Dayna Lorentz
Rufus und
Reenie
Mein Freund, der Uhu
Aus dem Englischen
von Isabel Abedi
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© 2021 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Die Originalausgabe erschien erstmals 2021 unter dem Titel »Of a Feather«
bei Houghton Mifflin Harcourt Publishing Company, New York
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Englischen von Isabel Abedi
Redaktion: Regine Teufel
Umschlaggestaltung: Suse Kopp
Umschlagillustration: Bente Schlick
Vignetten: shutterstock.com (CosmoVector)
TP · Herstellung: BO
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-25564-0
V002
www.cbj-verlag.de
Für EVIE und JOSH
und all die anderen Mitglieder
des Uhu-Menschen-Bündnisses
DIE FELDMAUS STRECKT IHR ZUCKENDES NÄSCHEN aus dem Bau und erschnuppert mit ihren Schnurrhaaren die Umgebung. Sie denkt wohl, keine Eule sieht zu.
Denk noch mal drüber nach, Mäuschen. Ein Virginia Uhu hat sein Auge auf dich geworfen.
Ich sehe es förmlich vor mir: Der Wind streicht durch mein Gefieder, ich gleite lautlos herab, spüre das Mausefell unter meinen Krallen, und dann – SCHNAPP! Frühstück.
Ein Krachen reißt mich aus meinen Gedanken und bringt die Zweige des Baums zum Zittern. Es ist Erste, meine Schwester. »Vor einer Stunde war Sonnenuntergang, und du hockst noch immer im Horst herum?«, krächzt sie mich an.
Was will sie hier überhaupt? Schließlich ist Erste letzte Woche flügge geworden. Als ihre Silhouette im Wald verschwand, hat Mutter vor Stolz gezwitschert – während ich versucht habe, Vaters Blicke zu ignorieren, mit denen er mich über sein Horn hinweg musterte, als bezweifelte er ernsthaft, dass ich jemals den Horst von allein verlassen würde.
»Solltest du nicht irgendwo anders im Wald unterwegs sein?«, heule ich zurück.
»Das nimmt mir ja wohl nicht das Recht, hier mal kurz vorbeizuflattern, um nach meinem Lieblings-Kümmerling zu sehen.«
»O doch«, murre ich. »Du solltest ein Revier erobern – ein anderes Revier.«
Erste senkt den Blick und plustert ihr Gefieder auf. »Wer sagt denn, dass ich das nicht längst getan habe?«
Dieser Uhu sagt das. Ihre eingeknickten Federohren und der nörgelige Unterton in ihrem Geheule verraten sie. Beinahe tut mir meine große Schwester leid, und ich bin schon drauf und dran, sie mit einem kleinen Schnabelknabbern aufzumuntern, als sie die Ohren wieder aufstellt und mir zuzwitschert: »Zumindest mach ich mir nicht schon bei der bloßen Vorstellung, mir mein eigenes Essen zu jagen, in die Federn.«
Das ist die Erste, mit der ich aufgewachsen bin. Immer schön mit der Schnabelspitze zwischen meine Augen hacken, mitten in den wunden Punkt. Kurz erwäge ich, ihr eins mit der Kralle überzuziehen. »Ich habe schon einen Plan.«
»Pläne sind was für Beutetiere. Du bist ein Virginia Uhu. Du jagst. Du fängst dir was. Oder du scheiterst und versuchst es noch mal.«
»Du hast deine Technik, ich habe meine«. Ich richte meinen Blick wieder auf das Mauseloch.
Ruckartig bewegt Erste den Kopf. Ihre Augen weiten sich. »Lust auf ein kleines Krallenmatch?«
Jetzt bin ich argwöhnisch. Das Krallenspiel hat Vater erfunden, um uns auf den »echten Wald« vorzubereiten. Wir starten von Bäumen, die sich auf zwei Seiten einer Lichtung gegenüberstehen, und wer es schafft, den anderen zu Boden zu zwingen, hat gewonnen. Aber: Erste ist flügge – und bereits im »echten Wald«. Wie schlecht muss es ihr gehen, wenn sie dieses Spiel mit mir spielen will?
Ach, drauf gepfiffen. Sie ist Erste. Sie wird’s schon auf die Reihe kriegen. »Nicht jetzt«, zwitschere ich und schmiege mein Gefieder fest an den Körper, senke den Kopf und breite schützend meine Flügel darüber. »Ich beobachte gerade.«
Muss ich erwähnen, dass ich nicht der weltbeste Krallenspieler bin? Muss ich hinzufügen, dass meine Schwester als Erstgeschlüpfte größer und stärker und – womöglich ungeachtet unserer Rangfolge – skrupellos ist?
»Wie bitte?«, piept Erste mich an. »Hat Baby Zweiter etwa Angst, seine Krällchen aus dem Horst zu bewegen?« Sie blinkt mit den Augen: oberes Lid nach unten, dann ein wachsamer Augenaufschlag in meine Richtung.
Als ich nichts erwidere, stößt sie sich von ihrem Ast ab. Selbst für unsereins ist es nahezu unmöglich, andere eulenartige Wesen wahrzunehmen, wenn sie in der Luft sind. Unsere Schwungfedern sind an den Vorderkanten gezähnt wie Briefmarken, und unser Federkleid ist so flauschig, dass wir beim Fliegen förmlich mit dem Wind verschmelzen. Das macht unseren Flug lautlos, und dass meine Schwester nicht wirklich das Weite gesucht hat, wird deshalb auch mir erst bewusst, als sie wieder landet. Sie rammt ihre Krallen mitten in unseren Horst – einen großen Kreis aus Stöckchen, die Vater im tiefsten Winter einem Rotschwanzbussard geklaut hat.
Meine Schwester pickt ein paar gemauserte Federn vom Horstboden auf und lässt sie über meinen Kopf rieseln, bevor sie sich wieder in die Lüfte schwingt. Ein Nein als Antwort lässt sie also nicht gelten.
Ich setze einen entschlossenen Schritt auf einen Ast. »Erste?«, hu-huhue ich leise. »Fangen wir an? Sollte ich zur Lichtung rausfliegen?«
Mich trifft der Luftzug ihrer Flügel und in der nächsten Sekunde zieht sie mir eins mit den Krallen über. »Schon angefangen!«
Allmächtiger Schnabel! Ich stolpere über eine meiner Krallen, hebe vom Baum ab und flattere in die Nacht hinein.
Ich bahne mir den Weg zwischen den Zweigen hindurch und drehe mich mit der Luft, wenn sie die Hindernisse umströmt. Der Wald führt in eine Graslandschaft, ich suche den nächtlichen Sternenhimmel nach meiner Schwester ab – da kommt sie auch schon auf mich herabgestürzt.
Ich fahre meine Krallen aus, bin aber zu langsam, also ducke ich den Kopf weg, tauche ab, und Erste verfehlt mich.
»Das gilt nicht!«, kreischt sie und durchschneidet die Nachtluft mit einer neuen Attacke.
Ich versuche es mit der Technik, die ich mir bei Vater abgeschaut habe, als ein Falke unseren Horst angegriffen hat. Ich ziehe meinen Flügel leicht an und senke ihn nach unten ab. Das soll eine Rumpfrolle werden, Krallen oben, Rücken unten, um dann wieder in die Tiefe zu wirbeln. Aber die Luftströmung ist zu stark. Statt eine elegante Drehung zu vollführen, plumpse ich mitten in der Luft auf den Rücken und falle kopfüber und ohne jede Chance, mit den Flügeln zu schlagen. »Hilfe!«
Erstes schlingt ihre Krallen um meine Füße und zieht mich wieder nach oben in den Horst. »Was sollte das denn werden?« Sie lässt mich wie ein Beutestück auf den hölzernen Horstboden fallen.
»Es ist ein artistisches Ausweichmanöver, mit dem ich gerade experimentiere«, tschirpe ich mit aller Würde, die ich aufbringen kann.
Erste blinkt langsam mit den Augen. »Beobachten, experimentieren«, heult sie. »Vielleicht solltest du doch lieber im Horst bleiben, Brüderchen. Da draußen im Wald musst du es draufhaben, wenn du keine leichte Beute sein willst.« Mit diesen Worten schwingt sie sich in die Luft und verschwindet im dunklen Himmelsblau.
Als Mutter zurück in den Horst kommt, hat die Nacht den Himmel schwarz gefärbt. Mutter legt mir eine Ratte zu Füßen. »War dein Vater hier? Mir war, als hätte ich ein Heulen gehört.«
»Nein«, entgegne ich. »Das war nur ich. Hab geübt.«
Mutter knabbert an meinem Ohr. »Mein kleiner Perfektionist übt sogar sein Geheule.«
Ich ducke mich unter ihrem Schnabel weg. »Mutter«, quäke ich und versuche es dann noch einmal mit einem ordentlichen Heuler. »Mutter, sollte ich – bin ich – glaubst du …?«
Sie neigt ihren Kopf, als wollte sie mir den Rest der Heulerei aus dem Bauch herauslesen. »Jeder Uhu hat seine eigene Zeit zum Flüggewerden.« Sie schiebt mir die Ratte zu. »Hier. Iss was.«
Ich blicke auf die Ratte hinab und dann wieder zum Mauseloch. Was hatte Erste gesagt? Draußen musst du es draufhaben, wenn du keine leichte Beute werden willst.
Ich schiebe die Ratte zurück zu Mutter. »Iss sie selbst«, heule ich. »Ich fang mir mein eigenes Frühstück.«
Mutter zwitschert sanft, dann fliegt sie wieder in die Nacht hinaus. Die Ratte hat sie liegenlassen.
Für den Rest der Nacht gelingt es mir, sie mit Nichtachtung zu strafen. Aber als die Sonne den Saum des Himmels pink färbt, verdrücke ich die Ratte mit einem Happs. Dann klappe ich die Augen zu und schlafe ein.
ICH KANN IMMER EIN LÄCHELN VORTÄUSCHEN, immer, ausser heute Abend. Mein Gesicht macht einfach nicht mit.
Dass dieser Abend nicht großartig gelaufen ist, weiß ich selbst. Für gewöhnlich hält Phil, Grams gemeiner Freund, sein Wutsüppchen auf gemäßigter Flamme, aber heute ist es übergekocht. Phils und Grams Gebrüll war laut genug, um mich wach zu halten. Und leider auch laut genug, um die Nachbarn aus dem Schlaf zu schrecken, denn einer von ihnen hat aus dem Gebrüll ein Riesending gemacht und die Polizei gerufen. Die kam genau in dem Augenblick, als Phil mit Tellern warf, um sein Gebrüll zu unterstreichen – und jetzt irrt die Sozialarbeiterin mit mir durch Nacht und Nebel. Ihr Auto, in dem sie mich zu irgendeiner fremden Familie verfrachten will, stinkt nach Käsefüßen, mein Schlafanzug ist mit Schlamm bespritzt, und ich bringe es einfach nicht fertig, meine Lippen zum Lächeln zu bewegen.
Als die gepflasterte Straße in einen Schotterweg übergeht, kommt der Wagen leicht ins Schlingern und die Räder fangen an zu poltern. Ich drücke meine Brust gegen den Anschnallgurt und beuge mich vor, um die Sozialarbeiterin auf mich aufmerksam zu machen. »Sollten wir vielleicht lieber zurück zu meiner Großmutter fahren?«, frage ich in meinem liebenswürdigsten Kind-versucht-zu-helfen-Tonfall. Es ist die Art von Tonfall, die bei Erwachsenen in solchen Situationen am besten funktioniert.
Die Sozialarbeiterin gähnt, stürzt einen kräftigen Schluck Kaffee aus ihrer Thermoskanne hinunter und lächelt schläfrig. »Wir finden es schon.« Sie richtet ihren Blick wieder auf die Straße. Ich glaube, sie heißt Randi. Genau, Randi mit i. Ich ziehe den Rucksack auf meinen Schoß, greife hinein und wickle mir die verfilzte Boa aus Marabu-Federn, die Mom mir geschenkt hat, eng um den Finger.
»Aha!« Randi hält vor dem Parkplatz eines baufälligen Bauernhauses. »Da wären wir!«, ruft sie mit erzwungener Fröhlichkeit aus.
Die Scheinwerfer betonen die dunklen Schatten der bröckelnden Fassade, an der die weiße Farbe abblättert. Sämtliche Erkerfenster sind zugezogen und vor der grünen Haustür brennt kein Licht.
»Wer wohnt hier noch mal?«, frage ich. Ich habe dieses Haus noch nie gesehen.
Da muss Randi-mit-i erst mal in ihrer Akte nachschauen. »Deine Großtante. Die Schwester deiner Großmutter?«
»Ich wusste nicht, dass Gram eine Schwester hat.«
»Nicht deine Großmutter mütterlicherseits.« Randi blättert durch die Seiten. »Gemeint ist die Mutter deines Vaters. Also: ihre Schwester.«
Das erklärt, warum ich noch nie etwas von ihr gehört habe. Ich wickle die Federboa von meinem Finger und versenke sie wieder in meinem Rucksack. »Okay.«
Randy drückt mein Knie. »Das hier ist nicht die Endstation, Reenie.«
»Maureen«.
»Natürlich. Maureen. Tut mir leid.« Sie wirft noch einen Blick auf ihre Akte. »Es ist nur eine Übergangslösung, mehr nicht.«
Ich ziehe am Türgriff und drücke die Tür auf. »Schon klar.«
Die Übertragung meines Sorgerechts läuft wie am Schnürchen.
Die Sozialarbeiterin drückt meiner angeblichen Tante einen dicken Stapel und ein paar Formulare in die Hand. Was drinsteht, kann ich mir vorstellen: die ganze Geschichte von Mom und mir. Wie ich den gesamten Sommer mit Gram verbracht habe, seit Moms Traurigkeit so groß wurde, dass sie alles andere verdrängt hat. Es passierte nicht zum ersten Mal, deshalb wussten wir alle, was zu tun war. Gram hat Mom in die Psychiatrie eingewiesen und ich hab mein Lager auf der Matratze in Grams Rumpelkammer aufgeschlagen. Warum musste Phil alles vermasseln? Warum mussten die Nachbarn einen so leichten Schlaf haben?
Die angebliche Tante unterschreibt ein paar Formulare, überreicht Randi-mit-i den einen Teil und behält den anderen. In weniger als zehn Minuten ist Randi wieder weg, und ich stehe auf den verzogenen Holzdielen eines womöglich einsturzgefährdeten Hauses einer wildfremden Frau gegenüber, die ab jetzt meine Ersatzmutter sein soll.
»Ich bin Beatrice«, sagt meine angebliche Tante. »Beatrice Prince.« Sie ist groß und alt. »Du kannst mich Beatrice nennen.« Ihr langes graues Haar ist zu einem Zopf zurückgebunden, aus dem zerfranste Strähnen herausstehen. Ihre Beine stecken in einem Männerpyjama, obenrum trägt sie ein T-Shirt. Es ist so ausgeblichen, dass ich die Schrift darauf nicht entziffern kann, nur hier und dort die Buchstaben R und T.
»Du bist Wills Tochter?«, fragt sie nach einer gefühlten Minute des Schweigens.
»Schätze schon.« Mein Vater hat sich nie blicken lassen.
Sie mustert mich von oben bis unten. »Du siehst ihm ähnlich.«
»Ich kenne ihn nur von Fotos.«
Nachdem sie mich noch eine kleine Weile begutachtet hat, entfährt ihr ein »Hm«.
Dann dreht sie sich um und geht zurück ins Haus. »Komm schon«, sagt sie und winkt mir vom anderen Ende der Diele aus zu. Ganz offensichtlich hat Randi sie aus dem Tiefschlaf gerissen.
Ich folge ihr. Unter meinen Turnschuhen ächzen und wackeln die Holzdielen. Die Diele wird zu einem schmalen Flur, der an der Treppe vorbei in eine Küche führt. Überall stehen Schüsseln und Einmachgläser. Durch das offene Fenster weht ein Luftzug und trägt einen starken Geruch herein, eine Mischung aus Moschus und Kohle.
»Was stinkt da so?«, frage ich und ziehe mir demonstrativ den Kragen meines T-Shirts über die Nase.
»Ich halte Vögel«, sagt sie, bleibt vor einer Anrichte stehen und trinkt Wasser aus einem Einmachglas. »Das hier ist die Küche. Bedien dich, du kannst essen, was du willst. Da drüben ist das Wohnzimmer.« Sie zeigt zum Nachbarzimmer. »Einen Fernseher hab ich nicht.«
Ihr Tonfall klingt, als wollte sie mich mit diesem Kommentar zu einer Beschwerde herausfordern. »Es gibt auch ein Esszimmer, aber ich benutze es nicht zum Essen.«
»Und wozu dann?«
»Für meine Vögel.« Sie geht an mir vorbei zur Vorderseite des Hauses. Und hier stehen wir nun im schmalen Flur und beäugen einander. Ich verspüre nicht die geringste Lust, mich vom Fleck zu rühren.
Sie hebt ihre Hand und deutet mit dem Finger hinter mich. »Ich zeig dir dein Zimmer.«
Als ich noch immer stocksteif stehenbleibe, drängt sie sich an mir vorbei und macht sich auf den Weg ins obere Stockwerk.
Ich folge ihr nach oben bis zum Treppenabsatz. Rechts geht es zu ihrem Zimmer, das nach hinten rausführt. Auf der linken Seite ist offenbar das für mich bestimmte Zimmer. Dazwischen liegt das einzige Badezimmer des Hauses.
»Die blauen Handtücher sind für dich«, sagt sie. »Ich habe auch eine Zahnbürste und eine Haarbürste gefunden. Ich war mir nicht sicher –« Mitten im Satz bricht sie ab und kratzt sich den Nacken hinter ihrem Zopfansatz. »Tut mir leid, dass deine Mutter im Krankenhaus ist. Ich wusste nicht –«
Meine Finger krallen sich an den Schnallen meines Rucksacks fest. »Ist schon zwei Monate her«, sage ich. »Bin drüber weg.«
Die angebliche Tante hält einen Moment inne, dann nickt sie. »Ich lass dich mal allein, damit du dich bettfertig machen kannst.«
Ich muss ungewöhnlich mitleiderregend aussehen, wenn mein Auftritt in der Tante das Bedürfnis weckt, mit diesem Tut-mir-leid mit-deiner-Mutter-Krempel anzufangen. Ich stecke meinen Kopf ins Badezimmer. Wenigstens ist es sauber. Es gibt ein freistehendes Waschbecken, ein klappriges Wandregal über dem Klo und eine Wanne auf vier Füßen mit einem weißen Vorhang, der von einer kreisförmigen Halterung herabfällt. Das Fenster zeigt zur Straße, nach Süden, von wo ich herkam.
Über dem Waschbecken hängt ein Spiegel. Mein braunes Haar ist zu einem wirren Knoten auf dem Hinterkopf zusammengedreht. Tiefe Schatten liegen unter meinen braunen Augen und die weißen Stellen sind blutunterlaufen. Das gehört zu den »Anzeichen«, die Erwachsene gern aufzeigen, wenn sie die »Kinder aus schwierigen Verhältnissen« identifizieren. Ich klatsche mir eine Handvoll Wasser ins Gesicht, rubble es mit einem der blauen Handtücher trocken, knacke die Verpackung der neuen Zahnbürste auf und putze mir die Zähne. Die Zahnpasta schmeckt zu minzig, aber, wer weiß, womöglich ist zu minzig ja was Gutes. In Grams Haus mussten sich vier Menschen ein Bad teilen: Gram, Phil, Moms Bruder Tony, seine Freundin Lisa – und dazu kam dann noch meine Wenigkeit, weshalb ich nicht oft die Gelegenheit zum Zähneputzen hatte. Was im Grunde auch kein Ding war, ich meine, ich hatte nicht mal Schule. Aber nach einer Weile kriegt man dann doch ein fusseliges Gefühl im Mund. Hier gibt es einen kleinen Metallständer für die Zahnbürsten. Ich lasse meine hineinfallen und sie landet mit einem Klimpern. Hallo? So fröhlich muss sie sich nun auch nicht aufführen.
Zurück in der Diele, nähere ich mich der Tür, die als »mein Zimmer« bezeichnet wurde. »Mein Zimmer« ist riesig. Die Wände sind gelb gestrichen – nicht wirklich meine Farbe, aber egal –, und in der Zimmermitte liegt ein runder, buntgestreifter Flickenteppich. Auf der einen Seite steht ein Schreibtisch mit einem Stuhl; auf der anderen ein großes, altes Bett mit einer Steppdecke und zwei Kissen. Der Schrank ist eine dunkle Höhle mit leeren Kleiderbügeln.
Ich öffne meinen Rucksack, ziehe meine beiden T-Shirts heraus und hänge sie auf die Bügel. Lustlos drehen sie sich im luftleeren Raum. Auf die übrigen Bügel hänge ich meine Jeansshorts, meine vier sauberen Socken und drei Paar Unterhosen. Ich öffne den Reißverschluss meines Hoodies und hänge auch ihn dazu. Aber der Schrank sieht noch immer leer aus. Die Kleider wabern verloren darin umher, als würden sie nach jemandem Ausschau halten.
Mein Rucksack liegt auf dem Boden, aufgerissen, wie ein Stück Haut. Heraus quillt ein Stück der Federboa. Für sie hatte Mom in dem Ein-Dollar-Shop ihr gesamtes Geld auf den Kopf gehauen. Zuhause veranstalteten wir an jenem Abend eine Karaoke-Party, schnappten uns abwechselnd die Federboa und tanzten und schmetterten mit Taylor Swift um die Wette, bis die Nachbarn an die Wände bollerten.
Das vertraute Sirren kriecht von meinem Bauchnabel hoch, kitzelt die Innenseite meiner Ohren und sondert einzelne Worte ab: Angst, Fremdling, allein. Dann breitet sich das Sirren in meinem Kopf aus, die Worte zucken wie Blitze, meine Finger fangen an zu zittern, und ich kann die Tränen kaum noch davon abhalten, aus meinen Augen zu quellen. Schließlich schaffe ich es doch. Ich nehme einen tiefen Atemzug. Sauge alles wieder in mich hinein. Drücke das Sirren nach unten, wo es zu einem Magengrummeln wird. Verschließe all die Worte fest in mir.
»Gute Nacht«, tönt es jetzt aus der Diele zu mir herein.
Der schmale Lichtstreifen zu meinen Füßen erlischt. Ich könnte den Gutenachtgruß erwidern, aber ich tu’s nicht.
Als ich das Zimmer durchquere, quietschen die Dielen unter meinen Füßen.
Neben dem Bett steht ein Nachttisch. In der schmalen Schublade liegen ein paar alte Haargummis, ein Bleistiftstummel und ein abgegriffenes Taschenbuch. My Side of the Mountain.
Ich bin im Zimmer eines anderen Menschen. Oder zumindest in einem Zimmer, das ein anderer Mensch bewohnt hat. So viele Fragen, aber ich werde warten müssen, bis die angebliche Tante eingeschlafen ist, bevor ich dieses Haus unter die Lupe nehme. Ich meine, schließlich hat sie eine ganze Akte über mich, also habe ich ja wohl das Recht, mir ebenfalls ein Bild zu machen.
Ich ziehe das Taschenbuch aus der Schublade. Es handelt von einem Jungen, der in die Wildnis abhaut, weil es in seinem überfüllten Zuhause in New York keinen Platz für ihn gibt.
Ich hasse es, wenn Bücher einem vorgaukeln, solche Kinder hätten eine Wahl. Ich meine: Wo bitte steckt die Randi-mit-i von diesem Typen? Aber egal – zumindest hält mich die Geschichte wach.
Endlich ertönt vom anderen Ende des Flurs ein lautes Schnarchen und es kann losgehen. Ich schleiche die Treppe hinunter, auf Zehenspitzen, damit keine Stufe unter meinen Schritten knarzt. Mein erstes Ziel ist das »Vogelzimmer«. Ich hoffe auf so was wie einen zoologischen Garten, aber nein: Vor mir liegt nur ein leerer Raum mit Rollläden vor den Fenstern. Was machen diese Vögel hier drin? Langweilig.
Ich husche ins Wohnzimmer. Hier ist mehr los: Es gibt Bücherregale und noch weitere Bücher. Zu Beistelltischchen aufgestapelt, türmen sie sich neben dem Sofa und dem von Wirrwarr überhäuften Sesseln, die um einen Holzofen gruppiert sind. Ein paar der Bücher blättere ich durch – die meisten sind Krimis mit grauhaarigen, von Spitzendeckchen umgebenen Damen auf den Titeln. Die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos durchleuchten das Zimmer, ertappen mich wie eine Diebin auf frischer Tat. Ich friere in der Bewegung ein, der Lichtschein huscht vorbei, ich setze meine Suche fort.
In einem zweiten Bücherregal, beim Fenster zur Straße hin, treffe ich ins Schwarze: ein Fotoalbum. Da ist ein Hochzeitsbild – die angebliche Tante war also verheiratet. Der Typ sieht sogar ganz nett aus. Hier sind die beiden beim Wandern, dort sitzen sie in einem Kanu. Und hier sind sie mit einem Baby. Einem kleinen Mädchen. Da ist eine Postkarte des kleinen Mädchens: Liebe Mom, Dads neues Haus ist nett. Mindy ist auch nett. Ich vermisse dich. Alles Liebe, Ava. Die Postkarte kam – laut Poststempel – vor zehn Jahren aus St. Louis.
Also bin ich im Zimmer von Ava – der Tochter. Die Tante ist geschieden. Das Kind lebt beim Vater. Hatte es eine Wahl? Ist das hier ein Anhaltspunkt oder nur etwas, das einfach passiert ist?
Eine Treppenstufe knarrt.
Ich stopfe die Postkarte zurück ins Album und das Album zurück ins Bücherregal und haste Richtung Küche.
»Maureen?« Beatrix knipst das Licht im Flur an.
»Ich wollte mir nur ein Glas Wasser holen«, sage ich und ziehe ein Glas aus dem Küchenschrank.
Die Tante betritt die Küche und schaltet hier ebenfalls das Licht an.
»Das hier ist jetzt auch dein Haus.«
Ich fülle das Glas. Trinke einen Schluck.
»Maureen«, setzt sie an. »Ich bin nicht deine Mutter, aber ich –«
»Nein«, falle ich ihr ins Wort. »Bist du nicht.«
Und ich bin nicht ihr Ersatzkind. Ich stelle das leere Glas in die Spüle und schiebe mich an der Tante vorbei.
»Gute Nacht«, sagt sie, als ich die Treppenstufen hochstampfe.
Ich schließe mich im Zimmer ein. Sie bleibt unten in der Küche, und ich höre, wie sie das Glas abwäscht, gute zehn Minuten lang.
MIT EINEM TIEFEN ATEMZUG lasse ich die kühle Luft durch meinen Schnabel in mich hineinströmen. Ich glätte meine Brustfedern, justiere meine Gesichtsmaske, zupfe jede winzige Feder zurecht, um mein Gehör zu schärfen und die Stimmen der Nacht auf meine Ohren zu lenken. Die Stille erblüht zu einer Kulisse aus Geräuschen – da ist das Rauschen des Windes in den Zweigen; das scharfe Schaben, mit dem sich ein spätes Sommerblatt an seinem Nachbarn reibt; das Prickeln der hochgewachsenen, vertrockneten Gräser in einem nahen Feld. Käfer trommeln und vibrieren in der Rinde eines abgestorbenen Nachbarbaums. Herzschläge tanzen in der Dunkelheit.
Ich bin startklar.
Ich hebe meine Flügel, breite sie weit aus und verlasse lautlos meinen Ast. Ich glaube, da ist eine Feldmaus … gleich da unten … oder nicht?
Ja, eine Feldmaus. Oder eine mausartige Kreatur, irgendwo in einem dieser Heuhaufen.
Ich gleite darauf zu. Rucke mit dem Kopf, versuche meinen Herzschlag unter Kontrolle zu bringen. Wo war sie noch gleich? Unter welchem Haufen?
Jetzt bin ich zu tief.
Ich flattere ein Stück nach oben.
Irgendwas huscht gerade davon, ganz dicht am Baum.
Meins!
Ich mache einen Schlenker, fahre die Krallen aus, lasse mich wie ein Stein ins Feld fallen, und – nichts. Bis auf einen Fußvoll Strohhalme.
»Vergiss es«, sage ich und flattere wieder zu meinem Ast hinauf. Wir geben uns das jetzt schon die ganze Nacht, haben uns weit vom Horst zu einem fremden Teil des Waldes aufgemacht, und jede einzelne Jagdstrategie, die ich angewendet habe, ging daneben. Ich vergrabe meinen Kopf unter meinen Flügeln, plustere die Federn auf und lege meine Federohren flach an.
»Zweiter«, piepst meine Mutter zärtlich. »Aufgeben ist keine Option.«
Ich ziehe meinen Kopf noch tiefer ein. Ich weiß ja, dass sie recht hat. Aber es ist nicht meine Schuld. Schließlich tu ich alles, was sie sagt. »Meine Ohren sind kaputt«, quieke ich.
Sie heult sanft auf. »Zweiter.« Sogar mein Name klingt wie eine Beleidigung: als Zweiter ausgeschlüpft und damit auf ewig dazu bestimmt zurückzubleiben. Mutter knibbelt an meinen Federn und macht ein paar weitere Schritte auf den Ast zu. »Die Welt mit den Ohren kennenzulernen braucht Zeit.«
»Erste konnte es gleich an ihrem ersten Abend draußen.«
»Da war sie aber schon eine Woche älter als du.«
»Und seit drei Wochen ist sie flügge.«
Heute ist Vater allein losgeflogen, um auf die Jagd zu ziehen. Mutter ist im Horst geblieben. Aber für wie lange?
Verärgert schlägt sie Ober- und Unterschnabel aufeinander. »Hör auf mit diesen Versagensängsten!«, klappert sie mich an. »Du bist ein Virginia Uhu, der Meister des Nachtwaldes. Die Dunkelheit gehört dir. Und du wirst diese Hausmaus fangen, also los!« Sie stapft den Ast entlang, breitet ihre Flügel aus und entschwindet in die Schatten.
Es war eine Hausmaus? Und ich hätte schwören können, dass es eine Feldmaus war. Einen gesamten Mondkreislauf habe ich mit Lernen verbracht und kann noch immer nicht die eine Maus von der anderen unterscheiden.
Frustriert klappere ich Mutter hinterher. Es ist ja nicht so, dass ich ein Schnorrer-Uhu sein will. Der einzige Uhu in der Geschichte des Uhutums, der unfähig ist, sein Essen im Dunklen zu finden.
In der Ferne bu-huht ein Sägekauz. Selbst diese mickrige Eule hat mehr Glück bei der Jagd als ich.
Dieses Selbstmitleid muss aufhören. Ich bin ein Virginia Uhu. Meister des Nachtwaldes. Meister.
Ich rucke mit dem Kopf, nach oben, nach unten, drehe ihn, rucke wieder, lasse ihn beinahe rund um die eigene Achse kreisen, bis mir schwindelig wird, aber noch immer kann ich nicht zielgenau ausmachen, unter welchem Strohbüschel im Umkreis des Baumstamms diese Maus herumraschelt.
Ich versuche es trotzdem. Schieße herab, gleite auf einem warmen Luftstrom, dann lasse ich mich fallen, mit ausgefahrenen Krallen und eingeklappten Flügeln.
Grrr! Laub! Nichts als totes Laub …
»Sie sind einfach zu schnell«, krächze ich, während ich von der staubigen Erde hochflattere.
»Ich brauche langsameres Essen zum Jagen.« Doch dann kommt mir eine Idee: Wir könnten uns doch verbünden, Mutter und ich. Warum muss die Jagd ein Alleingang sein? Wer sagt, dass Uhus allein leben müssen?
»Mutter, ich habe einen neuen Plan! Lass uns zusammen jagen, im Team, als Meute, so wie die Kojoten. Vielleicht kannst du etwas fangen und mir den Rest überlassen? Es vielleicht nur halb töten, verstehst du? Oder es ein wenig betäuben. Wie findest du die Idee?«
Ich lande auf einem Ast. »Mutter?« Ich drehe meinen Kopf, erst in die eine, dann in die andere Richtung. Offenbar verstecken sich ihre Umrisse irgendwo im Schatten.
Oder sie hat mich verlassen.
Das würde sie nicht tun.
Oder doch?
»Mutter?« Die Angst krallt sich um meinen Schnabel und mein Heulen kommt als quietschender Triller aus mir heraus.
Etwas gurrt in einem der Nachbarbäume. Nicht etwas – sondern Mutter.
Sie hockt einen oder zwei Flügelschläge entfernt im Wald, aber ihre Enttäuschung spüre ich von hier aus. Ihr Gurren ist sanft, weil sie mir nicht zutraut, dass ich ihren Herzschlag von alleine höre.
Meine Federn plustern sich auf. Ich habe sie nicht gehört. Ich konnte nicht. Weil ich kaputt bin. Meine Ohren sind voller Flaum und ich werde niemals eine Mahlzeit fangen und –
»Beruhig dich, Zweiter«, gurrt Mutter. Aber sie fliegt nicht zu mir. Sie heult auch keinen weiteren Ton mehr.
Sie glaubt, dass ich es schaffen kann.
Nein.
Ich kann es schaffen.
Noch einmal atme ich die kühle Luft ein, damit sie die Enttäuschung und Wut, die sich in meinem Muskelmagen aufgebaut hat, besänftigt. Meine Federn glätten sich. Richten sich wieder aus. Die Geräuschkulisse flackert erneut auf, wird lebendig. Mutter hat aufgehört zu gurren.
Sie glaubt, dass ich sie finden kann.
Sie glaubt, dass ich überleben kann.
Ich spreize meine Flügel, nach unten, nach hinten, mache mich startklar. Doch da ist ein neues Geräusch. Ein Grollen, es kommt näher, in rasender Geschwindigkeit.
Mutter hört es, sie muss es hören, aber anstatt abzuwarten, was es ist, taucht sie von ihrem Ast hinab in die Waldlichtung.
»Zweiter!«, kreischt sie. »Ich habe zwei Hausmäuse gefangen! Sie waren im offenen Feld und haben einen Apfelkern gegessen.«
Zwei Hausmäuse! Wir hatten heute noch nichts zu essen – Mutter versucht in der letzten Zeit, meinen Hunger als Antrieb zu nutzen und verkneift auch sich selbst das Essen, bis ich eine Mahlzeit fange. Aber zwei Hausmäuse mitten im Freien? Das klingt zu gut, um es zu verpassen, selbst wenn es eine ganze Nacht pädagogischen Hungerns zunichtemacht.
Ich breite meine Flügel aus, um zu ihr hinabzuschießen, als über dem Gipfel des kleinen Berges zwei blendende Lichter aufleuchten. Das tiefe Grollen ist zu einem ohrenbetäubenden Gebrüll geworden. »Mutter!«, kreische ich.
Und da erscheint sie mir, sie erstrahlt inmitten dieser grellen Lichtaugen, mit ausgebreiteten Flügeln, drauf und dran davonzufliegen.
Aber das Monster, aus dessen Maul das Grollen dröhnt, ist schneller, sogar noch schneller als sie.
Ich höre einen dumpfen Schlag und das Knacken brechender Knochen.
Mutter kreischt auf.
»Was ist los?«, piepse ich.
Das grollende Monster kommt quietschend zum Stehen. Seine Seite klappt auf, wie ein stumpfer Flügel, und eine kleinere Kreatur – langarmig und -beinig und dürr wie ein junger Baum – kommt aus ihrem Bauch gestolpert. Die schmächtige Kreatur schreit kurz auf und versucht, Mutter vom Boden aufzuheben.
Mutter flattert, aber einer ihrer Flügel bleibt bewegungslos. Sie strauchelt, flieht vor dem Griff der schmächtigen Kreatur.
»Zweiter«, schreit sie.
»Mutter«, kreische ich. Ich kralle mich am Baum fest.
»Flieg weg«, schreit sie. »Bring dich in Sicherheit!«
»Nein!«
Die schmächtige Kreatur wirft eine dicke Haut über Mutter, dämpft ihre Schreie. Zusammen mit der Haut hebt die Kreatur Mutter in die Höhe, trägt sie zum Hinterteil des riesigen, hohlen Monsters, hebt dessen Schwanz und verstaut Mutter in seinem Bauch. Schließlich kraxelt die schmächtige Kreatur zu dem aufgeklappten Flügel, steigt selbst in den Bauch des Monsters, klappt den Flügel ein und poltert wieder grollend los, diesmal noch schneller als zuvor.
»Mutter«, schreie ich gellend, als ich meine Stimme wiedergefunden habe. Ich fliege hinterher, flattere blindlings zwischen Blättern und Zweigen hindurch. »Mutter!«
Das Monster ist zu schnell für mich. Es wirbelt Staub auf, der mir die Sicht nimmt und meine Lunge füllt. Ich huste und gerate ins Stocken.
Das Monster rauscht davon, den fernen, hellen Lichtern entgegen. Mutter hat mich stets gewarnt, niemals auch nur in die Nähe dieser Lichter zu geraten.
Auf einem Ast breche ich zusammen. Ich knappe mit dem Schnabel, ringe keuchend nach Luft, befreie flatternd meine Flügel vom aufgewirbelten Staub des Monsters.
Mutter wurde gefressen.
Mein Herz trommelt und blendet alle anderen Geräusche der Nacht aus.
Sie ist fort.
Der Wind rauscht durch meine Federn, geht mir bis unter die Haut. Ich zittere.
Ich bin alleine, außerhalb des Horstes. Zum ersten Mal.
Allein in einem fremden Wald.
Ich kraxle den Ast entlang bis zum Baumstamm. Dort kauere ich mich zusammen, ziehe mich tief in meine Federn zurück, die vom Sturzflug durch das Dickicht völlig zerzaust sind. Aber das ist mein geringstes Problem. Vater hat uns vor den Feinden gewarnt – anderen Eulen, Greifvögeln, Kojoten, sogar Stinktieren –, doch niemals hat er etwas Derartiges wie dieses Monster beschrieben. Und jetzt bin ich mutterseelenallein im Wald zurückgeblieben?
Allein, allein, allein. Alleiiiiiiiiin, heult ein Kojote auf.
Der Mond starrt kalt auf mich herab. Die Schatten kriechen heran. Die Dunkelheit knistert, erfüllt von jagenden Wesen.
Von Monstern. Hungrigen Monstern.
»O Mutter«, tschirpe ich.
Aber Mutter ist fort.
Ich kneife meine Augen zu. Verschließe meine Ohren vor den Geräuschen. Vielleicht, wenn ich mucksmäuschenstill bin, vielleicht, wenn ich mich in einen weiteren Flecken Dunkelheit, in ein pures Nichts verwandle, werden all die Feinde der Nacht an mir vorbeigleiten. Dann bin ich in Sicherheit – vielleicht.