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Buch

Ein Anruf aus Paris wirft Viola, die auf der schwedischen Insel Gotland lebt, völlig aus der Bahn. Nach Jahrzehnten des Schweigens meldet sich ihre ehemals beste Freundin Lilly, um sich für immer von ihr zu verabschieden. Viola steht unter Schock. Denn mit einem Mal sind sie wieder da – die längst verdrängten Erinnerungen an die Freundin und Vertraute aus Kindertagen. Als Schmerz und Traurigkeit sie zu überwältigen drohen, beschließt Viola, Lilly in Paris zu suchen, um sich endlich der gemeinsamen Vergangenheit zu stellen. Denn Viola weiß: Was sie beide damals auseinanderbrachte, kann sie heute wieder zusammenführen – wenn sie es nur beide wollen …

Weitere Informationen zu Sofia Lundberg und lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Sofia Lundberg

Der Weg
n
ach Hause

Roman

Aus dem Schwedischen
von Kerstin Schöps

Die schwedische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel

»Som en Fjäder i Vinden« bei Forum, Stockholm.

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Deutsche Erstveröffentlichung August 2021

Copyright © der Originalausgabe 2021 by Sofia Lundberg

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Published by agreement with Salomonsson Agency

Redaktion: Sabine Thiele

Umschlaggestaltung: buxdesign GbR

Umschlagmotiv: Trevillion Images Ltd. (220881)

CN · Herstellung: Han

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-28425-1
V001

www.goldmann-verlag.de

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Für meinen Vater

Weil du mit deiner goldenen Posaune den Jazz in mein Leben gebracht hast.

12. AUGUST 2019, 9:22 UHR

Stille. Violas linke Hand ruht auf dem Küchentisch. Sie ist runzlig, geschwollen von der Sommerhitze. Viola dreht an dem schlichten Goldring, der viel zu eng am Finger sitzt. Ihr Ehering.

Vielleicht sollte sie ihn endlich abnehmen. Für immer. Wahrscheinlich muss er sogar aufgeschnitten werden. Aber sie zögert noch, will ihn weitertragen. Ihr Mann ist schon lange tot und begraben. Doch die Liebe ist nie erloschen, und der Ring erinnert sie daran.

Die Rosenbüsche vor dem Küchenfenster stehen in voller Blüte. Viola steht auf, um sie sich von Nahem anzusehen. Ihre Hüfte tut weh, mit jedem Schritt wird der Schmerz stärker. Sie hält sich an den Möbeln fest und stützt sich am Fensterbrett ab.

Auf dem Pfosten des Gartentores sitzt eine Waldtaube, deren Gefieder grau, grün und lila schimmert. Sie pickt eifrig die Ameisen auf, deren Weg ebenfalls über den Pfosten führt. Viola hatte immer Gift ausstreuen wollen, um sie loszuwerden, es aber nie in die Tat umgesetzt.

Die schaden doch niemandem, wenn sie da in Reih und Glied über den Stein krabbeln, denkt sie immer. Und bisher haben sie sich auch noch nicht in die Küche verirrt. Außerdem ist es so schön, Besuch von den Tauben zu bekommen. Es sind wunderschöne Vögel.

Im Garten liegt ein roter Plastikspaten, den jemand auf dem Weg zum Strand verloren haben muss. Jeden Sommer kommen sie zu Besuch, die Kinder und Enkelkinder. Und die Urenkel. Sie fallen bei ihr ein und übernehmen das Regiment im Haus. Sie bestimmen, was gegessen wird, und benutzen alle Töpfe und Pfannen. Richten ein heilloses Durcheinander an. Wenn Viola morgens aufwacht, zieht ein Wirbelsturm durchs Haus, dann herrscht Stille, wenn alle verschwinden und Ausflüge machen oder zum Strand gehen. So wie auch sie die Sommer als Kind verbracht hat. In dem Haus, in dem sie geboren wurde. Es liegt so nah am Wasser, dass man das Meer immer hören kann.

Das schrille Klingeln des Telefons reißt Viola aus ihren Gedanken. Sie eilt zurück zum Tisch, auf dem das Handy liegt. Die Nummer ist ihr nicht bekannt.

»Hallo!«

»Viola, bist du es?«

Ihr wird augenblicklich schwindelig, sie lässt sich auf einen Stuhl fallen.

»Hallo? Bist du noch dran?«

»Ja«, antwortet Viola schwach und räuspert sich. »Wer ist da?«

»Ich bin es, Lilly.«

Schweigen.

»Hallo? Bist du noch da?«

»Lilly.« Viola muss nach Luft schnappen, ihre Augenlider flattern, sie weiß nicht, was sie sagen soll.

»Hallo!«

Diese Stimme ist unverkennbar, einzigartig. Weich und warm und wunderschön.

»Lilly, bist du es wirklich? Es ist so … Wo bist du?«

»In Paris. Ich rufe an, um mich zu verabschieden.«

»Was? Wie meinst du das?«

»Ich sterbe. Jetzt. Heute ist der 12. August.«

Viola sieht an die Wand, zu dem Kalender mit den Fotos ihrer Enkelkinder.

»Heute ist der Tag, an dem …«, sagt sie leise.

»Ich weiß. Es ist, wie es ist. Alles wird gut.«

»Aber …«

Viola verstummt, weiß nicht, wo sie anfangen soll.

»Warum hast du dich nie wieder gemeldet?«, fragt sie nach einer Weile.

»Sag einfach Lebwohl.«

»Lilly, das kann ich nicht.«

»Du musst aber. Lebwohl, meine liebe Freundin.«

Viola kostet das Wort auf der Zunge, bevor sie es flüstert:

»Lebwohl.«

Sie wartet auf eine Antwort, ein weiteres Wort, vergeblich. Das Gespräch ist beendet.

Sie senkt die Hand mit dem Telefon, legt es zurück auf den Tisch und starrt vor sich hin.

Auf einer kleinen Anrichte in der Küche steht ein Ensemble von Schwarz-Weiß-Fotografien in schönen, antiken Rahmen. Mühsam steht sie wieder auf und stellt sich davor. Legt ihre Hand an den Mund, als ihr Blick auf das Foto mit den beiden Mädchen fällt, die auf dem Rasen vor dem Haus sitzen. Sie sind höchstens drei oder vier Jahre alt und haben den Blick von der Kamera abgewendet, sehen einander an. Sie lächeln vielsagend, als hätten sie einander gerade ein Geheimnis verraten.

Das ist schon so lange her.

Viola streicht zärtlich mit dem Zeigefinger über die Wange eines der Mädchen.

»Lilly«, flüstert sie.

VIOLA

12. AUGUST 1948

Die üppigen Büsche mit dunkelgrünen, glänzenden Blättern und perfekt geformten Blüten zieren das breite Beet am Zaun, der das Grundstück zur Straße hin begrenzt. Gelb, rot, rosa, weiß sind die Blütenblätter. Groß und klein. Unterschiedliche Sorten, aber alle von einer Gattung. Auf dem Boden liegen verwelkte Rosenblätter, die in der Wärme langsam vermodern und einen süßsauren Geruch verbreiten.

Viola kriecht vorsichtig unter die Büsche, zwischen den dicken Stämmen windet sich ein Gang hindurch, wie ein Geheimgang, den nur sie kennt. Ihre nackten Knie schaben über die trockene Erde, die Dornen bleiben im Stoff ihres Sommerkleids und in den Haaren hängen, reißen Strähnen aus ihrem Pferdeschwanz.

»Hundert! Ich komme!«

Die Stimme lässt Viola erstarren. Sie hält die Luft an, kauert sich zu einem kleinen Ball zusammen und versteckt ihren Kopf zwischen den Knien. Ihr Herz pocht wie wild in ihrer Brust.

Sie hört klatschende Schritte, die vorbeirennen, dann auf einmal zurückkommen und sich erneut entfernen. Sie atmet erleichtert aus. Eine ganz Ewigkeit hat sie die Luft angehalten, zumindest hat es sich so angefühlt. Sie macht flache, schnelle Atemzüge, ihr wird ganz schwindelig davon. Dann atmet sie einmal tief ein und hält wieder die Luft an.

Plötzlich breitet sich ein dunkler Schatten über ihr aus, sie dreht den Kopf und sieht eine Hand, deren Zeigefinger auf sie gerichtet ist.

»Nein, tu es nicht!«, flüstert sie und schüttelt den Kopf.

Aber es ist schon zu spät. Die klatschenden Schritte kommen zurück, und Viola hört ein helles Kichern.

»Ich sehe dich! Gefunden, gefunden!«

Viola seufzt und kriecht rückwärts aus ihrem Geheimgang unter den Rosenbüschen. Die Dornen zerkratzen ihre Arme.

»Das macht keinen Spaß, wenn du immer schummelst, Lilly. Alvin hat dir mein Versteck verraten, ich habe es genau gesehen«, sagt sie beleidigt und klopft sich die Erde von den Knien.

Lilly blinzelt Alvin zu, der am Gartenpfosten lehnt. Er zwinkert und fährt sich mit der Hand durch sein glänzendes goldbraunes Haar. Die Ärmel seines weißen Hemdes sind hochgekrempelt, dazu trägt er eine leicht zerknitterte braune Leinenhose.

»Danke, danke.« Lilly hüpft kichernd auf und ab, dass ihre Haare nur so wippen.

Alvin sieht sie lächelnd an, sagt aber kein Wort. Dann, ohne jede Vorwarnung, reißt er die Arme in die Luft und wedelt mit den Händen. Viola kreischt laut auf und rennt davon, Lilly jagt ihr hinterher. So schnell sie ihre Füße tragen, stürmen sie über die Steinplatten des Gartenweges, weiter über den trockenen braunen Rasen. Einmal um die Flaggenstange herum und dann durch das kleine Loch im Gartenzaun in den Nachbargarten.

Ihre Schreie und ihr Lachen gellen durch die Luft. Alvin folgt ihnen, zuerst geht er gemächlich, dann fängt er an zu rennen. Er stützt sich mit den Händen auf dem Zaun ab und schwingt sich seitwärts hinüber. Seine Beine sind länger als die der Mädchen, wesentlich länger. Er holt sie ein und schnappt sich zuerst Viola, hält sie mit einem Arm und wirbelt sie herum. Lilly rennt hinzu und greift nach Violas Beinen.

»Lass sie los, lass sie los«, ruft sie und trommelt mit den Fäusten auf Arme und Beine ihres Bruders.

Aber Alvin hört nicht auf sie. Er lacht und nimmt Lilly unter den anderen Arm, dreht sich hin und her. Er ist so stark. Die Mädchen kreischen und kichern mit geröteten Wangen und fliegenden Haaren.

Die Sonnenstrahlen sind warm, man kann das rhythmische Rauschen der Wellen hören, die am Strand brechen. Die Schwalben fliegen tief über die Dächer und singen ihre schönen Lieder. Ein weiterer herrlicher Sommertag.

Aber dann hält Alvin abrupt inne, setzt die Mädchen ab. Auf der Treppe vor dem Haus mit der langsam bröckelnden Fassade sitzt sein Vater Walle und starrt mit eingefallenen Wangen und leerem Blick vor sich auf den Boden. In Violas Nachbarhaus, wo Alvin und Lilly wohnen, gibt es so viele Kinder, dass sie manchmal mit dem falschen Namen gerufen werden. Acht Kinder.

Neun.

Denn Walle hält ein Bündel in seinen Armen. Lilly stürmt auf ihn zu, klettert die Steintreppe auf allen vieren hoch und reckt ihren Hals, um das neue Baby zu begutachten.

»Ist es schon da? Was ist es geworden, ein Mädchen oder ein Junge?«, fragt sie aufgeregt und zupft an der Decke, in die das Neugeborene eingewickelt ist. Ein kleiner roter Kopf kommt zum Vorschein.

»Warum sitzt du hier draußen?«, fragt Alvin misstrauisch.

Walle legt seinem Sohn das Baby in den Arm. Dann räuspert er sich mit Tränen in den Augen.

»Es wird viel zu tun geben«, sagt er nur und geht ohne ein weiteres Wort der Erklärung zurück ins Haus.

Lilly folgt ihm, sie greift nach seinem Hosenbein. Auch Alvin verschwindet mit hochgezogenen Schultern im Haus, das neue Geschwisterchen fest an seine Brust gedrückt.

Viola bleibt allein zurück. Sie wischt sich mit dem Arm über die Stirn, die vom wilden Fangenspielen schweißnass ist, und setzt sich auf den Rasen. Starrt zum Haus ihrer besten Freundin.

Ein gellender Schrei durchschneidet die Luft, und sie zuckt zusammen.

Er ist herzzerreißend.

Es ist Lillys Stimme.

* * *

Viola sitzt wie versteinert da, den Blick auf das geöffnete Fenster im ersten Stock geheftet. Aus dem gerade Lillys Schrei nach draußen gedrungen ist, wie ein eiskalter Wind.

Es ist nicht totenstill im Haus, im Gegenteil. Sie hört viele Stimmen, die aufgeregt durcheinanderreden. Dann folgen dumpfe Geräusche, als jemand die Treppe hinunterrennt. Alvin stürmt durch die Tür, mit angstverzerrtem Gesicht fliegt er förmlich die Eingangstreppe hinunter, drei Stufen auf einmal, läuft auf das Gartentor zu und verschwindet. Zurück bleibt eine Staubwolke.

Viola sieht ihm lange hinterher. Erst als er außer Sichtweite ist, nähert sie sich mit zögernden Schritten der Eingangstür und geht ins Haus. Still bleibt sie im Flur stehen, sieht sich um.

Es riecht abgestanden, wie so oft hier. Nach Schweiß und aufgewärmtem Brei. Und nach Ruß vom Holzofen. Aber heute mischt sich noch ein anderer, unbekannter Geruch dazu.

Auf der Bank in der Küche sitzen die Kleinsten nebeneinander, artig und mit ernster Miene: Edgar, Sonja und Siv, die die Jüngste, die einjährige Rosa, auf dem Schoß hält. Viola winkt und wirft ihnen eine Kusshand zu.

»Ich komme gleich wieder runter«, sagt sie und geht weiter.

Lillys Schrei ist verstummt und wurde vom leisen und jämmerlichen, aber dennoch durchdringenden Weinen des Neugeborenen ersetzt. Viola schleicht die Treppe hoch, umklammert mit beiden Händen das Geländer. Im ersten Stock drängen sich die Räume aneinander, es wurden Wände eingezogen, um alle Kinder unterzubringen. Sie teilen sich ein Zimmer zu zweit, die Kleinsten auch ein Bett.

Die Tür des Elternschlafzimmers steht offen. Viola kann Gertrud sehen, sie hat das Baby im Arm und wiegt es hin und her. Auf dem Boden vor ihr kauert Lilly, sie hat die Arme um ihre Knie geschlungen. Hinter ihnen auf dem Bett sitzt ihr Vater und hat das Gesicht in seinen groben, rissigen Händen vergraben.

Viola stellt sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Sie sucht nach Lillys Mutter, aber kann sie nirgends entdecken.

Der sonderbare Geruch ist hier oben noch viel intensiver, es riecht nach Metall. Auf dem Boden im Schlafzimmer steht ein grauer Zinkeimer, bis obenhin voll mit rotbraunen blutgetränkten Lappen. Viola weicht instinktiv zurück, aber da bemerkt Lilly sie. Die beiden Freundinnen sehen einander wortlos an.

Das unbeschwerte Lachen und das ausgelassene Spiel vom Vormittag sind auf einmal so unendlich weit entfernt. Lillys Gesicht ist bleich, und ihre Lippen sind blau angelaufen, als hätte sie vergessen zu atmen. Sie steht auf, greift nach Violas Hand und lässt ihre große Schwester und ihren Vater im Zimmer zurück. Ganz fest hält sie Violas Hand, bis sie draußen im Garten stehen.

»Warum seid ihr alle so traurig? Ist das Baby krank?«, flüstert Viola. Sie wagt es nicht, lauter zu sprechen. Alle wirken so furchtbar ernst.

Lilly antwortet nicht, sondern setzt ihren Weg fort, sie schiebt sich durch das Loch im Zaun, durch das man in Violas gepflegten, üppig blühenden Garten gelangt. Unter einer stattlichen Weißtanne leuchtet Violas rosa Spielhäuschen. Die Tür klemmt, als Lilly sie aufzieht, sie hat sich verzogen, ist auf dem feuchten Boden aufgequollen. Die Holzdielen knarren.

»Wir müssen den Boden wischen und alles aufräumen, so kann das nicht bleiben«, sagt Lilly entschlossen. Sie greift nach einem kleinen Kinderbesen und fegt damit wie besessen den Boden.

»Warum weint das Baby so? Hat deine Mutter keine Milch?«

Lilly stellt den Besen beiseite und deckt den kleinen Tisch mit dem Porzellangeschirr.

»Ich werde hier wohnen müssen. Ist das in Ordnung?«

»Warum sagst du so komische Sachen? Was meinst du damit?«

Lilly lässt sich auf einen der beiden Stühle fallen. Die Mädchen sind schon fast neun Jahre alt und langsam zu groß für die kleinen Kindermöbel.

»Das hier ist ein perfektes Zuhause. Hier gibt es alles, was ich brauche. Im Winter wird es vielleicht ein bisschen kalt werden, aber dann darf ich mich doch bei dir im Haus aufwärmen, oder?«

Viola sieht durch das kleine Fenster des Spielhäuschens, wie Alvin mit einigen Sachen im Arm zurückkommt. Im Schlepptau hat er eine Frau, die ein graues Kleid mit gestärkter Schürze und auf dem Kopf eine kleine weiße Haube trägt, die unterm Kinn mit einer weißen Schleife gebunden ist. Sie eilen die Treppe hinauf ins Haus.

»Alvin ist zurück, er hat eine Krankenschwester bei sich«, sagt sie und dreht sich zu Lilly um.

»Damit das Kleine nicht stirbt.«

»Stirbt? Es schreit doch und ist ganz lebendig? Warum sollte es denn sterben?«

»Weil es etwas zu essen bekommen muss, darum. Wir wissen nicht, wie man das macht. Deshalb ist Alvin zum Krankenhaus gelaufen, um Hilfe zu holen. Die müssen doch wissen, wie das geht.«

Viola steckt ihren Kopf durch das Fenster, um das Nachbarhaus besser sehen zu können. Da hält ein Wagen vor der Tür, er ist schwarz und viereckig. Zwei Männer steigen aus, sie tragen eine Bahre ins Haus.

»Ich werde mir nichts kochen können, aber das wird schon gehen«, redet Lilly hinter ihr weiter. »Brot und Wasser, das reicht doch zum Überleben, oder?«

»Du machst mir Angst, Lilly, wenn du so komische Sachen sagst. Was ist los?«, fragt Viola, den Blick fest auf das Nachbarhaus geheftet.

Die Männer kommen kurz darauf schon wieder mit der Bahre heraus und tragen sie langsam die Stufen hinunter zu ihrem Wagen. Der Kies knirscht unter ihren Sohlen. Dann öffnen sie die Kofferraumluke.

Viola rennt aus dem Häuschen bis an den Gartenzaun, um besser sehen zu können. Der Körper auf der Bahre ist mit einem weißen Laken bedeckt, auch der Kopf. Er bewegt sich leicht, als die Männer die Bahre in den Wagen schieben.

Viola geht zurück und hört Lilly summen, ein trauriges Lied, während sie zerstreut die Spielsachen aufräumt, mit denen sie ihre Kindheit verbracht haben. Viola nimmt sie in den Arm und drückt sie fest an sich.

»Du kannst bei mir in meinem Zimmer wohnen«, sagt sie. »Wie Schwestern. Ich werde immer für dich da sein, ich schwöre!«

12. AUGUST 2019, 9:25 UHR

Zaghaft kratzt der Stift über die leere, weiße Seite. Viola schreibt die Worte, die sie schon vor langer Zeit hatte zu Papier bringen wollen.

Liebe Lilly.

Die Tränen laufen ihr über die Wangen. Sie weiß, dass es zu spät ist. Der Stift führt sein eigenes Leben, sie lässt ihn gewähren. An die Seite zeichnet er das Datum. 12. August. Wieder und wieder fährt er über die beiden Ziffern, macht sie immer dicker. Ein einziger Tag, ein ganzes Leben, schreibt sie mit zittriger Hand und malt ein zartes Herz dahinter.

Sie sieht aus dem Fenster. Die Taube ist weggeflogen. Jetzt steht der Pfosten wieder einsam dort, ein bisschen schief, umschlungen von einer Kletterrose. Ihre Eltern haben sie dort gepflanzt, als das Haus fertig gebaut war. Und sie blüht auch heute noch. Übersät mit dunkelroten Blüten. Die Farbe der Liebe, die Blume der Liebe. Zwischen der Blütenpracht zeigen sich Zweige mit dunkelgrünen Blättern. Sie hätte die Pflanze schon längst stutzen und zurechtschneiden müssen.

Sie greift nach einem der Rahmen, die auf der Anrichte stehen. Bilder aus ihrer Kindheit gibt es viele. Auf diesem Foto stehen sie nebeneinander. Lilly und sie. Hand in Hand, den Blick direkt in die Kamera gerichtet. Sie stehen im hohen Gras, inmitten von Wiesenblumen. Ihre nackten Knie sind übersät mit Kratzern. Wie alt sie wohl sind? Sechs, sieben vielleicht. Hatten sie schon mit der Schule angefangen? Sie erinnert sich nicht. Lilly trägt ein schlichtes, ärmelloses Kleid. Der Halsausschnitt ist mit einem dunkleren Band gesäumt. An einer Stelle ist das Kleid mit einem viereckigen Stück Stoff in einer anderen Farbe geflickt. Ihr Haar ist ungleichmäßig kurz geschnitten. Als hätte es jemand in großer Eile mit einer Küchenschere gestutzt. Viola trägt ein Kleid mit Faltenrock und Taillenband, es hat sogar Puffärmel. Ihr dickes blondes Haar ist zu zwei Zöpfen geflochten.

Sie haben immer zusammen gespielt. Jeden Tag. Die Grenzen zwischen den beiden Nachbargrundstücken waren fließend, die Gärten ihr Abenteuerspielplatz.

Viola stellt sich erneut ans Fenster. Die Rosenbüsche stehen dicht gedrängt am Zaun, vielleicht waren sie früher nicht ganz so undurchdringlich, als sie ihr Lieblingsversteck waren. Sie hatten so gerne dort gespielt.

Die Silbertanne wirft ihren Schatten auf die Steinplatten. Sie ist so groß geworden, höher als das Haus. Aber Viola kann eine Ecke des alten Spielhäuschens sehen. Es ist jetzt gelb, nicht mehr rosa wie früher, als sie ein Kind war.

In der obersten Schublade der Anrichte liegt ein Adressbuch, sie blättert vor bis zum Buchstaben W. Sture Wallin. Der Name ist durchgestrichen, daneben hat sie ein Kreuz an den Rand gezeichnet. Wie immer, wenn jemand stirbt. Der Krebs hat ihn geholt, und sie wünscht sich so sehr, dass er noch leben würde und sie ihn einfach anrufen könnte.

Auch Lilly steht in dem Adressbuch, direkt unter Sture. Aber ohne Nummer und ohne Adresse.

Sie seufzt und schiebt die Schublade wieder zu. Ein Blick an die Wanduhr. Halb zehn. Es wird noch eine Weile dauern, ehe die Kinder vom Strand und dem sommerwarmen Meer zurückkommen. Mit zerzausten Haaren und sandigen Füßen. Lilly hatte es geliebt, schwimmen zu gehen und sich kopfüber in die Wellen zu stürzen. Wenn sie hier wäre, hätte sie die anderen bestimmt begleitet. Und sich über Viola lustig gemacht, dass sie so langweilig ist und zu Hause bleibt.

Viola reißt sich aus ihren Gedanken und geht langsam die Treppe zum Dachboden hinauf. Vorsichtig, aufs Geländer gestützt. Dort oben befindet sich alles, alle Erinnerungen an ihre Kindheit. Sie hatte vorgehabt, alles durchzusehen und auszumisten, als sie das Haus übernommen hat. Aber das hat sich bis jetzt noch nicht ergeben. Sie erinnert sich an eine rosa Kiste aus Blech, die sie schon längst vergessen hatte. Ob sie irgendwo da oben ist?

LILLY

12. AUGUST 1949

Sture hat gerade laufen gelernt. Breitbeinig und mit vorgerecktem Kopf stapft er über den Rasen, als könne ihn nichts und niemand aufhalten. Er trägt nichts außer einer Windel, die ihm voll und schwer zwischen den Beinen hängt. Seine gesamte Aufmerksamkeit gilt der Straße, auf der in unregelmäßigen Abständen ein Auto vorbeifährt. Das Motorengeräusch lockt und fasziniert ihn. Er ist wild und übermütig. Ganz anders als seine große Schwester Rosa, die friedlich auf einem Erd- und Sandhaufen sitzt und mit einem alten Löffel Löcher gräbt.

Lilly rennt hinter ihm her und schnappt ihn sich, setzt ihn sich auf die Hüfte. Als sie zu Rosa zurückkommt, hat die sich Erde in den Mund gestopft. Sie hustet und würgt, und ihr Kinn ist nass und verschmiert.

Lilly seufzt und wischt ihr den Mund notdürftig mit dem Handrücken ab. Dann packt sie ihre Schwester an der Hand und zerrt sie hinter sich her. Rosa beschwert sich lautstark, stemmt die Füße in den Boden.

»Du dummes Ding, jetzt komm schon«, schimpft Lilly und hebt auch sie hoch.

Die beiden Kleinkinder auf den Hüften balancierend geht sie zurück ins Haus, gibt ihnen einen Kuss auf ihre sonnenwarmen Köpfe. Endlich ist es warm. Der Sommer war bisher ungewöhnlich kalt, und die Meteorologen zählen schon in Visby die Sonnenstunden, als hätten sie nichts anderes zu tun.

»Hört auf zu jammern. Wir können nachher zu Viola gehen und nachsehen, ob sie Zucker hat. Aber nur wenn ihr jetzt leise seid.«

Die beiden Kleinen verstehen sofort, was auf dem Spiel steht, und verstummen, obwohl sie noch so winzig sind. Rosa legt ihre dicken Ärmchen um Lillys Hals. Lilly ignoriert sie, denn sie muss sich auch um ihre Geschwister Sonja und Edgar kümmern. Suchend sieht sie sich nach ihnen um. Sie hat keine Ahnung, wo die beiden stecken, aber sie sind schon etwas älter und müssen allein zurechtkommen.

Rosa streckt ihren Arm aus und zeigt zum Nachbarhaus, dabei brabbelt sie vor sich hin. Sie redet die ganze Zeit, Lilly versucht erst gar nicht, sie verstehen zu wollen.

Sture spricht noch nicht, er ist noch zu klein. Er legt seinen Kopf auf Lillys Schulter, sein Körper wird schwer, als würde er jeden Augenblick einschlafen.

Lilly bringt ihre kleinen Geschwister in die Küche und setzt sie in den Laufstall, in dem Töpfe und Kellen liegen, mit denen Rosa spielen kann. Und eine dünne Matratze, auf der Sture seinen Mittagsschlaf halten kann. Dann macht sie sich auf die Suche nach Sonja und Edgar. Sie sind drei und fünf Jahre alt. Fast jedes Jahr kam ein neues Geschwisterchen. Bis zum letzten Kind, das ihre Mutter das Leben gekostet hat.

Jetzt haben die ältesten Kinder die Verantwortung für den Haushalt übernommen, während ihr Vater und der große Bruder arbeiten gehen. Gertrud ist dreizehn und hat gerade die Volksschule abgeschlossen. Birgitta ist zwölf und Lilly zehn Jahre alt.

Sie wischt sich den Schweiß vom Hals. Ihre Haare kleben an der Kopfhaut. Zwischen den Bäumen kann sie das Meer glitzern sehen. Es ist ganz still und glatt heute, ohne eine einzige Welle. Lilly würde so gerne baden gehen. Sie sehnt sich danach, über den weichen Sand zu laufen, sich kopfüber ins Meer zu stürzen und das kühle Wasser am Körper zu spüren.

In den Beeten leuchten die tiefgrünen Blätter der Kartoffeln. Gertrud kniet zwischen den Reihen und erntet, ihr langer, geflochtener Zopf hängt über dem Rücken und reicht fast bis zur Taille. Sie trennt die Knollen von dem Grün, befreit die Kartoffeln von der Erde und wirft sie dann in den Eimer.

Der Zinkeimer. Lilly bekommt jedes Mal einen Kloß im Hals, wenn sie ihn sieht. Aber vielleicht ist es auch ein anderer als der damals oben im Schlafzimmer ihrer Eltern. Gefüllt mit blutgetränkten Lappen. Sie haben mehrere, die ineinander gestapelt im Geräteschuppen stehen.

»Wo sind Sonja und Edgar?«, fragt sie ihre große Schwester.

Gertrud dreht sich zu ihr um. Sie sieht müde aus.

»Du solltest doch auf sie aufpassen«, sagt sie vorwurfsvoll.

»Sie haben vorhin hier draußen gespielt und sind dann irgendwohin gelaufen. Ich kann doch nicht die ganze Zeit hinter ihnen her sein«, erwidert Lilly und setzt ihre Suche fort. Sie lässt ihren Blick über den Garten schweifen, um jede noch so kleine Bewegung zu registrieren.

»Sie entwirren die Netze hinterm Schuppen. Ich habe sie darum gebeten«, ruft ihr Gertrud hinterher.

Lilly verdreht die Augen.

»Warum sagst du das nicht gleich?«

Sie macht sich auf den Weg zum Schuppen, neben dem ihr Vater die Netze nach dem Fischen zum Trocknen aufhängt. Sie hört das Kichern ihrer Geschwister.

»Sie reißen doch nur die Netze runter, warum lässt du sie das machen?«, ruft sie Gertrud zu.

»Sonst lernen sie es nie. Wir müssen alle mithelfen, das weißt du genau«, antwortet Gertrud streng. »Wo sind Rosa und Sture? Oder hast du die beiden auch verloren?«

»Sie sind im Laufstall, und es geht ihnen gut.«

Gertrud steht auf, klopft sich die Erde von ihrer vergilbten, ehemals weißen Schürze und hebt den Eimer mit den Kartoffeln hoch.

»Ich kann auf sie aufpassen, ich muss sowieso in die Küche und Essen machen.« Mit schleppenden Schritten geht sie auf das Haus zu.

Seit sie die Schule beendet hat, haben Traurigkeit und Bitterkeit den Glanz ihrer Augen ersetzt. Sie ist erst dreizehn und die einzige Mutter, die sie haben.

»Danke«, ruft ihr Lilly hinterher und rennt, so schnell sie kann, auf das Loch im Zaun zum Nachbargrundstück zu.

Aus dem Schornstein von Violas Haus steigt schon den ganzen Tag Rauch auf, und Lilly weiß genau, was das bedeutet. Drüben wird gebacken.

Ihr Magen zieht sich vor Hunger zusammen, der süße Duft wird immer intensiver, je näher sie dem Haus kommt. Sie springt die Treppe mit großen Schritten hoch und landet mit einem Satz in der Diele. Lillys Zuhause ist voller Kinder, bei Viola ist es genau andersherum. Hier gibt es viele Erwachsene.

»Hallo!«, ruft sie fröhlich und stürmt in die Küche. Sie wirft sich in die offenen Arme von Violas Großmutter, die ihr einen Kuss auf die Stirn drückt.

»Da bist du ja endlich. Wie haben wir unsere wilde Lilly vermisst.«

»Ich hatte drüben zu tun.«

»Ja, das hast du ja immer. Wie schön, dass du ab und zu vorbeikommst, damit wir dich ein bisschen verwöhnen können.«

Lilly stellt sich auf die Zehenspitzen, um Violas Großmutter über die Schulter schauen zu können. Auf dem Küchentisch drängen sich die Schüsseln und Töpfe. Daneben steht das Gestell mit den Backblechen.

»Hmm, Zimtschnecken«, schwärmt sie, als sie die goldbraunen Leckereien entdeckt. Sie saugt den Duft tief in die Nase ein und streckt ihre Hände aus. »Bitte, darf ich, bitte!«

»Wir haben auch Kastenbrote. Du kannst dir nachher was mitnehmen. Dann bekommen alle etwas davon ab«, sagt Violas Mutter und zwinkert ihr zu.

»Papa will keine Almosen«, antwortet Lilly und stopft sich eine weiche Zimtschnecke in den Mund, genießt den Geschmack von warmer Butter, Zimt und Hagelzucker.

Nur drei Bissen braucht sie, um sie zu verschlingen. Dann greift sie nach einer zweiten.

»Dein Vater muss kämpfen. Sich ganz allein um neun Kinder zu kümmern, das ist eine Leistung«, sagt Violas Großmutter und sieht Lilly lächelnd beim Kauen zu.

»So ist es. Superpapa. Wunder-Walle«, ruft Lilly mit vollem Mund und nickt.

An ihrer Wange kleben ein paar Zuckerkörner. Sie schiebt sie sich mit der Hand in den Mund, leckt sich die Lippen und schmatzt laut und genüsslich.

»Oh, die sind so lecker. Ich könnte sterben«, sagt sie und lacht.

»Er ist wirklich ein Held, dein Vater«, meint Violas Mutter mit ernster Stimme. »Aber er sollte lernen, Hilfe von anderen anzunehmen. Damit ihr Kinder keinen Hunger leiden müsst. Es ist schließlich nicht seine Schuld, dass Lisbeth so plötzlich gestorben ist.«

»Nein, stimmt, das ist Stures Schuld. Diese kleine Rotznase. Einer zu viel. Warum haben sie sich das nicht vorher überlegt«, sagt Lilly kopfschüttelnd.

»Pass auf deine Worte auf!«, weist Violas Großmutter sie mit erhobenem Zeigefinger und durchdringendem Blick zurecht. Lilly schlägt sich verlegen die Hand vor den Mund.

»Hoppla«, sagt sie kichernd.

»Wird dein Brüderchen heute nicht ein Jahr alt?«

Lilly nickt und dreht sich auf dem Absatz um. Sie kann einfach nie still stehen. Violas Mutter steht am Herd und rührt in einem großen Topf. Die ganze Küche ist voller Backbleche, die jede freie Fläche bedecken.

»Dann backen wir noch ein bisschen mehr. Einen Kuchen muss es doch zum Geburtstag geben. Den kann dein Vater nicht verbieten«, verkündet sie entschlossen.

»Ist Viola gar nicht da?«, fragt Lilly und steckt sich heimlich zwei Zimtschnecken in die Taschen.

»Doch, aber wahrscheinlich sitzt sie irgendwo und ist in ein altes staubiges Buch versunken. Wie immer«, antwortet Violas Mutter und zeigt auf die Wohnzimmertür. Ihre Augen lächeln, aber ihre Lippen sind zusammengepresst. »Dieses Kind ist auch zu nichts zu gebrauchen«, sagt sie und bricht in schallendes Gelächter aus.

* * *

Viola sitzt zusammengekauert auf dem Sofa im Wohnzimmer und liest. Lilly schleicht sich an und hält ihr von hinten die Augen zu.

»Wer bin ich?«, sagt sie mit verstellter, tiefer Stimme.

Viola zuckt zusammen und zieht Lilly über die Lehne zu sich aufs Sofa.

»Du sollst mir nicht immer so einen Schrecken einjagen«, ruft sie und hebt das Buch vom Boden auf, das hinuntergefallen ist. »Ich habe gerade gelesen.«

Lilly setzt sich neben sie, kuschelt sich an ihre Freundin. Viola liest weiter, als sei nichts gewesen. Ihre Augen fliegen nur so über die Zeilen, so schnell liest sie.

»Worum geht es in deinem Buch? Ist es gut?« Lilly neigt den Kopf zur Seite, um den Titel auf dem Umschlag zu lesen. Der Kaiser von Portugallien steht dort, von Selma Lagerlöf. Es ist ein schönes, dünnes Buch, und in den weißen Umschlag sind goldene Buchstaben geprägt.

Viola antwortet nicht, sondern hebt nur die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. Lilly legt den Kopf in Violas Schoß. Sie streckt ihre Beine aus und lässt die Füße über die Sofalehne baumeln.

»Gibt es das Land Portugallien?«, fragt sie. »Wo liegt das?«

Viola streicht ihr gedankenverloren mit der Hand über den Arm. Aber sie antwortet nicht, hört nicht auf zu lesen.

»Oh, wie langweilig!«, jammert Lilly und wackelt mit ihren nackten Zehen, die ganz schwarz vor Dreck und Erde sind. Dann fängt sie an, ein Lied zu summen.

»Hör bitte auf damit, Lilly. Ich will lesen. Das solltest du auch tun. Wir sollen in den Sommerferien mindestens ein Buch lesen. Das gilt auch für dich.«

»Ach was. Bücher klauen mir nur Zeit und sind doof. Und es stimmt noch nicht einmal, was darin steht. Das Leben ist viel besser. Ich habe genug damit zu tun zu leben.«

»Wenn du liest, erlebst du viele tausend andere Leben noch dazu.«

»Ja, ja, schon gut. Aber ich habe mit meinem eigenen genug zu tun.« Lilly setzt sich auf.

»Bitte lass mich das fertig lesen, es sind nur noch ein paar Seiten. Dann erzähle ich dir, worum es darin geht. Einverstanden?«

»Sehr gut. Dann kann ich mir das aufschreiben und es der Lehrerin zeigen. Aber beeil dich, ich habe frei und muss nicht auf die Kleinen aufpassen. Und ich will was unternehmen.«

»Gleich. Das Buch ist so gut. Du kannst es haben, wenn ich fertig bin. Ich habe es zum Geburtstag bekommen.«

Aber Lilly hat keine Lust mehr zuzuhören. Aus ihrem Summen ist Gesang geworden, und ihre Stimme ist klar und überraschend kräftig.

Viola liest konzentriert weiter, es raschelt, wenn sie eine Seite umblättert. Lilly singt immer lauter. Das Klappern in der Küche ist verstummt, Violas Mutter und Großmutter stecken ihre Köpfe durch die Tür und hören mit angehaltenem Atem zu. Nach dem letzten Ton applaudieren sie begeistert, dann kehren sie zurück an ihre Töpfe und Backbleche. Auch Viola hebt den Kopf und sieht ihre Freundin an.

»Aha. Findet jetzt hier ein Konzert statt? Kann man denn nie in Ruhe lesen?«

Lilly streckt sich nach dem Buch, will es wegschubsen, aber Viola hält es fest.

»Jetzt hör endlich auf, das langweilige Buch zu lesen«, quengelt Lilly. »Heute ist Mamas Todestag. Und da kann man doch wohl ein, zwei Lieder singen, oder? Aber niemand denkt an sie, alle reden nur von Sture und seinem Geburtstag und von Kuchen.«

Viola legt ihr Buch beiseite und setzt sich auf.

»Entschuldige. Das habe ich vergessen«, sagt sie und streichelt Lilly über die Wange.

Violas Hand ist weich und warm und duftet nach Lavendel. Nach der teuren Seife, die im Badezimmer liegt. Lilly streckt sich wieder auf dem Sofa aus.

»Lies ruhig weiter, wenn es unbedingt sein muss. Das ist sowieso eigentlich kein Grund zum Feiern«, flüstert sie und legt ihre Füße auf Violas Schoß.

»Nein, das ist kein richtiger Grund zum Feiern. Bist du sehr traurig?«

Lilly schließt die Augen. Sie rollt sich zusammen, zieht die Knie bis zum Kinn und umklammert ihre Beine.

»Nicht mehr als sonst. Oder doch, vielleicht ein bisschen. Ein bisschen trauriger als sonst. Ein bisschen wütend. Ich bin wütend auf Sture. Diese Rotznase, er schreit und sabbert die ganze Zeit und rennt immer weg. Er ist total verrückt, so sieht es aus. Von Geburt an ein Mörder.«

»Sag so was nicht. Das ist doch nicht seine Schuld. Aber es ist schrecklich traurig, dass deine Mama gestorben ist. Ich habe sie so gerne gehabt. Sie war immer so nett.«

»Wie deine.«

»Ja.«

»Du hast zwei Mütter. Du hast auch noch deine Großmutter. Das ist ungerecht.«

»Sie können doch auch deine sein. Du darfst immer zu uns kommen, das weißt du doch.«

Lilly schnaubt und schüttelt den Kopf, sodass ihr die dünnen strähnigen Haare ins Gesicht fliegen.

»Ich muss mich doch immer um irgendeines von den Bälgern kümmern. Sture, Rosa, Sonja oder Edgar.«

»Nicht immer. Jetzt bist du doch hier.«

Lilly blickt sehnsüchtig durch die geöffnete Verandatür nach draußen. Von dort sieht man das dunkelblaue Meer. Es ist unendlich weit. Still und kühl.

Sie steht auf und tritt nach draußen, die Steinplatten der halbmondförmigen Terrasse sind kalt unter ihren Füßen. Vom Meer trennt sie nur das Grundstück und das Haus, in dem sie mit ihren vielen Geschwistern lebt. Sie kann Edgar und Sonja hinterm Schuppen sehen. Die Netze hängen unberührt und voller Seegrasklumpen auf den Stangen. Die Kinder haben eine andere Beschäftigung gefunden und ihre Aufgabe vergessen.

»Es ist so warm heute«, jammert Lilly. Viola hat endlich ihr Buch beiseitegelegt und ist zu ihr nach draußen gekommen.

»Ich will schwimmen gehen«, sagt Lilly und zeigt aufs Meer.

»Ich glaube, ich kann nicht, es gibt bald Essen.«

Viola setzt sich auf einen der Gartenstühle und legt die Füße aufs Geländer. Lilly zupft sie am Ärmel.

»Ach komm, bitte. Wir essen auch bald, und Gertrud braucht bestimmt meine Hilfe. Aber das vergessen wir jetzt einfach und bekommen dann eben später Ärger dafür.«

Viola zieht die Knie an die Brust. Lilly nimmt eines der Badetücher von der Leine und wirft es Viola über den Kopf.

»Komm, lass uns abhauen. Wenn wir über das Grundstück von Tante Nordin gehen, dann sieht uns auch keiner.«

Viola nimmt das Handtuch vom Kopf und wischt sich den Sand aus dem Gesicht.

»Na, jetzt bin ich so voller Sand, da muss ich wohl schwimmen gehen«, meint sie kichernd.

Lilly klatscht sich an die Stirn.

»Oh je, ich habe keinen Badeanzug an.«

»Du kannst meinen alten nehmen, ich habe einen neuen geschenkt bekommen. Du kannst ihn gerne behalten.«

»Aber mein Vater …«

»… will keine Almosen, ich weiß. Aber er kommt doch nie mit zum Baden? Los, nimm ihn, du brauchst ihn doch, deiner ist ganz zerfranst.«

»Das ist Gertruds alter. Ich habe nur geerbte Sachen.«

Viola verschwindet im Haus und kommt mit einem zusätzlichen Handtuch und einem roten Badeanzug zurück.

»Los, zieh dich um, beeil dich. Ich habe meinen schon an.«

Sie wollen gerade über das Geländer von der Terrasse in den Garten hüpfen, als Violas Mutter hinter ihnen auftaucht.

»Ihr hattet doch wohl nicht vor, so kurz vor dem Essen zum Strand zu gehen, ohne Bescheid zu sagen, oder?«, sagt sie streng und stemmt die Hände in die Hüften.

Verlegen sehen die beiden Mädchen zu Boden. Aber Violas Mutter ist nicht verärgert, im Gegenteil, sie lächelt übers ganze Gesicht.

»Ihr habt es so gut. Es ist das Beste, Kind zu sein und Sommerferien zu haben. Ich beneide euch darum. Wartet einen Moment«, sagt sie und geht ins Haus. Kurz darauf hören Lilly und Viola lautes Klappern in der Küche. Geduldig warten sie auf der Terrasse, die großen Handtücher über der Schulter.

»Ihr könnt heute unten am Strand essen. Abenteuer sind immer noch schöner, wenn man was Gutes zu essen dabeihat«, sagt Violas Mutter, als sie zurückkommt und ihnen einen Korb in die Hand drückt.

Lilly wagt einen Blick in den Korb. Dort liegen zwei belegte Brote mit Roastbeef und dazu ein paar Zimtschnecken. Und zwei Flaschen Erdbeersaft. Sie leckt sich über die Lippen und will schon über das Geländer klettern, da lacht Violas Mutter.

»Ihr verrückten Hühner. Wollt ihr nicht lieber das Tor nehmen? Ich weiß doch jetzt, dass ihr euch davonschleichen wollt.«

Aber die Mädchen hören nicht mehr zu. Geschmeidig springt Lilly über das Geländer und landet in den frisch gegossenen Beeten. Viola reicht ihr den Korb und springt hinterher. Barfuß und ausgelassen laufen sie über den Rasen hinunter ans Wasser.

* * *

»Warum machen wir nichts für meine Mama?«, fragt Lilly, als sie nebeneinander im warmen Sand liegen und Zimtschnecken essen. Die Wassertropfen auf ihrer Haut schimmern in der Sonne.

»Was meinst du damit?«

»Na ja, es ist ihr Todestag.«

»Meinst du eine Séance oder so?«

»Was ist eine Séance?«

»Wenn man Kerzen anzündet und sich an den Händen hält. Du weißt schon. Damit die Geister der Toten kommen und mit einem sprechen. Dann könntest du mit ihr reden.«

»Quatsch, das geht doch gar nicht.«

Lilly dreht sich auf den Bauch. Sie streckt den Arm aus und nimmt sich noch eine Zimtschnecke aus dem Korb. Ihre Haare sind nass, die Spitzen mit weißem Sand verklebt. Sie streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht und spuckt ein paar Sandkörner aus, dann beißt sie herzhaft in das Gebäck.

»Das klappt«, beharrt Viola. »Ich habe es in Mamas Heftchen gelesen. Es muss Nacht sein und dunkel, und man muss einen Gegenstand dabeihaben, den der Tote berührt oder getragen hat. Und Kerzen, man muss Kerzen anzünden.«

»Oh, es ist zu warm, ich kann nicht denken«, stöhnt Lilly.

»Los! Wer als Erste im Wasser ist!«, ruft Viola.

Die Badehandtücher bleiben zerknautscht zurück, als sie aufspringen und ins Meer rennen, bis zu den Knien, dann erst werfen sie sich kopfüber hinein und tauchen unter.

»Das war so schön. Jetzt fühlt sich dieser schreckliche Todestag viel besser an«, sagt Lilly, als sie wieder auftauchen.

»Todestag klingt so traurig. Was für ein komisches Wort«, meint Viola und schwimmt um sie herum, mit dem Kinn unter Wasser.

»Ja, das ist auch traurig. Furchtbar traurig. Am liebsten will man gar nicht daran denken. Aber man tut es trotzdem. Weil man nicht anders kann.«

»Typisch.«

»Ja, typisch.«

»Vielleicht ist sie da oben und sitzt jeden Tag auf einer weichen Wolke und sieht uns zu«, versucht Viola ihre Freundin zu trösten.

Sie steht im Wasser und hat fröstelnd die Arme um sich geschlungen.

Lilly lässt sich auf dem Rücken treiben. Sie friert nicht. Sie sieht nach oben in den blauen Himmel. Keine einzige Wolke ist zu sehen, soweit das Auge reicht.

»Aha, und wo ist sie jetzt gerade? Da oben sind keine Wolken.«

»Hinter dir«, ruft Viola und bespritzt sie mit Wasser. Die Tropfen glitzern in der tiefstehenden Sonne.

»Hör auf damit. Mama ist kein Geist. Und auch kein Engel. Sie ist nur einfach nicht mehr da«, sagt Lilly traurig und stapft langsam zurück an den Strand.

Viola folgt ihr. Sie wirft sich ins Wasser, dass es nur so spritzt, und macht ein paar Schwimmzüge.

»Entschuldige, es war dumm von mir, darüber einen Witz zu machen. Natürlich feiern wir eine kleine Zeremonie für deine Mama. Wir können etwas bauen. Oder eine Dose vergraben, in die wir vorher schöne Erinnerungen an sie stecken. Und wir zünden eine Kerze für sie an. Heute Abend, wenn es dunkel geworden ist.«

Sie wickeln sich schlotternd in ihre Handtücher ein und reiben sich trocken, bis ihnen langsam wieder warm wird.

Viola gräbt mit der Hand im Sand, findet einen roten Stein. Rostrot. Sie gibt ihn Lilly.

»Schau mal, das muss ein Liebesstein sein. Komm, vielleicht finden wir noch mehr davon.«

Sorgfältig laufen sie den Strand ab, wo fast nur weiße und hellgraue Steine liegen. Trotzdem finden sie viele rosafarbene und rostrote. Viola hebt ihr Kleid am Saum hoch und sammelt sie darin.

»Wir machen daraus ein Herz«, schlägt Viola vor, als die Steine fast zu schwer werden. Sie lässt den Saum los, sie fallen zu Boden und bilden einen großen Haufen.

Lilly macht sich sofort ans Werk und legt eine feine dünne Linie aus rosaroten Steinen, die sich deutlich von den weißen am Strand absetzt.

»Mach das Herz richtig groß«, sagt Viola.

»Ja, du hast recht. Das Herz muss groß sein. So groß wie Mamas Herz war. Und dick und rund und mollig«, antwortet Lilly und greift nach den Steinen.

»Hättest du gedacht, dass es hier so viele rote Steine gibt? Die sind mir noch nie aufgefallen«, sagt Viola verwundert, als das Herz fertig ist.

»Sie verschwinden in der Menge, wenn die anderen alle grau sind«, erwidert Lilly.

»Aber ich finde, es müsste andersherum sein. Dass die besonderen hervorstechen.«

Viola nimmt einen großen, flachen rostroten Stein und legt ihn in die Mitte des Herzens.

»Hier können wir später eine Kerze draufstellen, das sieht bestimmt schön aus«, sagt sie zufrieden und schiebt ihn so hin, dass er ganz gerade liegt.

»Was ist, wenn jemand unser Herz kaputt macht, während wir weg sind, es zertritt? Vielleicht sollten wir uns abwechseln und Wache halten?«

»Quatsch, so herzlos ist doch kein Mensch auf der Welt. Es ist so schön, das macht niemand kaputt.« Viola legt einen Arm um Lillys Taille und lehnt den Kopf auf ihre Schulter.

»Ich habe eine rosa Blechdose unter meinem Bett. Meine Oma hat sie mir geschenkt. Wollen wir die Andenken an deine Mama da hineinlegen und unter unserem Steinherz vergraben?«

»Warum sollten wir das tun?«

»Wir retten damit Dinge aus einer Zeit, die für immer vorbei ist«, erklärt Viola.

»Wie meinst du das, retten? Wenn wir sie vergraben, sind sie doch für immer weg.«

Viola nickt. »Ja, stimmt. Dann nehmen wir die Blechdose mit zu der Séance. Hast du etwas, das du hineinlegen willst?«

Lilly seufzt, ihr Blick ist auf den Horizont gerichtet.

»Vielleicht könnte ich einen von ihren Schals reinlegen«, antwortet sie nach einer Weile. »Ich habe sie alle aufgehoben. Am Anfang haben sie noch nach ihr gerochen, aber jetzt fast nicht mehr. Und du? Du hast doch nichts von meiner Mama, oder?«

»Doch, das kleine Tischtuch, das sie mir gestickt hat. Das bei mir auf dem Nachttisch liegt. Das hat sie berührt, das Garn und den Stoff beim Sticken. Vielleicht können die Geister sie riechen, und wenn sie das tun, schicken sie vielleicht deine Mutter zu uns, damit du mit ihr sprechen kannst.«

»Glaubst du da wirklich dran?«

»Ja, wir müssen daran glauben. Wir beide. Sonst funktioniert es nicht. Séancen sind eine sehr ernste Angelegenheit.«

* * *

Es ist schon dunkel, als sich Lilly vorsichtig aus dem Bett schiebt. Siv schläft tief und fest neben ihr, mit leicht geöffnetem Mund, und schnarcht glucksend. Sie wollte nicht allein in ihrem Bett schlafen, und Lilly hatte ihr den Wunsch nicht abschlagen können. Siv war sofort mit dem Kopf auf Lillys Arm eingeschlafen.

Es gelingt ihr, sich aus dem Zimmer zu schleichen, ohne ihre Schwester aufzuwecken. Auf Zehenspitzen läuft sie die Treppe hinunter und weicht gekonnt den knarrenden Stufen aus. Ihr Vater sitzt im Wohnzimmer und raucht Pfeife. Sie sieht seinen Kopf, der über den Rand des Sessels ragt und umgeben ist von einer dichten Rauchwolke.

Still bleibt sie stehen, lauscht seinem keuchenden Atem, genießt den süßlichen Geruch des Pfeifentabaks. Auf dem Tisch neben ihm steht eine Kerze, vielleicht denkt er auch gerade daran, was für ein Tag heute ist.

Viola wartet vor dem Haus auf sie. Sie trägt ein schönes rosa Kleid und eine rote Seidenschleife im Haar. Verlegen zupft Lilly an ihrem alten, zerschlissenen Nachthemd.

»Hatten wir gesagt, dass wir uns etwas Feines anziehen?«

Viola streckt ihr eine geballte Hand hin und öffnet sie erst, als auch Lilly ihre Hand ausstreckt. Darin verbirgt sich eine Seidenschleife, so wie die in Violas Haar.

Lilly streicht über das Band, es ist breit und glänzend. Dann bindet sie ihr zerzaustes Haar damit zusammen.

»Müssten wir nicht eigentlich Schwarz tragen? Es ist doch ein trauriger Anlass«, sagt sie mit einem Seufzer und zeigt auf Violas Kleid.

»Nein, nicht an Todestagen. Das müssen helle und schöne Feste sein. Wir wollen sie doch nicht verjagen, wenn sie vom Himmel herunterkommt.«

Neben Viola auf dem Boden steht ein Korb, in dem etwas zu essen und zu trinken liegt. Obenauf hat sie die rosa Blechdose gelegt. Lilly öffnet sie und lässt eine Haarspange hineinfallen. Es scheppert, als sie in der Dose landet. Metall auf Metall.

»Ich dachte, wir wollten uns nach draußen schleichen, ohne jemandem etwas davon zu erzählen«, sagt Lilly und untersucht den Inhalt des Korbes. »Hm, wie lecker.«

»Meine Mutter weiß, was für ein Tag heute ist, und ich habe ihr erzählt, was wir vorhaben. Es sind Sommerferien, und es macht nichts, wenn wir lange auf sind. Ich will keine Geheimnisse vor ihr haben oder etwas Verbotenes tun.«

»Sommerferien und Todestag. Herrlich und traurig, beides gleichzeitig.«

Viola nickt und greift nach dem Korb. Dann zeigt sie auf einen kleinen Haufen auf dem Boden.

»Nimm du die Handtücher und Badeanzüge mit. Die habe ich noch eingepackt. Dann können wir schwimmen gehen, wenn wir wollen.«

Lilly hebt die Sachen hoch und bohrt ihre Nase hinein.

»Oh, wie schön, wenn es endlich Mitternacht wird«, sagt sie und hüpft über den Rasen.

Viola läuft ihr hinterher.

»Warum?«

»Dann haben wir dreihundertvierundsechzig ganz normale Tage vor uns.«

12. AUGUST 2019, 9:33 UHR

Als sie die Dachbodenluke aus Sperrholz mit ihren knotigen Händen aufdrückt, schlägt ihr die Hitze entgegen. Das Dach ist schlecht isoliert, die Luke dient als Schutz vor der Wärme des Sommers und der Kälte im Winter.

Viola drückt sie so weit hoch, bis sie von selbst nach hinten kippt. Dann geht sie die letzten Stufen der steilen Treppe und klettert auf den Dachboden. Sie richtet sich auf, atmet angestrengt in der stickigen Wärme.

Sie wartet geduldig, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnen. Vor dem kleinen halbmondförmigen Giebelfenster hängt eine Gardine aus einem alten Bettleinen. Sie zieht die Gardine auf, dabei lösen sich Staub und Spinnweben und fallen auf ihre Hände. Sie schüttelt sie ab, reibt die Handrücken aneinander.