Buch
Als ein gewaltiger Sturm über die schottische Küste hinwegfegt, stürzt das Haus von Gordon Smith in die Nordsee. Und die bröckelnde Landzunge enthüllt, was er im Garten vergraben hat: zahllose Tote. Das Unwetter verhindert eine Bergung der Leichen, während die Wellen sämtliche Beweise vernichten. So weiß niemand, wie viele Menschen Smith getötet hat. Doch alle ahnen: Er wird weitermorden. Ex-Detective Inspector Ash Henderson ist entschlossen, Smith in den Highlands aufzuspüren und zu stoppen, selbst wenn er dafür Regeln brechen muss. Doch die Zeit läuft. Ein junges Mädchen ist in Smiths Gewalt, die Medien wittern Blut, und der Polizeichef sucht einen Sündenbock …
Weitere Informationen zu Stuart MacBride sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.
Stuart MacBride
–––––––––––––––––––––––
Der Garten
des Sargmachers
Der dritte Fall für Ash Henderson
Thriller
Aus dem Englischen
von Andreas Jäger
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »The Coffin Maker’s Garden« bei HarperCollinsPublishers, London
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Deutsche Erstausgabe Oktober 2021
Copyright © der Originalausgabe
2021 by Stuart MacBride
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: FinePic®, München
Redaktion: Eva Wagner
AB · Herstellung: ik
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-28332-2
V001
www.goldmann-verlag.de
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Zum Andenken an Marion Chesney
(alias M. C. Beaton)
ein Heißsporn, eine Naturgewalt – und eine exzellente Schriftstellerin, deren Bücher Millionen Menschen Freude brachten –
einschließlich mir
– Sturmtief im Anmarsch –
»… nachdem die New Aryan Crusade sich zu dem Bombenanschlag bekannt hat. Der amerikanische Vizepräsident bezeichnete den Anschlag als ›feige und abscheuliche Tat‹ …«
Warum gab es nie irgendwelche guten Nachrichten im Radio?
Margaret hackte eine knackige orange Möhre und warf sie in den brodelnden braunen Topf mit Hackfleisch, während der Regen an das beschlagene Küchenfenster trommelte. »Weißt du was, Alfie? Ich glaube, die Menschen sind einfach alle Pappnasen.«
Keine Antwort – wie üblich. Wenn Alfie erst mal in ein Malbuch vertieft war, konnte man ihn glatt vergessen. Da bekam man noch von einem Gartenzwerg mehr Rückmeldung.
»… läuft der Einsatz zur Rettung der Besatzung der Ocean-Gold Harvester, die an den Klippen bei Clachmara auf Grund gelaufen ist, weiter auf Hochtouren. Wir sprachen mit Sophie O’Brien von der Küstenwache …«
»Ui, hast du das gehört, Alfie? Clachmara! Wir werden im Radio erwähnt, ist das nicht spannend?«
Immer noch nichts.
Also wirklich, da könnte man doch genauso gut allein hier wohnen. Oh, es hat sich ja so romantisch angehört auf der Website: »Die einmalige Gelegenheit, ein reizendes historisches Cottage direkt am Meer zu mieten, mit traditionellem Inventar und Dekor, in sehr begehrter Lage!« Was übersetzt hieß: ein undichtes Dach, holzvertäfelte Wände, die keinen Pinsel mehr gesehen hatten, seit Fred und Rose West ihre Terrasse neu gepflastert hatten, und einfach verglaste Fenster, die schon beschlugen, wenn man sie nur anschaute. Und der Wind pfiff voll durch die Rahmen, wenn man die ganzen Ritzen nicht mit zusammengeknülltem Zeitungspapier stopfte.
Aber wenigstens war es billig.
Eine weitere Möhre wurde in ungleichmäßige Stücke zerhackt, weil runde Möhrenscheiben doch einfach widerlich waren, nicht wahr?
»… äußerst schwierige Bedingungen, aber wir tun, was wir können.«
Der warme braune Duft des Hackfleischs erfüllte die Küche, tröstlich und vertraut wie ein alter Lieblingspulli, und überdeckte den sonst vorherrschenden Mäuse-Schimmel-Geruch. Und hielt die Dunkelheit in Schach.
»Also, ich find’s jedenfalls spannend, du nicht?«
»Wie die Polizei heute meldet, wurde in einem Waldstück südlich der Stadt die Leiche eines Kindes gefunden. Die endgültige Identifizierung steht noch aus, doch es wird vermutet, dass es sich um den vierjährigen Lewis Talbot handelt, der seit dem vierzehnten Oktober vermisst wurde …«
»Armer kleiner Wurm.« Margaret warf die letzten Möhrenstückchen in den Topf. »Deswegen sollst du nie zu fremden Männern ins Auto steigen, Alfie. Oder Süßigkeiten von ihnen annehmen.«
»… schon das dritte Opfer, nachdem in diesem Jahr bereits die Leichen von Oscar Harris und Andrew Brennan gefunden wurden.«
»Obwohl, weißt du was? Halt dich überhaupt ganz von Männern fern, Punkt.« Sie rieb sich den angeschwollenen Bauch und musste vom Sodbrennen sauer aufstoßen. »Ich wäre jetzt nicht in diesem Zustand, wenn ich mich an den Rat gehalten hätte. Nein, dann würde ich morgen meinen Abschluss in forensischer Anthropologie machen, und deine Großeltern würden noch mit mir reden.« Hörst dich aber ganz schön verbittert an, Margaret. Und wessen Schuld ist es, dass du dich hast schwängern lassen?
Ein Seufzer.
»Na, egal, Alfie, wenigstens haben wir uns, nicht wahr?«
Immer noch nichts.
Also wirklich – wie ein Gartenzwerg.
»Und hier kommt Doug mit dem Wetter.«
»Danke, Colin. Tja, Leute, macht euch auf was gefasst, denn von Skandinavien kommt das Sturmtief Trevor auf uns zu, und es wird noch sehr viel schlimmer werden, bevor es wieder besser wird …«
»Och nee, so ein Schhhh…« Margaret kniff die Lippen zusammen und schluckte das Wort hinunter, das Alfie ganz bestimmt nicht in seinem Wortschatz haben sollte. Denn so, wie sie ihn kannte, würde er es gleich morgen im Kindergarten hinausposaunen, und dann würde sie wieder zu einem »Gespräch« mit dieser mondgesichtigen Schreckschraube Mrs Gillespie antanzen müssen. Also, neuer Versuch: »So, mein Mini-Monster, wie wär’s, wenn du Mummy ein bisschen hilfst und ihr aus der Kiste unter der Spüle ein paar Kartoffeln bringst?«
Sie drehte sich um, den Sparschäler in der erhobenen Hand, wie einen Zauberstab, mit dem sie Alfie seinen größten Wunsch erfüllen könnte – solange es nichts Komplizierteres als Kartoffelpüree war.
Sie erstarrte. Mund offen.
»… haben wir alles diesem massiven Tiefdruckgebiet zu verdanken, das von Osten heraufzieht …«
»Alfie?«
Der zerschrammte Holztisch war mit einem Regenbogen aus Filzstiften übersät, gruppiert um einen halb ausgemalten Tyrannosaurus Rex in grellen Lila- und Grüntönen, der aus dem Malbuch herausbrüllte. Daneben ein Glas Milch und ein Schokokeks. Aber Alfies Stuhl war leer.
»Alfie?« Margaret warf den Schäler auf die Arbeitsplatte und wischte sich die Hände an der Schürze ab, während sie zur Tür ging, um einen Blick in den ebenfalls historisch holzvertäfelten Flur zu werfen. »Alfie?«
Die Badtür war nur angelehnt, aber drinnen brannte kein Licht. Nichts als die Dunkelheit eines stürmischen Novemberabends.
»Alfie, bist du Pipi machen?«
Nein – das Bad war leer.
»Alfie?« Sie wurde lauter, als sie die Runde durchs Haus machte – die zwei winzigen Schlafzimmer, das Esszimmer, in dem sich all die Kartons stapelten, die sie noch nicht hatte auspacken können, und das Wohnzimmer mit dem weit aufgerissenen Maul des Kamins und den Wasserflecken an der Decke. »ALFIE!«
Zurück in die Küche.
Tisch. Stifte. Malbuch …
Wo waren seine Gummistiefel? Seine Gummistiefel hätten neben ihren an der Hintertür stehen müssen, aber Alfies rotes Paar war verschwunden. Genau wie sein gelber Anorak und sein Südwester.
Ihre Augen weiteten sich, als sie auf die beschlagene Scheibe starrte, die im Regengeprassel zitterte. Auf das Schwarzgrau dahinter.
O nein.
Margaret riss die Tür auf und stolperte hinaus in die Dunkelheit, wobei sie einen ihrer Hausschuhe verlor. Der Regen stach mit eiskalten, scharfen kleinen Messern auf ihr Gesicht ein. »ALFIE!«
Sie lief um die Hausecke herum zur Straße. Nur eine Handvoll Straßenlaternen funktionierten noch – zitternd im strömenden Regen, gebeutelt vom heulenden Wind, der von der Nordsee her blies, warfen sie ihren schwachen gelblichen Lichtschein auf den rissigen Asphalt. Die Reihe von Laternenpfählen endete zehn Meter hinter ihrem Haus, wodurch alles, was danach kam – was nicht mehr sehr viel war –, in tiefer Finsternis versank. Die das Ende der Welt verhüllte.
»ALFIE!«
Sie lief zur Mitte der Straße, drehte sich um, holte tief Luft und formte die Hände zum Megafon. »ALFIE!«
Moment … was war das für ein Geräusch? Halb übertönt vom Sturmgeheul. Ein ratterndes, grollendes Geräusch. Ein hartes, mechanisches Wump-wump-wump, dazu ein stotterndes Geheul. Dann tauchte in der Ferne ein Licht auf, blendend hell, und mit seinen rot und grün blinkenden Augen stieg ein Hubschrauber über die Klippen auf. Das Heulen der Motoren und das Wummern der Rotoren wurde lauter und lauter.
Und Alfie liebte Hubschrauber.
»ALFIE!«
Margaret stolperte an den verdunkelten Häusern vorbei auf die Klippen zu, schlüpfte unter dem Absperrband mit der Aufschrift »Kein Zutritt« hindurch, das im Wind frrrrrrrte. Die Straße war mit einem zweieinhalb Meter hohen Bauzaun versperrt, der das jeweils letzte »bewohnbare« Haus auf beiden Seiten von den »unbewohnbaren« dahinter abtrennte. Am Maschendraht war ein verblasstes Schild befestigt: »Achtung! – Küstenerosionszone – Zutritt verboten – Lebensgefahr«
Aber niemand machte sich die Mühe, den Zaun instand zu halten, nicht wahr? Sie schoben ihn einfach immer nur ein Haus weiter landeinwärts, wenn wieder mal das traute Heim von irgendeinem armen Schwein in der Nordsee versank. Gut möglich, dass da inzwischen so große Löcher klafften, dass ein Fünfjähriger sich hindurchzwängen konnte.
Sie hievte den Zaun an einem Ende aus seinem Betonsockel, zog ihn so weit zurück, wie die Kette, die ihn mit dem nächsten Element verband, es zuließ, und schob sich zwischen den kalten Metallstangen hindurch in die Dunkelheit auf der anderen Seite. »ALFIE!«
Über ihr drehte der Hubschrauber ab, und sein Scheinwerfer glitt über das regenglänzende Gras. Ein gelber Fleck leuchtete kurz im Dunkeln auf – »ALFIE!« –, dann wanderte der Lichtkegel weiter, und der gelbe Fleck wurde wieder von der Nacht verschluckt.
Margaret strauchelte weiter, wankend im Abwind des Hubschraubers. Vom ramponierten Asphalt in das, was einmal jemandes Garten gewesen war. Sie tastete sich an etwas entlang, das sich wie ein Lattenzaun anfühlte, kletterte drüber. Etwas zerrte an ihr, sie hörte Stoff reißen, verlor auch noch den anderen Hausschuh.
»ALFIE?«
Da stand er, am Rand der Klippe, und schaute hinunter ins Wasser.
O Gott.
Die Klippe. Die, vor der all die Schilder warnten.
Was, wenn sie unter ihm abbrach?
Was, wenn er leicht genug war, aber sie zu schwer, und deshalb ihr Versuch, ihn zu retten, die Katastrophe erst auslöste und sie beide ins Meer stürzten?
Ihre nackten Füße glitschten durch das nasse Gras, als sie sich vorsichtig vorantastete, die Arme nach ihm ausgestreckt. Sie versuchte das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken, versuchte sich die Panik nicht anmerken zu lassen. »Komm her, Schätzchen, kommt zu Mummy. Es ist gut, es ist alles gut. Komm zu Mummy.«
Er blickte sich zu ihr um und zeigte ein zahnlückiges Grinsen, während er mit dem Finger auf das rot-weiße Ungetüm zeigte, das über ihren Köpfen die Luft umpflügte. »Ein Hubrauscher!«
»Bitte, komm zu Mummy, Alfie. Komm her, du schaffst das.« Sie reckte die Arme nach ihm, schob sich zentimeterweise vor.
Alfies Finger zeigte nach unten. »Bootchen!«
Sie ließ sich auf Hände und Knie fallen und kroch auf ihn zu.
Wenn sie es schaffte, Alfie lebend nach Hause zu bringen, würde sie nie wieder den Anrufen ihrer Mutter aus dem Weg gehen, das schwor sie bei Gott. Sie würde mit dem Trinken aufhören. Sie würde sich ehrenamtlich bei der Obdachlosenhilfe engagieren, bei der Tafel oder wo auch immer.
Noch näher.
Alfie steckte sich den Daumen in den Mund.
Sie würde sogar aufhören, Gary ein Alimente verweigerndes, Kellnerinnen vögelndes Arschloch zu nennen, wenn sie nur ALFIE HEIL NACH HAUSE BRACHTE.
Margarets Fingerspitzen bekamen den nassen Saum seines knallgelben Anoraks zu fassen. Sie hob ihn hoch und schloss ihn in die Arme. Dann kniete sie dort am Rand des Abgrunds und drückte ihn fest an sich, atmete den Gummigeruch seiner Regenkleidung ein. »Mach das bloß nie wieder!«
»Guck mal, Mummy, ein Bootchen und ein Hubrauscher!«
»Komm jetzt, ich bring dich nach Hause.« Sie schob einen Arm unter seinen Po, hob ihn hoch, richtete sich auf und drehte sich um.
Der Helikopter der Küstenwache leuchtete über ihnen, sein Scheinwerfer genau auf ein klobiges Fischerboot gerichtet – ungefähr so lang wie ein Doppeldeckerbus, aber doppelt so breit. Als ob es fast so schwanger wäre wie sie. Der blau-weiße Anstrich der Ocean-Gold Harvester war auf dieser Seite wie neu, aber mit der anderen Seite klebte sie an den braungrauen Klippen, die über ihr aufragten. Einer der Ausleger lag verbogen auf dem Deck, der andere ragte ins Wasser, noch mit dem Netz verbunden, das sich im aufgewühlten Wasser blähte, während die Wellen das Boot gegen die Wand aus Erde und Fels warfen.
Fünf Männer drängten sich am Ruderhaus zusammen, alle in neonorangen Überlebensanzügen und Rettungswesten. Sie klammerten sich an die Handläufe des Boots, während einer ihrer Kameraden zum Helikopter hochgewinscht wurde.
Das Boot rutschte in ein Wellental, der Rumpf schrammte kreischend über die Felswand, ehe die nächste Welle es wieder gegen die Klippe schleuderte.
»Will gucken, will gucken!«
»Nein, Alfie, wir müssen jetzt nach Hause gehen, bevor …«
Ein dunkles Grollen drang durch das Heulen des Winds, das Rauschen des Regens und das Wummern der Rotoren.
Es war zu spät.
Die Klippe brach ab.
Margaret schluckte. Zog Alfies Kopf an ihre Brust. »Mach die Augen zu, Schatz. Mummy liebt dich!«
Und dann sackte die Landspitze ab, das Geräusch zerberstender Felsen steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Getöse, als eine gewaltige Wand aus Erde und Stein vornüberkippte und über der Ocean-Gold Harvester zusammenschlug. Und sie unter sich begrub. Ein riesiger Gischtschwall spritzte auf, als die Erdmassen das zerschmetterte Boot in die aufgewühlte See drückten, mitsamt allen Seelen an Bord.
Fünf Männer tot, einfach so …
Über ihnen trudelte der Hubschrauber der Küstenwache, als ob er Mühe hätte, das Gleichgewicht zu halten.
Und Margaret starrte ungläubig – nicht auf den Berg von Geröll an der Stelle, wo eben noch ein Boot und fünf Männer gewesen waren, sondern auf die Klippenwand, die vom Scheinwerfer des Helikopters erhellt wurde. Die frisch freigelegte Erde war dunkler, als es die Klippe gewesen war, und das machte es leichter zu erkennen, was daraus hervorschaute.
Knochen.
Dutzendweise Knochen.
Menschliche Knochen.
– in Gedanken und Gebeten –
Verdammte Schlaglöcher.
Das Auto schlingerte von einem zum nächsten und ließ jedes Mal Wasserfontänen von den Radkästen aufspritzen, während die Scheibenwischer mit ihrem rhythmischen Quietsch-klock einen aussichtslosen Kampf gegen das Trommelfeuer des Regens führten. Die Straßenlaternen bildeten schwächliche Lichthöfe im Schüttregen, die so gut wie nichts gegen die Dunkelheit ausrichten konnten. Und nach einem halben Dutzend war Schluss, danach kam nur noch die kohlschwarze Weite der aufgewühlten Nordsee.
Ich packte den Haltegriff über der Beifahrertür, als der kleine Suzuki-Jeep durch das nächste Schlagloch rumpelte. »Zielst du absichtlich auf die Dinger?«
Alice beugte sich weiter über das Lenkrad und spähte angestrengt durch den schmierigen Halbkreis von halbwegs transparentem Glas. »Hier irgendwo müsste es sein …« Sie hatte sich in eine schwarze wattierte Jacke gehüllt, aus deren zu langen Ärmeln regenbogenfarbene fingerlose Handschuhe hervorschauten. Das lockige braune Haar hatte sie zu einem Knoten zurückgebunden, der im Takt der Schlaglochrallye wackelte und wippte.
Rumpel. Schlinger. Rumms.
»Ich meine nur – es ist okay, wenn du nicht jedes einzelne triffst.«
»Ist es das da vorne?« Sie nahm eine Hand lange genug vom Lenkrad, um auf eine weitere in unattraktiven Beige- und Brauntönen gestrichene Nachkriegs-Doppelhaushälfte zu deuten. Das Einzige, was das Haus von seinen Nachbarn unterschied, war die Tatsache, dass hier sämtliche Lichter brannten. Und dass vor dem Haus ein rotzgrüner, klappriger Fiat Panda parkte.
»Ich sage immer noch, es ist reine Zeitverschwendung.«
»Aber wir –«
»Sollen einen Kindermörder fangen und uns nicht mit irgendeinem halbgaren Kann-sein-kann-auch-nicht-sein-Fall für die Paria-Truppe herumschlagen.« Ich streckte mein rechtes Bein und drehte das Fußgelenk, das dabei ein Klicken von sich gab. Es war immer das Gleiche, wenn das Wetter umschlug – dann strahlten die Schmerzen vom Narbengewebe in den ganzen Fuß aus, als ob ein Sadist die Knochen mit einem Lötkolben bearbeitete. »Wozu hat man denn Uniformierte, wenn man ihnen nicht die ganzen sinnlosen Tätigkeiten aufs Auge drücken kann?«
Alice parkte hinter dem Panda. Sie stellte den Motor ab und blieb sitzen, während der Sturm den Jeep auf seiner Federung hin und her warf. »Es ist ja nur vorübergehend.« Schulterzucken. »Außerdem war die Alternative, zur Obduktion zu gehen, und ich habe wirklich keine Lust zuzuschauen, wie noch ein kleiner Junge ausgeweidet wird.«
Das war ein Argument.
»Ash?« Sie warf mir einen Seitenblick zu. »Hast du dir überlegt, was du morgen machen willst? Du weißt schon, weil es doch –«
»Können wir jetzt bitte nicht darüber reden?«
»Es ist völlig normal, solche Gefühle –«
»Mir geht es gut.« Was gelogen war. »Und wir haben einen Auftrag zu erledigen.« Ich schnallte mich ab, drehte mich um und griff hinter mich, um Henry zwischen den Ohren zu kraulen. »Du passt auf den Jeep auf, okay?« Er schaute mit offenem Maul zu mir auf, die kleine rosa Zunge rausgestreckt, die Nase glänzend schwarz wie ein Lakritzbonbon. »Und wenn jemand ihn klauen will, beißt du ihn.«
Alice stöhnte. »Versuch nicht wieder das Thema zu wechseln. Morgen ist ein –«
»Unterbrich mich nicht – ich bin gerade dabei, das Scotchterrier-Fahrzeugsicherungssystem scharfzustellen.« Ich tätschelte Henrys Kopf noch ein wenig, und sein Grinsen wurde breiter. »Wer ist mein bissiges kleines Monster, hm? Du bist es. Ja, du!«
»Aber –«
»Für eine forensische Psychologin bist du wirklich schlecht darin, die subtilen Signale wahrzunehmen, die jemand aussendet, nicht wahr?«
Ein strahlendes Lächeln. »Oh, ich nehme sie sehr wohl wahr! Ich ziehe es nur vor, sie zu ignorieren. Zu deinem eigenen Besten.«
»Ich Glückspilz.« Ich fischte meinen Krückstock aus dem Fußraum. »Komm jetzt – wir erledigen unsere staatsbürgerliche Pflicht, und dann holen wir uns irgendwo eine Pizza oder so.« Der Wind versuchte mir die Autotür aus der Hand zu reißen, als ich sie öffnete, und spitze Regennadeln stachen auf mein Gesicht ein.
Alice kletterte auf der anderen Seite heraus, den Kopf im Periskop ihrer Kapuze versteckt. »Können wir nicht zur Abwechslung mal to stay anstatt to go essen?«
»Wir haben einen Kindermörder zu fangen, schon vergessen?« Ich eierte über die mit Pfützen übersäte Einfahrt zur Haustür, wo ein kleines hölzernes Vordach so gut wie keinen Schutz vor dem Regen bot. Auf der einen Seite war die Dachrinne kaputt, und ein wahrer Wasserfall klatschte auf den schmuddeligen Rauputz herab.
Ihre Stimme nahm einen entschieden weinerlichen Ton an. »Ich hab’s satt, immer nur aus fettigen Pappkartons zu essen. Oder aus Plastikbechern.«
»Hör auf zu jammern und klingle.«
Das tat sie – drückte so lange auf den Knopf, bis auf der anderen Seite der wespenzerfressenen Tür ein schrilles Drrrrrrrrrinnnnnnng ertönte. »Ich hab schon vergessen, wie Teller und Besteck aussehen.«
»Ich denke, wir sollten uns Steven Kirk noch mal vornehmen. Ihn aufs Revier zerren und so lange schütteln, bis er nicht nur sein Gebiss ausspuckt.«
»Und es ist auch nicht gerade gesund. Wann haben wir zuletzt Salat gegessen?«
»Ich kauf ihm seine ganze Nummer von wegen ›Ich habe mich zu der Zeit um meine todkranke Mutter gekümmert‹ einfach nicht ab. Einmal Pädo, immer Pädo.«
»Oder Brokkoli!« Aus den Tiefen von Alice’ Kapuze drang ein dünner, quäkender Klagelaut. »Ich vermisse Brokkoli.«
»Er könnte sehr wohl …«
Die Tür ging auf, und ein schmierig aussehender Typ mit halblangen braunen Haaren, einem billigen Anzug und rotem Schamhaar-Bart beäugte mich finster. »Sie haben sich ja Zeit gelassen.« Sein eines Auge schaute nicht ganz in die gleiche Richtung wie das andere, als ob er es schief eingebaut hätte.
»DC Watt. Schön zu sehen, dass Sie sich Ihre einnehmende Art bewahrt haben.«
Er knurrte, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte den Flur entlang. Jetzt war die handtellergroße kahle Stelle an seinem Hinterkopf zu sehen, der von einer wulstigen, u-förmigen Narbe verunstaltet war. Die Haut ringsum war eingedellt, als ob ein Teil seines Schädels ausgefräst wäre. »Mutter ist in der Küche.«
Alice folgte mir ins Haus und zog den Reißverschluss ihrer gefütterten Jacke auf, unter der ein weiteres Exponat aus ihrer Sammlung schwarz-weiß gestreifter Tops zum Vorschein kam. Ihre roten Converse-Turnschühchen quietschten auf dem feuchten Linoleum, als wir auf einen dampfigen Raum im hinteren Teil des Hauses zugingen, der von einem einladenden Duft nach Mince and Tatties erfüllt war.
Eine hochschwangere Frau saß am Tisch, mit einem kleinen Jungen auf dem Schoß, den sie fest an sich drückte. Er hatte ein Malbuch vor sich und verunstaltete gerade einen Triceratops mit einer scheußlichen Farbkombination aus Rotbraun und Türkis.
Mutters breiter Rücken war uns zugewandt. Ihr krauses, knalloranges Haar fiel über die Schultern ihrer schwarzen Uniform-Fleecejacke. Sie hatte die Ärmel hochgekrempelt, sodass ihre fleischigen, blassen Unterarme mit den Rosen- und Distel-Tattoos zu sehen waren. »Und Sie sind sicher, dass es keine Tierknochen waren oder so etwas Ähnliches?«
Die schwangere Frau verdrehte die Augen. »Ich sollte eigentlich morgen meinen Abschluss in forensischer Anthropologie machen, aber ich habe bei meiner Geburtstagsparty zu viel Prosecco getrunken, und das habe ich jetzt davon.« Sie deutete auf ihren dicken Bauch. »Ich kenne mich mit menschlicher Anatomie aus, und diese Knochen stammen eindeutig von einem Menschen.«
DC Watt räusperte sich. »’tschuldigung, Boss, das Team von der NERE wär’ jetzt da.« Er sprach »NERE« aus, als ob es sich um eine Geschlechtskrankheit handelte.
Mutter blickte sich zu uns um und zog eine Braue hoch. »Sieh an, sieh an, wenn das nicht Ash Henderson ist. Wieder ins Land der Lebenden zurückgekehrt?«
Ich nickte. »Detective Inspector. Sie kennen Dr. McDonald?«
Alice sprang auf sie zu wie ein aufgeregter Spaniel, die Hand zum Gruß ausgestreckt. »Also, wir haben uns ja eigentlich noch nicht kennengelernt, DI Malcolmson, aber sagen Sie bitte Alice zu mir – ich habe schon viel von Ihnen gehört, es ist mir ein Vergnügen, und keine Sorge, wir sind nicht hier, um Ihren Fall zu übernehmen, wir kommen nur, weil Sie sagten, dass Sie unsere Hilfe brauchen – also, wahrscheinlich nicht unsere Hilfe, aber jedenfalls Ashs Hilfe, und ich bin nur mitgekommen, weil er nicht richtig Auto fahren kann, wegen seinem Fuß und so.« Das alles in einem einzigen Maschinengewehr-Atemzug. »Und ich hab mich gefragt, was es mit Ihrem Spitznamen auf sich hat, warum nennt man Sie ›Mutter‹? – ist es, weil Sie einen fürsorglichen Einfluss ausüben? – was, wie ich sehr wohl weiß, ein repressives gesellschaftliches Stereotyp ist, das der weiblichen Psyche von den repressiven Kräften eines diktatorischen Patriarchats aufoktroyiert wird – ›oh, Frauen sind ja so fürsorglich und weich, sie können unmöglich mit Männern konkurrieren‹, aber manchmal ist es doch wirklich der Fall, ich meine, das mit der Fürsorglichkeit, nicht das mit der Konkurrenz, und ist das Tee da in der Kanne, da hätte ich gerne eine Tasse, wenn noch was da ist?«
Mutters Augenbraue wanderte noch höher. »Ist sie immer so?«
»Sie haben ja keine Vorstellung.« Ich schob die Hände in die Hosentaschen. »Also, können wir das jetzt hinter uns bringen? Alice und ich müssen einen Kindermör–« Mein Blick ging zu dem kleinen Jungen, der mit großen Augen von seinem fehlfarbigen Dinosaurier zu mir aufsah. »… einen bösen Mann fangen.«
»Das kann ich mir denken.« Mutter winkte Watt zu. »John, Sie sind bitte so nett und bleiben bei Miss Compton. Mr Henderson und ich müssen etwas überprüfen gehen.« Und damit schob sie sich an mir vorbei und trat hinaus in den Flur, wo sie in eine weite Barbour-Wachsjacke schlüpfte. An der Haustür blieb sie stehen. »Sie haben doch nichts dagegen, dass wir vorher noch einen kleinen Umweg machen, oder?« Ohne mir Zeit zum Antworten zu geben, fuhr sie fort: »Nein? Gut. Dann kommen Sie.«
Sie schlug ihre Kapuze hoch und trat hinaus in den heulenden Sturm. Mit hochgezogenen Schultern stemmte sie sich gegen die Böen und stapfte zwischen den Pfützen hindurch die Einfahrt hinunter.
Alice sah mich an und zog einen Flunsch. »Glaubst du, dass ich da drin einen schlechten ersten Eindruck gemacht habe, weil ich glaube nämlich, dass ich einen schlechten ersten Eindruck gemacht habe, und ich wollte wirklich nicht …«
»Es hat doch keinen Sinn, dass wir beide klatschnass werden. Du bleibst hier bei DC Watt und der Zeugin. Wenn du Glück hast, gibt sie dir was von dem Mince and Tatties ab. Auf richtigen Tellern. Mit Besteck.«
»Pass auf dich auf, ja?«
»Versprochen.« Das scheußliche Wetter packte mich wie eine Riesenfaust, als ich hinter Mutter herhumpelte, über die Einfahrt und weiter über den pockennarbigen Asphalt. Ich hatte Mühe, Schritt zu halten. »Wohin gehen wir?«
»Nun ja, wir können uns ja wohl kaum auf das Wort einer Zivilperson verlassen, oder? Auch wenn diese Person einen Beinahe-Abschluss in forensischer Anthropologie hat.« Sie zog eine Taschenlampe hervor und schwenkte den Strahl über die Gärten links und rechts der Straße, während wir unseren Weg bis zum Ende der Straße fortsetzten. Sie hob die Stimme, um das Heulen des Winds zu übertönen. »Als ich ein kleines Mädchen war, waren wir öfter hier. Immer an Ostern haben Mum und Dad ein Cottage unten am Strand gemietet, und wir haben in den Dünen gespielt und Sandburgen gebaut und die Hunde von anderen Leuten gejagt.« Sie stieg über einen niedrigen Lattenzaun und schlurfte durch windgepeitschte Büschel von gelblichem Gras. »Ich weiß noch, dass Clachmara damals richtig hübsch war, bevor der alte Ortsteil ins Meer gefallen ist. Tja, so ist das nun mal mit dem Klimawandel, nicht wahr?«
Sie blieb vor einem Bauzaun aus Maschendraht stehen, spitzte die Lippen und betrachtete sinnend die Lücke zwischen zwei Zaunelementen, die mit einer straff gespannten Kette verbunden waren. Sie sah an sich hinunter und dann wieder auf die Lücke. »Irgendwie habe ich das Gefühl, dass das nicht funktionieren wird.«
»Eine schwangere Frau hat es geschafft, sich da durchzuzwängen, schon vergessen?«
»Bestimmt nicht hier. Und außerdem haben Sie es doch so eilig, sich wieder an die Jagd nach Ihrem kindermordenden bösen Mann zu machen, schon vergessen?«
Herrgott noch mal …
»Na schön, geben Sie mir die Taschenlampe.«
Ich quetschte mich durch die Lücke und folgte dem weißen Lichtfleck, der sich durch das lange Gras wand, während sie in der Dunkelheit zurückblieb.
»Machen Sie Fotos, wir brauchen Beweise!«
Regenwasser tränkte meine Hosenbeine; der kalte, nasse Stoff klebte an meiner Haut. Es drang durch die Schultern meiner Jacke, rann mir übers Gesicht und in den Nacken. »›Oh, das ist ganz schnell erledigt‹ hat er gesagt, ›einfach nur ein bisschen Hilfestellung geben‹, hat er gesagt, ›da sind Sie im Nu wieder zurück‹, hat er gesagt.«
Ich stapfte weiter, immer der Taschenlampe nach. Humpelte und stolperte durch die verwilderten Überreste eines Gartens. Das Gras zerrte mit bleichen, nassen Tentakeln an meinem Krückstock. Vom Haus selbst stand nur noch eine einzige Giebelseite; der Rest war weggerissen, und stattdessen war da nur noch der zerklüftete Klippenrand, unter dem die Nordsee tobte.
Gott, war das trostlos.
Ein Windstoß warf mich ein paar Schritte zurück. Und schleuderte mir noch eine Handvoll Regen ins Gesicht.
Das wurde mir doch allmählich zu blöd.
Der Strahl der Taschenlampe glitt an der Grenze zwischen dem Hier und dem Nichts entlang. Zur Linken war die Klippe nahezu senkrecht abgebrochen – Massen von Gestein und Erde, an die tief unten die tosenden schwarzen Wellen schlugen. Das war wohl die Stelle, wo das Fischerboot verschwunden war.
Arme Schweine.
Brecher schlugen gegen die Trümmer der einstigen Landspitze und verschlangen sie mit schäumenden Reißzähnen.
Das obere Ende des Schuttbergs mündete in den Garten gegenüber. Das Haus war vielleicht drei oder vier Meter von der Kante entfernt – ein freistehender Bungalow in schmutzigen Grau- und Brauntönen. An der Seeseite war eine Holzgarage drangeklatscht, deren Schwingtor schief in den Angeln hing.
Ich ließ den Lichtstrahl über die freigelegte Erde wandern und sah etwas Weißes darin schimmern. Ja, doch, das sah eindeutig nach Knochen aus.
Die ersten Bilder, die ich mit meinem Handy machte, waren unscharf und verschwommen. Der Blitz war einfach viel zu schwach, um irgendetwas auszuleuchten, selbst mit Unterstützung durch die Taschenlampe. Mit der Videofunktion ging es etwas besser. Ich zoomte ganz dicht heran und versuchte nicht zu viel zu wackeln, während der Wind an meinem Rücken zerrte.
Wie es aussah, lag unsere hochschwangere Freundin richtig: Was da aus der schwarzen Erde hervorschaute, waren eindeutig menschliche Überreste. Zwei leere Augenhöhlen starrten mich aus einem Schädel an, der schräg auf der Seite lag. Der Unterkiefer fehlte. Die nächste Attacke der Nordsee riss einen Brocken der dunklen Erde ab, der mitsamt dem Schädel den Abhang hinunterkullerte und von der nächsten Welle verschluckt wurde.
Unter mir war ein leises Grollen zu hören, und der Garten, in dem ich stand, büßte noch einmal einen halben Quadratmeter Lehm und Gras ein.
Okay, war vielleicht nicht die allerbeste Idee, hier noch länger herumzustehen.
Schnell zurück zum Zaun und durch die Lücke in die relative Sicherheit der sturmgepeitschten Straße.
Mutter sah mich unter ihrer Kapuze hervor an. »Und?«
»Hundert Prozent menschlich.«
Ihre Schultern sackten ab. »Mist. Warum konnte es nicht irgendein geschmackloser Scherz sein? Vielleicht ein begrabenes Haustier oder so?«
»Machen Sie sich keine Gedanken – noch zwei Stunden, dann ist sowieso alles ins Meer gefallen.«
»Ich wusste doch gleich, dass das ein vergifteter Kelch war. Aber ich konnte ja nicht früher Feierabend machen, obwohl alle anderen sich schon abgeseilt hatten, nicht wahr? Ich konnte es nicht der Nachtschicht überlassen, sich damit rumzuärgern. Nein, ich musste natürlich die pflichtbewusste, selbstlose Staatsdienerin geben.« Sie ließ die Schultern hängen und stieß einen langgezogenen, bekümmerten Seufzer aus. »Lassen Sie sich das gesagt sein, Mr Henderson – gehen Sie grundsätzlich nie ran, wenn zwei Minuten vor Schichtende Ihr Bürotelefon klingelt. Es ist immer eine Katastrophe.« Sie atmete tief durch, dann nickte sie. »Also, dann holen wir besser mal die Spurensicherung her. Rechtsmediziner, Staatsanwaltschaft, Suchteams …«
Der Wind heulte durch den Maschendraht, und wir mussten uns dagegenstemmen, um nicht umgeworfen zu werden.
»Na, viel Glück dabei.« Ich gab ihr die Taschenlampe zurück. »So, können wir jetzt vielleicht mal zu dem Grund kommen, weshalb ich eigentlich hier bin, solange es noch Stellen an mir gibt, die nicht völlig durchnässt sind?«
»Sind Sie sicher, dass Sie nicht noch ein bisschen bleiben und mithelfen wollen?« Sie richtete die Taschenlampe auf den schrottigen grünen Fiat, der vor dem Haus der schwangeren, nicht ganz fertigen forensischen Anthropologin parkte. »Ich habe Kekse im Auto.«
»Ich muss immer noch einen Kindermörder fangen.« Die Leute hörten einfach nie zu.
»Na ja, man kann’s ja mal versuchen.« Mutter schwenkte die Taschenlampe herum und leuchtete über die Straße hinweg auf das letzte Haus auf dieser Seite des Zauns – das neben dem Grundstück, wo die Knochen aufgetaucht waren. Ein Doppelhaus mit durchhängenden Dachrinnen und flechtenbewachsenem Dach. Ein alter blauer Renault rostete am Straßenrand vor sich hin, in der Einfahrt stand ein versiffter Wohnwagen. Im Wohnzimmer brannte Licht. »Wollen wir?«
»Mir ist immer noch nicht klar, wieso Sie das nicht ohne mich geschafft hätten.«
»Weil Helen MacNeil nicht mit mir reden will. Und sie will auch nicht mit John reden. Und als ich einen Uniformierten hingeschickt habe, um es zu versuchen, war sie so nah dran« – sie hielt eine Hand hoch, Daumen und Zeigefinger zwei Millimeter auseinander –, »ihn zum Weinen zu bringen. Die Leitstelle sagt, Sie und Helen kennen sich von früher, also wird sie vielleicht mit Ihnen reden. Mit Ihrem überbordenden Charme dürfte das doch kein Problem sein.«
Sarkastische alte Hexe.
Und außerdem war meine Bekanntschaft mit Helen MacNeil nicht gerade von der angenehmen Sorte gewesen.
Ich folgte Mutter zu dem Haus. Der Wohnwagen diente uns als Windschutz, er schaukelte ächzend in seiner Federung, als der Sturm von der anderen Seite mit voller Wucht in ihn hineinfuhr.
Sie klingelte und hielt den Finger eine bis fünf Sekunden auf dem Knopf, dann ließ sie sich in die Hocke fallen und hob den Deckel des Briefschlitzes an. »Helen? Helen, ich bin’s, Flora. Können Sie bitte an die Tür kommen?«
Keine Antwort.
Sie versuchte es wieder. »Helen? Hallo, können Sie mich hören?«
»So wird das doch nie was!« Ich schlug mit dem Knauf meines Krückstocks gegen die Tür, drei Mal, so richtig mit Schmackes, und holte tief Luft. »HELEN MACNEIL, POLIZEI! MACHEN SIE AUF, ODER ICH TRETE DIE GOTTVERDAMMTE TÜR EIN!«
Mutter schnalzte mit der Zunge. »Der Inbegriff der Diplomatie, wie immer.«
Noch drei Schläge. »DAS IST MEIN VOLLER ERNST, HELEN, MACHEN SIE DIE TÜR AUF, SONST –«
Die Tür wurde aufgerissen, und eine Frau mittleren Alters beäugte uns finster. »Jaja, ist ja schon gut.« Die Jahre waren nicht sehr freundlich zu Helen MacNeil gewesen – jedes einzelne hatte sich in Form tiefer, verästelter Runzeln in ihr herzförmiges Gesicht eingegraben. Ihre stattliche Figur hatte sie sich allerdings bewahrt: Breite Schultern und kräftige Bizepse spannten das schwarze Muskelshirt mit einem Pentagramm und einem Ziegenkopf auf der Brust. Kurz geschorenes graues Haar und eine lange, scharf geschnittene Nase, die zwei- oder dreimal gebrochen worden war, seit wir uns zuletzt gesehen hatten.
Helen gefiel es offensichtlich nicht, wie ich sie anstarrte. »Was zum Teufel glotzen Sie so?«
Mutter trat einen halben Schritt näher und setzte ihr strahlendes Grübchenlächeln auf. »Ich weiß, Sie hatten bisher nicht sonderlich viel Lust, mit uns zu reden, Helen, aber es ist wirklich wichtig, dass wir –«
»Ich habe nicht Sie gefragt, sondern ihn da.« Sie zeigte mit dem Finger auf mich. »Den Humpelmann.« Sie reckte das Kinn. »Meinen Sie, ich weiß nicht, wer Sie sind?«
Ich nickte. »Gut sehen Sie aus, Helen.«
Die Fältchen um ihre Augen wurden tiefer, als sie die Augen zusammenkniff. »Elf Jahre im Knast von Oldcastle – Ihretwegen hab ich die Geburt meiner Enkelin verpasst!«
»Nein, Helen, Sie haben die Geburt Ihrer Enkelin verpasst, weil Sie Neil Stringer mit dem Griff einer Spitzhacke den Schädel eingeschlagen haben. Und Sie wären nach acht Jahren rausgekommen, wenn Sie nicht auch noch Ruth Anderson in der Gefängnisbücherei abgestochen hätten.«
»Hmmmpf … Das Miststück hat es herausgefordert.«
»Aber sicher.« Ich wies mit dem Kopf nach nebenan, zum Grundstück jenseits des Maschendrahtzauns. »Sie haben von der Leiche gehört?«
»Von der mutmaßlichen Leiche.« Helen verschränkte die massigen Arme, die Muskeln wölbten sich unter der sommersprossigen Haut. »Die Dickmadame hier hat gesagt, es –«
»Wen nennen Sie hier dick?« Mutter richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, die Schultern gestrafft, die beachtliche Brust gewölbt. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu –«
»– wüsste nicht, was das mit mir zu tun hat, und –«
»– weil starke Knochen nichts sind, wofür man sich schämen muss! Es –«
Ich haute noch mal mit meinem Stock an die Tür. »OKAY, DAS REICHT JETZT! Alle beide!«
Mutter scharrte mit den Füßen und wandte das Gesicht ab, während sie rot anlief. »Bin nicht dick.«
Helen zuckte mit den Schultern. Sah auf den Boden. Räusperte sich, sagte aber nichts.
Schon besser.
»An der Leiche ist nichts ›Mutmaßliches‹, sie ist echt.«
»Wüsste trotzdem nicht, was das mit mir zu tun hat.«
»Bei Ihrem Ruf? Eine Leiche taucht auf wundersame Weise auf Ihrem Nachbargrundstück auf, und Sie glauben ernsthaft, dass wir da nicht eins und eins zusammenzählen?«
Wieder hob sie das Kinn. »Kein Kommentar.«
»Ganz wie früher.« Ich trat einen Schritt zurück und begutachtete demonstrativ das Dach, dann die Wände zu beiden Seiten. »Die Bude sieht aus, als könnte sie jeden Moment über Ihnen zusammenbrechen. Bei Ihnen hat sich das Verbrechen nicht gerade gelohnt, wie? Was denn, hatten die etwa kein Ruhestandspaket für Sie parat, als Sie entlassen wurden? Einen schönen goldenen Handschlag als Dankeschön dafür, dass Sie den Mund gehalten haben?«
»Kein Kommentar.«
»Die haben Sie fallenlassen wie eine radioaktive Stinkbombe, nicht wahr? Und ich dachte immer, Loyalität sollte in beide Richtungen gehen?«
Ihr Blick verhärtete sich. »Kein Kommentar.«
»Da werden Sie für den Mord an Neil Stringer eingebuchtet, den die angeordnet haben, und ich wette, die haben sich nicht mal die Mühe gemacht, Sie vom Gefängnis abzuholen, als Sie entlassen wurden. Und Ihre Anrufe ignoriert. Ich wette, die haben Sie geghostet. Als ob Sie ihnen nichts bedeuten.«
»Kein – Kommentar!« Beide Wörter zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorgestoßen.
»Und jetzt sitzen Sie hier draußen fest und warten nur noch darauf, dass Ihre Bruchbude ins Meer fällt. Eine unbedeutende, nutzlose alte Frau.«
Helen versteifte sich, als ob sie gleich auf mich losgehen würde … und leckte sich dann die Lippen. Blinzelte, ließ die Schultern sacken. »Ich weiß, was Sie da machen.«
Mutter atmete hörbar aus. »Schön, dass irgendjemand das weiß.«
»Sie glauben, wenn ich Zoff mache, können Sie mich wegen Angriffs auf einen Polizeibeamten einkassieren. Mich einbuchten und mir den Mord an dem, der da nebenan verscharrt ist, anhängen, wer immer das ist.« Sie wies in die ungefähre Richtung des Nachbargartens. »Tja, aber ich bin nicht blöd, und Sie können gleich wieder verduften. Na los, ab mit Ihnen, und nehmen Sie die fette Kuh gleich mit!«
Mutters Augen traten aus dem Kopf. »Jetzt werden Sie mal nicht unverschämt, ja?« Sie ballte die Fäuste, zitternd vor Empörung.
Hinter mir ertönte eine piepsige Stimme. »Hallo?« Und schon schob Alice sich in die Lücke zwischen Mutter und Helen MacNeil, die Kapuze ihrer Jacke zurückgeschlagen, die Nase von der Farbe des vielbesungenen Rentiers. Sie hatte Henrys Leine in der einen Hand und hielt Helen die andere hin. »Ich bin Dr. McDonald, aber Sie dürfen Alice zu mir sagen, wenn Sie mögen, weil es doch einfacher ist, wenn alle auf solche Förmlichkeiten verzichten, nicht wahr, und Ihr T-Shirt gefällt mir – ist das ›Crowley’s Ghost‹, die hab ich früher dauernd gehört, echter Death Metal hat so eine wunderbare Intensität – jedenfalls, ich bin mit Henry Gassi gegangen und habe laute Stimmen gehört, und da dachte ich mir, ich könnte vielleicht helfen?«
Helen MacNeil starrte sie an.
Alice drückte mir Henrys Leine in die Hand. »Wunderbar, also dann: Ash, DI Malcolmson, könntet ihr beziehungsweise könnten Sie mich einen Moment mit … Helen, nicht wahr? Ja, also, wenn wir einen Moment für uns haben könnten – falls das für Sie in Ordnung ist, Helen –, damit wir uns ein bisschen unterhalten können, so von Frau zu Frau, und schauen, ob wir nicht einen Weg finden, die Dinge freundlich und friedlich zu regeln und wirklich als Team zusammenzuarbeiten, nicht wahr?« Sie schenkte uns allen ein sonniges Lächeln. »Prima, so machen wir’s!« Sie klatschte in die Hände und ging auf die Tür zu.
Helen wurde ein wenig blass im Gesicht, als sie zurückwich, mit einer Miene, als ob ein Sattelschlepper auf sie zugerast käme, doch Alice folgte ihr seelenruhig ins Haus.
Klonk – die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss, und Mutter, Henry und ich blieben draußen im Regen stehen.
Wieder scharrte Mutter mit den Füßen und räusperte sich. »Sind Sie sicher, dass Ihre kleine Freundin da drin nicht in Gefahr ist? Wie Sie schon sagten, Helen MacNeils Ruf ist nicht gerade –«
»Sie meinen das organisierte Verbrechen, den Kreditwucher, die schweren Körperverletzungen, die allgemeine Bandengewalt, und die Verwicklung in mindestens drei Morde, von denen wir ihr zwei nicht nachweisen konnten?«
»Diese Art von Dingen, ja.«
Ich schüttelte den Kopf. »Es ist nicht Alice, um die ich mir Sorgen mache. Helen MacNeil hat nicht die geringste Chance.«