Buch
Sterling erfährt etwas, das sein Leben für immer verändern wird: Adair hat jahrelang ein Geheimnis gehütet, das sie ihm nicht hätte verschweigen dürfen. Immer mehr Lügen und Intrigen der Familie MacLaine kommen ans Licht, und Adair und Sterling müssen sich bald fragen, wer ihre wahren Freunde sind – sofern sie überhaupt noch welche haben. Die beiden sind bereit, für ihre gemeinsame Zukunft zu kämpfen, doch ist ihre Liebe stark genug?
Denn sie haben es nicht nur mit Adairs heimtückischer Familie zu tun, die ihnen Steine in den Weg legt, auch Sterlings dunkle Vergangenheit droht all das zu zerstören, was ihnen etwas bedeutet …
Autorin
Geneva Lee ist eine hoffnungslose Romantikerin und liebt Geschichten mit starken, gefährlichen Helden.
Mit der »Royal«-Saga, der Liebesgeschichte zwischen dem englischen Kronprinzen Alexander und der bürgerlichen Clara, eroberte sie die internationalen Bestsellerlisten. Weitere erfolgreiche Publikationen folgten. Und nun trifft die Autorin mit ihrer »Rivals«-Reihe einmal mehr mitten ins Herz ihrer LeserInnen. Geneva Lee lebt zusammen mit ihrer Familie im Mittleren Westen der USA.
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GENEVA LEE
Roman
Deutsch von Charlotte Seydel
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Bombshell« bei Quaintrelle Publishing+Media, New York.
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Copyright der Originalausgabe © 2021 by Geneva Lee
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet,
einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
(Tiger Images; Artem Stepanov)
LA · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-28254-7
V001
www.blanvalet.de
Für Sophie
Das ergibt keinen Sinn. Noch einmal lese ich die Urkunde, die ich in den Händen halte, mein Blick springt über die ausgefüllten Kästchen. Vier Einträge stechen mir ins Auge:
Adair Anne MacLaine.
Die Frau, die mir gegenübersteht. Die Frau, die ich bis zu diesem Moment nicht gekannt habe. Die Frau, von der ich nicht weiß, ob ich sie jemals kennen werde.
1. November.
Der Tag nach ihrem Geburtstag. Vor vier Jahren. Ein Tag, an dem ich mit Jack und Luca betrunken im Urlaub war.
Elodie Anne MacLaine.
Ihre Nichte. Sie haben einen Club für Leute mit dem Sternzeichen Schütze. Sie mag heiße Schokolade.
Unbekannt.
Aber ich weiß, welcher Name in dieses Kästchen gehört. Adair weiß es auch. Und noch wichtiger ist, dass Adair es schon damals wusste. Mein Name hätte in das Kästchen neben Adairs Namen gehört – das Kästchen mit der Bezeichnung Vater.
ADAIR
Wir gehen über die dick mit Teppich ausgelegten Stufen des Valmont Country Club zurück nach unten. Wenn ich für einen Moment wegschaue und dann wieder zu Sterling hin, pocht mein Herz wie verrückt.
Zum Glück scheint niemand bemerkt zu haben, dass wir weg waren. Noch dankbarer bin ich, dass mein Schwips allmählich nachlässt. Wir schweben praktisch in den Ballsaal des Valmont Country Club und zur Tanzfläche. Sterlings Augen glitzern, in ihnen spiegelt sich die letzte Glut des Sonnenuntergangs, dessen Licht durch die großen Fenster hereinströmt.
Himmel, er sieht so gut aus. Ich liebe ihn.
»Willst du tanzen, Lucky?«, fragt er, doch bevor ich antworten kann, dreht er mich schon herum, fängt meine Hand mit seiner und legt die andere auf meinen Rücken.
»Wenn du deine Hand noch tiefer legst, müssen wir eine andere Wäschekammer finden«, necke ich.
Die Bewunderung auf seinem Gesicht verwandelt sich in etwas Dunkleres, und sofort träume ich von einem weiteren gestohlenen Moment, in dem wir allein sind. Er zieht mich noch dichter an sich, wirbelt uns zwischen zwei anderen Paaren hindurch und beugt sich herunter, um mich zu küssen.
Die Energie im Raum verändert sich, und ich spüre, dass die Leute um uns herum aufhören zu tanzen, als wären wir tatsächlich der Mittelpunkt der Welt und würden uns nicht nur so fühlen.
Lichtblitze erfüllen den Ballsaal, und dieses Mal bleibe auch ich stehen. Ich schaue mich in der Erwartung um, dass irgendein Kellner, der es gut gemeint hat, aber nun bald arbeitslos sein wird, ein Stroboskoplicht eingeschaltet hat.
Draußen über dem See explodiert ein Funkenregen, und einen Sekundenbruchteil später erfüllt ein weiterer lauter Knall den Raum. Blassrosa- und champagnerfarbene Himmelskörper erblühen am Nachthimmel und spiegeln sich im Wasser, was das Ganze noch eindrucksvoller macht. Die Lichter des Ballsaals über uns verdunkeln sich, als die nächste Rakete gezündet wird und alle Gäste in pastellfarbenes Licht taucht. Um uns herum jubeln die Leute, während immer neue Blitze über den Himmel schießen, nun lautlos.
Auf dem Klavier, das den ganzen Abend unbenutzt in der Ecke stand, wird auf einmal gespielt. Ich weiß alles über die Hochzeitspläne – und das hier gehört nicht dazu. Ich lasse den Blick über die Gästeschar gleiten und hoffe, Ginny zu entdecken. Dazu hat sie auf keinen Fall ihre Zustimmung gegeben. Das wüsste ich.
»Da«, sagt Sterling, der erraten hat, wen ich suche, und zeigt auf die Glaswand.
Ginnys Stirn ist in Falten gelegt, und ihr Mund steht offen. Einen Moment lang bin ich mir sicher, dass ihr die Unterbrechung zutiefst widerstrebt. Ihr Blick fliegt durch den Raum, vom DJ zum Hochzeitsplaner, und landet schließlich auf Malcolm neben ihr. Eine quälende Sekunde lang denke ich, dass sie sich gleich selbst zur Witwe macht, bis mein Bruder seiner Braut ein verschmitztes Grinsen schenkt. Sie wirkt verzückt, und er beugt sich hinunter, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Ein paar Geigen und Celli stimmen in das Klavierspiel ein, woraufhin erneut ein fröhliches Raunen durch die Menge geht. Ich stehe nicht auf klassische Musik, darum kann ich das Stück nicht einordnen. Aber es ist wunderschön – zart und kraftvoll zugleich, mit Crescendi, die mir den Atem rauben.
»Debussy, glaube ich«, sagt Sterling, und sein Gesicht ist fast so bewegt wie das von Ginny.
Es ist pure Magie.
Ein ganz in Schwarz gekleideter Mann steht vor den Musikern und hält eine Hand über einen schwarzen Ohrhörer. Offenbar koordiniert er Musiker und Feuerwerk. Als das nächste Crescendo einsetzt, gibt es eine weitere Überraschung. Im hinteren Teil des Raumes hat sich ein richtiges kleines Orchester eingefunden, während alle auf das Feuerwerk konzentriert waren, und während ein unglaubliches Spektakel den Himmel fast taghell erleuchtet, beginnt es zu spielen.
Zwei riesige Feuerwerkskörper schweben über den anderen, und als sie explodieren, stockt mir der Atem, und ich warte, dass der Klang zu uns herüberdringt. Krachende Becken untermalen den donnernden Hall des Feuerwerks, und der anbrandende Klang der Musik wird von den Zuhörern mit einem kollektiven »Aaaah« beantwortet.
Ich sehe, wie Ginny meinem Bruder voller Bewunderung in die Augen schaut.
»Dass ich hier mit dir bin – ich komme mir vor wie in einem Traum«, sagt Sterling leise. Er hat die Arme um mich geschlungen und das Kinn auf meine Schulter gestützt. So beobachten wir, wie zum Anschwellen und Abfallen der Musik die Lichter des Feuerwerks als Bögen zum Himmel aufsteigen, ehe sie der Spiegelung im Wasser entgegenstürzen. Es entspricht dem An- und Abschwellen meines Herzschlages, und mit jedem Schlag verliebe ich mich ein bisschen mehr in ihn, bis ich nicht mehr das eigentliche Feuerwerk sehen will – sondern nur noch dessen Spiegelung in seinen Augen.
»Auf meine Familie ist Verlass«, sage ich und bin ausnahmsweise fast stolz auf meinen Bruder. Soweit ich weiß, hat er sein Leben lang nicht mehr planen müssen, als wo er sein Lunch einnehmen wird – und das hier hat eindeutig eine Menge Planung erfordert. Womöglich hat er es nur gemacht, um die Leute zu beeindrucken. So etwas würde unser Vater für eine Party machen. Aber ich glaube eher, dass er es aus Liebe getan hat.
»Allmählich verstehe ich, was du meintest, als du sagtest, du willst eine große Hochzeit«, sagt Sterling, und ein leichtes Lächeln stiehlt sich auf sein Gesicht.
»Ich wusste, dass du nachgeben würdest«, erwidere ich, ziehe sein Kinn zu mir und küsse ihn, wobei seine Bartstoppeln meine Haut in Brand setzen.
Das finale Crescendo ist leidenschaftlich, die Bläser spielen in voller Lautstärke, dazu werden immer wieder die Becken geschlagen. Zwei Schläge bilden den fulminanten Abschluss, während die Streicher ein letztes Mal schnell und leise die Melodie erklingen lassen, dann herrscht Stille.
Am Ende klingeln mir die Ohren von der Lautstärke. Ich sehe, wie sich Sterlings Mund bewegt, verstehe aber nicht, was er sagt. Seine Lippen scheinen jedoch das Wort Champagner zu formen, ehe er mich loslässt und in der applaudierenden Menge verschwindet.
»Und er hatte einen Riesenspaß«, sagt ein junger Mann, den ich als Schulfreund meines Bruders erkenne, ein paar Meter entfernt laut zu seiner Begleiterin.
»Sie hat sich erst vor ein paar Wochen für die Farben entschieden, und er musste Stoffproben nach China schicken, damit das Feuerwerk genau darauf abgestimmt werden konnte«, erklärt der Mann. Seine Begleiterin schaut ihn derart verzückt an, als würde sie auf der Stelle Kinder mit ihm haben wollen, wenn er ihr verspricht, so etwas auch für sie zu organisieren. »Er hat die Firma damit beauftragt, die letztes Jahr am vierten Juli das Feuerwerk über dem Weißen Haus gemacht hat. Wahrscheinlich hatte er Angst, Brautzilla mit dem falschen Farbschema zu verärgern.«
So viel zur Romantik. Ich frage mich, wie viele Minuten ihn die Organisation des Ganzen gekostet hat. Fünf? Ganze zehn? Nicht, dass ihn das davon abgehalten hätte, vor seinen Kumpels zu prahlen. Es ist nur ein weiterer Wettbewerb unter Milliardären. Wenn er etwas nicht dazu nutzen kann, besser dazustehen, ist es eine schlechte Investition.
Der DJ spielt etwas deutlich Sanfteres, und mein Trommelfell weiß das zu schätzen. Als Sterling nach ein paar weiteren Minuten immer noch nicht zurückkommt, suche ich die Menge nach ihm ab. An dem eindrucksvoll beleuchteten drei Meter hohen Champagnerbrunnen ist er nicht, ebenso wenig an dem Tisch mit den Resten der Hochzeitstorte.
In dem Moment höre ich etwas, das mir das Blut in den Adern gefrieren lässt. Niemand sonst scheint es bemerkt zu haben, nur ich. Irgendwie dringt die Bosheit in der Stimme meines Vaters – selbst aus der Ferne und durch dicke Wände und Teppiche gedämpft – bis zu mir. So ist es, solange ich denken kann. Mein Körper ist darauf konditioniert, darauf zu reagieren, es ist wie ein Überlebensinstinkt.
Ich fahre herum und suche verzweifelt nach Sterling.
Aber er ist nicht hier.
Sterling, der in mich verliebt ist. Sterling, der ganz von der Romantik des heutigen Abends gefangen ist. Sterling, der mich nicht verlassen wollte, ist nicht hier im Ballsaal.
Und mein Vater spuckt Gift und Galle.
STERLING
Ich möchte Adair eine Nacht wie diese schenken.
Der Gedanke geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Sie verdient es, im Mittelpunkt zu stehen. Dass sich alles nur darum dreht, was sie denkt und was sie will – genau das, was ihre Familie ihr nie geben wird. Das Problem ist, dass ich nicht weiß, wie ich das machen soll. Ich habe ihr vorhin gesagt, dass ich mir eine kleine Hochzeit vorstelle, bei der nur die Menschen anwesend sind, die uns wichtig sind. Aber wie würde das tatsächlich aussehen?
Sie, ich … und Francie? Wer noch? Vielleicht Poppy und Cyrus? Im Freizeitzentrum um die Ecke von unserer Wohnung in Queens? Oder vielleicht könnten wir es im Central Park machen, und zwar schnell, damit niemand fragt, ob wir eine Genehmigung haben?
Sie sagt, es sei ihr egal, aber da macht sie sich etwas vor. Sie weiß nicht, wie es ist, wenn einem vor Hunger der Magen knurrt oder wenn man todmüde ist, einen die Geldsorgen aber nicht schlafen lassen. Ihr Herz meint es gut, und sie liebt mich, was einem Wunder gleichkommt, aber sie weiß nicht, was ich weiß.
Ich verschwinde in der Herrentoilette und überlege, welches Hauptfach ich wählen soll. VWL oder BWL? Damit würde ich das meiste Geld verdienen. Aber etwas Solides wie Medizin oder Jura könnte uns auch ein schönes Leben ermöglichen. Es ist meine einzige Chance, sie zu halten: Ich muss ein Mann werden, der sie verdient. Als ich mit der Schulter die Tür öffne, bin ich der Antwort noch nicht nähergekommen.
»Ich würde Sie gern sprechen«, sagt eine heisere Stimme hinter mir. Es ist Angus MacLaine.
Der Rollstuhl wirkt fast barock – Holz und ein grünes Samtpolster mit goldenen Quasten. Natürlich ist er motorisiert, und ich kann nicht umhin zu bemerken, dass der Alte darauf sitzt wie auf einem Thron. Er dreht an dem geschnitzten Marmor-Joystick, mit dem er den Stuhl steuert, wendet mir bereits den Rücken zu und macht sich auf den Weg zu einem Büro, das weiter den Flur hinunter liegt.
Dass er denkt, ich käme einfach mit, weil er es befohlen hat, widerstrebt mir. Aber noch mehr stört mich, dass ich ihm tatsächlich folge.
Ich habe immer gewusst, dass dies unvermeidlich ist. Irgendwann musste ich ihm unter vier Augen begegnen. Ich habe es bewusst vermieden, vor allem, weil ich nicht sicher war, ob ich nicht ausholen und ihn schlagen würde. Und jetzt? Ich bin nicht bereit. Ich weiß noch nicht, wie ich es angehen soll. Soll ich trotzig sein? Soll ich ihm ehrlich sagen, wie er seine Familie behandelt? Oder soll ich freundlich sein, um das Schlimmste zu verhindern? Ich weiß es einfach nicht. Wenn er mich nach meinen Absichten fragt, soll ich ihm dann die Wahrheit sagen?
Ich schlüpfe hinter ihm in den Raum, entschlossen, so ruhig wie möglich zu bleiben, bis ich besser einschätzen kann, wie er mich sieht.
Ein Schreibtisch mit Holzfurnier steht genau in der Mitte des Raumes, und Angus rollt dahinter und verzieht die Lippen zu einem höhnischen Grinsen, bis er mit dem Ellbogen an der scharfen Schreibtischkante hängen bleibt und sich fast den Anzug zerreißt.
»Scheiße!«, sagt er und sieht sich hektisch nach jemandem um, den er deswegen fertigmachen kann, doch da bin nur ich. Er verändert seine Haltung und starrt mich wütend an. »Hast du dich auf der Hochzeit amüsiert, Junge?«
Junge? Es sind noch keine fünf Sekunden vergangen, und schon träume ich davon, ihn zu schlagen.
»Es ist eine sehr schöne Hochzeit, Sir«, beginne ich mit einer neutralen respektvollen Bemerkung. Viel lieber würde ich ihm entgegenschleudern, dass er mich mit etwas Respekt behandeln sollte. Aber ich habe das Gefühl, wenn ich Respekt will, muss ich ihn durch Taten einfordern.
»Du verbringst viel Zeit mit meiner Tochter, stimmt’s?«
»Ja, Sir. Sie ist etwas Besonderes.«
»Natürlich ist sie etwas Besonderes. Schließlich ist sie eine MacLaine.« Es klingt, als könne er nicht fassen, dass er mir erst erklären muss, dass der Himmel blau ist. »Richtig, ich …«
»Und was erhoffst du dir von den Treffen mit ihr?«, fragt er mit hochgezogener Augenbraue, ansonsten bleibt seine Miene neutral und geschäftsmäßig. Man könnte denken, es ist sein Pokerface, aber ein Mann wie er pokert nicht. Er kauft, verkauft und nimmt sich, was er haben will.
Also ist dies eine Verhandlung, geht mir auf.
»Nichts außer ihrer Gesellschaft«, sage ich, um seinen Verdacht zu zerstreuen, und gebe mich, als hätte ich keine Angst. Ein falscher Schritt, und der Gesprächsteil dieser Unterhaltung ist zu Ende.
»Blödsinn«, sagt er und schnieft.
Doch um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen, muss er sich schon mehr anstrengen. »Ob Sie mir glauben, ist Ihnen überlassen.«
Er kneift die dunklen Augen zusammen und mustert mich wie eine Boa constrictor eine Maus. Zum ersten Mal habe ich seine ganze Aufmerksamkeit. Mit kritischem Blick prüft er meine Erscheinung, den teuren Smoking, die glänzenden italienischen Schuhe. Weiß er, was das alles gekostet hat, und fragt sich, wie ich es bezahlt habe? Weiß er, dass sie die Sachen für mich gekauft hat?
»Ich verstehe, warum sie dich mag«, sagt er schließlich und trommelt mit den Fingern auf den Schreibtisch. »Du bist gut angezogen, und es stört dich nicht, die dir zugewiesene Rolle zu spielen, oder?«
Es folgt eine bedeutungsschwangere Pause, in der keiner von uns den Blickkontakt unterbricht.
»Was wollen Sie damit sagen?«, frage ich.
»Du weißt GENAU …«, brüllt er, und mir stellen sich die Nackenhaare auf, »… wovon ich rede! Wer hat den Smoking bezahlt, den du da anhast? «
Ich habe Adair gesagt, dass es keine gute Idee ist. Und wie sich herausstellt, hatten wir beide recht. Ich hatte recht damit, dass ihr Vater – der jeden in Windfall zwingt, sich seinem Willen zu beugen – das nicht gutheißen würde. Aber sie hatte auch recht. Denn diese hässliche Kröte darf nicht mit ihren Launen alles bestimmen. Das dürfen wir nicht zulassen.
Ich beiße die Zähne zusammen und versuche, mein Temperament zu zügeln, indem ich an sie denke und mir sage, wie wichtig es ist, dass ich das Gespräch rette. Er kann mich nicht leiden. Vielleicht wird er mich niemals mögen. Aber er hat keinen Einfluss darauf, was sie für mich empfindet.
»Adair hat ihn bezahlt«, sage ich. Es hat keinen Sinn, deswegen zu lügen. Dann wäre ich so, wie er mich gern hätte: ein Goldgräber und ein Lügner.
»Plötzlich so dumm, Junge?« Wieder brüllt Angus. »Nein. Dumm bist du nicht, stimmt’s? Wenn du mir eine reinhauen würdest – und ich spüre, dass du das willst –, wäre alles sofort vorbei. Besser du spielst die Rolle, die sie von dir erwartet: den missverstandenen Armen, den Rohdiamanten. Bleib dabei, denkst du, beherrsch dich, und die Tür zu all dem bleibt dir offen.« Er macht eine ausladende Geste und meint die Hochzeit, den Country Club, alles, was er hat und ich nicht.
»Ich will nichts von Ihnen.« Ich zucke mit den Schultern und hoffe, dass es ihn ärgert. Er will mich einschüchtern, aber das gelingt ihm nicht. Nicht nach allem, was ich im Leben durchgemacht habe.
»Du lügst. Du hast ein Auge auf das Kleinod meines Vermögens geworfen«, faucht er. Ich will protestieren, doch er unterbricht mich: »Du willst meine Tochter.«
Einen Moment lang bin ich so verblüfft, dass ich herausplatze: »Adair ist nicht Ihr Eigentum.«
Es klingt naiv, auch in meinen Ohren.
»Natürlich IST sie mein Eigentum, du dummer Junge.« Seine Brust ist ein Blasebalg, der Luft pumpt, um seinen Hass zu schüren, und er braucht einen Moment, um sich aufzurichten, atemlos von seiner eigenen Theatralik. »Ich kenne dich. Ich habe meine Leute auf dich angesetzt. Waise. Wurde im Pflegesystem herumgereicht. Ein gesperrtes Jugendstrafregister. Was hast du angestellt, Junge?«
Natürlich hat er in meiner Vergangenheit herumgeschnüffelt. Ich hatte mir eingeredet, dass seine Gleichgültigkeit gegenüber Adair auch mich einschlösse. Aber sie war über Weihnachten bei mir zu Hause. Sie ist an Thanksgiving zu mir gekommen. Er überwacht jeden ihrer Schritte. Warum sonst hätte er überall auf dem Grundstück Kameras installiert? Adair ist in seinen Augen ein Teil seines Besitzes, der bewacht werden muss. »Ich schulde Ihnen keine Antworten«, sage ich und ringe mit meiner Selbstbeherrschung. Wenn er glaubt, ich würde ihn nicht schlagen, weil er im Rollstuhl sitzt, irrt er sich gewaltig. Der einzige Grund, warum ich es noch nicht getan habe, ist Adair. Doch allmählich fange ich an, zu glauben, dass sie der Grund ist, warum ich ihn schlagen sollte.
»Natürlich weiß ich inzwischen, was in den Akten steht«, fährt er fort, und kaum hat er es ausgesprochen, weiß ich, dass es nun hässlich wird. »Du hast deinen eigenen Vater erstochen …«
»Nachdem er meine Mutter erschlagen hat«, füge ich mit gefährlich leiser Stimme hinzu, »oder stand das nicht in dem Bericht?«
Er blinzelt mich aus seinen leblosen schwarzen Knopfaugen an. »Man beißt nicht die Hand, die einen füttert, egal aus welchem Grund.«
»Glück für Sie, was?«, sage ich bedeutungsvoll. Ich bin nicht der Einzige, der hier etwas zu verbergen hat.
»Mit Glück hat das nichts zu tun. Geld. Beziehungen. Adair beißt nicht, weil sie anständig erzogen wurde. Sie ist reinrassig, im Gegensatz zu dir.«
Das Einzige, was noch stärker ist als der Hass, den ich für diesen Mann empfinde, ist der Ekel, den er unablässig in mir hervorruft. Offenbar kennt Angus MacLaine keine Scham.
Er hebt einen krummen Finger. »Du hast keine Ahnung, was dieses Leben verlangt, welche Opfer unsere Familie bringen muss, um oben zu bleiben. Für eine solche Position bist du ungeeignet. Deshalb wirst du meine Tochter ab sofort nicht mehr treffen«, sagt er wie ein gelangweilter Richter, der zum tausendsten Mal den Geschworenen ihre Pflichten vorliest.
»Nein.«
Er wirkt nicht überrascht. Stattdessen stößt er einen müden Seufzer aus und greift in seine Brusttasche, um Scheckheft und Stift herauszuziehen. »Wie viel? Hunderttausend?«
Ich starre auf das Scheckbuch in seiner Hand, während ich verarbeite, was er mir da anbietet.
»Zweihundert«, sagt er in das Schweigen hinein und trägt meinen Namen in die Empfängerzeile ein.
Ich lehne mich über den Schreibtisch und schaue auf den großen Angus MacLaine herab. »Adair kann für sich selbst entscheiden.«
Er schluckt schwer, und Panik blitzt in seinen Augen auf, bevor er sich schnell wieder fängt. Er schnaubt, und an seiner Unterlippe hängt ein Spuckefaden. »Du kannst ihr nicht das Leben bieten, das ich ihr bieten kann. Das willst du wahrscheinlich nicht hören, aber im Grunde weißt du, dass es stimmt. Du hast ein Stipendium, also vielleicht hast du eine bessere Zukunft vor dir, aber wir wissen beide, was du bist.«
»Was soll das heißen? Sind Sie …«
Er winkt ab und fährt fort: »Ich will Klartext reden, denn du scheinst dich ein wenig zu überschätzen. DU. BIST. ABSCHAUM. Ein Streuner. Ein Straßenköter. Vielleicht bekommst du eine Ausbildung, vielleicht sogar einen anständigen Job, aber an dem Blut, das durch deine Adern fließt, kannst du nichts ändern.«
Plötzlich bin ich wieder in der Wohnung, in der ich aufgewachsen bin, und ziehe an der Decke, die den leblosen Körper meiner Mutter bedeckt. Ich sehe meinen Vater in seinem Unterhemd mit den Senfflecken, das von Grubenschweiß und schalem Bier getränkt ist, wie er aus der Küche herüberbrüllt. Ich sehe meine Schwester, deren Zehen durch die Löcher in ihren Schuhen hervorlugen, das Haar schmutzig und verfilzt.
Zugleich sehe ich Angus MacLaine vor mir, aber er ist von mir weggerückt, als würden wir beide mein junges Ich von den entgegengesetzten Enden eines Flurs aus beobachten. Ich fühle mich gedemütigt und krank. Und dann ergreift eine bodenlose Wut Besitz von mir.
Meine Wut kocht hoch und strömt wie Schweiß aus mir heraus. Ich möchte meine Hände um die faltige Haut an seinem Hals legen und zudrücken.
»Vielleicht bin ich ein Straßenköter«, sage ich, greife, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen, die rechte Schreibtischkante und hebe sie mit aller Kraft an. Der Schreibtisch kippt um, und der entsetzte Ausdruck auf Angus MacLaines Gesicht ist Balsam für meine Wut. »Aber das ist immer noch besser, als ein reiches Monster zu sein, das seine Familie missbraucht. Ich scheiß auf dich, auf dein Geld, auf den traurigen, kleinen Käfig, den du für dein Königreich hältst.«
Er will etwas erwidern, doch seine Stimme versagt. Er räuspert sich wie eine kaputte Trompete und versucht, wieder die Oberhand zu gewinnen. Nachdem er noch einmal tief durchgeatmet hat, gelingt es ihm. Es ist, als habe er bereits vergessen, was gerade passiert ist. Angus trommelt mit den Fingern auf die Armlehne seines Rollstuhls, und ein selbstgefälliges gehässiges Grinsen erhellt sein zerfurchtes Gesicht. Ich sehe mein Spiegelbild in seinen schwarzen Augen und weiß, warum er lächelt. »Genieße den Rest der Feier, Sterling Ford.«
Ich stolpere in den Flur und komme mir vor wie in einem Albtraum, aus dem ich nicht aufwachen kann, weil ich genau das bin, was er gesagt hat. Der Straßenköter, den niemand haben will, weil er nie dazulernt, sondern immer angreift. Er hat mich nicht provoziert, um meine Chancen bei Adair zu ruinieren. Er hat es getan, um mir zu beweisen, dass er sich gar nicht einmischen muss. Ich werde die Sache ganz allein vor die Wand fahren. Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll, aber ich muss Abstand zwischen mich und alle anderen bringen, sonst richte ich nur noch mehr Schaden an.
Im Flur steht das Personal des Country Club stocksteif in einer Reihe. Ich schätze, bei Meinungsverschiedenheiten über Golf geht es normalerweise nicht so hitzig zu.
»Mein Gott, Sterling. Ist alles in Ordnung?«
Das ist Cyrus, der gerade aus der Toilette kommt.
»Sterling?«
Ich will auch ihn schlagen, ich muss mich wieder in den Griff bekommen. Also schließe ich die Augen und atme tief durch, aber es hilft nicht.
»Diesen Blick kenne ich«, sagt er. »Komm mit.«
Ich lasse mich von ihm über eine Treppe und durch einen Flur zu einer Doppeltür führen, über der ein großes Schild mit der Aufschrift Das neunzehnte Loch hängt. In dem Raum dahinter ist es dunkel. In dem wenigen Licht, das von draußen hereinfällt, sind nur die Umrisse von Stehtischen und Stühlen zu erkennen.
»Er hat Glück, dass ich ihn nicht umgebracht habe«, sage ich und setze mich auf einen Hocker an der Bar, die sich gleich neben der Tür befindet. Ich merke, dass ich die Hände zu Fäusten geballt habe, und zwinge mich, sie zu lösen. »Ich sollte wieder nach oben gehen. Ihm genau sagen …«
»Immer mit der Ruhe, Mann. Das ist keine gute Idee.« Er bückt sich hinter die Bar und kramt dort herum. »Ich sage nicht, dass er es nicht verdient hat. Ich glaube, jeder hier hat sich schon mal vorgestellt, Angus MacLaine um die Ecke zu bringen. Das ist so eine Art Initiationsritus in Valmont.«
»Ist dir je in den Sinn gekommen, dass er so geworden ist, weil ihm nie jemand in den Arsch getreten hat?« Sie sind Feiglinge. Allesamt. Darum rollt er hier herum wie ein König auf seinem fahrbaren Thron. Weil niemand je seine Autorität in Frage stellt.
»Ob es mir jemals ernsthaft in den Sinn gekommen ist, den mächtigsten Mann in Valmont anzugreifen und mich und meine Familie zu ruinieren? Nein.«
»Den Mut hat wohl keiner, hm?«
»So dumm ist keiner«, korrigiert er mich.
Das ist es, was er nicht versteht. Die Grenze zwischen Tapferkeit und Dummheit hängt vom Erfolg ab. Scheitert man, die Krone zu erobern, ist man dumm. Erobert man ein Königreich, ist man mutig. Vielleicht wagt man mehr, wenn man wie ich nichts zu verlieren hat.
»Normalerweise ist das hier nicht das Beste für dich«, sagt er und knallt eine Flasche Whiskey und ein Kristallglas auf den Tresen, »aber es ist immer noch besser, als den Vater deiner Freundin umzubringen.«
Einen Moment lang versuche ich, irgendwo anders hinzuschauen, nur nicht auf die Flasche. Der Ausdruck auf Cyrus’ Gesicht ist nur schattenhaft zu erkennen, doch er wirkt wie eine Mischung aus Sorge und, wie ich finde, Herablassung. Ein Teil von mir weiß, dass er mir helfen will, dass meine Wut nur ein Ventil sucht und ich ungerecht bin. Doch ich ertrage es nicht, dass diese Leute mich ständig ansehen wie einen ungezogenen Welpen, der lernen muss, sich zu benehmen.
»Danke«, sage ich, stehe von meinem Hocker auf und schnappe mir die Whiskeyflasche. »Ich muss hier raus.«
Ich rechne damit, dass er mich zurückhalten will, doch zu meiner Überraschung nickt er. Andererseits habe ich gerade gedroht, den Vater des Bräutigams zu ermorden. »Ich sage Adair Bescheid, dass du gegangen bist.«
Ich weiß nicht, wohin, aber das ist auch egal, ich brauche nur einen Ort, an dem ich mit meiner Flasche allein sein kann.
ADAIR
Mein Herz setzt aus, und ich eile zu den Glastüren auf der gegenüberliegenden Seite des Raums. Das harsche Knurren meines Vaters kommt mit jedem Schritt näher.
»War das nicht wunderbar?«, fragt eine verträumte Stimme, und eine feuchte Hand landet auf meinem Unterarm.
Ich drehe mich um und stehe vor Ginny, die mit der anderen Hand den elfenbeinfarbenen Seidenstoff ihres Kleides hält und dabei wie ein Scheinwerfer strahlt – was zum Teil ihrer Verliebtheit, zum Teil dem Champagner geschuldet ist.
»Das war es«, sage ich. Doch ich habe keine Zeit, mir anzuhören, wie sie von meinem Bruder schwärmt, der diese Bewunderung gar nicht verdient, während mein Vater meinen Freund zusammenfaltet. Aber es ist nicht Ginnys Schuld, dass meine Familie sich nicht einen Abend lang benehmen kann. Im Grunde weiß sie, wie es in unserem Haus zugeht, wie könnte sie das nicht mitbekommen haben? Aber sie weiß nicht, wie es ist, so zu leben, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Sie hat keine feinen Antennen für die Wutanfälle meines Vaters entwickelt. Sie ist glücklich. Auf ihrer Hochzeit. Das darf ich ihr nicht verderben. Das wird jemand anders übernehmen. »Das war wirklich sehr besonders«, sage ich. »Weißt du, ich glaube, mein Bruder hat noch nie in seinem Leben etwas organisiert. Jedenfalls keinen symphonischen Flashmob. Hat es dir gefallen?«
»Zuerst nicht. Ich habe mich nur gewundert, warum plötzlich jemand Klavier spielt. Ich hatte keinen Pianisten bestellt. Aber als ich sein Gesicht sah, wusste ich es. Es war …«, sie stockt und sucht nach den richtigen Worten, »… es hat meine kühnsten Träume übertroffen.«
Ich nicke. »Ich glaube nicht, dass irgendjemand eure Hochzeit jemals vergessen wird.«
»So etwas könntest du auch haben«, sagt sie zögerlich und mit einem ängstlichen Unterton in der Stimme, als würde sie etwas sagen, das sie sich bislang nicht zu sagen getraut hat. »Wenn du die richtigen Entscheidungen triffst.«
»Was soll das heißen?«, frage ich.
»Die perfekte Hochzeit. Das perfekte Leben.« Sie deutet hinter sich auf den Champagnerbrunnen, die Leute. Plötzlich fühle ich mich an Jay Gatsby und dessen Partys erinnert – und ich weiß genau, wie das für ihn ausgegangen ist.
»Das ist nichts für mich, danke.« Ich hoffe, sie lässt es dabei bewenden, weiß jedoch, dass sie das nicht tun wird. Sie ist jetzt ein Mitglied meiner Familie, also warum sollte sie mir nicht sagen, wie ich mein Leben am besten zu leben habe? Das machen die anderen schließlich auch.
»Warum nicht? Du hast alles, was du dir nur wünschen kannst. Sicherheit. Prestige. Luxus. Andere würden für dein Leben töten. Du kannst es nicht einfach so wegwerfen, indem du eine schlechte Entscheidung triffst.«
»Du weißt nicht, wovon du redest, Ginny. Lass uns das nicht jetzt besprechen.« Meine Selbstbeherrschung schwindet, und sie ist das Einzige, was mein Temperament im Zaum hält.
Ginny schließt den Mund, und für den Bruchteil einer Sekunde denke ich, dass ich sie überzeugt habe, das Thema zu wechseln. Dann öffnet sie den Mund erneut, doch ich werde nie erfahren, ob sie mich beschwichtigen wollte, denn in dem Moment höre ich wieder die Stimme meines Vaters und ein Wort: Abschaum. Ginny hört es ebenfalls, und als ich durch die Tür gehen will, stellt sie sich mir in den Weg.
Ich erstarre und ringe mit meiner Wut. Mein Körper möchte sich mit allen Mitteln an ihr vorbeidrängen. Wenn sie nicht zur Seite geht, wird es ziemlich hässlich.
»Lass mich vorbei, ehe es noch schlimmer wird«, warne ich sie.
»Das ist meine Hochzeit, Adair«, zischt sie, damit möglichst wenige Leute um uns herum etwas von unserem Gespräch mitbekommen. Der Anstand muss gewahrt werden. Sie ist schon jetzt eine bessere MacLaine als ich. »Wie kannst du nur so narzisstisch sein?«
»Was zum Teufel soll das heißen?«, frage ich und achte nicht mehr auf meine Lautstärke.
Sie beugt sich nah zu mir, hebt drohend den Finger und senkt die Stimme zu einem gehässigen Flüstern. »Gott, sieh dich doch nur an! Du willst doch tatsächlich eine Szene machen und deinen Vater auf meiner Hochzeit anschreien. Darf eigentlich irgendjemand mal einen schönen Moment haben? Oder ruinierst du alles?«
»Ich habe mich um meine eigenen Angelegenheiten gekümmert, Ginny«, sage ich, suche nach dem letzten bisschen Verständnis in mir und merke, wie es schwindet. »Im Gegensatz zu …«
»Von wegen. Ganz egal, was ich sage, ich kann dich nicht aufhalten, stimmt’s? Denn du hast zwar alles, aber du musst auch alles zerstören, nicht wahr?«
Ich öffne den Mund, um zu protestieren, doch es kommt kein Laut heraus. Es dauert eine Sekunde, bis ich meine Stimme wiederfinde, und als es mir gelingt, bin ich überrascht, wie ruhig sie klingt. »Ich bin nicht diejenige, die alles kontrollieren muss.«
»Nein. Du bist diejenige, die alles zerstören muss. Es darf nichts geben, das dir nicht hundertprozentig gefällt, oder? Nicht das Thanksgiving-Essen mit unseren Familien. Nicht einmal ein Gespräch mit deinem Bruder oder Vater.«
Denkt sie, der glänzende neue Ehering gibt ihr das Recht, mich herumzukommandieren? Hat sie schon eine ganze Weile hinter die Kulissen geblickt und das Hässliche gesehen, was wir bis jetzt dort verborgen gehalten haben? Ich habe sie für naiv gehalten, dachte, sie wäre ganz auf ihre perfekte Hochzeit fixiert und blind für die raue Realität. Doch jetzt frage ich mich, über wie viel sie für ihr perfektes Leben hinwegzusehen bereit ist.
»Ich verstehe, dass du deine Familie nicht magst, Adair. Und ich weiß, dass dein Vater … sehr schwierig ist.«
»Das trifft es nicht annähernd.«
»Aber das entschuldigt nicht dein Verhalten. Du musstest noch nie Aufgaben übernehmen. Musstest noch nie für etwas arbeiten. Vielleicht kannst du alle anderen so mies behandeln, aber nicht deine Familie.« Ihre Worte rauben mir die Luft. »Du bist einfach nur ein verzogenes Gör«, endet sie und stößt einen gereizten Seufzer aus.
Mein Arm zuckt, und es kostet mich enorme Selbstbeherrschung, sie nicht zu ohrfeigen.
Sie weicht zurück und schickt ein Keuchen in die Menge, die sich um uns versammelt hat. Sie verhält sich so, als hätte ich sie tatsächlich geschlagen, woraufhin ich mich frage, warum ich es nicht einfach getan habe. Irgendwie erkenne ich durch den roten Dunst, der mir die Sicht vernebelt, dass ich sie damit nur in ihrer Meinung bestätigen würde.
Als ich meine Hand um ihre Schulter lege, so tue, als würde ich sie umarmen, und meinen Mund zu ihrem Ohr führe, zuckt sie erneut zusammen.
»Du weißt gar nichts, Ginny«, flüstere ich kalt. »Du hast mädchenhafte Vorstellungen davon, wie das Leben in diesem Haus ist. Aber dein Vater hat dich nicht jeden einzelnen Tag deines Lebens angeschrien. Du musstest nicht zusehen, wie er sich betrinkt, und dich fragen, wie lange es wohl dauert, bis er sich über jeden echten oder eingebildeten Fehler von dir hermacht. Und du musstest nicht in einem Krankenhaus sitzen und darauf warten, dass man dir sagt, dass dein betrunkener Vater deine Mutter getötet hat.«
Sie weicht zurück. Ich rechne damit, dass sie eingeschüchtert ist, dass sie verlegen aussieht, aber das tut sie nicht. Der mitleidige Ausdruck in ihren Augen erwischt mich kalt und gibt mir das Gefühl, auf Erbsengröße zu schrumpfen. »Es tut mir leid, dass du so wütend bist. Was würde deine Mutter zu deinem Benehmen sagen?«
Das Gewicht eines Felsblocks landet auf meiner Brust. Wie kann sie es wagen, meine Mutter gegen mich zu benutzen? Sie kannte sie kaum, hat nie gesehen, was mein Vater ihr angetan hat. Sie denkt, dass die paar Besprechungen zur Hochzeitsplanung ihr einen tiefen Einblick in das Seelenleben meiner Mutter gegeben hätten? Sie hat nicht den Hauch einer Ahnung. Kaum ist sie in ein paar Stunden eine MacLaine, ist sie schon eine Expertin. So ist das. Ich weiß nicht, warum ich mir Sorgen gemacht habe, ob Ginny in die Familie passt. Sie passt besser hinein, als ich es je tun werde.
»Sie würde dir raten, das Beste aus deinem Leben zu machen. Den Reichtum und die guten Verbindungen deiner Familie zu nutzen. Sie würde nicht wollen, dass du so wütend bist. Denn sie würde sehen, was ich sehe – dass du dir mit der Wut vor allem selbst schadest.«
Ihre Worte versetzen mir einen heftigen Stich, der mir die Luft raubt. Sie hat recht, oder? Sie mag meine Mutter nicht gut gekannt haben, aber genau so etwas hat meine Mutter mir immer gesagt.
Vielleicht bin ich so daran gewöhnt, das Schlimmste zu erwarten, dass ich es jetzt sehe. Ich bin bereit, Ginny zu verzeihen – zuzugeben, dass ich im Unrecht bin –, bis sie hinzufügt: »Stattdessen wirst du alles niederbrennen. Dich bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit jedem anlegen. Eigentlich bist du genau wie dein Vater. Kompromisslos. Rücksichtslos. Du merkst nicht einmal, dass du um dich schlägst. Ich meine, um Himmels willen, Adair, du bist mit einem beschissenen Habenichts zusammen, der nur auf unser Geld aus ist!«
Ich weiche ein Stück vor ihr zurück.
Genau darum geht es hier. Es ist alles fein aufeinander abgestimmt. Sie ist eine MacLaine. Selbst heute kann sich meine Familie nicht einfach entspannen und feiern, sie muss manipulieren und kontrollieren. Ginny hat das hier mit meinem Vater zusammen geplant. Wie sollte sie sonst von Sterlings Vergangenheit wissen? Mein Vater führt genau in diesem Moment mit Sterling das Gegenstück zu dieser Unterhaltung. Haben sie das so geplant, oder passt Ginny so perfekt in meine Familie, dass man ihr das noch nicht mal sagen musste?
Ich merke erst, dass meine Handfläche zu ihrem Gesicht schwingt, als ich ihren panischen Blick sehe. Doch da ist es schon zu spät. Nun kann ich es genauso gut genießen. Sie hat es verdient. Sie hat ihre Hochzeit zu einem Schlachtfeld gemacht. Sie verdient ein wenig Beschuss von der eigenen Seite.
»Würdest du bitte nicht meine Frau schlagen«, sagt Malcolm und fängt meinen Arm einen Zentimeter vor ihrem perfekt geschminkten Gesicht auf.
Ginny lässt sich schluchzend an ihn sinken, und eine wirre Mischung aus dem, was ich gesagt habe, und vielem, was ich nicht gesagt habe, sprudelt aus ihrem Mund. Ich sehe, wie sie durch feuchte Wimpern zu ihm hochschaut und seine Reaktion abschätzt, um ihren Auftritt entsprechend darauf abzustimmen. Damit er sich an mich als das Monster erinnert, das versucht hat, ihr den perfekten Tag zu verderben, anstatt an das, was wirklich passiert ist. Irgendwo in ihrem Geplapper höre ich, dass sie wieder meine Mutter erwähnt.
»Wage es ja nicht, noch mal vor mir von meiner Mutter zu sprechen«, fauche ich, raffe den Saum meines Kleides, streife meine hochhackigen Schuhe ab und stürme durch die Tür.
Im Flur befinden sich nur Kellner, aber die stehen wie angewurzelt und starren auf die Tür am anderen Ende. Ich kenne den Ausdruck, der auf dem Gesicht der Leute erscheint, wenn mein Vater wirklich abstoßend gewesen ist, und den sehe ich auf jedem ihrer Gesichter.
Als ich auf sie zukomme, sehen sie erst zu mir und wenden den Blick dann wieder der Tür am Ende des Flurs zu. So gut es geht, marschiere ich hoch erhobenen Hauptes durch die Tür. Als ich den umgestürzten Schreibtisch sehe, schnappe ich nach Luft. Die umgekippte Lampe strahlt nach oben und lässt die Gestalt meines Vaters irgendwie fremd und wahnsinnig wirken.
»Was hast du getan?«, frage ich.
»Ich habe deinem Freund gesagt, was ich von ihm halte.« Mein Vater mustert mich kühl, und seine Stimme klingt auf eine Weise brüchig, die ich noch nie zuvor gehört habe.
Auf seiner Stirn stehen Schweißperlen, und die Hand, mit der er sich an die Armlehne seines Stuhls klammert, zittert. Was auch immer passiert ist, Sterling hat meinem Vater Angst eingejagt – was ich für unmöglich gehalten habe. Aber ganz gleich, wie viel Genugtuung mir das verschaffen könnte – schließlich bin ich immer noch eine MacLaine –, ich weiß, dass das seinen Preis hat. »Du kennst ihn nicht genug, um über ihn zu urteilen.«
»Ich weiß mehr als du. Kennst du seine Vorgeschichte? Weißt du, woher er kommt?« Es bereitet meinem Vater wahre Freude, andere zu quälen, und etwas von seiner Schadenfreude scheint zurückzukehren, als er auf meine Antwort wartet.
»Ich weiß, was Sterling in seiner Kindheit zugestoßen ist«, sage ich und hoffe, dass er das Zittern in meiner Stimme nicht bemerkt. »Tut mir leid, dir das sagen zu müssen.«
»Dann ist es noch schlimmer, als ich dachte.«
»Was soll das heißen?«
»Ich habe nie verstanden, wie jemand, der so klug ist wie du, zugleich so dumm sein kann.« Sein Blick springt zur Decke, als würde er zum Himmel sprechen. »Das heißt, du findest all die Warnhinweise charmant, meine Tochter. Du enttäuschst mich zutiefst. Du bist so schön wie deine Mutter und so eigensinnig wie ich, aber kaum findest du einen streunenden Köter, willst du ihn mit nach Hause nehmen, mit Flöhen und allem.«
Ich zucke zusammen, es überrascht mich nicht, wie er Sterling und mich sieht. Aber ein Schlag tut weh, auch wenn man ihn kommen sieht. »Und ich habe nie verstanden, wie du so viel Hässliches in allen sehen kannst, nur nicht in dir selbst, Vater.«
»Er passt nicht zu dir. Vorbestraft? Gewalttätig? Das verbiete ich dir.«
»Du hast mir nichts zu sagen!« Ich schreie ihm die Worte entgegen und bereue es sofort. Das dient ihm nur als Beweis dafür, dass ich eine hysterische, schwache Kreatur bin – genau das, was er mich glauben machen will. Also wäge ich meine nächsten Worte sorgfältig ab. »Mich interessiert nicht, was du denkst. Sterling gibt mir, was ich brauche, was mehr ist, als du mir je gegeben hast.«
»Du verwechselst das, was du willst, mit dem, was du brauchst. Er behandelt dich so, wie du es willst – aber ich kümmere mich um das, was du brauchst. Das kann er nicht.«
»Was weißt du schon von meinen Wünschen und Bedürfnissen?« Mein Vater erkennt die Wünsche anderer Menschen nur an, wenn sie ihm in den Kram passen. Es läuft immer auf sein Geld hinaus. Damit gleicht er alles aus. Doch weil er für alles zahlt, beschwert sich niemand.
»Ich weiß, er hat dich so verkorkst, dass du dich auf der Hochzeit deines Bruders davongeschlichen hast, um mit ihm zu vögeln. Hast du ihn da gebraucht?«
Bei dem Gedanken an unser perfektes Stelldichein schießt mir die Hitze in die Wangen, dann krampft sich mein Magen zusammen, als mir klar wird, dass uns jemand beobachtet haben muss. Ich begreife. »Das hat dir Ginny erzählt, stimmt’s?«
»Sie hat gesehen, wie ihr die Treppe heruntergestürmt seid, als wärt ihr gerade aus einem Hotelzimmer gestolpert – da wusste sie Bescheid.«
Mein Vater denkt, jetzt hätte er mich, mit einem süffisanten Grinsen beugt er sich vor.
»Wenn du etwas zu meinen Entscheidungen zu sagen hast, dann mach das mit mir aus, nicht mit meinem Freund«, teile ich ihm mit. »Hör auf, in meinem Leben herumzupfuschen. Du hast mir schon genug genommen.«
»Genommen? Was habe ich dir denn genommen? Ich habe dir alles gegeben, was du hast.« Seine Stimme klingt eiskalt und gleichzeitig wütend. Für einen Moment bin ich sicher, dass er aus dem Stuhl aufstehen und versuchen wird, mich zu erwürgen.
»Du weißt genau, was ich meine. Du hast Mom getötet.« Es ist mir egal, ob er mich erwürgt. Die Glupschaugen und der plötzlich fischartige Mund sind es mir wert. »Soll ich dir einen schönen Brandy holen, Vater? Du kannst die ganze Flasche trinken und dann einen Wutanfall bekommen, bis du dich besser fühlst. Oder zumindest kannst du alle so unglücklich machen, wie du es bist. Wenigstens müssen wir uns keine Sorgen mehr machen, dass du dich hinters Steuer setzt.«
»Du … du darfst nicht«, stottert er und verzieht die Lippen, »SO MIT MIR REDEN!«
Ich warte nicht das Ende seiner wütenden Tirade ab, sondern gehe aus der Tür und schlage sie hinter mir zu.
Sterling ist nirgendwo zu finden. Ich sehe im Ballsaal nach und in den oberen Fluren und frage sogar ein paar Kellner – aber keine Spur von ihm. Je länger ich ihn suche, desto stärker wächst meine Panik, bis ich merke, dass mir kalt ist und ich zugleich schwitze. Mein Schwips hat einem pochenden Kopfschmerz Platz gemacht. Tränen treten mir in die Augen, als ich mit jeder Sekunde mehr die Fassung verliere.
»Da bist du ja«, sagt Poppy, die mit Cy im Schlepptau ins Zimmer tanzt.
Ich wusste nicht, wie dringend ich ein freundliches Gesicht sehen musste. Kaum erblicke ich Poppy, breche in Tränen aus und vergrabe meinen Kopf an ihrer Schulter.
Sie beruhigt mich sanft. »Hey, jetzt sind wir ja da. Das wird schon.«
Langsam hört mein Körper auf zu zittern, Wut und Angst lassen nach. Ich habe Freunde. Zusammen werden wir ihn finden. Mein Vater hat nicht gewonnen.
»Wir haben deinen Vater schreien hören. Bist du okay?«
Den Streit hat wahrscheinlich die halbe Hochzeitsgesellschaft gehört.
»Mein Vater hat Sterling gestellt, und sie haben sich gestritten. Jetzt kann ich ihn nirgends finden.«
nicht
»Mein Vater zieht einen in seine Welt hinein. Ihm gehört alles, er kontrolliert alles. Und er benutzt ständig alles, um zu bekommen, was er will. Entweder lässt du ihn gewähren, oder du lernst, wie du aus seiner Welt ausbrechen kannst.«
»Ich will nicht aus seiner Welt ausbrechen. Ich will sie zerstören.«
Wenn das jemand anders gesagt hätte oder mit weniger Aufrichtigkeit, würde ich es vielleicht nicht ernst nehmen. Aber ich habe Sterling noch nie so gesehen. Ganz kurz frage ich mich, ob er sich betrinken sollte, nur für heute Nacht, damit er von dem Abstand gewinnt, was auch immer passiert ist. Aber ich weiß, dass das die billige Lösung ist, die nur neue Probleme mit sich bringt.
»Ich kenne das Gefühl. Glaub mir.«
Er schaut auf die Flasche in seinen Händen und dreht den Verschluss ab. Mein Mut sinkt, als ich darauf warte, dass er einen Schluck nimmt. Stattdessen atmet er tief ein und genießt den Geruch.
»Du hast nicht versucht, mich vom Trinken abzuhalten«, stellt er halb irritiert und halb vorwurfsvoll fest.
»Ein Teil von mir würde dir das nicht verübeln«, murmele ich. »Du darfst nicht vergessen, dass ich schon mein ganzes Leben mit Angus MacLaine zu tun habe. Daher weiß ich, dass ich dir jetzt auf keinen Fall etwas vorschreiben sollte.«
Er nickt. »Da hast du recht.«
»Aber ich weiß auch, dass der betrunkene Sterling nicht der beste Sterling ist. Und hätte mein Vater dann nicht gewonnen?«
»Er wollte mich loswerden. Mit einer sechsstelligen Summe«, sagt Sterling und hält inne, um erneut das Aroma des Whiskeys zu genießen. »Ich bin einem Milliardär nicht einmal eine Million wert.«
Ich zwinge mich zu lachen, aber es klingt hohl. Keiner von uns findet das lustig.
Er schraubt den Deckel wieder auf die Flasche und stellt sie neben dem Wagen auf den Boden, und ich atme erleichtert auf.
»Es wird ihm noch leidtun, dass er sich mit uns angelegt hat«, sagt Sterling und wendet sich mir mit demselben wilden Blick zu, den er in den Augen hatte, als ich ihn auf der Straße eingeholt habe.
»Das würde ich gerne erleben – aber das wird wahrscheinlich nicht heute Abend passieren.« Ich lächele, so gut ich kann, und greife nach seiner Hand. »Lass uns zurück ins Wohnheim fahren. Vergiss meinen Vater. Wenn wir einfach nicht an ihn denken, kann er uns nichts anhaben.«
Sterling lässt mich seine Hand nehmen, aber er ergreift sie nicht, dann schenkt er mir ein schwaches Lächeln.
»Du hast gewonnen, Lucky. Also los.«
Wir steigen wieder ins Auto, und ich setze zurück, ich will die Sache einfach nur vergessen. Doch dann strahlen die Scheinwerfer die volle Whiskeyflasche an und erinnern mich daran, dass es einen Unterschied zwischen Wünschen und Bedürfnissen gibt und wie schwer es manchmal ist, ihn zu erkennen. Genauso schwer, wie die Lösung nicht in einer Flasche zu suchen.