Buch
Madeleine »Max« Maxwell befürchtet, dass ihr Leben demnächst sehr trist und langweilig wird. Denn ihr wurde die ehrenvolle Aufgabe aufgezwungen, den Tag der offenen Tür von St. Mary’s zu organisieren. Das Event muss ein Erfolg werden – nicht dass ihr Chef Druck aufbauen würde …
Zum Glück kommt alles ganz anders, als fast die gesamte Crew der zeitreisenden Historiker im London des 17. Jahrhunderts verschwindet. Max bricht auf, um ihre Kollegen zurückzuholen. Das Fest vorzubreiten und die Welt zu retten verschiebt sie eben auf später. Ist ja kein Problem für eine Zeitreisende – hoffentlich …
Autorin
Jodi Taylor war die Verwaltungschefin der Bibliotheken von North Yorkshire County und so für eine explosive Mischung aus Gebäuden, Fahrzeugen und Mitarbeitern verantwortlich. Dennoch fand sie die Zeit, ihren ersten Roman »Miss Maxwells kurioses Zeitarchiv« zu schreiben und als E-Book selbst zu veröffentlichen. Nachdem das Buch über 60 000 Leser begeisterte, erkannte endlich ein britischer Verlag ihr Potenzial und machte Jodi Taylor ein Angebot, das sie nicht ausschlagen konnte. Ihre Hobbys sind Zeichnen und Malerei, und es fällt ihr wirklich schwer zu sagen, in welchem von beiden sie schlechter ist.
Die spektakulären und unabhängig voneinander lesbaren Abenteuer der zeitreisenden Madeleine »Max« Maxwell bei Blanvalet:
1. Miss Maxwells kurioses Zeitarchiv
2. Doktor Maxwells chaotischer Zeitkompass
3. Doktor Maxwells skurriles Zeitexperiment
4. Doktor Maxwells wunderliches Zeitversteck
5. Doktor Maxwells spektakuläre Zeitrettung
6. Doktor Maxwells paradoxer Zeitunfall (in Planung)
E-Book Short-Storys:
Doktor Maxwells weihnachtliche Zeitpanne
Doktor Maxwells römischer Zeiturlaub
Doktor Maxwells winterliches Zeitgeschenk
Weitere Bände in Vorbereitung
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Roman
Deutsch von Marianne Schmidt
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
»No Time Like the Past (The Chronicles of St. Mary’s Book 5)«
bei Accent Press, Cardiff Bay.
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Copyright der Originalausgabe © 2015 by Jodi Taylor
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Werner Bauer
Umschlaggestaltung und Artwork: © Isabelle Hirtz, Inkcraft
unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock.com
(adamcarl90; TRONIN ANDREI)
HK · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-27969-1
V002
www.blanvalet.de
Für
den besten Haufen loyaler und begeisterter Fans,
den sich eine Autorin nur wünschen kann.
Das St. Mary’s dankt für eure Unterstützung und
Ermutigung während der letzten vier Episoden.
Dieser Band, also Buch 5,
ist euch allen gewidmet.
Es war mir schon immer etwas merkwürdig vorgekommen, dass ein so altes Gebäude wie das des St.-Mary’s-Instituts keinen Geist beherbergen sollte.
Keinen kopflosen Mönch.
Keine graue Dame.
Keinen finsteren Schatten, der die Flure heimsucht und murmelnd mit Rache und Vergeltung droht, sodass einem das Blut in den Adern gefriert. Natürlich ist damit nicht Dr. Bairstow gemeint, der das Formular Lohnabzug zum Schadensausgleich verteilt. Als Markham also behauptete, er habe einen Geist gesehen, glaubte ihm niemand, und der Grund dafür, dass ihn niemand ernst nahm, war der, dass Markham die einzige Person war, die diesen Geist je zu Gesicht bekommen hatte.
Dann passierte es wieder.
Und dann erneut.
Und noch mal …
Und noch immer bemerkte niemand sonst etwas. Niemand außer Markham, der in mein Büro gestürzt kam, so aufgelöst, wie ich ihn noch nie erlebt hatte, und von etwas faselte, das kein anderer sehen konnte.
Was wir damals nicht begriffen: Der Grund, warum Markham als Einziger den Geist sehen konnte, war der, dass er selbst der Geist war.
Eine weitere Vollversammlung fand für die Belegschaft statt, angesetzt von Dr. Bairstow. Die erste seit unseren Scherereien mit der Zeitpolizei im letzten Sommer. Aber immerhin war diese Truppe verschwunden, und wir waren immer noch hier, der Großteil des Gebäudes war bereits renoviert worden und das St. Mary’s also wieder einsatzbereit.
Wir arbeiten im Institut für Historische Forschung im St.-Mary’s-Stift. Dort untersuchen wir größere historische Ereignisse in zeitgenössischer Umgebung. Um Himmels willen – man nenne es nicht Zeitreise. Die letzte Person, die das tat, bekam eins über den Schädel und wurde versehentlich die Treppe hinuntergestoßen.
Jedenfalls hatte sich das Gebäude von allen zugefügten Blessuren erholt, genau wie wir von unseren Verletzungen, und hier waren wir alle wieder und litten unter den Ausdünstungen von neuem Holz, feuchtem Gips und frischer Farbe. Nicht die besten Gerüche der Welt, aber immer noch eine enorme Verbesserung gegenüber Kordit, Blut und Niederlage.
Tim Peterson und ich saßen in der ersten Reihe und hatten Mienen von wildem Enthusiasmus und praktisch absoluter Hingabe aufgesetzt. Früher einmal hätten wir ganz hinten gehockt und Schiffe versenken gespielt, aber die leitenden Mitarbeiter mussten vorne Platz nehmen und Bereitschaft signalisieren. Das machte die Zerstörung der gegnerischen Flotte viel schwieriger, aber wir waren bereit, uns der Herausforderung zu stellen.
Und da kam auch schon der Boss. Er hinkte bis zum Treppenabsatz und blieb dort in seiner üblichen Haltung, schwer auf seinen Gehstock gestützt, stehen. Die kalte Wintersonne fiel durch das frisch erneuerte Oberlicht direkt über ihm, während er sein versammeltes Institut mit dem Blick eines ungeduldigen Geiers bedachte, der ein verendendes Gnu belauert und endlich zuschlagen will.
»Guten Morgen allerseits. Danke, dass Sie gekommen sind.«
Als ob wir irgendeine Wahl gehabt hätten.
»Wie Sie sehen können, nimmt St. Mary’s von heute 10.00 Uhr an die Arbeit wieder auf.«
Es gab höflichen Beifall. Die meisten von uns hatten die letzten drei Wochen richtig rangeklotzt, um die Bibliothek und das Archiv neu aufzubauen und überhaupt dabei zu helfen, das Gebäude wieder in Schuss zu bringen. Deshalb spielte es für den Großteil von uns keine große Rolle, ob das Institut nun geöffnet war oder nicht.
»Es gibt ein paar Veränderungen bei den Mitarbeitern zu verkünden. Wenn Sie bitte so nett wären, sich die Organigramme anzusehen, die zu Beginn dieser Versammlung von Mrs. Partridge verteilt worden sind …« Er machte eine kurze Pause für die traditionelle Panik all derer, die ihre Kopien bereits verbummelt hatten. Peterson und ich nutzten unsere Unterlagen, um die Position der jeweils anderen Armada auszukundschaften.
»Zuerst möchte ich Dr. Maxwell in ihrer Funktion als Leitende Missionschefin bestätigen.«
Wieder wartete er ab. Ich konzentrierte meine ganze Aufmerksamkeit auf meine gefährdeten Schlachtschiffe und drückte mir im Geist die Daumen. Es gab kurz Beifall, und ich stieß einen erleichterten Seufzer aus. Letztes Jahr zu Weihnachten hatte es diese Episode gegeben, bei der Dr. Bairstow von einer seltenen durchzechten Nacht aus Rushford zurückgekehrt war und festgestellt hatte, dass er auf mysteriöse Weise zwei zusätzliche Historiker gewonnen hatte. Alles in allem betrachtet, sage ich mal, hatte er das ganz gut aufgenommen. Sie waren jetzt nicht mehr hier, sondern orientierten sich neu und versuchten, sich an der Thirsk-Universität einzugewöhnen – ein notwendiges Prozedere nach einer so langen Zeit der Abwesenheit. Sie waren zehn Jahre lang vermisst gewesen. Und Ian Guthrie, für den die eine aufgefundene Historikerin eine wirklich ganz besondere Bedeutung hatte, hatte mich eines Tages im Flur abgepasst, mir sehr fest die Hand gedrückt und gesagt: »Ich schulde dir was, Max.« Dann war er schnell weitergegangen, ehe einer von uns beiden eine unschickliche Gefühlsregung hätte zeigen können.
Dr. Bairstow fuhr fort. »Dr. Peterson kehrt auf seinen ursprünglichen Posten als Leitender Ausbilder zurück. Chief Farrell nimmt seine Arbeit als einer der beiden Chefs der Technischen Abteilung wieder auf, und zwar an der Seite von Mr. Dieter. Miss Perkins wird zur Leiterin der IT-Abteilung ernannt und ersetzt damit Miss Barclay, die uns … verlassen hat.«
Ja, das hatte sie, verdammt noch mal. Sie war in dem allgemeinen Durcheinander entkommen, das entstanden war, als die Küchenbelegschaft das Gebäude mit mehlgefüllten Kondomen in die Luft gejagt hatte. Lange Geschichte. Allerdings war ein zerstörtes Gebäude ein kleiner Preis dafür, dass wir uns von Bitch Barclay befreit hatten. Bedauerlicherweise war sie nicht endgültig verschwunden, sondern steckte immer noch irgendwo da draußen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis wir wieder aufeinandertreffen würden. Sie hatte mir eine entsprechende Notiz hinterlassen.
Dr. Bairstow sprach weiter. »Ich möchte gerne Mr. Markham zu seiner Beförderung zur Nummer zwei der Sicherheitsabteilung gratulieren.«
Nein, ich hätte nie gedacht, dass er es über sich bringen würde, die Worte Nummer zwei und Mr. Markham im selben Satz zu benutzen. Es war, als ob er das Unglück herausforderte. Markham setzte sich kerzengerade hin und strahlte ihn freudig an. Seine Haare standen wie üblich in unregelmäßigen Büscheln ab. Er sah aus, als würde er wegen Räude behandelt. Und zwar keineswegs zum ersten Mal.
»Mrs. Partridge wird als meine persönliche Assistentin bestätigt, und Miss Lee kehrt auf ihren früheren Posten als Verwaltungsassistentin der Historischen Abteilung zurück.«
Die Historische Abteilung seufzte. Und ich ganz besonders. Ja, da saß sie, zwei Reihen weiter, und ihr kurzes, dunkles Haar wellte sich um ihren Kopf wie Medusas Schlangen, allerdings etwas furchteinflößender. Sie selbst bedachte die Versammelten mit ihrem starren Gorgonenblick, und sofort verstummten alle.
»Ganz besonders möchte ich unseren zurückgekehrten Hausmeister, Mr. Strong, begrüßen.«
Dieses Mal war der Applaus stürmisch und echt. Mr. Strong war ein alter Mann, und letztes Jahr hatte er alle Anweisungen missachtet, hatte sich seine Orden ans Revers geheftet und war angetreten, um für St. Mary’s zu kämpfen. Er war dabei verwundet worden – das waren wir alle. Einige von uns waren gestorben. Der Boss hatte ihn zur Genesung fortschicken wollen, aber er hatte sich höflich zu gehen geweigert und seine Zeit stattdessen damit zugebracht, in den Ruinen der Großen Halle herumzustapfen. Dort hatte er den Bauarbeitern mitgeteilt, was sie alles falsch machten, und hatte außerdem die GSHG, die Gesellschaft zum Schutz Historischer Gebäude auf die Palme gebracht, deren Leute eigentlich dafür da waren, die Reparaturen zu überwachen. Sie hatten sich beschwert, woraufhin ihnen Dr. Bairstow in einigen wohl gewählten Worten, die man überall im St. Mary’s hören konnte, verklickert hatte, dass Mr. Strong einer seiner meistgeschätzten Mitarbeiter sei und dass seine langen Jahre im St.-Mary’s-Institut ihn zu einer führenden Autorität in Fragen des Gebäudes und allem darin gemacht hätten. Sie hatten die Botschaft kapiert. Mr. Strong hatte sich jedoch als Zeichen seines guten Willens darauf eingelassen, einen zweiwöchigen Besuch bei seinen Enkeln einzuschieben.
»Mr. Strong hat mich gebeten, Sie daran zu erinnern, dass sich dieses Gebäude jetzt in einer besseren Verfassung als zu irgendeinem früheren Zeitpunkt in seiner langen Geschichte befindet, und erst recht, seitdem wir hier eingezogen sind. Deshalb wäre Mr. Strong Ihnen sehr verbunden, wenn Sie die größten Anstrengungen unternehmen könnten, dass das auch so bleibt. Und ich wüsste das ebenfalls zu schätzen.«
Er machte eine Pause, um seine Worte auf uns wirken zu lassen, und mittendrin flüsterte Peterson:
»B6.«
»Daneben.«
»Der normale Betrieb soll so bald wie möglich wieder aufgenommen werden. Die Historische Abteilung wird mir bis morgen ihren Plan mit den anstehenden Missionen und Empfehlungen vorlegen.«
»B7.«
»Mist!«
»Dr. Foster, bitte bestätigen Sie mir, dass das gesamte Personal aus medizinischer Sicht bereit ist, an die Arbeit zurückzukehren. Oder dass jeder wenigstens so fit ist, wie bestenfalls zu erwarten wäre.«
»B8.«
»Du schummelst doch, oder?«
»Die Technische Abteilung bestätigt bitte, dass alle Pods einsatzfähig sind.«
»B9.«
»Versenkt.«
»Dr. Peterson? Verfügen wir im Augenblick über irgendwelche Auszubildenden, oder haben die sich während unserer Unannehmlichkeiten im Laufe des Sommers in alle Winde zerstreut?«
»Nein und nein, Sir. Wir hatten auch schon vor diesen Schwierigkeiten keine Auszubildenden, ganz zu schweigen von danach. Unsere letzten Anwerbungsversuche waren … von keinem existenzfähigen Erfolg gekrönt.«
Dr. Bairstow seufzte ungeduldig. »Ich kann nicht verstehen, warum sich St. Mary’s so schwer damit tut, neue Mitarbeiter zu rekrutieren und zu halten.«
Vor meinem geistigen Auge sah ich die zerschmetterten Körper, halb unter Schutt begraben, das Blut überall, und ich hörte das Donnern der Explosionen …
»Bitte sammeln Sie Ideen und machen Sie Vorschläge dafür, wie wir künftiges Personal anlocken und, viel wichtiger, halten können. Bitte interpretieren Sie diese Anweisung nicht als Erlaubnis, mit Netzen und Seilen durch die Straßen zu ziehen und die Leute mit dem Königsschilling anzuwerben. Auch möchte ich keinerlei Versuche erleben, zukünftige Auszubildende an der Kündigung zu hindern, indem sie am Schreibtisch festgenagelt werden.«
»Sie erlegen uns unvernünftige Restriktionen auf, Sir, aber ich werde mein Bestes geben.«
Dr. Bairstow wandte sich nun einem anderen Thema zu, aber ich hatte Petersons Kreuzer aufgestöbert, die sich schlauerweise in der linken oberen Ecke seines A4-Ozeans versteckt hielten. Während der folgenden Zerstörungsorgie verpasste ich völlig, was der Boss als Nächstes sagte, und wurde erst wieder durch das traditionelle »Gibt es noch irgendwelche Fragen?« zurückgeholt, was Dr.-Bairstow-Sprech ist für »Ich habe Ihnen gesagt, was Sie zu tun haben, jetzt gehen Sie an die Arbeit.« Er war mal gezwungen worden, ein Seminar zu einfühlsamem Management zu besuchen, und in diesem hatte jemand all seinen Mut zusammengenommen und ihn darüber informiert, dass Mitarbeiter viel produktiver seien, wenn sie sich eingebunden und wertgeschätzt fühlten. Es war ganz offensichtlich, dass Dr. Bairstow nicht ein einziges Wort davon geglaubt hatte. Es gab nie irgendwelche Fragen.
»Dr. Maxwell, wenn Sie bitte einen Moment für mich erübrigen könnten. Danke schön an den Rest. Das war’s.«
Zurück in seinem Büro verschwendete er keine Zeit.
»Ich überlasse es Ihnen, den Zeitpunkt festzusetzen, Dr. Maxwell. Sie werden mir vermutlich zustimmen, dass ein Termin irgendwann im kommenden Sommer besonders passend wäre – gutes Wetter und so weiter. Natürlich wartet ein enormer Berg an Arbeit auf Sie, aber verteilen Sie sie, wie Sie es für richtig halten. Ich möchte wöchentliche Updates haben; ein kurzer Bericht über die Arbeitsfortschritte wird ausreichen. Holen Sie sich ins Boot, wen auch immer Sie brauchen. Im Laufe der nächsten paar Tage werde ich auch in der Lage sein, Ihnen die Details zum Budget mitzuteilen.«
Ich hatte nicht den geringsten Schimmer, wovon er sprach.
Mrs. Partridge hinter ihm lächelte wenig hilfreich vor sich hin.
»Ich bitte um Verzeihung, Sir?«
»Mrs. Partridge wird sich um die administrative Seite kümmern – Lizenzen, Genehmigungen, Versicherungen usw. Bitte versorgen Sie sie mit allen nötigen Einzelheiten.«
»Äh …«
Er reichte mir einen Aktenordner, der bereits aus allen Nähten platzte, und entließ mich mit den Worten: »Danke sehr, Dr. Maxwell.«
Mein tief ausgeprägter Historikerinnensinn sagte mir, dass ich irgendetwas verpasst hatte. Und dass der Boss das auch genau wusste. Es gab keinen Ausweg.
»Entschuldigung, Sir – könnten Sie das vielleicht noch ein bisschen weiter ausführen?«
Er seufzte, und wie jemand, der mit einem Schwachkopf spricht, sagte er: »Der Tag der offenen Tür.«
»Was denn für ein Tag der offenen Tür?«
»Der Tag der offenen Tür im St.-Mary’s-Institut.«
»Was? Wann?«
»Welchen Tag auch immer Sie dafür festlegen. St. Mary’s soll einen Tag der offenen Tür veranstalten, und Sie werden ihn organisieren.«
»Werde ich das? Wann ist das denn verkündet worden?«
»Vor ungefähr zwanzig Minuten, als Sie gerade einen von Dr. Petersons Kreuzern versenkt haben.«
Ich war wieder zurück in meinem frisch renovierten Büro. Die Fenster waren weit aufgerissen worden, aber der stechende Geruch von frischer Farbe ließ meine Augen trotzdem tränen. Der Gestank erinnerte mich an die Polyurethan-Vergiftung, die ich mal als Studentin hatte, als ich an einem Wochenende mein Zimmer gestrichen und nur ein rudimentäres Verständnis von den Worten ausreichende Lüftung gehabt hatte.
In umgekehrter Reihenfolge der Wichtigkeit nannte ich neuerdings einen ergonomischen Schreibtisch, einen neuen, schicken Stuhl und einen frisch erstandenen Teekessel mein Eigen. Bedauerlicherweise hatte ich auch Miss Lee am Hals, die mit zusammengekniffenen Augen auf ihren Bildschirm sah und wahrscheinlich mit ihrem medusenhaften Blick die Elektronik zum Erliegen brachte.
Mit einem lauten Knall ließ ich den Ordner auf meinen Tisch fallen und war drauf und dran, Miss Lee um einen Becher Tee zu bitten – ein weiteres Beispiel dafür, dass manchmal blinder Optimismus über die Erfahrung siegt –, als Markham in den Raum platzte.
»Max! Schnell! Es ist jemand vom Dach gefallen!«
Mit einem Satz war ich auf den Beinen und folgte ihm nach draußen. Wir rannten durch den Flur zum vorletzten Fenster am Ende. Anders als die anderen Fenster entlang des Ganges stand dieses offen. Markham steckte seinen Kopf nach draußen und lehnte sich bedenklich weit über den niedrigen Sims.
»Hier war es!«
Ich krallte meine Hand hinten in seinen grünen Jumpsuit und riss ihn wieder zurück.
»Immer schön vorsichtig, sonst liegen da gleich zwei Leute auf dem Kies …«
Aber da war gar nichts.
Ich sah nach links und nach rechts, doch es gab nichts zu entdecken. Der Efeu mit seinen kahlen Ranken bedeckte die Mauer, aber davon abgesehen gab es viele Meter weit keine weitere Vegetation. Ein breiter Kiesweg führte an dieser östlichen Seite vom St.-Mary’s-Institut entlang. Es gab nur diesen einen Weg und das mit Raureif überzogene Gras, das bis hinab zum See reichte. Das einzige Lebenszeichen waren ein paar unserer nicht ganz so arg traumatisierten Schwäne, die auf der gegenüberliegenden Seite des Sees herumwatschelten. Abgesehen davon war da – nichts.
Ich zog meinen Kopf wieder zurück.
»Wo denn?«
»Hier. Ich habe es gesehen. Sie sind an diesem Fenster vorbeigefallen. Aber als ich nachgeschaut habe, war da niemand.«
Ich machte mir nicht die Mühe zu fragen: »Bist du sicher?« Immerhin war das Markham. Er war zwar klein, ein bisschen schmuddelig und neigte zu Unfällen, aber er war beinahe unverwüstlich und sehr, sehr zäh. Und doch stand er hier vor mir, so bleich, dass ich die blauen Adern an seinen Schläfen bemerkte. Es gab keinen Zweifel, dass er etwas gesehen hatte.
Nun schob er seinen Kopf erneut durch die Fensteröffnung, vermutlich für den Fall, dass die Körper auf magische Art und Weise wiederaufgetaucht waren.
»Vielleicht haben sie sich nichts getan – oder sich nicht allzu schlimm verletzt«, sagte er. »Dann sind sie aufgestanden und haben sich Hilfe geholt.«
»Guter Gedanke.« Ich öffnete meine Kom-Verbindung und meldete mich bei Dr. Foster. »Helen – ist in den letzten zehn Minuten irgendjemand bei dir vorstellig geworden?«
»Nein. Warum?«
»Es besteht die Möglichkeit, dass jemand vom Dach gefallen ist.«
»Hör dich doch mal um. Besonders bei diesen Spinnern in der Abteilung Forschung und Dokumentation. Klingt ganz nach ihnen. Ich lass es dich wissen, wenn jemand aufkreuzt.«
Sie beendete die Verbindung.
Markham war so kurz davor, wütend zu werden, wie ich es noch nie bei ihm erlebt hatte.
»Es geht hier nicht um eine Möglichkeit. Ich weiß, was ich gesehen habe.«
»Was hast du denn gesehen? Erzähl mir jedes Detail.«
»Ich stand genau hier.«
Er schob mich zur Seite und stellte sich dahin, wo ich eben noch gewesen war.
»Vorhin war ich gerade auf dem Weg zu deinem Büro.«
Er tat so, als würde er losgehen, nur für den Fall, dass ich seinem Bericht nicht folgen konnte.
»Das Fenster befand sich zu meiner Linken. Als ich auf Höhe des Fensters war, fiel etwas Schwarzes an mir vorbei. Ich war so überrascht, dass ich mich sekundenlang nicht rühren konnte.«
Er mimte ein Ausmaß an Überraschung und Entsetzen, das jeden zu der Überzeugung geführt hätte, er hätte gerade mit ansehen müssen, wie ein Asteroid die Dinosaurier auslöschte.
»Dann habe ich das Fenster hochgeschoben, mich hinausgebeugt und … Und da war nichts.«
»Besteht die Chance, dass sie aufgestanden und weggerannt sind, ehe du die Gelegenheit hattest nachzusehen?«
»Weiß ich nicht. Ich habe ein Weilchen gebraucht, um das Fenster aufzubekommen, aber du hast es ja gerade selbst gesehen – hier gibt es nichts, um sich zu verstecken. Gut möglich, dass sie nicht tot waren, da sie nur auf Kies gelandet sind, aber das Gebäude ist immerhin drei Stockwerke hoch. Zumindest dürften sie sich den einen oder anderen Knochen gebrochen haben. Und warum sollten sie sich verstecken? Das ergibt keinen Sinn.«
Er sah wirklich völlig aus der Fassung geraten aus, was bei ihm eine Premiere war.
Langsam sagte ich: »Ich denke, dass dir jemand einen Streich gespielt hat. Irgendjemand steigt aufs Dach, dann werfen sie einen alten Dummy runter, und in der Zwischenzeit, während du dich abmühst, das Fenster aufzumachen und nach draußen zu schauen, beugt sich jemand im Erdgeschoss aus dem Fenster und holt das Ding wieder rein. Ich wette, die sind jetzt da unten und lachen sich kaputt, während sie darauf warten, dass du jeden Augenblick nach draußen geschossen kommst, um nach Leichen zu suchen.«
Sein Gesicht heiterte sich auf. »Natürlich. Diese Schweinebande! Aber ein guter Trick! Mir fällt mehr als nur ein Stein vom Herzen, eher ein ganzer Felsbrocken. Danke, Max.«
Er schlenderte davon, vermutlich, um es irgendwelchen noch unbekannten Personen heimzuzahlen, und ich machte mich auf den Weg zurück in mein Büro.
Am nächsten Tag war er wieder da, und dieses Mal war er nicht allein.
Sie marschierten zu zweit durch meine Tür. Peterson eskortierte Markham, der so aussah – auch wenn ich das nicht allzu sehr betonen sollte –, als ob er einen Geist gesehen hätte.
»Es ist schon wieder passiert«, brach es aus ihm hervor, und dafür, dass er in Major Guthries Tradition der präzisen Berichterstattung ausgebildet worden war, bekam man bemerkenswert wenige Einzelheiten genannt.
Immer schön der Reihe nach. Ich öffnete den Mund und wollte Miss Lee beauftragen, Markham mit einer dringend benötigten Tasse Tee zu versorgen. Sie hatte den Braten allerdings offenbar schon gerochen, schnappte sich wahllos zwei, drei Akten und sprintete mit der Ankündigung Richtung Tür, sie müsse den Postboten noch erwischen – der erfahrungsgemäß erst in ungefähr vier Stunden zur Abholung erscheinen würde.
Stattdessen kochte Peterson Tee für uns alle. Ich dachte kurz daran, etwas Tröstliches aus der untersten Schublade meines Schreibtisches dazuzuschütten, aber Markham war auch so schon durch den Wind.
»Ich habe es wieder gesehen, Max«, berichtete er. »Eine schwarze Gestalt ist am Fenster vorbeigefallen, und als ich nach draußen guckte, war da nichts. Schon wieder nicht. Aber Dr. Peterson war dabei, er hat es auch gesehen.«
»Ich habe gesehen, dass du etwas gesehen hast«, berichtigte Peterson. »Ich habe nichts fallen sehen, aber ich kann bestätigen, dass nichts da war, als wir nachgesehen haben.«
»Aber du musst doch was davon mitbekommen haben«, warf Markham ein. »Eine schwarze Gestalt, die sich als Silhouette vom Himmel abgehoben hat. Ich habe Arme und Beine gesehen. Nur für einen kurzen Moment, das stimmt, aber man kann einen herabstürzenden Körper doch nicht verkennen.«
Mir kam ein Gedanke. »Was hast du denn gehört?«
Markham saß still da und ließ sich alles durch den Kopf gehen.
»Nichts.«
»Nichts? Keinen Schrei? Kein Geräusch vom Aufprall?«
Er sah plötzlich sehr nachdenklich aus. »Nein. Es gab kein Geräusch vom Aufschlagen. Und wenn diese Mistkerle aus Forschung und Dokumentation sich wirklich einen Spaß machen und Dinge vom Dach werfen, dann würde man doch irgendetwas hören, oder?«
Ja, würde man. Ich musterte ihn erneut. Ich hatte ihn schon mal verwundet gesehen; ich hatte ihn gesehen, wie er um sein Leben lief; ich hatte ihn sogar gesehen, wie er Frauenkleider trug, aber so wie jetzt – noch nie. Auf keinen Fall konnte ich die Angelegenheit einfach beiseitewischen.
Also stand ich auf. »Tim, kannst du mal bei den Leuten von Forschung und Dokumentation nachhaken? Natürlich sehr taktvoll, bitte.«
Er nickte. »Und was willst du tun?«
»Ich werde mit Dr. Dowson sprechen.« Ich sah Markham an. »Alles in Ordnung bei dir?«
»Ja. Was soll ich tun?«
»Im Augenblick nichts. Wenn dir jemand einen Streich spielt, dann ist das Beste, was du tun kannst, es zu ignorieren. Wir treffen uns um halb drei wieder hier.«
Dr. Dowson war unser Bibliothekar und Archivar. In den meisten Instituten würde das bedeuten, dass er seinen Tag in einer Atmosphäre friedlicher Ernsthaftigkeit verbringt. Normalerweise bereiten einem Bücher nicht viel Ungemach. Heute stand er auf seinem Schreibtisch, donnerte mit einem Besenstiel gegen die Decke und brüllte Verwünschungen. Auf Latein, Griechisch und, dem Klang des Besens nach zu urteilen, im Morse-Code.
Er unterbrach seine Tätigkeit, um mich mit einem Lächeln zu begrüßen. »Ah, Max. Kann ich helfen?«
Ich war zu schlau, um ihn zu fragen, was hier vor sich ging. Er und Professor Rapson aus der Abteilung Forschung und Dokumentation waren alte Freunde, was augenscheinlich eine ausreichende Grundlage bot, sich bei jeder Gelegenheit das Leben zur Hölle zu machen. Die Vertreter der Sektion Forschung und Dokumentation besetzten die Räume unmittelbar über Dr. Dowsons Wirkungskreis, und wahrscheinlich hatten sie gerade unabsichtlich – aber vermutlich wohl eher doch nicht – etwas getan, um seinen Zorn auf sich zu ziehen.
Ich half ihm vom Schreibtisch runter und erzählte ihm die ganze Geschichte. Auch wenn ich mir ein bisschen blöd vorkam, schloss ich die Frage an: »Ist es möglich … Ist es auch nur im Entferntesten vorstellbar, dass wir einen Geist haben, von dem wir nichts wissen?«
Er stand einen Augenblick lang reglos da und polierte seine Brillengläser, völlig in Gedanken versunken; dann verschwand er kurz und kehrte mit einem alten Buch, zwei modernen Broschüren und einem Aktendeckel mit losen Fotokopien zurück.
All das legte er auf den Tisch, und wir setzten uns.
»Gut«, sagte er. »Ein kurzer Abriss der Geschichte des St. Mary’s. Das erste Gebäude, das ursprüngliche Kloster von St. Mary’s, wurde von Augustinermönchen gegen Ende des 13. Jahrhunderts errichtet. Dieses Gebäude stand mehr oder weniger hundert Jahre. Ich denke allerdings, der Ort war zu abgelegen, und im Laufe der Jahre verstreuten sich die Mönche einfach immer weiter. St. Mary’s, das Dorf und das ganze umliegende Land wurden schließlich, ohne dass man die genauen Umstände kennt, von Henry von Grosmont, dem 4. Earl von Lancaster, erworben. Er machte nichts weiter damit, als die Pacht einzutreiben, aber sein Schwiegersohn, John von Gaunt, Herzog von Lancaster, überließ den Landsitz als Schenkung Henry von Rushford, einem Waffenbruder, für die geleisteten Dienste während des Feldzugs in Kastilien im Jahr 1386.
Der nächste Teil ist interessant. Offenbar gab es ein paar Scharmützel während der Wirren von 1399. Während Richard II. und Henry Bolingbroke um die Vorherrschaft kämpften, machte sich allem Anschein nach ein anderer Zweig der Rushford-Familie das Durcheinander zunutze und griff St. Mary’s an. Trotz einer beherzten Verteidigung verschafften sich die Angreifer Zutritt, aber ihre Pläne wurden vereitelt, als in einem letzten verzweifelten Aufbäumen die Verteidiger, angeführt von Henrys Enkelin, versuchten, den Ort niederzubrennen, um ihre Flucht nach Rushford zu vertuschen. Aufregende Tage, was?
Offenbar fand sich eine angemessene Lösung für die Angelegenheit, aber etwa eine Generation später war St. Mary’s nicht mehr in den Händen der Rushford-Familie. Ich fürchte, das lag daran, dass es keinen Erben gab, wie es so häufig der Fall ist. Ich weiß wirklich nicht, warum diese Dinge immer an die männlichen Nachkommen weitergegeben werden – Mädchen sind in ihrer Kindheit so viel robuster als ihre Brüder, und seien wir doch mal ehrlich, Max – während es immer wieder mal Zweifel über die Identität des Vaters gibt, sind sich die meisten Leute ziemlich im Klaren darüber, wer die Mutter ist.«
Er brütete eine Weile über den unbefriedigenden Stand der Dinge, und ich konnte ihm wohl kaum widersprechen.
»Auf jeden Fall hatte St. Mary’s unzählige Besitzer, von denen alle offenkundig ein vollkommen friedliches Leben verbrachten, selbst in unruhigen Zeiten. Das Anwesen überstand die Rosenkriege und den religiösen Zwist unter den Tudors. Dann, im späten 16. Jahrhundert, zogen die Laceys von Gloucestershire ein.«
Er schlug das Buch auf. »Der Bürgerkrieg hatte die Familie in der Mitte geteilt; die Hälfte von ihr unterstützte den König, die andere Hälfte stellte sich hinter Cromwell. 1643 verließ ein Kontingent von parlamentarischen Kräften, angeführt von Captain Edmund Lacey, aus irgendwelchen Gründen Gloucester und kam hierhergeritten. Die Überlieferungen gehen ziemlich durcheinander, und es gibt mehrere unterschiedliche Berichte über die Ereignisse, aber alle stimmen darin überein, dass die Große Halle niedergebrannt wurde und Margaret Lacey und ihr älterer Sohn, Charles, in den Flammen ums Leben kamen. Der jüngere Sohn, James, war damals noch ein sehr kleiner Bursche, und er entkam aufs Dach, wo er von einem Dienstboten gerettet und sicher ins Dorf gebracht wurde. Captain Lacey verschwand, wurde angeklagt, in Abwesenheit des Mordes schuldig gesprochen und nie wieder gesehen. Die Halle wurde von James wieder aufgebaut und sieht im Großen und Ganzen so aus, wie wir sie heute kennen. Natürlich mit Ausnahme des gläsernen Oberlichts.
Auch weiterhin wechselte St. Mary’s die Besitzer und büßte dabei Ländereien ein, bis es schließlich im 19. Jahrhundert verwaiste. Es war zu groß für einen Familiensitz, und da es kein Land mehr gab, das es versorgt hätte, wurde es ein bisschen zu einem weißen Elefanten, fürchte ich. Während des Ersten Weltkriegs wurde es als Genesungsheim für Soldaten genutzt, dann war es für eine kurze und desaströse Zeit eine Schule. Anscheinend hatte jemand einen Wasserhahn offen gelassen, und das Dach stürzte dort ein, wo sich heute die Garderobe befindet. Im Zweiten Weltkrieg wurde es erneut als Krankenhaus genutzt. Und das war es dann auch, bis wir vor, ach, du meine Güte, ziemlich vielen Jahren mittlerweile einzogen.« Er klopfte auf die Dokumente. »Das steht alles hier. Und noch viel mehr.«
Langsam sagte ich: »Danke, Doktor, aber ich denke, ich habe alles, was ich brauche.«
Er nickte. »1643?«
»Ja, genau. Der kleine Junge ist aufs Dach geflohen. Er hat überlebt, aber vielleicht ist jemand anderes gestürzt. Captain Lacey möglicherweise. Das könnte der Grund dafür sein, warum er nie wieder gesehen wurde. Weil er gestorben ist. Entweder im Feuer oder bei dem Sturz. Kann ich noch weitere Details kriegen?«
Er lächelte. »Bestimmt. Ich brauche höchstens eine Stunde.«
Wir trafen uns wieder. Da es keine Spur von Miss Lee gab, kümmerte ich mich dieses Mal selbst um den Tee.
»Irgendetwas machst du falsch«, bemerkte Peterson selbstzufrieden. »Meine Mrs. Shaw bringt mir auch noch Schokoladenkekse mit dazu.«
Ich ignorierte ihn.
»Anscheinend gibt es zwei Kandidaten für Mr. Markhams fallende Körper. 1399 gab es einen kleineren Kampf um das Besitztum. Ich schätze, es ist absolut möglich, dass dabei jemand vom Dach gestürzt sein könnte.«
»Oder auch gut möglich, dass jemand eine verrückte Frau hatte, die gesprungen ist, wie Mrs. Rochester«, fügte Markham hinzu, der nicht dazu neigte, sich für die wahrscheinlichere Version zu erwärmen. »Und sie hat sich unten auf den Steinen das Gehirn rausgehauen.«
»Wann hast du denn Jane Eyre gelesen?«, erkundigte sich Peterson, der sich immer leicht ablenken ließ.
»Ich habe mir mal den Knöchel gebrochen.«
Wir warteten, aber das schien schon die ganze Erklärung gewesen zu sein.
»Oder 1643«, sagte ich, wild entschlossen, alle wieder auf die richtige Spur zu bringen. »Während des Bürgerkriegs kamen die Roundheads und bedrohten und ermordeten vermutlich eine Frau und ein Kind. Allerdings, und das ist der interessante Teil, gab es ein zweites Kind, das auf dem Dach Schutz suchte. Beschreib doch noch mal den Körper.«
»Da gibt es nichts zu beschreiben. Ein schwarzer Umriss mit Armen und Beinen.«
»Könnte es ein Kind gewesen sein?«
»Ich schätze schon, ja. Es sah nicht sehr groß aus, aber …« Er klang voller Zweifel. »Ich weiß nicht. Und überhaupt, das Kind hat doch überlebt, oder? Es ist alles ziemlich mysteriös.«
Schweigen. Wir schlürften unseren Tee.
»Also gut«, sagte Peterson. »Und wie jetzt weiter? Das ist ja alles sehr interessant, aber was hat das mit uns zu tun?«
Darauf gab es keine gute Antwort, und so tranken wir unseren Tee aus und standen auf. Ich begleitete die anderen zur Tür und hinaus auf den Flur.
»Tut mir leid, Mann«, sagte Peterson zu Markham. »An der Sache ist einfach nicht genug dran, um sie weiterzuverfolgen. Abgesehen von deinen täglichen Halluzinationen haben wir keinerlei …«
Markhams ganzer Körper spannte sich an, als er den Finger ausstreckte und schrie: »Da! Oh mein Gott. Schon wieder!«
Wir standen wie erstarrt da, denn wir sind gut ausgebildete Profis, dann hasteten wir zum Fenster. Peterson schob es hoch und streckte seinen Kopf nach draußen. Ich verschaffte mir mit den Ellbogen ein bisschen Platz und tat dasselbe. Markham dämmerte, dass er hier keine Chance hatte, und rannte zum nächsten Fenster, um hinauszusehen.
Sonnenstrahlen fielen auf den mit Raureif überzogenen Kies. Wir schauten nach Norden. Wir schauten nach Süden. Markham kam auf die Idee, sich noch weiter aus dem Fenster zu lehnen, sich in alle Richtungen zu verdrehen und nach oben zu blicken.
Nichts.
»Kommt mit«, sagte er, und wir machten uns auf den Weg zum Dach, das wir durch eine winzige Tür in der nordöstlichen Ecke erreichten. Trotz der harschen Temperaturen wurde hier immerhin ein bisschen Sonne eingefangen. In früheren Zeiten war es ein gedecktes Giebeldach gewesen, doch irgendwann im Laufe der Geschichte hatte man es erneuert und abgeflacht. Überall ragten hohe Schornsteine in kleinen Grüppchen auf. Dort drüben war das große Glasfenster eingelassen, durch das genügend Licht in die Große Halle fiel. Weiter rechts konnten wir hinabsehen auf die Dächer der unteren Stockwerke. Es gab sogar eine Feuerleiter, auf die Markham nun zusteuerte. Wir sahen ihm nach.
»Was hältst du davon?«, fragte Peterson. »Es ist schon erstaunlich, oder?«
»Ich weiß. Ich bin immer noch ganz verblüfft. Jane Eyre!«
»Verfolgen wir das weiter?«
»Machst du Witze?«
»Wir werden dafür nie die Genehmigung bekommen.«
»Überlass das nur mir. Ich habe da eine brillante Idee.«
Er seufzte.
Markham kehrte zurück, marschierte zur Brüstung, die nur etwas mehr als hüfthoch war, und sah hinunter. Wir gesellten uns zu ihm.
»Verflucht noch mal«, sagte Peterson und machte einen Schritt rückwärts.
»Alles in Ordnung mit dir?«
»Bestens«, sagte er, wandte den Blick ab und trat vier oder fünf weitere Schritte zurück. »Sag mir einfach, was du da siehst.«
»Nichts. Da ist nichts.«
»Und auch hier oben war heute noch niemand«, fügte Markham hinzu.
Er hatte recht. Unsere Fußabdrücke waren deutlich auf dem bereiften Dach zu erkennen. Und zwar nur unsere. Es sei denn, irgendjemand wäre barfuß hier raufgekommen …
Wir schauten uns um, und unser Atem hing weiß in der kalten, beißenden Luft.
Ich sah Markham an. »Bist du dabei?«
»Was für eine Frage!«
Den Rest des Tages verbrachte ich damit, alles zusammenzustellen, was wir hatten, und gerade als die Lichter angingen und die Leute Richtung Speisesaal strömten, machte ich mich auf den Weg zu Dr. Bairstow. Als er mich sah, blickte er genauso erfreut, wie es üblicherweise der Fall war.
»Dr. Maxwell. Darf ich annehmen, dass Sie mir Einzelheiten bezüglich Ihres Fortschritts bei der Planung des Tags der offenen Tür bringen?«
»Alles bereit, Sir«, sagte ich mit übergroßer Zuversicht und sehr geringem Wahrheitsgehalt.
»Dann sind Sie hier, weil …?«
»Ich möchte meinen Sprung einfordern, Sir. Wenn Sie gestatten.«
Am Ende unseres letzten unerfreulichen Jahres hatte er mir in einem Akt unverhohlener Bestechung eine Mission meiner Wahl versprochen. Damals hatte ich die Thermopylen ins Auge gefasst, aber nun …
»Im Ernst? Und was schwebt Ihnen da so vor?«
»St. Mary’s. 1643.«
Er stapelte seine Akten zu Ende, dann richtete er sich langsam auf.
»Eine interessante Wahl. Darf ich fragen, wieso?«
»Geisterjagd, Sir.«
Er warf mir einen scharfen Blick zu. »Es gibt keinen Geist im St. Mary’s.«
»Möglicherweise haben wir in letzter Zeit einen bekommen, Sir.«
»Wie das?«
Ich ging meine Optionen durch, rief mir wieder ins Gedächtnis, dass niemals etwas Gutes dabei herauskam, wenn man den Boss anlog, und sagte: »Bei mittlerweile drei Gelegenheiten hat Mr. Markham jemanden vom Dach fallen sehen. Wenn wir nachsehen, ist niemals irgendetwas zu finden.«
»1643? Das dürfte der ruchlose Captain Lacey sein, wie?«
»Ganz genau, Sir.«
Er schob seine Akten hin und her.
»Haben wir einen funktionsfähigen Pod?«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass Chief Farrell irgendwo einen versteckt haben wird.«
Ich wartete. Es war nicht nötig, ihn an sein Versprechen zu erinnern.
»Die Tatsache, dass ich diese Mission bereits im Vorfeld genehmigt habe, sollte Sie nicht zu der Annahme verleiten, dass ich dieses Mal auf den üblichen Missionsplan verzichten werde, Dr. Maxwell.«
»Natürlich nicht, Sir.«
»Und Ihr Team wird bestehen aus …?«
»Mir, Dr. Peterson und Mr. Markham.«
»Ah. Aus den üblichen Verdächtigen. Warum Mr. Markham?«
»Es ist sein Geist, Sir«, sagte ich, und damit traf ich viel mehr ins Schwarze, als irgendjemand zu diesem Zeitpunkt ahnen konnte.
»Nun, ich schätze mal, Mr. Markhams Abwesenheit vom St.-Mary’s-Institut dürfte doch immer ein Grund zum Feiern sein.«
»Verzeihen Sie, aber das ist nicht ganz zutreffend, Sir. Er wird ja immer noch hier sein, nur halt eben vor vierhundert Jahren.«
Er seufzte. »Für meinen Geschmack liegt das nicht annähernd weit genug in der Vergangenheit.«