Cover

Das Buch

Sie haben jahrelang umeinander gekämpft, einander das Herz gebrochen, sich gestritten, einander geliebt, sich beinahe getrennt und wieder versöhnt –nun scheint endlich Ruhe in die turbulente Beziehung der beiden Vampirkrieger Qhuinn und Blay eingekehrt zu sein. Sie haben alle Höhen und Tiefen gemeistert und sind gemeinsam mit der Auserwählten Layla liebende Eltern zweier gesunder Vampirbabys. Doch als ein schrecklicher Wintersturm über Caldwell hereinbricht, droht es auf dem Anwesen der BLACK DAGGER zu einer Katastrophe zu kommen. Eine Katastrophe, die Blays und Qhuinns Liebe erneut auf die Zerreißprobe stellt ...

Mit Winterherz legt J. R. Ward den zweiten Weihnachtsroman aus ihrem beliebten BLACK DAGGER-Universum vor.

Die Autorin

J. R. Ward begann bereits während des Studiums mit dem Schreiben. Nach dem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die amerikanischen Bestsellerlisten eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als Star der romantischen Mystery.

Mehr über Autorin und Werk erfahren Sie auf:

www.jrward.com

J. R. Ward

WINTERHERZ

EIN BLACK DAGGER-ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:
A WARM HEART IN WINTER

Aus dem Amerikanischen
von Bettina Spangler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 11/2021

Redaktion: Anneliese Schmidt

Copyright © 2020 by Love Conquers All, Inc.

Copyright © 2021 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by
Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Animagic, Bielefeld

Autorenfoto © by John Rott

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-28180-9
V001

www.heyne.de

Das Schicksal irrt nie.

Und Liebe ist niemals vergeudet.

– Lassiter

Danksagung

Vielen, vielen Dank an die BLACK-DAGGER-Leser! Es ist eine lange, wunderbare, aufregende Reise mit euch und der Bruderschaft, und ich kann es kaum erwarten zu sehen, was in dieser Welt, die wir alle so lieben, als Nächstes passiert. Ich möchte Meg Ruley, Rebecca Scherer und dem Team bei JRA danken, außerdem Hannah Bratten, Andrew Nguyen, Jennifer Bergstrom, Jennifer Long und allen bei Gallery Books und Simon&Schuster.

Ans Team Waud: Ich liebe euch alle. Ehrlich. Und wie immer tue ich alles, was ich tue, aus Liebe und Bewunderung für meine Familie, sowohl die blutsverwandte als auch die frei gewählte.

Ach ja, und danke an WriterDog II, Naamah. Sie arbeitet genauso hart an meinen Büchern wie ich … Und natürlich auch an Archiball!

Glossar der Begriffe und Eigennamen

 Ahstrux nohtrum – Persönlicher Leibwächter mit Lizenz zum Töten, der vom König ernannt wird.

 Die Auserwählten – Vampirinnen, deren Aufgabe es ist, der Jungfrau der Schrift zu dienen. In der Vergangenheit waren sie eher spirituell als weltlich orientiert, doch das hat sich mit dem Aufstieg des letzten Primal geändert, der sie aus dem Heiligtum befreite. Nachdem sich die Jungfrau der Schrift aus ihrer Rolle zurückgezogen hat, sind sie völlig autonom und leben auf der Erde. Doch noch immer nähren sie alleinstehende Brüder und solche, die sich nicht von ihren Shellans nähren können, sowie verletzte Kämpfer mit ihrem Blut.

 Bannung – Status, der einer Vampirin der Aristokratie auf Gesuch ihrer Familie durch den König auferlegt werden kann. Unterstellt die Vampirin der alleinigen Aufsicht ihres Hüters (üblicherweise der älteste Mann des Haushalts). Ihr Hüter besitzt damit das gesetzlich verbriefte Recht, sämtliche Aspekte ihres Lebens zu bestimmen und nach eigenem Gutdünken jeglichen Umgang zwischen ihr und der Außenwelt zu regulieren.

 Die Bruderschaft der Black Dagger – Die Brüder des Schwarzen Dolches. Speziell ausgebildete Vampirkrieger, die ihre Spezies vor der Gesellschaft der Lesser beschützen. Infolge sorgfältiger Auswahl der Fortpflanzungspartner besitzen die Brüder ungeheure physische und mentale Stärke sowie die Fähigkeit zur extrem raschen Heilung. Die meisten von ihnen sind keine leiblichen Geschwister; neue Anwärter werden von den anderen Brüdern vorgeschlagen und daraufhin in die Bruderschaft aufgenommen. Die Mitglieder der Bruderschaft sind Einzelgänger, aggressiv und verschlossen. Sie pflegen wenig Kontakt zu Menschen und anderen Vampiren, außer um Blut zu trinken. Viele Legenden ranken sich um diese Krieger, und sie werden von ihresgleichen mit höchster Ehrfurcht behandelt. Sie können getötet werden, aber nur durch sehr schwere Wunden wie zum Beispiel eine Kugel oder einen Messerstich ins Herz.

 Blutsklave – Männlicher oder weiblicher Vampir, der unterworfen wurde, um das Blutbedürfnis eines anderen zu stillen. Die Haltung von Blutsklaven wurde vor Kurzem gesetzlich verboten.

 Chrih – Symbol des ehrenhaften Todes in der alten Sprache.

 Dhunhd – Hölle.

 Doggen – Angehörige(r) der Dienerklasse innerhalb der Vampirwelt. Doggen pflegen im Dienst an ihrer Herrschaft altertümliche, konservative Sitten und folgen einem formellen Bekleidungs- und Verhaltenskodex. Sie können tagsüber aus dem Haus gehen, altern aber relativ rasch. Die Lebenserwartung liegt bei etwa fünfhundert Jahren.

 Ehros – Eine Auserwählte, die speziell in der Liebeskunst ausgebildet wurde.

 Exhile Dhoble – Der böse oder verfluchte Zwilling, derjenige, der als Zweiter geboren wird.

 Gesellschaft der Lesser – Orden von Vampirjägern, der von Omega zum Zwecke der Auslöschung der Vampirspezies gegründet wurde.

 Glymera – Das soziale Herzstück der Aristokratie, sozusagen die »oberen Zehntausend« unter den Vampiren.

 Gruft – Heiliges Gewölbe der Bruderschaft der Black Dagger. Sowohl Ort für zeremonielle Handlungen als auch Aufbewahrungsort für die erbeuteten Kanopen der Lesser. Hier werden unter anderem Aufnahmerituale, Begräbnisse und Disziplinarmaßnahmen gegen Brüder durchgeführt. Niemand außer Angehörigen der Bruderschaft, der Jungfrau der Schrift und Aspiranten hat Zutritt zur Gruft.

 Hellren – Männlicher Vampir, der eine Partnerschaft mit einer Vampirin eingegangen ist. Männliche Vampire können mehr als eine Vampirin als Partnerin nehmen.

 Hohe Familie – König und Königin der Vampire sowie all ihre Kinder.

 Hüter – Vormund eines Vampirs oder einer Vampirin. Hüter können unterschiedlich viel Autorität besitzen, die größte Macht übt der Hüter einer gebannten Vampirin aus.

 Hyslop – Aussetzer im Urteilsvermögen, der klassischerweise zur Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit eines motorisierten Transportmittels oder dessen Abhandenkommen führt. Wenn zum Beispiel jemand den Zündschlüssel stecken lässt, während das Auto über Nacht vor dem Haus parkt, und besagtes Versehen in unerlaubten Spritztouren Dritter resultiert, so ist dies ein Hyslop.

 Jungfrau der Schrift – Mystische Macht, die dem König bis in jüngste Zeit als Beraterin diente sowie die Vampirarchive hütete und Privilegien erteilte. Existierte in einer jenseitigen Sphäre und besaß umfangreiche Kräfte. Gab ihre Stellung zugunsten einer Nachfolge auf. Hatte die Befähigung zu einem einzigen Schöpfungsakt, den sie zur Erschaffung der Vampire nutzte.

 Leahdyre – Eine mächtige und einflussreiche Person.

 Lesser – Ein seiner Seele beraubter Mensch, der als Mitglied der Gesellschaft der Lesser Jagd auf Vampire macht, um sie auszurotten. Die Lesser müssen durch einen Stich in die Brust getötet werden. Sie altern nicht, essen und trinken nicht und sind impotent. Im Laufe der Jahre verlieren ihre Haare, Haut und Iris ihre Pigmentierung, bis sie blond, bleich und weißäugig sind. Sie riechen nach Talkum. Aufgenommen in die Gesellschaft werden sie durch Omega. Daraufhin erhalten sie ihre Kanope, ein Keramikgefäß, in dem sie ihr aus der Brust entferntes Herz aufbewahren.

 Lewlhen – Geschenk.

 Lheage – Respektsbezeichnung einer sexuell devoten Person gegenüber einem dominanten Partner.

 Lhenihan – ein mystisches Biest, bekannt für seine sexuelle Leistungsfähigkeit. In modernem Slang bezieht es sich auf einen Vampir von immenser Größe und sexueller Ausdauer.

 Lielan – Ein Kosewort, frei übersetzt in etwa »mein Liebstes«.

 Lys – Folterwerkzeug zur Entnahme von Augen.

 Mahmen – Mutter. Dient sowohl als Bezeichnung als auch als Anrede und Kosewort.

 Mhis – Die Verhüllung eines Ortes oder einer Gegend; die Schaffung einer Illusion.

 Nalla oder Nallum – Kosewort. In etwa »Geliebte(r)«.

 Novizin – Eine Jungfrau.

 Omega – Unheilvolle mystische Gestalt, die sich aus Groll gegen die Jungfrau der Schrift die Ausrottung der Vampire zum Ziel gesetzt hat. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und hat weitreichende Kräfte, wenn auch nicht die Kraft zur Schöpfung.

 Phearsom – Begriff, der sich auf die Funktionstüchtigkeit der männlichen Geschlechtsorgane bezieht. Die wörtliche Übersetzung lautet in etwa »würdig, in eine Frau einzudringen«.

 Princeps – Höchste Stufe der Vampiraristokratie, untergeben nur den Mitgliedern der Hohen Familie und den Auserwählten der Jungfrau der Schrift. Dieser Titel wird vererbt; er kann nicht verliehen werden.

 Pyrokant – Bezeichnet die entscheidende Schwachstelle eines Individuums, sozusagen seine Achillesferse. Diese Schwachstelle kann innerlich sein, wie zum Beispiel eine Sucht, oder äußerlich, wie ein geliebter Mensch.

 Rahlman – Retter.

 Rythos – Rituelle Prozedur, um verlorene Ehre wiederherzustellen. Der Rythos wird von dem Vampir gewährt, der einen anderen beleidigt hat. Wird er angenommen, wählt der Gekränkte eine Waffe und tritt damit dem unbewaffneten Schuldigen entgegen.

 Schleier – Jenseitige Sphäre, in der die Toten wieder mit ihrer Familie und ihren Freunden zusammentreffen und die Ewigkeit verbringen.

 Shellan – Vampirin, die eine Partnerschaft mit einem Vampir eingegangen ist. Vampirinnen nehmen sich in der Regel nicht mehr als einen Partner, da gebundene männliche Vampire ein ausgeprägtes Revierverhalten zeigen.

 Symphath – Eigene Spezies der Vampire, deren Merkmale die Fähigkeit und das Verlangen sind, Gefühle in anderen zu manipulieren (zum Zwecke eines Energieaustauschs). Historisch wurden die Symphathen oft mit Misstrauen betrachtet und in bestimmten Epochen auch von den anderen Vampiren gejagt. Sie sind heute nahezu ausgestorben.

 Talhman – Die böse Seite eines Vampirs. Ein dunkler Fleck auf der Seele, der ans Licht drängt, wenn er nicht ganz ausgelöscht wird.

 Trahyner – Respekts und Zuneigungsbezeichnung unter männlichen Vampiren. Bedeutet ungefähr »geliebter Freund«.

 Transition – Entscheidender Moment im Leben eines Vampirs, wenn er oder sie ins Erwachsenenleben eintritt. Ab diesem Punkt müssen sie das Blut des jeweils anderen Geschlechts trinken, um zu überleben, und vertragen kein Sonnenlicht mehr. Findet normalerweise mit etwa Mitte zwanzig statt. Manche Vampire überleben ihre Transition nicht, vor allem männliche Vampire. Vor ihrer Transition sind Vampire von schwächlicher Konstitution und sexuell unreif und desinteressiert. Außerdem können sie sich noch nicht dematerialisieren.

 Triebigkeit – Fruchtbare Phase einer Vampirin. Üblicherweise dauert sie zwei Tage und wird von heftigem sexuellem Verlangen begleitet. Zum ersten Mal tritt sie etwa fünf Jahre nach der Transition eines weiblichen Vampirs auf, danach im Abstand von etwa zehn Jahren. Alle männlichen Vampire reagieren bis zu einem gewissen Grad auf eine triebige Vampirin, deshalb ist dies eine gefährliche Zeit. Zwischen konkurrierenden männlichen Vampiren können Konflikte und Kämpfe ausbrechen, besonders wenn die Vampirin keinen Partner hat.

 Vampir – Angehöriger einer gesonderten Spezies neben dem Homo sapiens. Vampire sind darauf angewiesen, das Blut des jeweils anderen Geschlechts zu trinken. Menschliches Blut kann ihnen zwar auch das Überleben sichern, aber die daraus gewonnene Kraft hält nicht lange vor. Nach ihrer Transition, die üblicherweise etwa mit Mitte zwanzig stattfindet, dürfen sie sich nicht mehr dem Sonnenlicht aussetzen und müssen sich in regelmäßigen Abständen aus der Vene ernähren. Entgegen einer weitverbreiteten Annahme können Vampire Menschen nicht durch einen Biss oder eine Blutübertragung »verwandeln«; in seltenen Fällen aber können sich die beiden Spezies zusammen fortpflanzen. Vampire können sich nach Belieben dematerialisieren, dazu müssen sie aber vollkommen ruhig werden und sich konzentrieren; außerdem dürfen sie nichts Schweres bei sich tragen. Sie können Menschen ihre Erinnerung nehmen, allerdings nur, solange diese Erinnerungen im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert sind. Manche Vampire können auch Gedanken lesen. Die Lebenserwartung liegt bei über eintausend Jahren, in manchen Fällen auch höher.

 Vergeltung – Akt tödlicher Rache, typischerweise aus geführt von einem Mann im Dienste seiner Liebe.

 Wanderer – Ein Verstorbener, der aus dem Schleier zu den Lebenden zurückgekehrt ist. Wanderern wird großer Respekt entgegengebracht, und sie werden für das, was sie durchmachen mussten, verehrt.

 Whard – Entspricht einem Patenonkel oder einer Patentante.

 Zwiestreit – Konflikt zwischen zwei männlichen Vampiren, die Rivalen um die Gunst einer Vampirin sind.

Prolog

Qhuinn, Sohn des Lohstrong, betrat den Wohnsitz seiner Familie durch die herrschaftliche Eingangstür. Sobald er über die Schwelle trat, stieg ihm der Geruch des Hauses in die Nase. Zitruspolitur. Bienenwachskerzen. Frische Schnittblumen aus dem Garten, täglich von den Doggen in Vasen arrangiert. Parfüm – das seiner Mutter. Eau de Cologne – das seines Vaters und das seines Bruders. Kaugummi mit Zimtgeschmack – der seiner Schwester.

Sollte je ein Raumerfrischer mit dieser Note auf den Markt kommen, würden ihn die Hersteller zweifelsohne »Im goldenen Tal des Geldadels« nennen. Oder »Morgenglanz auf prallem Konto«.

Oder vielleicht der Bestseller »Wir sind besser als der Rest«.

Aus dem Esszimmer drangen leise Stimmen an sein Ohr, die Vokale rund wie geschliffene Diamanten, die Konsonanten weich und lang gezogen wie Seidenbänder.

»Ach Lillie, es ist köstlich, danke«, sagte seine Mutter zur Doggen, die das Essen auftrug. »Aber für mich nicht ganz so viel, bitte. Und auch für Solange nicht. Sie wird allmählich rundlich.«

Damit zwang sie ihre Dauerdiät der nächsten Generation auf: Von weiblichen Angehörigen der Glymera wurde erwartet, dass sie quasi unsichtbar wurden, wenn sie sich ins Profil drehten, und jeder hervortretende Wangenknochen oder magere Oberarm wurde als Trophäe gehandelt.

Als wäre man etwas Besseres, wenn man dürr wie ein Schürhaken durch die Welt lief.

Und wehe dem, dessen Tochter einen gesunden Eindruck machte.

»Oh ja, danke, Lilith«, brummte sein Vater sonor. »Gerne mehr.«

Qhuinn schloss die Augen und bemühte sich, seine Beine zum Weitergehen zu animieren. Einen Fuß vor den anderen zu setzen. Es konnte doch nicht so schwer sein.

Seine brandneuen Ed-Hardy-Kicks konterten den Vorschlag mit hochgerecktem Mittelfinger. Denn dieses Speisezimmer zu betreten war für ihn in mehrfacher Hinsicht so, als würde er sich in die Höhle des Löwen begeben.

Er ließ seine Sporttasche zu Boden fallen. Die zwei Tage bei seinem besten Freund Blay hatten ihm gutgetan. Endlich mal ein Haus, in dem man frei atmen konnte. Doch leider war die Heimkehr derart deprimierend, dass sie den Erholungswert gleich wieder zunichtemachte.

Okay, das war lächerlich. Er konnte nicht reglos hier rumstehen wie ein Möbelstück.

Abrupt wandte er sich dem alten mannshohen Spiegel neben der Tür zu. So wohlüberlegt platziert, perfekt für den Adel, der stets auf sein Äußeres bedacht war. Auf diese Weise konnten die Gäste Frisur und Kleidung überprüfen, während ihnen der Butler Mäntel und Hüte abnahm. Der junge Prätrans, der ihm aus dem Spiegel entgegenblickte, hatte vorteilhafte Züge: ein entschlossenes Kinn und einen Mund, der, das musste er zugeben, schon jetzt so aussah, als könnte er später einmal Schlimmes anrichten, wenn er auf nackte Haut traf. Doch vielleicht war das reines Wunschdenken. Seine Igelfrisur stand in sämtliche Richtungen ab. Um seinen Hals schmiegte sich eine Fahrradkette, aber kein modisches Accessoire von Urban Outfitters, sondern das Ding, das zuvor sein Rennrad angetrieben hatte.

Alles in allem sah er aus wie ein Einbrecher, der hier gleich alles kurz und klein schlagen würde auf der Jagd nach Tafelsilber, Schmuck und tragbaren Elektrogeräten.

Der Witz war, dass sein Gothic-Look in den Augen seiner Familie noch nicht einmal das Anstößigste an ihm war. Im Grunde hätte er sich genauso gut nackt ausziehen, eine Taschenlampe zwischen die Pobacken klemmen und durch das Erdgeschoss rasen können, um Kunstgegenstände und Antiquitäten mit dem Baseballschläger zu bearbeiten – seine Familie hätte dies nicht annähernd so problematisch empfunden wie seinen wahren Defekt.

Seine Augen.

Eins blau. Eins grün.

Hoppla. Was für ein Pech.

Die Glymera schätzte keine Makel. Weder an ihrem Porzellan noch in ihren Rosengärten. Nicht an den Tapeten oder Teppichen oder Arbeitsoberflächen. Nicht an der Seide ihrer Unterwäsche, der Wolle ihrer Blazer oder dem Chiffon ihrer Kleider.

Und ganz bestimmt niemals an ihren Kindern.

Die Schwester war ganz annehmbar – mal abgesehen von ihrem »kleinen Gewichtsproblem«, das gar nicht existierte, und dem Lispeln, das die Transition nicht behoben hatte – ach ja, und abgesehen von der Tatsache, dass sie den Charakter ihrer Mutter geerbt hatte, wogegen man leider nichts tun konnte. Sein Bruder hingegen war der Star, ein körperlich einwandfreier Erstgeborener, der den Fortbestand der Blutlinie sichern würde, indem er sich in einem äußerst gediegenen Akt ohne Schweiß und Gestöhne mit einer Vampirin vereinen würde, die seine Familie für ihn ausgewählt hatte.

Scheiße, die Empfängerin seines Spermas hockte bereits in den Startlöchern. Er würde sich mit ihr verbinden, sobald er seine Transition durchlaufen hatte …

»Wie fühlst du dich, mein Sohn?«, erkundigte sein Vater sich zögerlich.

»Müde, Sir«, antwortete eine tiefe Stimme. »Aber das hier wird mir guttun.«

Qhuinn lief es eiskalt über den Rücken. Diese Stimme klang nicht nach seinem Bruder. Sie war viel zu tief. Viel zu männlich. Viel zu …

Heilige Scheiße, der Kerl hatte seine Transition durchlaufen.

Jetzt setzten sich Qhuinns Ed Hardys doch noch in Bewegung, bis er ins Esszimmer blicken konnte. Sein Vater saß am Kopfende der Tafel. Wie üblich. Seine Schwester blickte in die Gegenrichtung und konnte sich vor Hunger kaum zurückhalten, den Goldrand von ihrem Teller zu lutschen. Alles wie immer.

Aber der Kerl, der mit dem Rücken zu Qhuinn saß, war alles andere als der gewohnte Anblick.

Luchas war doppelt so groß wie vor zwei Tagen, als Qhuinn von einem Doggen angewiesen worden war, seine Sachen zu packen und zu Blay zu verschwinden.

Deshalb also der Urlaub. Qhuinn hatte gedacht, sein Vater hätte eingelenkt und ihm erlaubt, worum er schon seit Wochen gebeten hatte. Irrtum, er wollte Qhuinn nur aus dem Haus haben, weil die Verwandlung seines Goldstücks bevorstand.

Hatte sein Bruder die Mieze flachgelegt? Wessen Blut hatten sie wohl benutzt …

Sein Vater, verklemmt wie eh und je, streckte die Hand nach Luchas aus und tätschelte unbeholfen seinen Unterarm. »Wir sind so stolz auf dich. Du siehst … vortrefflich aus.«

»Das tust du«, fiel Qhuinns Mutter ein. »Wirklich vortrefflich. Sieht dein Bruder nicht vortrefflich aus, Solange?«

»Doch, das tut er. Vortrefflich.«

»Ich habe hier etwas für dich«, sagte Lohstrong.

Er griff in die Innentasche seiner Sportjacke und brachte ein schwarzes, samtbezogenes Kästchen in der Größe eines Baseballs zum Vorschein.

Qhuinns Mutter musste sich Tränen aus den Augenwinkeln tupfen.

»Das ist für dich, mein Teuerster.«

Er schob das Kästchen über die weiße Tischdecke aus Damast, und Qhuinns Bruder ergriff es mit seinen neuen Pranken, die zitterten, als er den Deckel öffnete.

Das Gold funkelte bis zu Qhuinn in die Diele.

Die Tischrunde verstummte. Sein Bruder blickte überwältigt auf den Siegelring, während sich die Mutter weiter die Augen wischte und selbst sein Vater einen feuchten Blick bekam. Qhuinns Schwester schnappte sich indessen unauffällig ein Brötchen aus dem Brotkorb.

»Danke, Sir«, sagte Luchas und steckte den schweren Goldring an den Zeigefinger.

»Er passt doch, oder?«, erkundigte sich Lohstrong.

»Ja, Sir. Wie angegossen.«

»Dann haben wir die gleiche Größe.«

Wie hätte es auch anders sein können.

In diesem Moment ließ Qhuinns Vater den Blick durch den Raum schweifen, als wollte er durch die Bewegung den Tränenschleier fortwischen der seine Sicht behinderte.

Seine Augen kamen auf Qhuinn zu ruhen, der vor dem Esszimmer stand.

Kurz blitzte etwas wie Erkennen in ihnen auf. Aber es war kein Blick, der sagte »Hallo, komm doch rein« oder »Wie schön, mein anderer Sohn ist auch zurück«. Es war vielmehr der Blick eines Spaziergängers, der einen Hundehaufen in seiner Bahn so spät bemerkt hatte, dass er nicht mehr ausweichen konnte.

Sein Vater wandte sich seiner Familie zu und ignorierte Qhuinn absichtlich. Offensichtlich wollte Lohstrong diesen historischen Moment um keinen Preis trüben – aus diesem Grund sparte er sich das Handzeichen gegen den bösen Blick. Normalerweise vollzogen alle Personen des Haushalts die Geste, wenn sie Qhuinn begegneten. Doch nicht an diesem Abend. Daddy wollte nicht, dass ihn die anderen bemerkten.

Qhuinn lief zu seiner Sporttasche, warf sie sich über die Schulter und stapfte über die Vordertreppe hoch in sein Zimmer. Normalerweise zog es seine Mutter vor, wenn er den Dienstbotenaufgang benutzte, aber dazu hätte er durchs Esszimmer gehen und die selige Eintracht stören müssen.

Sein Zimmer lag ganz hinten rechts, so weit wie möglich von den anderen entfernt. Qhuinn hatte sich oft gefragt, warum sie keinen endgültigen Schlussstrich zogen und ihn zu den Doggen ausquartierten – aber dann hätte das Personal womöglich gekündigt.

Er schloss sich ein, warf seinen Krempel auf den blanken Boden und setzte sich aufs Bett. Dann starrte er die Tasche an und überlegte, ob er seine Sachen lieber gleich waschen sollte, weil eine nasse Badehose darunter war.

Die Zimmermädchen weigerten sich, seine Klamotten anzufassen – als würde das Böse in ihm auch den Fasern seiner Jeans und T-Shirts anhaften. Glücklicherweise wurde er ohnehin nie zu feierlichen Anlässen geladen, also besaß er auch keine bescheuerte Bügelwäsche …

Dass er weinte, bemerkte er erst, als er auf seine Ed Hardys blickte. Zwischen den Schnürsenkeln saßen ein paar vereinzelte Tropfen.

Qhuinn würde nie einen Ring erhalten.

Ach, verdammt … das tat weh.

Er rieb sich das Gesicht, als sein Handy klingelte. Während er das Ding aus seiner Bikerjacke zog, musste er blinzeln, um klar zu sehen.

Er nahm den Anruf entgegen, ohne sich zu melden.

»Ich habe es soeben erfahren«, hörte er Blay sagen. »Wie geht es dir?«

Qhuinn öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, so nach dem Motto: »Fucking fantastisch«, »Wenigstens bin ich nicht so moppelig wie meine Schwester« oder »Nein, keine Ahnung, ob mein Bruder zum Stich gekommen ist«.

Stattdessen sagte er: »Sie haben mich aus dem Haus geschafft. Sie wollten nicht, dass mein Fluch die Transition überschattet. Es scheint funktioniert zu haben, der Kerl sieht aus, als hätte er es gut überstanden.«

Blay fluchte verhalten.

»Ach ja, und er hat gerade seinen Ring bekommen. Mein Vater hat ihm … seinen Ring überreicht.«

Den Siegelring mit dem Familienwappen, dem Symbol, das alle männlichen Angehörigen eines Stammbaums trugen und das von ihrer edlen Herkunft zeugte.

»Ich habe zugesehen, wie Luchas ihn an den Finger gesteckt hat«, sagte Qhuinn, und es fühlte sich an, als würde er sich mit einem spitzen Messer den Arm aufschlitzen. »Hat gepasst wie angegossen. Sah toll aus. Aber … wie hätte es auch anders sein sollen …«

An diesem Punkt begann er zu schluchzen.

Hemmungslos.

Die schreckliche Wahrheit nämlich war, dass er sich trotz seiner rebellischen Leckt-mich-Haltung wünschte, seine Familie möge ihn lieben. So zimperlich seine Schwester war, streberhaft sein Bruder, so reserviert seine Eltern, er sah, dass sie einander liebten. Er spürte diese Liebe zwischen ihnen. Sie war das Band, das sie zusammenhielt, die unsichtbare Kette von einem Herzen zum anderen, die Selbstverständlichkeit, ob er nun mit banalem Mist oder einem wirklichen Problem konfrontiert war. Und stärker als dieses Gefühl der Bindung war allein … davon ausgeschlossen zu sein.

Jeden einzelnen verdammten Tag.

Blays Stimme drang durch das Schluchzen an sein Ohr. »Ich bin für dich da. Es tut mir so verdammt leid … ich bin für dich da … Aber mach bloß keinen Scheiß, okay? Ich komme zu dir …«

Blay hatte offensichtlich erraten, in welche Richtung seine Gedanken gingen: Dinge, die mit Seilen und Deckenaufhängungen zu tun hatten.

Tatsächlich war seine Hand bereits an den behelfsmäßigen Gürtel gewandert, den er sich aus einem hübschen, kräftigen Stück Nylongewebe gebastelt hatte – denn seine Eltern gaben ihm nicht ausreichend Geld für Kleidung, und sein letzter war schon vor Jahren auseinandergefallen.

Er zog den Gürtel aus den Schlaufen und schielte zur verschlossenen Badezimmertür. Er brauchte das Ding nur an den Duschkopf zu knüpfen, der aus der Decke ragte – die Wasserrohre stammten aus der guten alten Zeit, als solides, tragfähiges Handwerk noch etwas gegolten hatte. Sie würden auch ein größeres Gewicht problemlos aushalten. Er hatte sogar einen Stuhl, den er besteigen und dann unter sich wegtreten konnte.

»Ich muss Schluss machen …«

»Qhuinn? Leg jetzt nicht auf – wage es nicht, einfach aufzulegen …«

»Hör zu, Mann, ich muss Schluss machen …« Im Hintergrund hektisches Rascheln, als ob Blay sich die Jacke überwerfen würde.

»Qhuinn, leg nicht auf! Qhuinn!«

Gegenwart, Ecke Market Street und Siebzehnte Straße, Innenstadt von Caldwell, New York

»Ach du Scheiße! Dad dreht uns den Hals um …«

»Was heißt da ›uns‹? Ich bin nicht diejenige, die das Auto fährt …«

»Aber du sitzt mit drin, Terrie! Und behaupte jetzt nicht, ich hätte dich gezwungen …«

Die beiden Allaine-Schwestern versuchten, sich gegenseitig zu übertönen, und mussten darüber hinaus gegen das Autoradio anschreien, das laut genug war, um auch noch die äußeren Vororte zu beschallen, die sie soeben hinter sich gelassen hatten. Dummerweise kamen sie jetzt keinen Millimeter mehr vorwärts: Der Kühlergrill des weinroten 5er-BMWs steckte in einer riesigen Schneewehe fest, die sich wie ein Berg vor ihnen auftürmte.

»Schon klar, dass ich mit im Auto sitze, Ellen«, keifte die Zwölfjährige. »Aber du bist diejenige, die den Scheißunfall gebaut hat!«

»Es war nicht meine Schuld, Therese!« Elle drückte wütend mit dem Zeigefinger auf den Ein- und Ausschaltknopf des Radiogeräts und brachte die Musik zum Verstummen. Dafür rückten nun zwei andere Dinge umso deutlicher in den Fokus, und mit denen wollte sie sich im Augenblick so gar nicht auseinandersetzen: Da wäre zum einen der vermutlich irreparable Schaden unter der Motorhaube und zum anderen die dezidierte Meinung ihrer bescheuerten Schwester zu den aktuellen Geschehnissen. »Irgendwas ist mir vors Auto gelaufen. Es war also nicht meine Schuld …«

»Natürlich ist es deine Schuld, wenn du uns hier in diesen Schneehaufen fährst. Jetzt wirst du deinen richtigen Führerschein nie kriegen …«

»Hör jetzt bitte auf mit dem Geschrei. Das bringt doch nichts.«

Keine Airbags. Die verdammten Airbags waren nicht aufgegangen. Elle zog sich am Lenkrad in eine aufrechtere Position und spähte über die Motorhaube. Was auch immer da über die vereiste Fahrbahn geflitzt war, war verschwunden. Ein schwarzer Schatten, der blitzschnell davongewuselt war. Vielleicht ein herumstreunender Hund.

Die Schneewehe, in der sie steckten, war ungefähr einen Meter fünfzig hoch und schien sich an der innerstädtischen Straße entlang bis ins Unendliche hinzuziehen. Und dahinter? Nichts als ein bräunlich graues Lagerhaus, das über und über mit bunten Graffitis beschmiert war und an dem man vergeblich nach irgendeiner Form von Außenbeleuchtung suchte.

Zwei Sekunden früher oder später, und das alles wäre nie passiert. Der Hund hätte die Straße kurz vor oder kurz nach ihnen überquert, und sie wären längst über alle Berge – wobei, sehr wahrscheinlich auch nicht dort, wo sie ursprünglich hatte hinfahren wollen. Eigentlich war ihr Ziel die Trade Street gewesen, und nachdem sie vom Northway kommend die gleichnamige Ausfahrt genommen hatte, war sie überzeugt gewesen, dass sie sich von dort aus problemlos würde orientieren können. Stattdessen waren sie …

Sie drehte sich auf dem Fahrersitz herum und spähte an Terrie vorbei, die immer noch wild gestikulierend schimpfte und ihrem Ärger lautstark Luft machte. Der Northway führte ungefähr vier Straßenzüge entfernt am Ufer des Hudson entlang, und Elle malte sich aus, wie sie über die vierspurige Straße zur Stadt hinausbrauste und die Scheinwerfer ihr den Weg nach Hause wiesen. Zu schade auch, dass weit und breit keine Auffahrt zu der Schnellstraße zu sehen war, geschweige denn ein Hinweisschild, das ihr die Richtung verraten hätte – außerdem lag der Highway stark erhöht auf Pfeilern, weshalb er ihr unerreichbar schien. Aber wäre es denn besser gewesen, wenn die Schnellstraße sich auf demselben Level befunden hätte wie sie? Was hätte sie dann getan? Einfach durch die Leitplanke brettern?

Auf der anderen Seite der Straße war … auch nicht viel. Nur ein Haufen dunkel daliegender Gebäude. Auch hier keine Spur von einer Notbeleuchtung. Waren diese Bauten denn alle verlassen?

»… werde Dad alles erzählen. Dass du seine Schlüssel geklaut hast und mit mir in die Innenstadt gefahren bist …«

Elle drehte sich zum Beifahrersitz und sah ihre Schwester eindringlich an. Die war offenbar der festen Überzeugung, absolut im Recht zu sein. »Jetzt mach mal halblang. Es ist ja nicht so, als hätte ich dir die Pistole an die Schläfe gesetzt und dich entführt. Du meintest doch, dir sei langweilig, und da bist du nur zu bereitwillig mitgekommen.«

»Hallo? Ich bin erst zwölf, du Hirni. Minderjährig, falls du es vergessen haben solltest. Außerdem ist es schon fast zehn Uhr abends. Wenn du ohne mich abgedüst wärst, wäre ich mutterseelenallein zu Hause gewesen. Und das widerspricht dem eigentlichen Sinn und Zweck von Babysitting, oder täusche ich mich da? Und wo sind wir hier eigentlich?«

Sie machte so gut wie nie eine Pause zwischen ihren Worten, und schon gar nicht zwischen den Sätzen. Wenn sie überhaupt jemals einen Punkt machte.

»Keinen blassen Dunst«, murmelte Elle. »Flipp nicht gleich wieder aus.«

»Wen bitten wir denn jetzt um Hilfe?«, wollte ihre Schwester wissen. »Wir können ja schlecht Dad anrufen.«

»Halt die Klappe, Terrie. Ich kümmere mich schon drum.«

»Sag du mir nicht, dass ich die Klappe halten soll! Weißt du, das erinnert mich total an dieses eine Mal, wo du …«

Während Terrie mit ihrem Gezeter fortfuhr, hätte Elle nicht sagen können, was der eigentliche Grund war, warum sie jetzt am liebsten sofort nach Hause wollte: Weil sie dort sicher war und sich dieser Teil von Caldwell alles andere als ungefährlich anfühlte, oder weil sie es nicht mehr aushielt, mit Terrie, dem ewigen Lästermaul, weiter auf engstem Raum festzusitzen. Die gute Nachricht aber war, dass sie jetzt, da der erste Schreck überwunden war, feststellte, dass der Motor durchaus noch lief. Auch die Heizung funktionierte, und sie nahm keinen Rauch oder irgendwelche verschmorten Gerüche wahr. Und hey, wenn die Gebäude ringsum echt nicht mehr genutzt wurden, dann bedeutete das zumindest, dass hier keiner war, der sich hätte einmischen können, oder?

Denn so eine Einmischung hätte zur Folge gehabt, dass man ihren Vater anrief. Oder dass man erst die Polizei verständigte und die dann ihren Vater benachrichtigte.

Sie brauchte nur den Wagen zu wenden, nichts weiter. Einfach nur umdrehen. Und dann würde sie den Fuß aufs Gas setzen, sie wohlbehalten nach Hause bringen und nie, nie wieder die Babysitterin für ihre Schwester spielen.

»Du bist so eine bescheuerte Idiotin«, verkündete Terrie gerade.

»Klappe.«

Elle legte den Rückwärtsgang ein und trat aufs Gaspedal. Der Wagen ruckelte, dann war ein surrendes Geräusch zu hören. Also gab sie etwas mehr Gas. Was zur Folge hatte, dass das Surren vom hinteren Wagenende nur noch höher und lauter wurde.

Terrie sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen argwöhnisch an. »Das klappt doch nie im Leben.«

»Danke für die Info, Mr. Faulk.« Mr. Faulk war ein Englischlehrer an der Mittelschule von Caldwell, der schon ungefähr siebzig Millionen Jahre alt war. Mindestens. Beide Allaine-Schwestern waren von ihm unterrichtet worden, und sie hatten ihn beide gleichermaßen gehasst. Das Einzige, worin sie sich jemals hundertprozentig einig gewesen waren. »Natürlich klappt das, wirst schon sehen.«

Elle trat das Gaspedal ganz durch. Was den durchdrehenden Hinterreifen nur ein noch lauteres Geräusch entlockte. Sie nahm den Fuß wieder vom Pedal herunter. Dann versuchte sie es erneut, mit weniger Gas diesmal.

»Nur falls du es nicht mitbekommen hast: Wir kommen keinen Millimeter vom Fleck.«

Elle schob den Schalthebel in Parkposition und überlegte ernsthaft, ob sie ihrer kleinen Schwester jedes Haar einzeln ausreißen sollte. »Ich nehme dich nie wieder irgendwohin mit. Niemals. Du bist eine beschissene Nervensäge.«

»Warte nur, bis ich Dad von alldem erzähle. Auch das mit dem Fluchen. Man sagt nicht ›beschissen‹.«

»Schön. Dann sitzt du aber genauso in der Tinte wie ich, weil du nämlich schon seit einer Stunde brav im Bett liegen solltest.«

»Aber du bist als Babysitterin dafür verantwortlich, dass ich pünktlich ins Bett gehe. Er wird dich nie wieder auf mich aufpassen lassen …«

»Ach ja? Und wer, denkst du, soll das dann übernehmen, wenn wir bei Dad sind und er ein beschissenes Date hat?«

»Das ist jetzt schon das zweite Mal, dass du ein schlimmes Wort sagst. Und falls es dich interessiert: Dad kann jemanden bezahlen, der auf mich aufpasst, eine Babysitterin, die viel besser ist als du …«

»Sei endlich still!« Elle schlug wütend mit der Hand aufs Lenkrad. »Gottverdammt!«

Ehe ihre Schwester ein Update zu ihrer Schimpfwort-Zählung abliefern konnte, beugte Elle sich über die Mittelkonsole und starrte Terrie fest in die braunen Augen. Und zur Abwechslung schien das Mädchen einmal zu kapieren, dass es besser kein Wort mehr sagte. Allerdings würde dieser Zustand nicht lange anhalten.

Mit zitternden Händen fischte Elle ihr Handy aus dem Getränkehalter, hatte aber keinen Schimmer, wer ihr helfen könnte. Keine ihrer Freundinnen konnte Auto fahren ohne einen Erwachsenen als Beifahrer – was Elle streng genommen natürlich auch nicht konnte beziehungsweise durfte, aber geschenkt. Und jeder Erwachsene, der eventuell kommen und ihnen aus der Patsche helfen könnte, würde ohne Zweifel ihren Vater anrufen. Und genau das galt es zu verhindern.

Ihre Mom stand gar nicht erst zur Debatte.

Terrie verschränkte die Arme vor dem dicken rosa Parka. »Du bist sechzehn und hast noch nicht mal richtig den Führerschein, sondern darfst nur in Begleitung fahren. Was du hier abziehst, ist illegal, das ist dir schon klar, oder?«

»Und du beherrschst noch nicht mal das große Einmaleins, was zur Hölle weißt du schon?« Elle wischte mit dem Ärmel ihrer Jacke hektisch über die beschlagene Windschutzscheibe. »Hey. Sieh dir das an. Da drüben steht ein Abschleppwagen …«

Terrie packte ihren Arm. »Schließ die Türen ab!«

»Sie sind abgeschlossen, und warum überhaupt?«

»Da draußen könnte ein Mörder herumlaufen!«

Elle schüttelte die Hand ihrer Schwester ab. »Ach, du spinnst doch. Hast du vielleicht eine bessere Idee?«

Als sie die Tür aufstieß, schlug ihr eine Kälte entgegen, als wäre es drei Uhr morgens. Noch dazu befanden sie sich in einem eher zwielichtigen Teil der Stadt. Wobei, ob es nun zehn Uhr abends oder drei Uhr nachts war, das machte dann auch keinen großen Unterschied mehr, wenn man allein mit der kleinen Schwester draußen auf verschneiten Straßen unterwegs war.

Im Notfall konnte sie Terrie dem Angreifer ausliefern und sich selbst aus dem Staub machen. Die Kleine hatte mit diesem Maschinengewehr von einem Mund weiß Gott eine wirksame Waffe.

Elle schloss die Tür und sah sich mit dem Telefon in der Hand eingehend um, überprüfte, ob auch ja niemand zu sehen war. Nichts. Um sie herum nur die stille Dezemberluft, das Rauschen des Verkehrs in der Ferne, und in ihr der drängende Wunsch, jetzt daheim zu sein. Nicht dass sie das Terrie, der Labertasche, gegenüber je zugegeben hätte, aber sie bereute diese ganze dämliche Aktion zutiefst. Sie hatte nur in die Innenstadt fahren wollen, in das Viertel mit den vielen Clubs, den unzähligen Lichtern und der laut wummernden Musik. Wenn man dazu verdonnert war, auf seine kleine Schwester aufzupassen – während der eigene Vater zum ersten Mal seit der Scheidung eine Verabredung hatte und die eigene Mutter in ihrer winzigen Wohnung allein im Dunkeln hockte, weil bei ihr nie Licht brannte –, dann war manchmal das Einzige, was einen aufheitern konnte, die ganzen glücklichen Einundzwanzigjährigen und Älteren zu beobachten, wie sie ihren Spaß hatten, ein Leben, das ihr selbst bereits zum Greifen nahe schien.

Denn was war, wenn ihr Dad diese Frau wirklich mochte? Sie war schrecklich. Eine einzige Parfümwolke und in einem viel zu knappen schwarzen Kleid hatte sie bei ihnen vor der Tür gestanden, um ihn abzuholen. Die Tussi hatte sich aufgeführt, als wäre sie was Besonderes.

»Elle? Du lässt mich doch hier nicht allein, oder?«

Wenigstens war die nervige Stimme jetzt nur gedämpft aus dem Wageninneren zu hören, weil die Tür geschlossen war. Zum Glück war Terrie brav sitzen geblieben. Allerdings war sie über die Mittelkonsole geklettert und starrte ihr vom Fahrersitz aus durch das Seitenfenster entgegen. Das graue Umgebungslicht der nächtlichen Stadt um sie herum hatte schlagartig alles Neunmalkluge aus ihrem Gesichtsausdruck radiert.

Oder es waren die Auswirkungen der knallharten Realität, in der sie sich hier wiederfanden: der Wagen festgefahren, bei stockfinsterer Nacht, und ohne einen Plan, wie sie da wieder rauskommen sollten.

Elle sah zu dem Abschleppwagen, der gut fünfzig Meter entfernt in die Gegenrichtung geparkt stand. Er war rot und weiß und trug ein absolut passendes Logo: »Murphy’s Abschleppdienst« stand da in großen Buchstaben, und darunter: »Wir sind immer für Sie da!« Eine Telefonnummer gab es auch.

Allerdings konnte sie nicht erkennen, wer da hinterm Steuer saß. Aber es war auf jeden Fall jemand im Wagen. Rauchschwaden kräuselten sich aus dem Auspuff, und die Bremslichter leuchteten rot auf. Warum stieg der Kerl nicht aus und half ihnen? Das war doch wohl sein verdammter Job, oder nicht? Und es war ja nicht so, als steckten hier noch andere Fahrzeuge in irgendwelchen Schneewehen fest, die dringend seine Hilfe brauchten.

»Verriegle die Türen«, hörte sie sich selbst sagen. Total erwachsen.

»Oh mein Gott, du bist so was von tot!« Terrie warf sich wütend gegen das Fenster, schlug mit der Handfläche dagegen und rief ihr gedämpft zu: »Lass uns Dad anrufen! Ich erzähl ihm auch, dass das alles auf meinem Mist gewachsen ist!«

»Pst. Jetzt spinn doch nicht so.« Elle schluckte. Ihre Kehle war wie ausgetrocknet. »Sperr einfach ab. Ich frage den Typen, ob er uns helfen kann.«

»Wir sind ganz allein, Elle.« Jetzt klang Terrie wie eine Vierjährige, die sie aus großen Rehaugen völlig verängstigt ansah. Hinter der Fassade des aufmüpfigen Teenagers zeigte sich nun eindeutig das Kind, das sie immer noch war. »Wir werden sterben«, jaulte sie.

»Schließ ab!« Sie zeigte mit dem Zeigefinger auf die Tür. »Sofort!«

Als ein dumpfes Klicken zu hören war, deutete sie noch einmal durch die Scheibe, die universelle Geste für »Bleib gefälligst, wo du bist«.

Es fühlte sich an wie Hunderte von Meilen bis zu dem Abschleppwagen, und das Knirschen des Schnees bei jedem ihrer Schritte hörte sich an, als ob ein Countdown heruntergezählt würde. Sie konnte immer noch nichts erkennen in dieser Fahrerkabine, obwohl sie sich nun dem hinteren Aufbau mit Seilwinde und Haken näherte. Wer auch immer da drinnen saß, musste ihnen helfen können. Warum sonst sollte man einen solchen Slogan auf die Karosserie eines dämlichen Abschleppwagens kleben?

Klar, weil ja jede Art von Werbung immer ihre Berechtigung hatte.

Elles Herz schlug bis zum Hals, als sie sich nun der Kabine auf der Fahrerseite näherte. »Hey, Mister? Hallo. Hey, Sie da drinnen?«

Vielleicht hatte sie ja ein Riesenglück und es handelte sich um eine Miss. Das wäre megatoll.

Sie warf einen Blick zurück zum BMW. Terrie hatte ihr kreidebleiches Gesicht an die Scheibe gepresst, die Augen weit aufgerissen, und ihr Mund bewegte sich, als würde sie Selbstgespräche führen. Oder sie machte sich bereit zu schreien, sobald das Blut ihrer älteren Schwester den Schnee so rot färbte wie diese Rücklichter.

Das Geräusch eines Fensters, das heruntergefahren wurde, ließ Elles Kopf herumschnellen.

Erschrocken schnappte sie nach Luft und sprang panisch zurück. Der Mann, der ihr aus dem Wageninneren entgegenstarrte, hatte eine ganze Batterie an metallisch grauen Piercings entlang der Ohrmuschel, einen weiteren Satz in der Augenbraue und ein einzelnes am Nasenflügel. Sein Haar war rabenschwarz mit lila Strähnen. Seine Klamotten waren ebenfalls schwarz, und er trug eine Lederjacke. Ein Auge war blau, das andere grün, und er hatte eine tätowierte lila Träne unter einem Auge.

Keine Spur von einem Lächeln auf den Lippen.

Er sah tatsächlich aus, als würde er niemals lächeln. Es sei denn, er riss gerade jemandem den Kopf ab, mit bloßen Händen.

Während er sie anstarrte, als schätzte er gerade ab, ob sie ein gutes Ziel für Schießübungen abgab, beschlich sie ein Gefühl, als hätte sie sich mitten auf ein Schlachtfeld verirrt.

Elle hob instinktiv die Hände. »Ich, äh … Vergessen Sie’s. Das war ein Missverständnis …«

Über ihre eigenen Füße stolpernd, eilte sie davon und hielt mit schnellen Schritten auf den BMW mit ihrer Schwester darin zu. Dabei versuchte sie krampfhaft, nun ja, möglichst entspannt zu wirken. Doch als die Tür auf der Fahrerseite des Abschleppwagens sich knarzend öffnete, gab sie das Täuschungsmanöver auf und fing zu rennen an. Den Blick auf Terrie geheftet, schlitterte und stolperte sie auf das Auto zu. Ihre Schwester begann nun wirklich zu schreien und mit ihren kleinen Fäusten gegen die Scheibe zu trommeln.

Als würde das irgendwas bringen.

Der Entschluss, eine kleine Spritztour zu machen, war aus einer Laune heraus entstanden. Jetzt würde es sie und ihre Schwester das Leben kosten.

Sie wollte nur noch heim zu ihrem Dad.