Cover

Buch

Bei der Testamentseröffnung ihrer Mutter erfährt Sophie, dass sie unerwartet Besitzerin eines alten Kurhotels an der Küste von Schonen geworden ist. Sophie, die eigentlich in Berlin lebt und nie eine enge Bindung zu ihrer Mutter hatte, fasst den Beschluss, das »Strandhotel Meeresbrise« schnellstmöglich zu verkaufen. Doch das hübsche Haus mit der grünen Holzfassade hat zuvor eine Renovierung nötig, die Sophie nicht ohne Weiteres bezahlen kann. Stattdessen veröffentlicht sie eine Annonce, in der sie Handwerker sucht, die gegen Kost und Logis bei der Renovierung der alten Villa helfen. Und die drei Menschen, die daraufhin mit ihr in das »Strandhotel Meeresbrise« einziehen, werden nicht nur dafür sorgen, dass die Fassade des Kurhotels wieder repariert wird, sondern auch Sophies gebrochenes Herz.

Autorin

Caroline Säfstrand ist Schriftstellerin und Journalistin, wohnhaft im südschwedischen Helsingborg. Mit ihren Romanen will sie ihre Leser*innen ermutigen, wegweisende Entscheidungen für das eigene Leben zu treffen. Denn die Kraft einer Geschichte ist größer, als man denkt.

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CAROLINE SÄFSTRAND

Strandhotel

Meeresbrise

Ein Schweden-Roman

Deutsch von Stefanie Werner

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel

»Villa Havsbris« bei Norstedts, Stockholm.

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Copyright der Originalausgabe © 2019 by Caroline Säfstrand

by Agreement with Enberg Agency

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ingola Lammers

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

BL · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-26723-0
V001

www.blanvalet.de

Prolog

Vielleicht glaubst du, es liegt am Meer, das zu gleichen Teilen süß und salzig ist, am sinnlichen Kitzeln des Windes auf deiner Haut oder an den betörenden Düften der Blüten, wenn du hierherkommst und es dir mit einem Mal viel besser geht, als an irgendeinem anderen Ort auf der Welt.

Doch du irrst. Es ist unser Strandhotel Meeresbrise, unser Kurhotel selbst, das die Wunden deiner Seele heilt.

/ Marit

Kapitel 1

Sophie kann nicht hören, was der Mann, der vor ihr steht, sagt, sie sieht nur, dass sich seine Lippen unter dem gepflegten Schnurrbart bewegen. Es rauscht in ihren Ohren, ihre Haut kribbelt. Anwalt Göte Sirlander versucht mit ihr zu reden.

»Du siehst blass aus, Sophie. Brauchst du ein Glas Wasser?«

Seine Bassstimme dringt durch das Rauschen, und sie nickt matt. »Gern.«

Ihre Stimme klingt rau, Sophie räuspert sich.

»Danke«, sagt sie, als er ihr das Getränk reicht.

»Ich kann verstehen, dass das für dich jetzt ein Schock ist. Aber das Haus hat wirklich Potenzial. Viele würden die Nachricht für einen Sechser im Lotto halten.« Und zusätzlich nickt er, um sie zu überzeugen.

Sophie betrachtet den Schlüsselbund, der auf dem Tisch liegt. Vielleicht sieht ein Lottogewinn wirklich so aus. Dreihundert Quadratmeter, eine grüne Holzfassade, eine rote Haustür, zwei Turmzimmer mit spitzen Baiserhäubchen-Dächern und hinter der Straße gleich das Meer. Aber es geht eigentlich gar nicht um das Haus selbst, es geht vielmehr um das, was seine Mauern verbergen. Warum hat ihre Mutter behauptet, sie hätte das Haus verkauft, gleichzeitig aber die Schlüssel verwahrt?

Sophie kann sich noch gut an die Trauerfeier zur Beerdigung ihres Vaters Lennart vor zehn Jahren und an das Gespräch mit ihrer Mutter erinnern. Während sie die leeren Kaffeetassen einsammelte, hatte Mona mehr oder weniger im Vorbeigehen zu Sophie gesagt: »Ich habe das Strandhotel Meeresbrise übrigens verkauft und das Geld in eine Wohnung in der Stadt gesteckt. Du hast dich für das Haus ja nie sonderlich interessiert, und für mich allein ist es viel zu groß.« Und dabei hatte sie sie nicht einmal angesehen.

Und das stimmte. Mit neunzehn war Sophie nach Berlin gegangen und hatte sich zu Hause nur noch sporadisch blicken lassen. Über die Zukunft des Hauses wurde nie ein Wort verloren.

Göte Sirlander schiebt den Schlüsselbund zu ihr hinüber.

»Du wirst doch sicher nicht vor morgen früh nach Berlin zurückfliegen, dann hast du ja noch Zeit, im Haus vorbeizuschauen.«

»Hat sich meine Mutter irgendwie geäußert, warum es ihr ein Anliegen war, dass ich das Haus erbe? Mir hat sie nämlich gesagt, es sei verkauft …«

Sirlander zieht ein Foto aus der Tasche und legt es auf die Tischplatte. »Nein, aber mit dem Schlüssel hat sie dir das hier hinterlassen.«

Sophies Hand zittert, als sie danach greift. Marit, Sophies Urgroßmutter, die das Strandhotel Meeresbrise vor langer Zeit als Kurhotel eröffnet hatte, steht da, ihre Tochter Margareta im Arm, die später den Betrieb übernahm und als Bed & Breakfast weiterführte. Mona, die auf dem Bild um die sechs Jahre alt sein muss, hockt auf der Treppe und streckt die Zunge heraus. Sophie packt den Schlüsselbund, das Testament und das Foto in ihre Handtasche und steht auf. Jetzt wünschte sie, sie hätte flache Schuhe angezogen. Sie schwankt besorgniserregend, als sie sich vorbeugt, um Göte Sirlander auf Wiedersehen zu sagen. Er hält ihre Hand fest:

»Ich bin von Zeit zu Zeit vor Ort gewesen und habe nach dem Rechten gesehen, seit Mona das Haus verlassen hat. Ich habe die Wasserhähne aufgedreht und im Winter die Heizung eingeschaltet. Ich habe mir auch erlaubt, es ein bisschen unter die Lupe zu nehmen, damit du weißt, was dich jetzt erwartet. Mein Protokoll liegt in der Küche. Die Bausubstanz ist gut. Natürlich müsste man sich um die Fassade kümmern, den ein oder anderen Dachziegel auswechseln, aber innen sind eigentlich nur Schönheitsreparaturen nötig. Um wieder ein bisschen Schwung reinzubringen. Mittlerweile steht das Haus ja jahrelang leer.«

Sophie zieht ihre Hand weg, nickt und verlässt das Büro.

»Viel Glück«, hört sie ihn noch rufen.

Nur ein paar Schönheitsreparaturen, seufzt sie und öffnet die Tür ihres Mietwagens. Die Fahrt von der Anwaltskanzlei in Ängelholm bis nach Skepparkroken, dem Fischerdorf, das sich mit den Jahren zum Badeort gemausert hat, dauert ungefähr eine Viertelstunde. Wie eine verlorene Perle liegt der Ort mitten zwischen den Badeparadiesen Skälderviken und Vejbystrand.

Als Sophie am Bahnhof vorbeifährt, beschleunigt sich ihr Puls. Sie nimmt den Fuß vom Gas und rollt langsam die Straße hinab. Wie eine Mondsichel breitet sich der Strand vor ihr aus. Sie tuckert an alten Häusern, Straßenschildern, die enge Gassen ausweisen, und einfachen Holzbänken mit gigantischem Blick aufs Meer vorbei. Seit sie das letzte Mal hier gewesen ist, scheint sich überhaupt nichts verändert zu haben. Hinter den zwei Fachwerkhäusern, genau am Ortsende von Skepparkroken, liegt das Strandhotel Meeresbrise. Sophie hält an und betrachtet das Haus durch das Wagenfenster. Man kann sich gut vorstellen, dass es vor langer Zeit einmal ein sehr beliebtes Kurhotel gewesen ist. Welche Menschenseele würde in dieser Umgebung nicht wieder aufblühen?

Sophie steckt den Schlüssel ins Schloss und dreht um. Wie früher schon klemmt es nach einer halben Umdrehung. Sie versucht es noch einmal ganz konzentriert und findet dann den Punkt, an dem es klickt. Die Tür springt auf. Sophie schlägt die Hand vor den Mund. Nie hätte sie gedacht, dass sie dieses Haus noch einmal wiedersehen würde. Das Haus, das sie geliebt und gehasst hat. Geliebt für seine lange Geschichte und die wunderschönen Zimmer, gehasst für die Zeiten, in denen es für sie ein Gefängnis war. Die Luft im Flur ist kühl, der Geruch von feuchtem Holz kitzelt in der Nase. Sie niest mit geschlossenem Mund. Obwohl ihre Mutter sie immer angehalten hat, genau das nicht zu tun. »Damit kannst du dein Gehirn sprengen«, hat sie geschimpft. Es gab so vieles, das Sophie lassen sollte. Doch das meiste hat sie trotzdem getan.

Ihre Absätze klackern auf dem Dielenboden. Sie sieht stur geradeaus, nimmt die geschlossenen Türen und die hellblaue Treppe nur im Augenwinkel wahr. Auf der Schwelle zur Küche bleibt sie stehen. Die Schwarz-Weiß-Fotografien an der Wand bilden einen grauen Nebel in der Peripherie. Ein leichter Seufzer, den sie nicht hört, aber spürt, entfährt ihr. Die abgenutzten, mintgrünen Küchenschränke mit den Porzellangriffen sind immer noch da. Jahrelang hatte Mona vorgehabt, sie gegen moderne Griffe von Ikea auszutauschen. Und vor der einen Wand steht noch der alte gusseiserne Holzofen, als wolle er daran erinnern, wie betagt das Haus ist. Sophie streicht über die unebene Oberfläche und duckt sich vor einem kunstvoll gesponnenen Spinnennetz. Es kommt ihr vor wie eine Reise in die Vergangenheit, in ein Leben, von dem Sophie sich schon vor geraumer Zeit verabschiedet hat. Die Luft steht still. Sophie wedelt mit dem Smartphone wie ein Fächer, als sie den Haken am Fenster löst und Sauerstoff hineinlässt. Es ist, als atme das Haus tief ein. Und Sophie tut das auch. Von hier aus hat sie Sicht auf die üppigen Blumen im Garten ebenso wie auf das Meer. Man merkt gleich, dass derjenige, der den Garten vor langer Zeit angelegt hat, einen Sinn fürs Visuelle gehabt haben muss, denn er hat die Sicht aus dem Küchenfenster berücksichtigt. Ein Ausblick, den Künstler lieben, pflegte ihr Vater zu sagen. Ihr Blick wandert weiter zum hohen Spalier: In ein paar Wochen wird sich dort das Wald-Geißblatt ranken. Erstaunt stellt sie fest, dass alles nahezu pedantisch gepflegt aussieht. Es ist wohl kaum möglich, dass die Nachbarin Ella sich noch immer um ihren Garten kümmert?

Sophie holt ihren Block heraus, auf den sie am Morgen alle To-dos geschrieben hat. Da bemerkt sie den Kaffeebecher auf dem Tisch. Ihr fällt sofort das Glockenblumenmuster auf, mit dem er verziert ist. Schon als Kind hat sie ihn geliebt. Vielleicht weil die Tasse immer auf dem obersten Brett in der Vitrine stand. Unerreichbar. Großmutter Margareta hatte sie selbst bemalt, und aus irgendeinem Grund war sie da oben auf ihrem Sockel gelandet und wurde nur am Muttertag heruntergeholt und nur von Mona benutzt. Am Becher lehnt ein unsauber abgerissener Zettel. Und darauf ist nur ein einziges Wort zu lesen: VERZEIH.

Sophie steht regungslos da und starrt auf diese sieben Buchstaben.

Die Handschrift ihrer Mutter erkennt sie sofort. Wann hat Mona diesen Zettel geschrieben? Und ist er für sie gedacht? Soll das eine Entschuldigung dafür sein, dass sie das Haus nun doch in Sophies Hände übergibt? Oder meint sie damit etwas ganz anderes? Ihr läuft ein kalter Schauer über den Rücken, ein Gefühl wie tausend eiskalte Fingerspitzen. Neben dem Zettel liegt das Besichtigungsprotokoll, das Göte Sirlander erwähnt hatte. Sie überfliegt es flüchtig, bleibt an einzelnen Notizen hängen. Feuchtigkeit in einem der Schlafzimmer, wenn sie es recht versteht, verursacht durch einen kleinen Defekt im Dach. Im Salon sind die Fenster undicht. Eine Reihe Schalter und Steckdosen müssen erneuert werden.

Sie wendet den Blick vom Protokoll ab und sieht stattdessen hinüber auf ihre Aufstellung. Mit jedem Punkt, den sie streichen kann, fällt ihr das Atmen leichter. Beerdigungsinstitut. Pflegeheim. Notar. Die zwei letzten Punkte bleiben: Gedenkstätte und Rückflug. Sie greift zum Stift und notiert einen weiteren Punkt. Haus verkaufen? Sie streift den Blazer ab, öffnet den obersten Knopf ihrer schweißverklebten Bluse und pustet sich Luft in den Ausschnitt, bevor sie sich ganz vorn auf die Kante des Küchenstuhls setzt. Die Bestattung ihrer Mutter, oder Einäscherung, wie es wohl heißt, wenn man jemanden ohne Zeremonie beisetzt, hatte schon vor ein paar Tagen stattgefunden, doch der Bestatter wollte Sophie gern noch einmal an der Gedenkstätte treffen, bevor sie wieder nach Hause flog. Sie hatten sich für zehn Uhr morgens am kommenden Tag verabredet. Der Flug zurück nach Berlin ging dann am Nachmittag von Kopenhagen. So sahen Sophies Pläne aus. Allerdings bevor sie den Termin mit dem Notar hatte und die Schlüssel zum Strandhotel Meeresbrise in die Hand gedrückt bekam.

Wieder wandert ihr Blick aus dem Fenster. In ein paar Monaten wird der Graue Sommerbutterbirnbaum Früchte tragen. Als sie klein war, hat ihr Vater sie immer hochgehoben, damit sie die erste Birne des Sommers pflücken konnte. Das war für beide gleichermaßen aufregend gewesen, und immer nahmen sie die erste Frucht schon Wochen zu früh ab, wenn sie noch hart war. Im »Pflegehaus Sonnenheim« hatte vor dem Fenster im Zimmer ihrer Mutter auch ein Birnbaum gestanden. Ob er ihr ein bisschen Heimatgefühl geben konnte, oder hat er eher das Heimweh geweckt?

Sophie seufzt. Es ist erst ein paar Stunden her, dass sie die Habseligkeiten ihrer Mutter in einem Koffer von der Demenzabteilung abgeholt hat. Dieser Ort war ihr sonderbar vorgekommen, wie eine Mischung aus Wohnzimmer und Krankenhaus. Grauer Linoleumboden und alte Rokokokommoden, Windeln für Erwachsene und geblümte Kaffeetassen mit Untertasse. Es war freundlich und schrecklich zugleich. Mona hatte dort die letzten fünf Jahre zugebracht, schwer gezeichnet von ihrer gnadenlosen Alzheimer-Erkrankung, die ganz plötzlich aufgetreten war. In den vergangenen zwei Jahren hatte Sophie sie nur einmal jährlich besucht. Beide Male hatte ihre Mutter draußen im Garten gesessen. Es hatte den Anschein gehabt, als hätte man sie dort gegen ihren Willen platziert, einmal trug sie ein grünes Kleid, beim anderen Mal ein cremefarbenes, dazu altrosa lackierte Fingernägel. Ein Beweis, dass sie sich nicht mehr in dieser Welt befand. Mona hatte sich nie die Nägel lackiert. Bei keinem der Besuche hat sie Sophie erkannt. Sie hat nur dagesessen und so lange an einer Serviette herumgezupft, bis diese in ihre Einzelteile zerfiel. Sophie hat ein förmliches Lächeln aufgesetzt, als das Personal ihr erklären wollte, dass Mona diese Besuche viel bedeuteten, doch sie wusste, dass es barmherziger war, sie sein zu lassen.

Sophie hängt sich den Blazer über den Arm, schließt das Fenster, steckt die Liste zurück in die Tasche und wirft noch einen Blick auf den Zettel, auf den ihre Mutter VERZEIH geschrieben hat. Er liegt da immer noch auf dem Tisch. Dann dreht sie sich um und geht durch den langen Flur hinaus, um zum Strandhotel Klitterhus zu fahren, wo sie ein Zimmer für die Nacht reserviert hat. Was sie mit dem Strandhotel Meeresbrise anfangen soll, ist ihr ein Rätsel.

Ellas Tagebuch, 20. Juni

Heute habe ich gesündigt. Fünf Trollblumen, die unter Naturschutz stehen, blühen jetzt in einer Vase auf meinem Tisch. Mit den gelben Blüten wird meine Küche wunderschön. Normalerweise pflücke ich wilde Blumen nicht. Schon gar keine, die unter Naturschutz stehen. Die kugelförmigen Kronen der Trollblume ruhen stolz auf zierlichen Stängeln. Sie sehen viel zu schwer aus. Im Nachhinein betrachte ich mein Zuwiderhandeln gegen das Gesetz als ein Zeichen. Als Vorwarnung, dass dieser Tag nicht ist wie alle anderen. Doch als ich meine Hand um die Stängel der Blumen schloss und zog, wusste ich das noch nicht. Doch nun habe ich beobachtet, wie Sophie nach genau siebenundzwanzig Minuten in ihrem Elternhaus mit quietschenden Reifen davongefahren ist, da wurde mir klar, warum dieser Tag nicht ist wie alle anderen.

Durch mein Küchenfenster habe ich einen freien Blick auf das Strandhotel Meeresbrise und seinen Garten. Dieser Garten, der natürlich in keiner Weise mir gehört, dennoch aus der Erde besteht, in der meine Wurzeln wachsen und Nahrung finden. Jahrzehntelang habe ich diesen Garten gehegt und gepflegt, so wie es früher mein Vater getan hat. Die Taglilien sind meine Freunde geworden und der Rittersporn meine Familie. Das blanke Überleben dieser klassischen Oase hat in meinen Händen gelegen, und das war ein Auftrag fürs Leben gewesen. Ein Sinn. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass ich keine Blumen im Haus habe, weil sie sich doch niemals mit der unglaublichen Schönheit da draußen messen können. Ich frage mich, was jetzt geschehen wird, wenn der Garten Sophie gehört. Seine Geschichte fließt ebenso sehr in meinen Adern wie in ihren. Der Unterschied ist nur, dass ich mir nicht vorstellen kann, ohne ihn zu leben.

Kapitel 2

Als die Sturmmöwen vor ihrem Fenster schrill zu kreischen beginnen, hat Sophie bereits stundenlang wach gelegen. Eigentlich hat sie überhaupt nicht in den Schlaf gefunden, zumindest nicht in den Tiefschlaf. Doch das ist sie gewohnt. Wenn sie verreist, schläft sie immer miserabel, wie kuschelig die Hotelbetten auch sein mögen. Vielleicht weil sie nie zu ihrem Vergnügen in Hotels übernachtet, diese Reisen sind immer mit Geschäftsterminen verbunden: ein Kundenmeeting, eine Vertragsunterzeichnung oder eine Präsentation. Sie fährt an einen Ort, um dort etwas zu erledigen, schlafen kann sie, wenn sie nach Hause in ihre vier Wände kommt.

Ein bisschen ist es hier dasselbe. Obwohl ihre Aufgaben in Ängelholm anders aussehen als ein Vertrag mit einem Kunden. Sie muss ihrer Mutter Lebewohl sagen. Fünftausendachthundert Kronen kostete die Einäscherung: eine Beisetzung ohne Zeremonie, in einem rohen Kiefernsarg. Sophie hatte sie über das Internet gebucht und bezahlt. Die Seite hatte ausgesehen wie jeder x-beliebige Webshop, mit einem Klick konnte sie den Sarg upgraden oder Blumen, Danksagungskarten und Musik dazubuchen. Es gab sogar den Service, Profile des Verstorbenen in den sozialen Medien zu löschen. Tausend Kronen für jede Seite. Sophie war nicht besonders sentimental, doch das war selbst ihr etwas makaber vorgekommen. Vielleicht hatte sie deshalb die Einladung des Bestatters auf eine Tasse Kaffee an der Gedenkstätte angenommen.

Nach einer kalten Dusche zieht sie die schwarze, matte Nylonstrumpfhose, den schwarzen knielangen Rock, eine weiße Bluse und einen schwarzen, figurbetonten Blazer an. Dazu trägt sie eine Kette mit einem kleinen Goldkreuz, auf dem in der Mitte ein Rubin prangt. Ein Konfirmationsgeschenk ihrer Eltern. Als Sophie das Kreuz berührt, erinnert sie sich. Der Tag, an dem sie in die Gemeinschaft der Christen aufgenommen werden sollte, obwohl eigentlich niemand in der Familie ausgesprochen christlich war, hatte mit einem Streit um die Schuhe begonnen. Ihre Mutter hatte ihr verboten, die roten Pumps mit den hohen Absätzen in der Kirche zu tragen. Sie hatten sich dann irgendwo in der Mitte getroffen, Sophie trug statt der roten die weißen Pumps. Beim Gedanken daran muss sie heute noch schmunzeln. Sophie hatte ihre Unschuld in der Nacht vor ihrer Konfirmation verloren – auf dem Kirchhof. Ihre beste Freundin Carita hatte die ganze Zeremonie über mit hochroten Wangen dagesessen, weil Sophie sie eingeweiht hatte. Sie selbst hatte erhobenen Hauptes dort gestanden und jeden Psalm laut und deutlich mitgesprochen. Wenn ihre Mutter das gewusst hätte, als sie da in der dritten Bankreihe saß. Erleichtert, dass Sophie nun die weißen Schuhe trug.

Sophie hängt die schwarze Lacktasche über die Schulter und geht hinunter in den Frühstücksraum, wo man durchs Fenster einen Blick auf die Sanddünen hat. Die anderen Hotelgäste tragen T-Shirts und Shorts oder einfache Strandkleider und einen Bikini darunter. Sie duften nach Kokosnussöl und haben sich auf den ersten sonnenverwöhnten Tag des Sommers vorbereitet. Für Juni ist es schon ungewohnt heiß, aber Sophie hat in den Nachrichten gehört, dass das Wetter schon morgen unbeständiger werden soll: Daher schlingen die Gäste das Frühstück hinunter, um möglichst schnell hinaus in die Sonne zu kommen und ihre Bräune aufzufrischen. Das war einer der Vorteile, in einer Großstadt zu leben. Keiner machte sich Gedanken darüber, wann oder wie er an den Strand kam, um in der Sonne zu brutzeln. Wenn es die Temperaturen erlaubten und man rausgehen konnte, dann saß man in einem Biergarten. So einfach war das. Sophie schenkt sich eine Tasse Tee ein und schmiert sich einen Toast mit Butter und Aprikosenmarmelade. Sie schlägt die Beine übereinander und rührt vorsichtig in der Tasse, um den Zucker aufzulösen. Dann nimmt sie ein kleines weißes Notizbuch aus ihrer Tasche und fängt an, eine To-do-Liste für den nächsten Tag im Büro zu schreiben. Telefonate, die sie führen, Ideen, die sie zu Ende denken, und Konzepte, die sie erstellen muss. Als sie das Buch wieder zuschlägt, geht es ihr besser. Ihr Flugzeug hebt in sieben Stunden ab. Heute ist Donnerstag, das heißt, dass an ihrer Wohnungstür eine Tüte mit Tulpen hängen wird, wenn sie nach Hause kommt. Seit einem halben Jahr hat sie ein Abo für Blumensträuße. Der Lieferant war richtig froh, als sie sich für den Mittwoch als Liefertag entschieden hat, und nicht für den Freitag wie alle anderen Kunden. Sie hat sich verkniffen zu erläutern, dass sie die Woche mehr genoss als das Wochenende.

Sophie beendet das Frühstück und geht zurück aufs Zimmer, packt ihren Kulturbeutel und wirft noch einen letzten Blick auf das dezent cremeweiß gestrichene Hotelzimmer. Gerade als sie gehen will, bemerkt sie den Koffer ihrer Mutter, der hinter dem Bett verstaut ist. Nur eine Ecke lugt hervor. Das Personal vom Sonnenheim hat ihn gepackt. Es sei nicht viel, aber schließlich kleine Erinnerungen, hatten sie ihr mit auf den Weg gegeben. Sophie hatte keine Ahnung, was sich darin verbarg, sie hatte ihn nicht geöffnet. Doch sie kannte den alten braunen, abgewetzten Lederkoffer noch aus Kindertagen. Er hatte immer ganz hinten in der Abstellkammer gestanden. An Urlaubsreisen kann sie sich nicht erinnern, aber die ausgeblichenen Furchen im Leder und der speckige Griff zeugten davon, dass irgendwer ihn früher häufig benutzt haben muss. Allein der Gedanke, dass dieser Koffer jetzt vor ihr steht, in ihrem Hotelzimmer, mit all den Hinterlassenschaften ihrer Mutter, verursacht ihr eine Gänsehaut. Es gibt Erinnerungen an diesen Koffer, die sie allzu gern auslöschen würde. Ob sie ihn unbewusst hinter dem Bett abgestellt hat, um ihn ganz zufällig vergessen zu können? Und mit ihm all die Gefühle, die er in ihr wachruft? Sie geht ums Fußende des Bettes herum. Ich bin stärker als meine Vergangenheit, denkt sie und hebt ihn an. Er wiegt nicht viel. Mit der freien Hand greift sie nach ihrem silbergrauen Kabinentrolley und verlässt das Zimmer. Im Kofferraum geben die beiden Gepäckstücke Seite an Seite ein schräges Bild ab. Wie Mutter und ich, kommt es ihr in den Sinn, dann schlägt sie die Klappe zu und fährt zum Friedhof von Ängelholm. Ihre Pfennigabsätze sinken in den Kieswegen ein, was Sophie dazu zwingt, langsamer zu gehen, als ihr lieb ist. Als sie einen kühlen Grabstein nach dem anderen passiert, ist sie froh, dass ihre Eltern sich entschieden haben, sich an einer Gedenkstätte beisetzen zu lassen. Diese befindet sich in einem kreisförmigen Teil des Gartens, umgeben von dichten Rhododendronbüschen. In der Mitte steht ein stattlicher Baum, um dessen Stamm sich ein Efeu rankt, davor ist ein großer Stein mit einer Inschrift gesetzt. Sophie liest nicht, was da geschrieben steht, sondern richtet ihren Blick lieber auf die bunten Blumenrabatten und die brennenden Kerzen. Ein Mann, der in den Sechzigern zu sein scheint, stellt sich neben sie, die Hände hinter dem Rücken geschlossen.

»Sophie Wirsén?«

Sie nickt und streckt die Hand aus.

»Entschuldigung, jetzt habe ich Ihren Namen vergessen«, sagt sie.

»Bernt Carlberg«, antwortet er und schaut wieder auf das Blumenmeer vor ihnen.

»Dies ist mein absoluter Lieblingsort«, beginnt er.

»Ich wusste gar nicht, dass man auf Friedhöfen Lieblingsorte haben kann – oder sollte«, erwidert Sophie.

Carlberg lächelt.

»Wir leben in einer Zeit, in der der Tod uns entweder Angst macht oder im Leben gar nicht vorkommt. Zumindest versuchen wir, ihn so lange wie möglich zu ignorieren. Etwas, woran man nicht denkt, gibt es nicht. Aber der Tod ist immer da. Und er kann auch ganz hell sein. So wie an diesem Ort. Ein Kreis voller Erinnerungen, Liebe, Mitgefühl.«

»Aber Sie sind Bestatter, nicht Pastor, oder?«

Er lacht glucksend, sodass sein massiver Bauch unter dem Oberhemd bebt.

»Stimmt. Ich rede viel zu viel, das machen Pastoren nicht.« Er faltet die Hände über der Bauchkugel.

»Das Internet ist eine großartige Erfindung. Dadurch haben wir Zugang zur ganzen Welt, aber wir können uns damit auch per Knopfdruck komplett abschirmen. Deshalb versuche ich immer, die Kunden zu treffen, die keine Zeremonie dazubuchen.«

»Ich wohne hier nicht und …«, setzt Sophie zu ihrer Entschuldigung an. Bernt Carlberg fällt ihr ins Wort.

»Mir geht es gar nicht um die Zeremonie als solche. Die ist nur für die Hinterbliebenen gedacht. Mir geht es um diesen Moment. Sich in diesen Kreis zu stellen, weit weg von allen Zwängen und Stressmomenten des Lebens, und nur einen kurzen Augenblick die Verbindung dieser Energien zu spüren. Die einen in den physischen Körpern, die anderen frei umherschwebend.«

Er nimmt ihre Hand in seine beiden Hände, drückt sie kurz und geht wieder. Sophie steht ganz still da und lauscht dem leichten Säuseln des Windes in den Blättern. Sie denkt nicht gerade, dass es die Bewegungen der Verstorbenen sind, die da rascheln, so wie der Bestatter, doch diese Art von würdevollem Abschied gefällt ihr. Schlaf gut, Mama, flüstert sie leise. Bernt hat sich auf einer Bank in der Nähe niedergelassen mit einem Kaffee in der Hand. Er hält Sophie auch einen Becher hin. Etwas zögerlich nimmt sie neben ihm Platz.

»Wo wohnen Sie denn jetzt?«, fragt Carlberg.

»In Berlin. Ich wohne da schon seit fast zwanzig Jahren, für mich ist das mehr mein Zuhause als Ängelholm.«

»Verstehe. Bleiben Sie noch ein paar Tage?«

»Nein, ich fliege heute Abend noch zurück. Von hier aus geht es direkt zum Flughafen.«

»Das ist das Schöne an so einer Gedenkstätte. Keine Verpflichtungen, nur ein schöner Ort, den man besuchen kann, wenn man die Zeit dazu findet. Hier sind immer Blumen, hier brennen immer Kerzen.«

Carlberg trinkt noch einen Schluck Kaffee und fährt fort: »Ich habe Ihre Mutter einige Male getroffen, nachdem Ihr Vater gestorben ist. Aber das ist schon Jahre her.«

»Sie hatte Alzheimer«, sagt Sophie.

»Das habe ich gehört. Was ist aus dem wunderschönen Haus geworden, wie hieß es noch gleich … Meeresbrise?«

»Strandhotel Meeresbrise, ja. Meine Mutter hat mir damals, als mein Vater vor zehn Jahren starb, gesagt, sie habe das Haus verkauft. Doch das hat sie nicht getan. Und jetzt gehört es mir.«

»Das ist ja wunderbar!«

»Man könnte auch sagen: kompliziert. Ich lebe wie gesagt in Berlin und habe keine Verbindung mehr hierher. Was bedeutet, dass ich es verkaufen muss. Der Notar hat schon angemerkt, dass Renovierungen nötig sind, und ich weiß nicht mal, wie man spachtelt.« Sophie schlägt die Augen nieder. »Es wäre einfacher gewesen, sie hätte das Haus wirklich verkauft.«

Bernt Carlberg sitzt schweigend da, er scheint nachzudenken. Dann dreht er sich zu Sophie um.

»Sind Sie ganz sicher, dass Sie verkaufen wollen?«

»Hundertprozentig.«

»Mein Bruder wohnt auf einem Bauernhof auf der Bjäre-Halbinsel. Ein herrliches Fleckchen Erde, sie haben Highland-Cattle-Vieh, kennen Sie bestimmt, das sind die mit dem langen Fell. Wie auch immer, sie schaffen die viele Arbeit dort nicht allein, daher haben sie sich nach Freiwilligen umgesehen, die umsonst mitarbeiten gegen Kost und Logis. Und die Hilfskräfte kamen wirklich von überall her, aus Deutschland, Holland, Frankreich. Es ist ganz erstaunlich.«

Sophie nickt, doch begreift nicht, was das mit ihrem Haus zu tun haben soll.

»War das Strandhotel Meeresbrise nicht vor längerer Zeit mal ein Kurhotel? Es finden sich bestimmt Menschen, die sich für die Erhaltung von alten Bauwerken interessieren und gern etwas dazu beitragen, sich sozusagen kulturell engagieren möchten.« Er macht imaginäre Anführungszeichen in die Luft und formuliert: »Handwerker für die Renovierung eines traditionsreichen Kurhotels für zwei Monate gesucht. Lohn: Kost und Logis.« Seine hellblauen Augen funkeln unter den weißen, buschigen Augenbrauen.

»Ich denk drüber nach«, erwidert Sophie, obwohl sie die Idee grausig findet. Allein die Vorstellung, in ihrem ehemaligen Zuhause mit wildfremden Menschen zu wohnen! Sie hält Carlberg den leeren Becher hin. »Danke für den Kaffee. Und dafür auch«, sagt sie und nickt hinüber zur Gedenkstätte. Der Bestatter schmunzelt.

»Sie können mich jederzeit anrufen. Ich kann nicht nur gut reden, ich kann auch zuhören«, sagt er, überreicht ihr seine Visitenkarte und zwinkert.

Sophie bedankt sich noch einmal und geht zurück zum Wagen. Sie legt den Kopf auf dem Lenkrad ab und atmet ein paar Male tief durch. Jetzt hat sie es hinter sich. In fünf Stunden geht ihr Flug von Kopenhagen nach Berlin. Der leichte Kopfschmerz, den sie am Morgen schon verspürt hat, ist stärker geworden und malträtiert jetzt ihre Schläfen. Sie steht auf und öffnet den Kofferraum, um eine Kopfschmerztablette aus der Kulturtasche zu holen, da fällt ihr der Koffer ihrer Mutter wieder ins Auge. Was soll sie bloß damit anstellen? Sie will ihn eigentlich nicht den weiten Weg bis nach Berlin mitschleppen, in ihre kleine, helle Wohnung. Ein Blick auf die Uhr, dann beschließt sie, ihn im Abstellraum im Strandhotel Meeresbrise unterzustellen, da gehört er schließlich auch hin. Sie schiebt sich die Tablette ganz nach hinten auf die Zunge und schluckt sie mit dem kalten Kaffee hinunter, den sie seit gestern im Auto stehen hat. Während sie das Gesicht verzieht, verlässt sie den Friedhof, um nun zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen in ihr Elternhaus zurückzukehren.

Dieses Mal weiß sie gleich, mit welcher Handbewegung sie das Schloss dazu bringt, sich zu öffnen. Sie lässt die Tür offen stehen und stellt den Koffer auf dem Boden ab. Der Flur erstreckt sich vor ihr wie eine Landebahn. Die verblichenen Blümchentapeten über der hüfthohen Täfelung haben sich hier und da schon von der Wand gelöst. Sie fasst ein loses Stück an und zieht. Der Tapetenfetzen segelt auf den Boden. Die Leisten sind gerissen und verkratzt, und die Decke, die früher einmal weiß gewesen ist, ist vergilbt. Damals ist ihr das alles nicht aufgefallen.

Sophie tritt näher an die Schwarz-Weiß-Fotos heran, die an der Wand hängen. Sie sind nicht symmetrisch angeordnet, und ein paar von ihnen hängen schief. Sie rückt eins von ihnen zurecht: Frauen in langen weißen Kleidern und breitkrempigen Hüten sitzen mit ihren Kindern am Strand. Kleine schwarze Insekten haben sich hier und da zwischen Bild und Glasscheibe gequetscht und hinterlassen kleine Flecken. Sophie fährt ein Schauer über den Rücken. Auf dem Foto daneben hat man die Kleider gegen Badeanzüge getauscht, die Hüte gegen Sonnenschirme. Auf dem dritten Bild steht Marit wie ein Feldwebel vor ihrem Lebenswerk, dem Kurhotel. Im Hintergrund sind vier blasse, schlaksige Frauen zu sehen, die um einen runden Kaffeetisch sitzen. Während Sophie sanft über das Glas streicht, fällt ihr Blick auf ein weiteres Foto. Darauf ist ihre Großmutter Margareta abgebildet, im Kreise ihrer Gäste. Viele von ihnen waren bekannte schwedische Künstler und hatten diesen eher beschaulichen, abgelegenen Ort dem Jetset-Leben, das in Båstad an der Tagesordnung war, vorgezogen. Sophie macht einen Schritt zurück, um einen Überblick zu gewinnen. Im Haus hatte es zweifelsohne spannende Begegnungen gegeben, doch seine goldenen Jahre waren längst vorbei. Sophies Mutter hatte nur noch darin gewohnt. War es etwa Monas Wunsch gewesen, dass Sophie sich darum kümmerte, es renovierte und an jemanden verkaufte, der es zu neuem Leben erwecken und seine Geschichte wiederaufleben lassen würde? Langsam schüttelt sie den Kopf. Warum hat Mona sich nicht einfach geäußert und Sophie mitgeteilt, was sie tun soll? Oder noch besser, warum hat sie es selbst nicht verkauft, wie sie es vorgegeben hatte? Dann hätte Sophie diese Entscheidung gar nicht treffen müssen. Sophie fehlt die Zeit dafür, sie muss sich um ihr eigenes Leben kümmern. Sie nimmt den Koffer wieder in die Hand und geht hinüber zum Abstellraum unter der Treppe. Sophie öffnet die Tür und steckt den Kopf hinein. Die kleine Kammer ist leer. Warum auch immer war sie davon ausgegangen, dass alle alten Kisten, Lampen und Dekoartikel der vergangenen Generationen sich noch an Ort und Stelle befänden. Denn kaum war sie über die Schwelle getreten, hatte sie so ein Gefühl beschlichen, als wenn jemand das Haus plötzlich verlassen hätte und bald zurückkommen würde. Aber offensichtlich hatte Mona entrümpelt und aussortiert, ihr muss klar gewesen sein, dass sie nicht mehr heimkehren würde.

Sophie stellt den Koffer mitten in dem leeren Raum ab. Sie spürt, wie ihr Brustkorb eng wird, sie schlecht Luft bekommt. Schnell läuft sie hinaus und schließt hinter sich die Tür. Doch tief in ihrem Innersten weiß sie, dass es so einfach nicht geht. Der Anblick des herrenlosen, ungeöffneten Koffers hat sich auf ihrer Netzhaut festgebrannt. Natürlich hätte sie ihn öffnen und den Inhalt begutachten sollen. Doch hier, in diesem Abstellraum, ist er mit so vielen düsteren Stunden ihrer Kindheit verknüpft. Seit sie erwachsen ist, versucht sie mit Mühe, diese Erinnerungen zu verdrängen, damit sie keine Macht mehr über ihr Leben haben. Aber in Berlin ist das wesentlich einfacher, mit sechshundert Kilometern Distanz, als hier vor Ort. Sie lässt den Koffer zu.

Als sie das Haus wieder verlassen will, kommt sie an einer weiteren Tür vorbei. Die führt in die Bibliothek. Vorsichtig drückt sie die Klinke nach unten. Die Tür knarrt müde. Sophie schlägt sich die Hand vor den Mund. Die Bücherregale sind alle noch da, ebenso die alten Möbel, auch wenn sie mit weißen Schutzlaken abgedeckt sind. Jetzt steht sie in ihrem ehemaligen Lieblingszimmer. Die alten Buchrücken aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ruhen nach wie vor ordentlich sortiert in den Regalen. Ihre Mutter hatte ihnen nichts abgewinnen können, so viel altes Zeug, hatte sie immer gesagt. Trotzdem hatte sie alles so gelassen, wie es einmal war. Sophie geht vor ans Regal, fährt mit dem Finger über die Buchstaben auf den Buchrücken und hält bei W an. Wine. Sie schlägt eine beliebige Seite auf und liest laut:

Liebe

doch nicht die, die hetzt

über heiße Kohlen

zu flüchtigen Treffen

gejagt und selbst jagend

verletzt und verletzend

nicht die, die auflebt von den

schmerzhaften Abschieden voneinander

sondern die Liebe, die ein Zuhause schenkt und Ruhe,

die wärmt und hütet

und nur einen einzigen Abschied fürchtet:

den Tod

Sie schlägt das Buch wieder zu und stellt es zurück ins Regal. Sophie hat auch nie annähernd solch eine Liebe erlebt, wofür sie dankbar ist. Denn wenn man Maria Wines Dichtung glauben will, wird solch eine Liebe immer zur Tragödie. Sophie lässt die Tür zur Bibliothek offen stehen, wirft einen letzten Blick auf den Flur und verlässt das Haus. Auf der Treppe hält sie inne. Die Sonne spielt mit ihren Strahlen und schickt sie geradewegs in ihr Gesicht, sodass Sophie genussvoll die Augen schließt. Ein Weilchen könnte sie sich noch in den Garten setzen. Einfach tief durchatmen. So viel Zeit hat sie noch. Ein Kiesweg, gesäumt von niedrigen, in Form geschnittenen Buchsbaumhecken, leitet sie weiter zum Sitzplatz im Garten. Sie zieht den Blazer aus, holt ihren Block aus der Handtasche und lässt sich auf einem der Stühle nieder. Jetzt kann sie den Punkt »Gedenkstätte« auch streichen. Nachdem sie die Bleistiftspitze langsam über das Wort gezogen hat, seufzt sie erleichtert. Jedes durchgestrichene Wort ist wie ein Detox für die Seele. Eine Reinigung. Sie lehnt sich zurück und beobachtet die Haussperlinge, die lebhaft zwitschernd in der trockenen Erde ein Bad nehmen, als sie plötzlich bemerkt, dass sich jemand ein Stückchen entfernt hinter einem Busch bewegt. Schnell dreht sie sich um, stellt sich auf die Zehenspitzen und erkennt ein Stück eines Strohhuts.

»Hallo, Ella«, ruft Sophie aus Gewohnheit, obwohl sie ja weiß, dass die Nachbarin taub ist.

Sie wirft den Blazer wieder über, steckt den Block in ihre Tasche und geht auf Ella zu, die da im Garten hockt und Unkraut zupft. Gerade als Sophie ihr auf die Schulter klopfen will, dreht sie sich um. Ellas Gesichtsausdruck ist schwer zu interpretieren, doch sie scheint sich eher überrascht zu freuen, als erschreckt zu sein. Sie richtet sich auf, streift die sonnenblumengemusterten Gartenhandschuhe ab und begrüßt Sophie.

Sophie setzt gerade an, sich für die liebevolle Gartenpflege zu bedanken, als Ella ihr bedeutet, dass sie kurz stehen bleiben soll. Kurz darauf erscheint sie mit einem Tablett, auf dem zwei angeschlagene Teetassen und eine Schale mit Mandelgebäck stehen. Sie nickt in Richtung Tisch. Sophie schaut kurz auf die Uhr und zwingt sich zu lächeln, als Ella ihnen süß duftenden Tee aus einer geblümten Kanne einschenkt. Die Nachbarin zeigt auf die Rosenstöcke direkt neben Sophie. Auf einem kleinen handgeschriebenen Schild, das da in der Erde steckt, steht »Honigrose«.

»Hast du Tee daraus gemacht?«, fragt Sophie und sieht auf die Kanne. Ella nickt.

Sophie trinkt ganz selten Tee. Eigentlich nur Kaffee. Am liebsten Latte macchiato. In ihrer Straße betreibt das italienische Paar Belletti eine Bäckerei und ein Café. Auf dem Weg ins Büro schaut Sophie dort täglich vorbei und holt sich einen Becher. Die Frau ruft immer »Bellissima tu, eine Latte« und wirft ihr über die Theke eine Kusshand zu, während sie den Espresso mit einer wunderbaren Milchschaumhaube für sie zubereitet. Sophie hat sich einmal erkundigt, wie sie es anstelle, einen so perfekten Kaffee zu servieren, und zur Antwort bekommen: »Polpastrello.« Auf dem Weg zur Arbeit hat Sophie das Wort mit dem Google Translater übersetzt und herausgefunden, dass es »Fingerspitzengefühl« bedeutet.

Doch hier, wo die Honigrosen zu Hause sind, würde eine Latte überhaupt nicht passen. Nicht einmal diese hervorragende Latte ihrer Frau Belletti. Sophie nimmt einen Schluck und nickt, bevor sie schluckt, um Ella zu zeigen, wie ihr der Tee schmeckt. Polpastrello, denkt sie.

Ella schreibt etwas auf einen Block und schiebt ihn Sophie unter die Nase.

Wirst du jetzt hier wohnen?

Sophie muss lächeln und schreibt die Antwort. Nein, ich werde weiterhin in Berlin leben. Ich muss das Haus verkaufen. Du kennst nicht zufällig jemanden, der ein leicht verfallenes – aber traditionsreiches – Kurhotel sucht? Ella schüttelt langsam den Kopf. Sophie schreibt weiter: Es ist großartig von dir, dass du dich weiterhin so liebevoll um den Garten kümmerst. Das Haus muss ja fast zehn Jahre leer gestanden haben, nachdem Mama in die Wohnung umgezogen ist. Ella schreibt: Das werde ich tun, bis mich jemand anweist, es sein zu lassen. Sophie nickt. Wenn sie sich recht erinnert, war Ellas Vater Gärtner und Hausmeister im Strandhotel Meeresbrise, als Margareta es als Bed & Breakfast betrieb. Seit Sophie Kind war, führt Ella diese Arbeit weiter. Aber warum wohl? Zu der Zeit war hier schon kein Betrieb mehr, es gab nur den Privathaushalt ihrer Familie. Sophie schielt zu der alten Frau mit dem grau gesprenkelten Haar und den wachen, klaren Augen hinüber. Aber anstatt sie zu fragen, zeigt sie auf ihr Auto.

»Jetzt muss ich leider …«

Ella wickelt die restlichen Kekse in Frischhaltefolie ein und reicht sie ihr. Sophie bringt es nicht übers Herz, sie abzulehnen. Bevor sie das Strandhotel Meeresbrise verlässt, schweift ihr Blick noch ein letztes Mal über die von der Sonne ausgeblichene Holzfassade. Wohl wissend, dass sie ein Problem vor sich herschiebt.