten und Katastrophen. Umgekehrt gehörte ich aber auch nicht zu den blauäugigen Chronisten, die die Verhältnisse auf diesem Erdteil gern beschönigen und kleine Erfolgsgeschichten zum großen Aufbruch hochjubeln. Ich habe vielmehr versucht, zwischen den Untergangspropheten und den Romantikern ein Afrorealist zu bleiben. Mein Leitspruch: Die Lage ist ernst, aber keineswegs aussichtslos. Denn Afrika birgt gewaltige Potenziale: Es zählt zu den rohstoffreichsten Kontinenten der Erde, es hat fruchtbares, aber großflächig untergenutztes oder brachliegendes Agrarland. Und es hat eine junge, schnell wachsende Bevölkerung. Schon im Jahr 2050, wenn geschätzte 2,5 Milliarden Menschen in Afrika leben werden, wird dieser Erdteil jeden vierten Weltbürger beheimaten. Europa wird die Umbrüche auf dem Nachbarkontinent nicht mehr ignorieren können und seine Festungspolitik durch echte Kooperation ersetzen müssen – jenseits der Angst vor der angeblichen verheerenden »Bevölkerungsexplosion« und einer anschwellenden »Flut« von Migranten und Flüchtlingen.

Das Zerrbild, das sich die Außenwelt von Afrika macht, ist nach wie vor geprägt von den in der Kolonialära entstandenen Klischees und Stereotypen. Diese Wahrnehmungsraster blenden die enormen Entwicklungssprünge in jüngster Vergangenheit aus. Sie sind vor allem auf die steigenden Rohstoffpreise zurückzuführen, die vielerorts einen wirtschaftlichen Aufschwung auslösten. Einstige Armenhäuser wie Äthiopien verzeichneten zeitweise die höchsten Wachstumsraten der Welt. »Afrika hebt ab«, titelte der britische Economist, das einflussreiche Wirtschaftsmagazin, das noch ein paar Jahre zuvor den Niedergang des Erdteils prophezeit hatte. Gleichzeitig öffnete die digitale Revolution neue Horizonte. Vor vierzig Jahren suchte ich oft vergeblich nach einem Festnetzanschluss. Unterdessen nutzen über eine Milliarde Afrikaner ganz selbstverständlich Handys und Smartphones. In Nairobis »Silicon Savannah« und den IT-Hubs anderer afrikanischer Metropolen wurde eine Reihe von innovativen Diensten und Apps entwickelt. Zum Beispiel M-Pesa, ein bargeldloses Zahlungssystem per Mobiltelefon, das inzwischen weltweit genutzt wird. In den Bereichen Bildung, Gesundheit und Landwirtschaft finden mittlerweile viele digitale Instrumente Anwendung. Sie beschleunigen einen Prozess, den man Leapfrogging nennt: Afrika überspringt einfach Phasen der Industrialisierung und landet direkt im Informationszeitalter. Die rasante Ausbreitung der sozialen Medien verändert auch die Politik und beflügelt demokratische Bewegungen. Ohne diese Kommunikationskanäle wäre etwa der Sturz der Diktatur im Sudan im Jahr 2018 nicht möglich gewesen.

Wenn Historiker dereinst auf die Zeit nach der Jahrtausendwende zurückblicken, werden sie eine weitere fundamentale Veränderung in Afrika registrieren, eine geradezu tektonische Verschiebung, die ein neuer Global Player ausgelöst hat: China. Die aufstrebende Wirtschaftsweltmacht hat die traditionellen Handelspartner aus Europa und Nordamerika abgehängt, sie beutet die Bodenschätze des Erdteils im großen Stil aus und überschwemmt seine Märkte mit Billigwaren. China führt den zweiten Wettlauf um Afrikas Reichtümer an (der erste fand in der Kolonialära statt), aber auch andere Länder nehmen neuerdings daran teil, Japan, Indien, Südkorea, Brasilien, Russland, die Türkei, arabische Staaten. Der senegalesische Kommentator Adama Gaye befürchtet einen »zweiten Kolonialismus«, der vom Reich der Mitte angeführt wird. In seiner Kampfschrift Der Drache und der Strauß ist Afrika, der flugunfähige Vogel, dem alles verschlingenden Lindwurm aus dem Fernen Osten wehrlos ausgeliefert. Doch China, gesteuert von einer imperialistisch auftrumpfenden Kommunistischen Partei, investiert auch Milliardensummen in die marode Infrastruktur Afrikas, in Straßen, Bahnlinien, Flug- und Seehäfen, Pipelines, Staudämme, Mobilfunknetze. Wie auch immer man die mitunter ziemlich rücksichtslose Expansionsstrategie Pekings bewerten mag, eines lässt sich schwerlich bestreiten: Mit seinen Megaprojekten hat China in den letzten zwanzig Jahren wirtschaftlich mehr bewegt als die westliche Entwicklungshilfe in sechzig Jahren. Plötzlich riefen einem die Kinder in den hintersten Dörfern »China! China!« nach – als hätte der weiße Mann seine Schuldigkeit getan.

»West is best«, das war einmal. Jetzt heißt die Devise: »Look East!« Die Zusammenarbeit mit dem machtstrotzenden »Bruder« aus Fernost verschafft den in Misskredit geratenen afrikanischen Herrschern üppige Finanzmittel und neue Legitimität. Sie kopieren das erfolgreiche Modell der chinesischen Entwicklungsdiktatur und müssen sich nicht mehr herumschlagen mit den lästigen Konditionen westlicher Partnerländer (Menschenrechte, Transparenz, Umweltauflagen, Arbeitsschutz usw.), die deren Konzerne oft selbst unterlaufen. Die liberale Demokratie hat ohnehin an Attraktivität verloren, weil sie in vielen Gesellschaften das Versprechen von mehr Wohlstand für alle nicht einlösen konnte. Ein Politiker aus Burundi brachte dieses Dilemma auf den Punkt: »Brauchen wir drei Parteien oder drei Mahlzeiten am Tag?«

Afrikanische Lösungen für afrikanische Probleme: Dieses Motto hat sich die Afrikanische Union auf ihre Fahnen geschrieben. In der Agenda 2063 kündigt sie die radikalsten Reformen an, die je angepackt wurden, sie will sogar eine panafrikanische Freihandelszone schaffen, einen Kontinent ohne Grenzen, der dann, gemessen an der Zahl seiner Staaten, der größte integrierte Wirtschaftsraum der Welt wäre. Ob der Aktionsplan wieder nur eine leere Versprechung bleibt, wird sich zeigen. Denn die Erblasten sind enorm: Der Erdteil leidet immer noch unter den Nachwirkungen des Kolonialismus; er ist nach wie vor marginalisiert, hat auf der geopolitischen Bühne wenig zu melden und wird in einem ungerechten Weltwirtschaftssystem massiv benachteiligt: Afrika liefert Rohstoffe und unverarbeitete Agrarerzeugnisse, die Wertschöpfung findet anderswo statt. Zudem wird seine fragile Landwirtschaft durch Billigimporte aus der EU schwer geschädigt. Hinzu kommen neue, beunruhigende Herausforderungen: der Klimawandel, unter dessen Folgen die Afrikaner am meisten leiden, obwohl sie am wenigsten zu den Ursachen beitragen; der islamistische Terrorismus, der sich in den Armutszonen des Sahel ausbreitet; schließlich die Überbevölkerung in einigen Regionen.

Andererseits: Gerade das schnelle Bevölkerungswachstum könnte vom Fluch zum Segen werden, wie der Aufstieg der asiatischen Tigerstaaten lehrt. Dort hat die hohe Zahl von arbeitsfähigen jungen Menschen bei einem geringen Anteil von Alten einen wirtschaftlichen Aufschwung ausgelöst, der wiederum zu einem Rückgang der Geburtenraten führte. Die »demografische Dividende« setzt allerdings eine weitsichtige Wirtschaftspolitik und nachhaltige Strategien in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Familienplanung voraus. Sollte es kommenden Generationen gelingen, fundamentale Reformen zu verwirklichen, könnte sich Afrika in einen Kontinent ungeahnter Möglichkeiten verwandeln. Davon ist jedenfalls eine neue, selbstbewusste Bewegung von afrikanischen Intellektuellen und Vordenkern des Postkolonialismus überzeugt. In seinem Buch Afrotopia fordert etwa der senegalesische Sozialwissenschaftler Felwine Sarr seine Landsleute auf, endlich nachzuholen, was sie seit der Unabhängigkeit versäumt haben: die geistige Selbstermächtigung, um nach Jahrhunderten der Ausbeutung und Demütigung ihren Minderwertigkeitskomplex zu überwinden und ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen.

Zugleich aber gilt, was uns die sambische Wirtschaftswissenschaftlerin Dambisa Moyo ins Stammbuch schreibt: »Die Welt muss sich engagieren und helfen, die Probleme Afrikas zu lösen, denn sie werden eher früher als später zu globalen Problemen werden.« So gesehen läuft Afrika, der benachteiligte Süden überhaupt, der Globalisierung nicht hinterher, sondern voraus. Schon während der Kolonialära war der Kontinent ein regelrechtes Laboratorium, in dem die Europäer repressive Verwaltungsapparate, polizeistaatliche Methoden, militärische Strategien und Formen brutaler Arbeitsdisziplin erprobten; sie versklavten die Menschen, bauten Konzentrationslager, trennten Wohngebiete nach Rassen, führten medizinische Experimente durch, entwickelten Maßnahmen zur Bevölkerungskontrolle, Sozialhygiene und Seuchenbekämpfung. Die Geschichte der Moderne sei ein welthistorischer Prozess, der sowohl von ihren Peripherien als auch von ihren Zentren her erzählt werden könne, befinden die südafrikanischen Anthropologen Jean und John Comaroff. Der globale Süden, insbesondere Afrika, erscheint in diesem Narrativ als unterdrückte Kehrseite des Nordens. In der südlichen Hemisphäre zeichne sich die Dynamik, die unseren Planeten bedrohe, früher ab: der enthemmte Kapitalismus, der beschleunigte Raubbau an der Natur, die Plünderung von Gemeingütern, das schwindende Vertrauen in staatliche Institutionen, die Unregierbarkeit von Megacitys, die massenhafte Zunahme des Homo sacer, des Wegwerfmenschen, der in der weltweiten Produktions- und Konsumschlacht nicht mehr gebraucht wird. Die rigiden wirtschaftlichen Strukturanpassungsprogramme, die die Europäische Union unter deutschem Kommando Griechenland aufgezwungen hat, mussten afrikanische Staaten schon viel früher über sich ergehen lassen. Und in den verheerenden Aids-Jahrzehnten haben Millionen von Afrikanern und Afrikanerinnen längst die Erfahrung einer tödlichen Pandemie gemacht, die wir jetzt, im Zeitalter von Corona, erstmals teilen.

In den folgenden Kapiteln will ich noch einmal Streiflichter auf meine Zeit in Afrika werfen und das Augenmerk auf die großen Herausforderungen der Gegenwart lenken: Klimawandel, Bevölkerungswachstum, Ernährungskrise, Migration, Krieg und Terror. Es sind Parameter für die Vermessung der Zukunft. Zugegeben, ich schaute manchmal in Abgründe, die mich zutiefst pessimistisch stimmten. Und dennoch wirken die positiven Eindrücke und Erfahrungen stärker nach, die unerschütterliche Zuversicht, mit der afrikanische Menschen existenzielle Krisen bewältigen, die uns Europäer in den Wahnsinn treiben würden, die Schönheit ihrer Kulturen, die Kraft der Versöhnung, der Gemeinsinn, das heitere Alltagsleben, das nicht in unser Bild vom leidenden, hungernden, verzweifelten Erdteil passen will. Dieses Buch ist auch der Versuch eines Rechenschaftsberichts über mein Verhältnis zu Afrika, über die Lektionen, die ich gelernt habe, und darüber, wie mich der Kontinent verändert hat, auf dem ich fast die Hälfte meines Lebens verbracht habe.

Kapstadt, im Frühjahr 2021

EVAS KINDER

Auf den Spuren unserer Urahnen im Süden Afrikas

Dies ist eine lange Reise. Sie führt uns weit in die Vergangenheit Afrikas, bis in die Altsteinzeit, und von dort wieder zurück in die Gegenwart, ins Büro des Friedensnobelpreisträgers Desmond Tutu in Kapstadt. Sie beginnt im Herbst 2009 irgendwo in der unermesslichen Weite der Wüste Kalahari, wo sechs mit Rinden gedeckte Rundhütten stehen. Hier lebt ein Mann namens !Gubi mit seiner Sippe. Seine Frau und die Töchter sitzen im Halbkreis und nähen Lendenschurze aus Wildhäuten. Nackte, staubüberpuderte Kinder hüpfen um die glimmende Feuerstelle und mustern die hellhäutigen Besucher. /Aaban, der älteste Sohn von !Gubi, prüft die Spitzen seiner Giftpfeile. Er will auf die Jagd gehen, die Großfamilie hat seit zehn Tagen kein frisches Fleisch mehr gegessen. Aber die Schatten sind noch zu kurz an diesem glutheißen Nachmittag. Kam//’ai, die älteste Tochter, kichert, weil wir uns ständig die Zunge brechen. Wir können die Namen der Familienmitglieder nicht aussprechen und nur mit Hilfsbuchstaben schreiben. Die Schrägstriche und Sonderzeichen stehen für wunderliche Klick- und Klacklaute; sie klingen wie das Schnalzen der Fuhrknechte oder das Ploppen von Korken.

!Gubi hat sich unter einem blühenden Mankettibaum niedergelassen, ein klein gewachsener, feingliedriger Mann mit straffen Muskeln. Er mag achtzig Jahre alt sein, in seinem zerfurchten Gesicht kann man das hohe Alter ahnen. Wann genau er geboren wurde, kann er nicht sagen, in der Kultur seines Volkes, der San, wird die Zeit nicht nach Jahren gemessen. Und was die Weißen wollten, die eines Tages kamen und ihm Blut abzapften, weiß er auch nicht so genau. Erst dachte !Gubi, sie würden die üblichen Gesundheitstests durchführen, Tuberkulose, Infektionskrankheiten, Aids. Aber diesmal ging es um etwas ganz anderes. »Sie wollten wissen, wie mein Blut aussieht«, sagt !Gubi. Er deutet auf seine Armbeuge. »Hier haben sie hineingestochen.« Jetzt gehört er neben weltberühmten Wissenschaftlern wie dem Biochemiker Craig Venter oder dem Molekularbiologen James Watson zu den acht Menschen, deren Erbgut vollständig entziffert wurde.

Die Gendaten der afrikanischen Jäger und Sammlerinnen sind ein unschätzbarer Gewinn für die Wissenschaft vom Menschen. Sie können den San etwas zurückgeben, was sie wohl dringender benötigen als alles andere: Würde. Und Stolz auf ihre Herkunft. Die Botschaft aus den Erbmolekülen lautet: Die kleinen Leute mit der Klicksprache sind gleichsam die Kinder von Adam und Eva. Natürlich haben auch sie 200000 Jahre evolutionärer Veränderung hinter sich, seit sich die Spezies Homo sapiens in Afrika entwickelte. Doch in ihren Erbanlagen, das zeigen die Tests der Forscher, schlummert ein besonderer Schatz: Sie tragen viel von der ursprünglichen genetischen Vielfalt unserer Urahnen in sich. !Gubi repräsentiert die älteste Abstammungslinie der Menschheit. Das ist kein »Verdienst« seiner Ethnie, sondern eher das Resultat ihres tragischen Schicksals: Die Untergruppen der San haben sich kaum vermischt, erst, weil sie geografisch isoliert lebten, dann, weil sie nicht nur von den Weißen, sondern ebenso von den Schwarzen diskriminiert wurden. Bei einer der Blutabnahmen erkundigte sich eine Frau misstrauisch: »Wollt ihr etwa beweisen, dass wir Affen sind?«

Ob die Hautfarbe der Bewohner Afrikas schwarz oder braun war, die europäischen Völkerkundler machten da keinen Unterschied. Schon 1790 fabulierte der Göttinger Philosoph und Ethnograf Christoph Meiners über die Natur der »Neger«: Sie seien »wegen ihrer Dummheit zur Knechtschaft geboren« und hätten nichts zum Fortschritt der Menschheit beigetragen. In seinen Schriften stand »der Afrikaner« dem Tier näher als dem Menschen, er war nur ein primitiver Wilder, ohne Geschichte, ohne Schrift, ohne Rechenkunst. Stattdessen: Kannibalismus, Vielweiberei, Götzenglaube. Derlei »Weltweisheiten« sollten im 19. Jahrhundert von Pseudowissenschaftlern wie Arthur de Gobineau oder Houston Stewart Chamberlain zur modernen Rassenlehre vertieft und von den kolonialen Herrenmenschen in die Praxis umgesetzt werden. In Südafrika klassifizierte das Apartheidregime Schwarze und sogenannte Coloureds, Farbige, als minderwertige Rassen, und noch eine Ebene darunter wurden die indigenen Völker eingeordnet, die San und die Khoikhoi, die man Buschmänner und Hottentotten nannte.

Der koloniale Blick ist bis heute ungebrochen und universell. In den Vereinigten Staaten, in Brasilien, in Großbritannien, in den Banlieues von Paris, wo immer afrikanische Auswanderer oder die Nachfahren verschleppter Sklaven leben, überall stehen sie auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie, überall werden sie systematisch benachteiligt, erniedrigt, beleidigt, eingesperrt, umgebracht. Die weltweite Verachtung schwarzer Menschen gründet auf rassistischen Konstruktionen, die sich in das Bewusstsein weißer Menschen eingesenkt haben. Eine Mail in schlechtem Deutsch, die ich von einem Spiegel-Leser aus Hawaii erhielt, sagt alles: »Überall wo Neger auftreten, geht die Zivilisation kaputt und Elend regiert. Neger sind das Ende alles guten Lebens, und ihr Eindringen nach Europa ist langfristig schlimmer als sämtliche Weltkriege.«

Die Ureinwohner Afrikas wandern seit Jahrtausenden durch die Wüsten, Savannen und karstigen Gebirge im Süden des Kontinents. Sie folgen dem Mondlicht und den Sternen, den Regenwolken, Trockenflussläufen und Tierfährten, und sie hinterlassen grandiose Felsmalereien. Die Männer jagen mit Pfeil und Bogen nach Giraffen, Antilopen oder Stachelschweinen. Die Frauen sind die Hauptversorgerinnen der Gemeinschaft, sie nehmen uns zum Sammeln mit. Busch, Busch, nichts als Busch. Trampelpfade von irgendwo nach nirgendwo. Dichtes Strauchwerk, mannshohe Termitenhügel, dornige Akazien, trockenes Geäst, heudürre Gräser unter sengender Hitze. Kein Wasser. Kein Schatten. Kein Lebenszeichen. Sogar das Gesirr der Insekten ist verstummt. Wir haben längst die Orientierung verloren. Von Zeit zu Zeit drehen sich die Frauen nach uns um. Sie kichern über die schweißnassen Bleichgesichter, die blind wie die Engerlinge hinter ihnen herstapfen. Sie huschen ins Dickicht, saugen Saft aus Wurzeln, zerkauen Lianen, pflücken hier eine Handvoll quittengelber Beeren, ernten dort ein paar Baumfrüchte, wo wir Europäer nur lebensfeindliche Wildnis sehen. Für die Sammlerinnen ist der Busch ein Garten, und sie haben von klein auf gelernt, ihn wie ein Buch zu lesen. Die Nahrung ihres Volkes besteht zu achtzig Prozent aus Feldkost: Mankettinüsse und Baobabfrüchte, Wurzeln und Zwiebeln, Beeren und Zuckerpflaumen, Melonen, Trüffeln, Buschgurken und allerlei Grünzeug. Sie kennen zweihundert essbare Wildpflanzen. Der vegetarische Speiseplan wird durch Vogeleier, Echsen, Schildkröten, Raupen, Würmer und Käfer ergänzt. //Xukxa holt mit ihrem Grabstock – ein Eisenstab mit geplätteter Spitze – N/uih aus der Erde, einen Wurzelstrang mit runden Knollen, die nach rohen Erbsen schmecken. Tcoqa hat N/ama gesammelt, eine Abart der Süßkartoffel. //Uce hält stolz eine Delikatesse hoch: Sieht aus wie ein Krake mit regenwurmdicken, spargelbleichen Tentakeln, schmeckt nach Bambussprossen. Die Tragetücher sind prall gefüllt, Zeit zur Heimkehr.

Vor rund tausend Jahren, als Bantuvölker aus dem Norden einwanderten und um Land und Nahrung konkurrierten, sollten die stillen Tage der Jäger und Sammlerinnen zu Ende gehen. Im 19. Jahrhundert drangen die weißen Invasoren aus dem Süden vor: Missionare und Kolonialoffiziere, Diamantensucher, Elfenbeinhändler, Großwildjäger, Siedler. Die Ureinwohner hatten der geballten Macht der Europäer und Afrikaner nichts entgegenzusetzen. Sie wurden versklavt oder abgedrängt in die unwirtlichen Randzonen der Kalahari und nahezu ausgerottet. Sie verloren ihre Jagdgründe, ihre Wasserstellen – und ihre Zukunft. Viele ihrer nach Sprachen und Dialekten unterteilten Gruppen haben sich den Kulturen schwarzer Ackerbauern und Viehzüchter angepasst, sie treiben Handel mit ihnen und übernehmen deren Wirtschaftsweisen, soziale Hierarchien und Glaubensrituale. Doch die letzten traditionellen Sippen leben nach wie vor in egalitären Gemeinschaften, Männer und Frauen haben feste Aufgaben und Rollen. Alle sind gleichgestellt, alle müssen alles teilen, um in einer extremen Umwelt zu überleben. Die sesshaften San hausen in slumartigen Dörfern in Botswana, Südafrika und Namibia. Oder in Reservaten, in die sie zwangsumgesiedelt wurden, weil man in ihren Lebensräumen Bodenschätze entdeckt oder sie für den Tourismus erschlossen hatte. Sie wurden und werden von vielen Afrikanern und Europäern als Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt. Trotz ihrer Zehntausende Jahre alten Kultur gehören die San zu den bedrohten Völkern, die keine politische Stimme haben. Sie zählen nur noch rund 100000 Menschen. Die Mehrheit ist bitterarm und kann weder lesen noch schreiben – ehedem freie Nomaden, herabgewürdigt zu Sozialhilfeempfängern.

!Gubi verdrießt besonders, dass er nicht mehr jagen kann. Das liegt an seinen lädierten Knien, vor allem aber daran, dass er keine n!ore mehr hat. Dieses Wort bezeichnet den »Platz, der dir Nahrung und Wasser gibt«. Das Land wird jetzt von weißen Farmern oder von der Regierung beansprucht, die es schwarzen Volksgruppen wie den Herero oder Tswana zugeteilt hat. Landbesitz? Das klingt in den Ohren von !Gubi so absurd, als würde jemand die Sonnenstrahlen oder die Luft zum Atmen sein Eigen nennen. Auch die Vorstellung von Zäunen und Grenzen läuft seinem Weltbild zuwider, zum Beispiel die Trennlinie zwischen Botswana und Namibia, die vom Lagerplatz seiner Großfamilie nur ein paar Kilometer entfernt ist. »Die Bäume, die Büsche, die Tiere, alles ist gleich. Eine Grenze ist erst da, wo ich nicht mehr weitergehen kann, am Ufer des Meeres oder in den hohen Bergen.« Neulich wurde sein Sohn /Aaban am Sperrzaun von botswanischen Wildhütern festgenommen; er hatte im Nachbarland einen Springbock erlegt. Sie konfiszierten die Beute und sperrten ihn ein. »Mein Großvater hat mir erzählt, dass wir die allerersten Menschen hier waren«, sagt !Gubi. »Wie kann das, was wir schon immer getan haben, ein Verbrechen sein?«

Blasiert, kühl, misstrauisch, fantasielos. Aber auch: mutig, entschlossen, zäh. Diese Charakterlehre stammt vom Wiener Naturhistoriker Viktor Lebzelter, der die San 1926 bis 1928 heimsuchte. Dreißig Jahre später lieferte Laurens van der Post das Gegenstück. Der Südafrikaner schwärmte von den »herzensreinen« Steinzeitmenschen, von ihrer »wilden Tierhaftigkeit«, von der »echten Weiblichkeit« der Frauen. Und manche dieser edlen Wilden mit dem lustigen Pfefferkornhaar, der aprikosengelben Haut und dem dunklen Augengrund von Antilopen schienen gar einen Heiligenschein zu tragen. Ethnokitsch pur, nachzulesen in dem Buch Die verlorene Welt der Kalahari. Immerhin belegt es: Die Romantik ist eine Tochter der Zerstörung. Vergebens versuchen die Dichter zu retten, was ihre Raubzivilisation zerstört hat.

Unterdessen dämmert es, die glutrote riesige Sonnenscheibe versinkt im Busch. Sie setzt sich zum Essen auf die Erde, sagen die San. !Gubi kauert am Feuer und schmaucht eine Pfeife. Sein größter Wunsch? Er muss nicht lange überlegen. »Ein Platz, an dem wir in Frieden gelassen werden.«

Seit mindestens 200000 Jahren ist Afrika die Heimat der Menschen, sie existieren dort länger als auf jedem anderen Kontinent. Deshalb sind Afrikaner und Afrikanerinnen genetisch, kulturell und sprachlich so vielfältig – der Erdteil beherbergt bis heute zweitausend ethnische Gruppen und ein Drittel der bekannten Sprachen. Die gesamte nichtafrikanische Weltbevölkerung hingegen stammt von kleinen Migrantengruppen ab, die vor höchstens 100000 Jahren aus ihren Ursprungsgebieten auswanderten und nur einen Bruchteil des biologischen und kulturellen Reichtums mit sich nahmen. »Das ist, als wenn man aus einem Topf mit Tausenden verschiedenfarbigen Kugeln eine Handvoll herausnimmt«, sagt Wolfgang Enard vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Genetik in Leipzig.

Bislang haben die Wissenschaftler sich vor allem mit dieser Stichprobe befasst – den Genen von Europäern und Asiaten. Mit der Dekodierung des Erbguts der San schauen sie nun erstmals in den ganzen Topf. »Wir sehen, dass die Unterschiede zwischen zwei Buschmännern größer sind als zwischen einem Europäer und einem Asiaten«, sagt Enard. Genetische und linguistische Untersuchungen deuten darauf hin, dass sich die San schon vor 35000 Jahren von einer Menschengruppe abgespalten haben, aus der auch die Pygmäen und zwei weitere Urvölker hervorgingen. Auf ihrer Passage in die Gegenwart haben die San eine Menge genetischer Veränderungen durchgemacht. !Gubi besitzt rund eine Million kleine Unterschiede in seinen Erbmolekülen, die bei keinem anderen Menschen zuvor gefunden wurden. Und trotz der tiefen Verwurzelung seiner Ethnie im menschlichen Stammbaum sind diese genetischen Besonderheiten erst in jüngerer Zeit neu entstanden. Für die Wissenschaft sind solche Befunde wichtig. Sie zeigen, wie ungeahnt groß der genetische Reichtum der Menschheit in Wahrheit ist. Für die San hingegen könnte eine andere Erkenntnis bedeutender sein: Sie sind, das beweisen ihre Gendaten, ausgesprochen moderne Menschen. »!Gubi«, sagt die amerikanische Populationsgenetikerin Katherine Pollard von der University of California in San Francisco, »ist alles andere als ein genetisches Fossil.« Sein Erbgut sei ebenso wie das anderer Menschen ein Resultat dramatischer Wandlungen seit der Entstehung unserer Spezies.

Unsere Reise führt tausend Kilometer weiter, nach Tsumkwe, ans Nordende der Kalahari. Es ist das Verwaltungszentrum des Distrikts, der den Ju/’hoansi zugeteilt wurde, der größten Untergruppe der San. Ein tristes Nest, Polizei, Gericht, Krankenstation, Tankstelle, Kirchen, Funkmast, zwei Läden. Am Rande der Siedlung treffen wir D#kgao, die Testperson TK1. Ein paar Windschirme aus zerschlissenen Decken, das Gelände ringsum übersät von Müll, Plastiktüten, Scherben, rostigen Blechteilen – das Camp sieht verwahrlost wie ein Notlager aus.

D#kgao erhält pro Monat umgerechnet rund 45 Euro Altersrente. Das muss für seine vier Söhne, drei Töchter und eine Schar von Enkelkindern reichen. Hin und wieder geht ein Gemsbock in eine der Eisenfallen, die Frauen verkaufen Schmuck an Touristen, irgendwie kommt man durch. D#kgao, ein drahtiger Alter, aus dessen Augen der Schalk blitzt, ist jedenfalls ganz zufrieden. Es klingt auch nicht larmoyant, wenn er beklagt, dass die Jungen vergessen haben, wie man jagt und sammelt. So ist die neue Zeit eben, das moderne Leben in Tsumkwe. Die Leute schauen Fernsehen, kurven in Gebrauchtautos herum, essen tiefgefrorene Kudu-Steaks, trinken Alkohol.

120 Shebeens, illegale Kneipen, soll es in Tsumkwe geben. Welche Folgen das hat, konnte ich bei einer früheren Exkursion besichtigen. Es war gerade Zahltag, die San kamen aus dem Umland, um ihre Rente abzuholen – und marschierten mit ihrer Gefolgschaft schnurstracks in eine der Freiluftschänken, die meistens von Herero-Frauen betrieben werden. Binnen zehn Minuten waren die Zecher sturzbesoffen. Sie torkelten, lallten, stammelten, schrien, prügelten sich, und irgendwann sanken sie mit irrem Grinsen in den Staub. Sie hatten vergessen, wie sie heißen, wo sie leben, wer sie sind. Sesshaftigkeit und Sucht zerstören ihre Kultur.

»Unsere Zeit ist vorbei«: Der blinde alte Mann namens =Oma G/aqo prophezeit den Untergang seiner jahrtausendealten Kultur.

© Nordmeier, Alex

Tjum!kui, »Platz des Todes«, nennen die Ju/’hoansi ihre »Hauptstadt«. Es ist ein Ort, an dem das Orakel von =Oma G/aqo wahr wird. Diesen steinalten, blinden Mann traf ich damals in einer Siedlung namens !Ao=’a. Er erzählte vom guten Leben in seiner Jugend. Als er noch wie eine Gazelle rennen und dem Wild nachpirschen konnte. Als das Land noch unendlich und jungfräulich war. Aber dann sind die Schwarzen mit ihren Viehherden gekommen und die Weißen mit ihren Gesetzen und Gewehren. Schließlich wurden die Leute »eingepflanzt«, und die Kinder und Kindeskinder kennen die Zeit der Wanderungen nur noch aus Erzählungen. Irgendwann ist das Licht in =Oma G/aqos Augen erloschen. Er saß da wie Teiresias, der griechische Seher, hob beschwörend seine Arme und starrte mit leerem Blick in einen Dornbusch: »Unsere Zeit ist vorbei.« Ein Jahr später ging der alte Mann zu den Ahnen.

»So viel Blut haben sie genommen«, erzählt D#kgao und zeigt zwei Glieder seines Zeigefingers. »Sie sagten, dass sie es mit dem Blut der Weißen vergleichen werden. Sie wollen herausfinden, wer die stärksten Menschen sind.« D#kgao ist sehr gespannt auf das Ergebnis.

»Die Forscher haben versprochen wiederzukommen. Ich warte geduldig.« Die Forscher haben ihr Versprechen gehalten. Sie kehrten zurück und erzählten D#kgao, !Gubi und den anderen, was sie herausgefunden haben, all das Neue, das sie nun wissen über die San und den Rest der Menschheit. Eigentlich ist es eine ganz einfache Wahrheit: Jeder Mensch, ob ein Jäger und Sammler in der Kalahari, ein Filmstar in Hollywood oder ein Banker in Frankfurt, ist etwas ganz Besonderes. Und doch sind sie alle gleich.

Die Reise in die Frühzeit endet zweitausend Kilometer südlich von Tsumkwe, in Milnerton, einem Stadtteil von Kapstadt. Dort treffen wir den ehemaligen anglikanischen Erzbischof Desmond Tutu, der als Vorkämpfer gegen das weiße Rassistenregime weltberühmt wurde und den Friedensnobelpreis erhielt. Tutu ist die Testperson ABT, sein Genom wurde stellvertretend für afrikanische Bantu-Völker entschlüsselt. Das Ergebnis überrascht ihn nicht. »Die Menschheit ist eine große Familie. Jetzt ist wissenschaftlich bewiesen, was wir Theologen immer gesagt haben.« Der damals 78-jährige Kirchenmann wippt vergnügt in seinem Stuhl auf und ab. »Wir sind die Regenbogen-Nation«, prangt auf einem bunten Wandteppich hinter ihm – es ist die multiethnische Vision von Nelson Mandela. »Das Regime der Apartheid hat immer gesagt, die Khoikhoi und San seien nur Primitive. Sie sind unsere Ahnen, und dafür müssen wir dankbar sein.«